Andrea Di Stefano
Buona Notte
Ein Lago-Maggiore-Krimi
FISCHER E-Books
Andrea Di Stefano ist das Pseudonym von Andreas Lebert und Stephan Lebert. Die beiden Brüder sind im Hauptberuf Journalisten. Wenn sie als Autoren-Duo zusammen Romane schreiben, schlüpfen sie nicht nur in ein anderes Leben, sondern auch unter andere Namen. Die Bestseller der Thriller-Trilogie »Der Regler« sowie »Die Siedlung der Toten« schrieben sie als Max Landorff, die Taschenbuch-Serie »Holly« als Anna Friedrich. Ihre Lago-Maggiore-Fälle kommen den beiden gefährlich nahe, nicht nur im Autorennamen: Sie verbringen seit über zehn Jahren viel Zeit an dem Gletschersee in den Alpen.
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Nur der Mond über dem See hat gesehen, was in dieser Nacht geschah: Der zweite Fall für den deutschen Ex-Polizisten Lukas Albano Geier am Lago Maggiore
Im blassen Licht liegt der Lago Maggiore und schweigt. Der deutsche Ex-Zeugenschützer Lukas Albano Geier hat sich am See ein neues Leben als Musiker aufgebaut. Doch die Vergangenheit scheint ihn nicht loszulassen. Eines Morgens findet er seinen Gitarristen aus alten Zeiten tot im Studio neben seinem mittelalterlichen Wohnturm in Maccagno. Vergeblich wartet Lukas Geier auf Kriminalkommissarin Cristina Conte, die er nicht nur als Ermittlerin gut kennt. Die Polizeidirektion in Varese will ihm keine Auskunft über ihren Verbleib geben. Als Lukas Nachforschungen anstellt, sieht er sich mit einem gefährlichen persönlichen Auftrag konfrontiert.
»Tolle Kulisse, besondere Charaktere und eine spannende, aber nicht blutrünstige Handlung.« Südkurier
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfut am Main
Redaktion: Alexander Groß
Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
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ISBN 978-3-10-491373-5
Die kleine Kirche La Croce d’Oro steht auf einem Felsplateau, das wie ein Sprungbrett aus dem Bergmassiv ragt. Ich bin zu Fuß hier hochgestiegen, wollte die Unruhe aus meinem Körper laufen – die Unruhe und die Angst vor der Begegnung, die mir heute bevorsteht.
Es ist noch früh am Morgen, in der Kirche herrscht unfreundliches Dämmerlicht. Ich bin allein. Das Holz unter meinen Knien ist hart. Hinter mir auf der Sitzbank liegt die Tüte mit der Pistole und dem Geld. Es ist keinerlei Geräusch zu hören. Das Kreuz schwebt im Halbdunkel über dem Altar.
Lieber Gott …
Als Junge habe ich so gekniet. Lieber Gott, mach, dass die Note in Mathematik keine Katastrophe wird … So etwas darf man nicht beten, so ist Gott nicht zu verstehen, hieß es schon damals. Warum nicht? Wenn er doch allmächtig ist? Als meine Eltern vermisst wurden, habe ich auch so gekniet. Lieber Gott, mach, dass sie am Leben sind.
Lange her, das alles.
Ich habe mich in eine Sackgasse manövriert, lieber Gott. Es ist gefährlich dort, und ich bin ganz allein. Ich weiß nicht, wem ich trauen kann, sogar Menschen, denen ich sehr nahe war, zeigen plötzlich ganz andere Seiten. Ich habe Fehler gemacht. Wenn mir etwas zustößt, wird es niemanden interessieren. Das ist das Gefährlichste daran. Ich habe mit niemandem gesprochen.
Lieber Gott …
Ich höre plötzlich Stimmen draußen, die sich der Kirche nähern, erwachsene Stimmen und Kinderlachen. Ich gehe schnell und leise zu der kleinen Tür an der Seite der Kirche und drehe den Schlüssel um. Schritte nähern sich, die Klinke wird heruntergedrückt.
»Schade«, sagt ein Mann auf Deutsch, »abgeschlossen. Wollen wir hier vielleicht unser Picknick machen?« »Ja!«, ruft ein Kind. Aber eine Frauenstimme sagt: »Ach, lass uns erst noch ein Stück weitergehen.« Es folgt ein kurzes Hin und Her, dann entfernen sich die Schritte.
Die kleine Kirche ist immer abgeschlossen. Man muss wissen, wo man den Schlüssel holen kann. Bei einem Mann unten im Ort, den alle nur den »Heiligen Geist« nennen, Spirito Santo. Weil er erstens vor Frömmigkeit fast nicht laufen kann und weil er zweitens eines Morgens von einem Gemeindearbeiter in unpassendem Zustand aufgefunden wurde – unter einem ans Land gezogenen Boot am See, mit geschätzten drei Promille Alkohol im Blut.
Ich drehe mich noch mal zum Kreuz um. Mein Vater mochte Kirchen. In jede ist er reingestiefelt und hat eine Kerze angezündet. Meine Mutter nicht. Nur zu dieser ist sie manchmal hingewandert, fast immer allein, soweit ich mich erinnern kann. La Croce d’Oro hatte es ihr angetan. Einmal hat sie mich mitgenommen, da war ich noch sehr klein. Woher sie damals den Schlüssel hatte, weiß ich nicht. Ich durfte eine Kerze anzünden. Für wen?, hab ich gefragt. Für dich, hat meine Mutter geantwortet.
Ich gehe zurück zur Bank, nehme die Tüte mit der Pistole und nähere mich dem Kreuz. Croce d’Oro heißt »goldenes Kreuz«, aber da ist kein Gold, das Kreuz besteht aus dunkelbraunem Holz. Auch Jesus ist aus Holz geschnitzt und bemalt, die Farben sind verblasst. Er blickt aus müden, halb geschlossenen Augen herab. Wie lange schon?
Ich nehme mir vor, öfter hierherzukommen und mich mit ihm einzuschließen – falls ich je wieder in ein normales Leben zurückkehren kann.
Draußen spüre ich am Geruch der Luft, am Licht und an der Art, wie die Pflanzen sich in Stellung bringen, was für eine Art von Tag da heraufzieht: ein Frühlingstag, wie er im Prospekt steht. Die ersten Sonnenstrahlen blitzen hinter den Bergkämmen hervor. Es ist 8.25 Uhr. Ich habe noch gute zwei Stunden. Lieber Gott, beschütze mich.
Was zieht man an, wenn man einen Toten abholt?
Samantha hat sich für Schwarz entschieden. Schwarze Stiefel, schwarze Hose, schwarzer Pulli. Auch der Mantel, den sie über dem Arm trägt, ist schwarz. Nur ihr Rollkoffer ist hellblau.
Die Maschine aus London war pünktlich. Samantha tritt aus der Ankunftshalle des easyJet-Terminals in Mailand-Malpensa, bleibt stehen und sieht sich um. Ich gebe ihr ein Handzeichen, laufe auf sie zu und nehme ihr den Koffer ab.
»Hi, Samantha«, sage ich.
»Hi, Lukas«, erwidert sie.
Und sie sagt: »Pleased to meet you.«
Ihr Gesicht ist blass, ungeschminkt. Wir gehen zum Parkplatz, wo mein Suzuki-Jeep steht. Sie weint ein bisschen. Das kleine verbeulte Auto erntet trotzdem einen erstaunten Blick.
Sie ist wirklich sehr jung, noch jünger, als ich dachte. Höchstens dreiundzwanzig, schätze ich. Etwas pummelig, die Stiefelabsätze sind zu hoch, die rötlichen Haare hat sie zu einem Knoten gebunden.
»Er hat mir versprochen, dass er hundert Jahre alt wird«, sagt sie, als ich den Koffer auf die Rückbank hieve.
Es ist Mitte Januar, später Nachmittag. Die ganze Welt ist grau und trostlos, und die Mailänder Vororte und Gewerbegebiete sind besonders grau und trostlos. An den Straßenrändern liegt schmutziger Schnee.
»Ich war noch nie in Italien«, sagt Samantha.
Ich habe längst einen Schleichweg vom Flughafen zum Lago Maggiore gefunden, und ich fahre ihn immer, selbst wenn die Hauptstraßen und die Autobahn – vielleicht – leer sind.
»Weißt du«, hat mein Freund Stormy Hopton gesagt, »Samantha ist nicht meine große Liebe, ganz sicher nicht. Aber sie tut mir gut, verstehst du? Sie ist so normal, so neugierig, so unverbraucht.« Das war am letzten Abend seines Lebens, sechs Tage ist das erst her. Wir saßen in bester Laune vor Schüsseln mit Wildschweinragout und Polenta in einem der wenigen Lokale, die um diese Zeit im Winter nicht geschlossen haben.
»Ich kann ihr alle Geschichten von früher erzählen, sie weiß nichts davon«, sagte er und lachte. »Das ist toll. Sie kennt nicht mal meine Platten, sie will sie wirklich hören, also lege ich sie alle noch mal auf. Geiles Zeug dabei, hatte ich fast vergessen. Nein, nicht die große Liebe. Aber vielleicht ist Sammy ja die kleine Liebe meines Lebens.«
»Bring sie das nächste Mal mit«, sagte ich.
»Mal sehen«, antwortete Stormy.
Wenn es irgendwo um berühmte Rockgitarristen geht, taucht immer auch sein Name auf: Pete »Stormy« Hopton. Die Londoner Legende, die mit den ganz Großen gespielt hat. Alle italienischen Zeitungen und Websites haben seinen Tod gemeldet. Die britische Sun zeigte sogar ein verschwommenes Foto vom Transport der Leiche von meinem Turm in Maccagno den steilen Berg hinunter, begleitet von drei Carabinieri. Weiß der Teufel, wo die das herhatten. Last Solo, titelte das Blatt.
»Du warst früher Polizist?«, fragt Samantha. »Stormy hat das erzählt …«
»Ja, früher«, sage ich. »Jetzt nicht mehr.«
Es ist dunkel, als wir in Luino an den See kommen, aber der Himmel ist jetzt klar, und ein fast voller Mond ist bereits am Werk. Die riesige Wasserfläche glänzt, die Lichter der Orte und Häuser an den Hängen spiegeln sich darin, die schwarze Silhouette der Berge sieht aus, als wäre sie ganz nah, und die schneebedeckten Gipfel blitzen weiß.
»Beautiful«, sagt Samantha. Sie kommt aus Cheltenham im Südwesten Englands, hat Stormy erzählt, dort sprechen die Leute ein sehr klares, korrektes Englisch.
Wir fahren fünf Kilometer am See entlang nach Maccagno, das ist der Ort, wo ich wohne. Allerdings wohne ich nicht in einem Haus, sondern in einem mittelalterlichen Turm – hoch über dem Ort auf einem Felsen. Normalerweise gehe ich immer zu Fuß, ich benutze den Suzuki nur für Transporte. Und im Dunkeln fahre ich besonders ungern nach oben. Der Weg ist zu steil und zu schmal, und manchmal steht plötzlich ein Wildschwein im Scheinwerferkegel. Dann steigt man auf die Bremse und kann anschließend nur mit großer Mühe wieder anfahren. Einmal musste ich deshalb den ganzen Weg rückwärts wieder runter, weil noch nasses Laub auf der Strecke lag.
Doch Samanthas Absätze sind zu hoch und ihre Verfassung zu schlecht für eine nächtliche Bergtour mit Taschenlampe. Ich schalte Allradantrieb und Untersetzung ein und sage ihr, sie solle sich festhalten.
»Jesus Christ«, sagt sie, als wir nach hinten kippen. Im Auto kommt einem der erste Anstieg fast senkrecht vor.
Stormy hat Samantha in einem Hotel in London kennengelernt, wo sie nachts an der Rezeption arbeitete. Er war mit Kumpels in der Bar, »und immer, wenn ich zur Toilette musste, hab ich sie wieder nach dem Weg gefragt, so lange, bis sie sich zu uns gesetzt hat«. Sie hatte ihre Hotelfachschule abgeschlossen und wollte sparen, um ins Ausland zu gehen.
Der alte Rocker und das Mädchen. Ein Jahr ungefähr ging das schon. Die Geschäfte laufen ja für alte Rockgitarristen wahrlich nicht besonders gut, Legende hin oder her. Einmal hat Stormy seine Samantha nach Stockholm mitgenommen, wo er in einer Oldieshow im Fernsehen auftrat, und ein paar Tage waren sie wohl auch zusammen in Prag, warum, habe ich vergessen.
»Da sind wir«, sage ich, als der Suzuki die letzte Haarnadelkurve nimmt und auf der kleinen Wiese vor dem Turm zum Stehen kommt. Im Dunkeln hier anzukommen, ist nicht besonders einladend. Der Turm ist ein schwarzes Viereck, die Bäume sind schwarze Gestalten. Ich greife nach der Taschenlampe zwischen den Sitzen, ehe ich den Motor abstelle und die Scheinwerfer ausmache.
Samantha klettert aus dem Wagen und bleibt daneben stehen. »This is where you live?«, fragt sie. Ihre Stimme klingt dünn.
»Ja«, sage ich, »hier wohne ich.« Und meine Stimme klingt ebenfalls dünn. Manchmal kommt mir mein Zuhause selbst ja auch fremd vor. Und merkwürdig.
Jetzt zum Beispiel.
Ich leuchte den ehemaligen Eselstall an, den ich zum Musikstudio umgebaut habe. »Hier haben wir Musik aufgenommen«, sage ich. »Stormy hat wunderbar gespielt.«
»Er hat dort auch geschlafen, oder?«, sagt sie. »Er hat mir Fotos geschickt. Nicht viele. Ich musste immer drum betteln.«
Sie bewegt sich im Lichtkegel auf das Studio zu.
»Vielleicht gehen wir erst in den Turm«, sage ich. »Ich muss dort den Strom fürs Studio einschalten …«
Sie hört mich nicht oder will es nicht hören. Ich gehe ihr nach und öffne die Tür zum Studio. Mit der Taschenlampe leuchte ich den Raum ab, die elektronischen Geräte, die Keyboards, die zwei Bässe, die in der Ecke stehen, die Mikrophonständer … und die Liege an der gegenüberliegenden Wand, auf der ich Stormy gefunden habe. Es war der Tag, an dem er abreisen wollte. Alle Soli waren gespielt, alle Geschichten erzählt.
»Er hat sehr friedlich ausgesehen«, sage ich. Lüge ich. Und lege Samantha meine Hand auf die Schulter.
Hinter uns knackt etwas sehr laut im Gebüsch. Sie erschrickt, fährt herum.
»Nur ein Reh«, sage ich und schließe die Tür zum Studio. Manchmal kommen Rehe genau im richtigen Moment.
In meinem Turm sind vier Räume übereinandergestapelt. Ganz unten Bad und Toilette, dann Schlafzimmer, dann Wohnzimmer und ganz oben die Küche. Verbunden sind sie mit einer schmalen Wendeltreppe, und von der Küche kann man über eine ausklappbare Leiter auf die höchste Plattform, die von Zinnen eingerahmt ist. Wer dort oben zum ersten Mal aus der Luke klettert, vergisst in der Regel, zu atmen. Stormy wollte jeden Abend noch nach oben, bevor er schlafen ging. Er fühle sich dann wie Richard Löwenherz, sagte er.
Was bietet man einer jungen Frau zu essen an, die gekommen ist, um einen Toten abzuholen? Ich stelle Tomaten und Burrata auf den Tisch und mache Pappardelle mit Steinpilzen. Mein Freund Ambrogio holt sie im Herbst aus dem Wald und bringt sie mir. Ich friere sie dann ein.
Samantha hat Hunger. Und sie trinkt schnell zwei große Gläser Rotwein. Sie erzählt von sich, von Stormy, manchmal lacht sie, dann weint sie, dann schweigt sie, dann will sie noch ein Tiramisu. Und immer wieder sagt sie »Beautiful« beim Blick aus dem Fenster. Nach einigem Hin und Her mit dem Denkmalschutz durfte ich schließlich in die ein Meter vierzig dicke Mauer des Turms ein einziges Fenster schneiden, ein wirklich großes. Es erstreckt sich über zwei Ebenen, über die Küche und das darunterliegende Wohnzimmer. Sonst gibt es hier nur sehr kleine Fenster, die ehemaligen Schießscharten.
»Ich war noch nie bei einer Beerdigung«, sagt Samantha jetzt. »Ich weiß gar nicht, ob ich zu Stormys Beerdigung hingehen soll … Ich kenne ja niemanden. Er hat einen Bruder und eine Schwester, nie gesehen, die beiden. Und seine zwei Ex-Frauen … Und einen Sohn hat er auch. Die werden mich alle hassen und fragen, wer ich eigentlich bin …«
»Ja, das könnte schwierig und unangenehm werden«, sage ich.
»Für mich ist diese Reise die Beerdigung«, erklärt sie und sieht an sich hinunter auf die schwarzen Klamotten. »Hier und jetzt habe ich ihn ganz für mich allein. Für mich ist das der Abschied … Danke, dass du alles organisiert hast.«
Samantha wird Stormy morgen Vormittag in der Gerichtsmedizin noch einmal sehen dürfen, ehe er zum Flughafen gebracht wird. Und sie wird in derselben Maschine nach London sitzen.
Draußen hat der Himmel zugezogen. Es schneit. Dicke weiße Flocken tanzen vor der großen Scheibe. Samantha steht auf und will die Teller in die Spülmaschine räumen.
»Lass stehen«, sage ich, nehme eine Flasche Grappa und zwei Gläser. »Wir trinken noch einen Schnaps auf ihn im Wohnzimmer, und ich mache Feuer im Kamin.«
Als sie die vielen Gitarren im Wohnzimmer sieht, fragt sie: »Hier hast du deinen Hit geschrieben? Tutto Bene?«
»Nein«, antworte ich. »Tutto Bene hat all das hier erst möglich gemacht und bezahlt. Vorher lebte ich in München und war Kriminalkommissar.«
In einer Ecke des Zimmers steht der Gitarrenkoffer mit Stormys berühmter grüner Gibson Les Paul. Was soll ich mit ihr machen? Wenn ich sie Samantha mitgebe, wird sich Stormys Familie darauf stürzen. Er war nicht gut auf seine Leute zu sprechen. Lauter Kotzbrocken, sagte er. Ich denke, ich lass die Gitarre erst einmal hier. Vielleicht fragt ja niemand, dann kann ich sie später Samantha zukommen lassen. Oder für einen guten Zweck spenden …
Ich muss daran denken, wie ich diese Gitarre kennengelernt habe: Nach dem Erfolg von Tutto Bene wollte ich lernen, bessere Soli zu spielen, und buchte meinen Helden Stormy Hopton für einen persönlichen Workshop in London. Stormy hatte damals schon weiße Haare und gelegentliche Gichtanfälle in den Fingern. Trotzdem waren die Töne, die er aus dieser Gitarre herausholte, phänomenal. Eine Woche lang habe ich bei ihm im Keller versucht, so zu spielen. Danach war ich zwar kein besserer Gitarrist, aber wir waren Freunde.
»Du kannst hier auf der Couch schlafen«, sage ich zu Samantha, »oder im Schlafzimmer, dann schlafe ich hier.«
Samanthas Gesicht ist gerötet vom Alkohol und von der Wärme des Kaminfeuers. Ihre Augen fallen allmählich zu.
»Kann ich bitte neben dir schlafen?«, fragt sie.
Wenig später schnarcht sie leise in meinem Bett. Sie hat es gerade noch in ihren hellblauen Pyjama geschafft.
Ich liege wach neben ihr im Dunkeln. Wohin wird das Leben sie spülen? Welche Rolle wird Stormy Hopton in ihrer Erinnerung einnehmen? In zehn Jahren? In zwanzig Jahren?
Stormy Hopton ist eines natürlichen Todes gestorben, das haben die Mediziner in Varese schnell festgestellt. Keine Fremdeinwirkung. Ein starker Herzanfall, weil völlig verkalkte Arterien zugemacht haben. Muss schmerzhaft gewesen sein, sagte der Arzt. Das erklärt auch den verzerrten Gesichtsausdruck, als ich ihn fand. Der junge Arzt sagte noch, dass sein früherer Lebenswandel, der ihm den Spitznamen »Stormy« eingebracht hat, vielleicht nicht ganz unschuldig war. Was Ärzte dann eben immer so sagen. Scheiß drauf, Stormy.
Durch eine der Schießscharten fällt ein schmaler Streifen Mondlicht ins Schlafzimmer. Ich höre die Kirche im Ort halb zwei schlagen.
Natürliche Todesursache. Medizinersprache. Polizistensprache. Sind Polizistengehirne anders? Hat das schon mal jemand untersucht? Warum kreisen meine Gedanken seit Tagen misstrauisch um das Verhalten der Polizeibeamten in Varese, die sich bei einer einfachen Frage von mir ganz und gar nicht natürlich verhalten haben?
Der Schnee bleibt in meiner Gegend eher selten liegen. Ich habe nie weiße Weihnachten erlebt, auch früher nicht, als ich mit meinen Eltern hier so viele Wochen und Monate in den Ferien war. Weihnachten ist am Lago Maggiore keine weiße, sondern eine goldene Veranstaltung. Die Strahlen der tiefstehenden Sonne erzeugen unwirkliche Lichtspiele auf dem Wasser, ganze Straßen aus Licht brechen aus den Wolken. Das Grün der Palmen ist im Dezember anders, ich schwöre, und an den kahlen Kakibäumen hängen die orangefarbenen Früchte wie Christbaumkugeln.
Stormy ist am zweiten Weihnachtstag hier eingetroffen, und ich sah ihn morgens oft draußen auf der Bank vorm Studio sitzen, um die Ankunft der Sonne zu beobachten. Eine rote Wollmütze auf dem Kopf, das Weihnachtsgeschenk seiner neuen jungen Freundin.
Heute Nacht ist der Schnee liegen geblieben. Und die Luft riecht, als würde es bald mehr davon geben. Im Januar ist das oft so. Alles weiß jetzt da draußen: die Berghänge, die Bäume, die Dächer der Häuser. Ich sitze am Tisch in der Küche. Meine schöne Espressomaschine hat einen ersten Cappuccino ausgespuckt, im Kaminofen krachen die ersten Holzscheite, und allmählich dürfen die ersten Gedanken aufwachen.
Ich werde Schneeketten aufziehen müssen, sonst komme ich mit dem Jeep nicht den Berg hinunter – mit der traurigen Samantha, ihrem Koffer und Stormys großer Tasche. Unten in Maccagno wartet ein Taxifahrer, der Samantha zur Gerichtsmedizin und anschließend zum Flughafen bringen wird.
Ich habe heute Nacht wieder von Cristina geträumt. Sie stand in einem riesigen Gewächshaus, Jeans, weiße Bluse, Pferdeschwanz, so wie ich sie abgespeichert habe, und sie stand inmitten Hunderter Bonsaibäume. »Das sind meine neuen Kollegen«, hat sie im Traum gesagt, »alle bewaffnet, alle hervorragende Ermittler.«
Die Kommissarin Cristina Conte, Mordkommission Varese. Im wirklichen Leben sagte sie zu mir, bevor wir uns näherkamen, dass sie mit vier Bonsaibäumen lebt und dass sie mir die vielleicht mal vorstellt. Aber dazu kam es nicht. Sie hat schnell wieder mit mir Schluss gemacht. Als sie das tat, sagte sie: »Ich möchte es beenden.«
»Es?«, fragte ich.
»Uns«, antwortete sie. »Uns will ich beenden, Lukas.«
Ich dachte zuerst, es hätte etwas damit zu tun, dass sie in einem Fall ermittelte, in dem auch ich eine Rolle spielte, und zwar eine – aus ihrer Sicht – dubiose. Aber das war es nicht. Als der Fall gelöst war, lud ich Cristina zu meinem Konzert in New York ein. Sie kam nicht. Sie kam nirgendwo mehr hin.
»Warum laufen die Frauen vor dir weg?« Das hat mich am Abend vor dem Konzert die Keyboarderin meiner Band gefragt, hoch über Manhattan, in der Rooftop-Bar des Standard-Hotels.
»Sag du es mir«, habe ich geantwortet.
Aber sie hat nur das Lächeln aufgesetzt, das sie für geheimnisvoll hält. Helen ist auch mal vor mir weggelaufen.
Einmal noch haben Cristina und ich uns auf einen Kaffee getroffen, im Caffè Clerici in Luino. Sie trug die Haare kürzer und hatte eine silberne Halskette mit einem Amulett um den Hals. Ich konnte nicht erkennen, was drauf war. Sie war freundlich, nett, aber auch sehr kühl.
Während der Corona-Maßnahmen, die in dieser Gegend sehr streng waren, haben wir zweimal telefoniert. Einmal wollte ich eine Ausnahmegenehmigung, um nach Mailand fahren zu dürfen, die hat sie mir auch gemailt. Das andere Mal haben wir über die Lage allgemein geredet. Immer war ich es, der angerufen hat. Und gelegentlich, meist spätabends, haben wir ihr eine SMS geschickt – wir, das waren dann ein paar Gläser Grappa und ich. Manchmal hat sie sogar geantwortet. Aber knapp und belanglos.
Gestern habe ich ihre Privatadresse in Varese herausgefunden. Und heute, wenn Samantha im Taxi sitzt, werde ich hinfahren. Denn irgendetwas stimmt nicht mit ihr, da bin ich ganz sicher.
Der Morgen des Tages, an dem Stormy abreisen wollte, war ein sehr stiller Morgen. Das lag daran, dass ich nun schon seit zwei Wochen daran gewöhnt war, Musik zu hören, die von unten aus dem Studio zu mir in die Küche meines Turms drang. Es war immer Jazzmusik, die Stormy über die Anlage im Studio laufen ließ, meistens Frank Morgan, ein Saxophonist. »Früher hast du so was nicht gehört«, hab ich gesagt. »Man entwickelt sich«, hat er erwidert.
An diesem Morgen war es still. Ich weiß noch, dass ich dachte, ihm ist wohl nicht danach, der Abschied fällt ihm vielleicht schwerer, als er zugeben will. Draußen lag ein bleigrauer See in seinem Becken, an solchen Tagen ist es, als würde man sein Gewicht spüren. Als ich Stormy dann fand, im Studio auf der Liege, die Hände am Kragen seines T-Shirts, als wollte er es zerreißen, ein altes Led-Zeppelin-T-Shirt war das, da wählte ich sofort Cristinas Handynummer. Aber es kamen nur ein kurzer Signalton und die Anzeige auf meinem Display »Anruf fehlgeschlagen«. Ich versuchte es ein paar Mal, immer mit dem gleichen Resultat. Keine Ansage, keine Verbindung zur Mailbox. Nur »Anruf fehlgeschlagen«. Eine SMS erhielt den Vermerk: »Nicht zugestellt«. Ich rief im Polizeipräsidium an.
»Cristina Conte ist nicht da.«
»Wann kommt sie?«
»Heute gar nicht. Womit können wir helfen?«
Eine Stunde später stapften die Beamten und Sanitäter den Berg herauf zum Turm. Sie hatten ein kleines Motocarriola dabei, eine Art motorisierter Schubkarren mit schweren Gummiketten statt Rädern. Normalerweise benutzt man sie hier in den Bergen zum Transport von Zement oder Dachziegeln. Diesmal war eine Trage darauf festgeschnallt.
Den jungen Kommissar aus Varese, der mich vernahm, kannte ich von den Ermittlungen in dem damaligen Mordfall. Stormy wurde von einem Arzt untersucht, das Studio abgesperrt und versiegelt. Der Platz davor wurde mit Bändern notdürftig abgeriegelt, zwei uniformierte Carabinieri blieben hier zur Bewachung des Ortes. Das Eintreffen der Spurensicherung war bereits angekündigt. Als sich die kleine Prozession mit Stormys Leiche auf den Weg nach unten machte, fragte ich auch den jungen Kommissar nach Cristina Conte.
»Sie ist zurzeit nicht da«, war seine Antwort.
»Was heißt das: nicht da?«, fragte ich.
»Das heißt: nicht da.«
»Wann kommt sie wieder?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Sie können nicht sagen, wann Ihre Chefin wiederkommt?«
Er wich meinem Blick aus. Ich habe selbst viele Verhöre geführt und weiß, wie man durch Schweigen und Blicke den Druck erhöht, die Wahrheit zu sagen.
»Jetzt kommen Sie, wo ist sie denn?«, fragte ich schließlich.
»Cristina Conte ist derzeit nicht im Dienst. Mehr kann ich wirklich nicht sagen«, antwortete er entschlossen.
Tage später, als bereits feststand, dass Stormy an einem Herzinfarkt gestorben war, als die Absperrbänder ums Studio wieder weggenommen worden waren, als ich schon den Besuch von Samantha organisierte, erhielt ich von einem anderen Beamten in Varese auf die Frage nach der Hauptkommissarin die Antwort: »Cristina Conte ist nicht mehr bei der Polizei.«
Viale Sant’Antonio 64, Provinzhauptstadt Varese, das ist ihre Adresse. Einen Festnetzanschluss hat sie nicht. Ich werde heute zu dieser Adresse fahren und herausfinden, was mit Cristina passiert ist. Ich bin kein Kommissar mehr, schon klar, und ich will auch keiner mehr sein. Aber das bin ich ihr schuldig. Oder mir?
Ich muss lächeln, als sich in meinem Kopf die Stimme meines früheren Chefs Frank Becker meldet: Halt dich da raus, Lukas. Das geht dich nichts an.
Du hattest damals schon nicht recht, Frank, denke ich. Und es hat dich dein Leben gekostet. Was ich auch denke: Du fehlst mir, Frank.
Ich mache einen Cappuccino für Samantha und balanciere die Tasse die Wendeltreppe hinunter.
Es ist nicht schön, jemanden aufzuwecken, der einen schlimmen Tag vor sich hat. Samantha liegt auf der Seite und schläft tief und lautlos. Durch die Schießscharten dringt nur mattes Licht ins Schlafzimmer. Ich öffne die schmalen Scheiben und lasse kühle Luft herein. Ich stelle den Cappuccino auf den Nachttisch, setze mich an den Bettrand, berühre die Schulter in dem hellblauen Pyjama. Ich sage ein paarmal ihren Namen, bis sie aufwacht. Ich sehe, wie sich hinter ihren Augen langsam die Wirklichkeit zusammensetzt, in der sie sich befindet.
»Oh«, sagt sie. »Is it time?«
»Yes«, sage ich. »It’s time.«
Die Dinge laufen nicht so, wie man sie sich vorher ausgedacht hat. Das ist am Lago Maggiore nicht anders als anderswo. Einige Leute, die mich in meinem neuen Zuhause besucht haben, fanden das Leben hier irgendwie gelassener, leichter. Sie sagten, die Menschen seien heiterer. Mein Vater sagte früher, die Menschen hier könnten einfach besser mit der Tatsache umgehen, dass sich jede Minute alles ändern könne. Sie wüssten, dass das Aufstellen eines Plans meistens schon der erste Akt einer Komödie ist. »Das liegt daran«, sagte er, »dass ihr Leben zwischen zwei gewaltigen Mächten eingeklemmt ist: Vor sich haben sie diese riesige Masse Wasser, hinter sich diese riesige Masse Gestein. Beide vollkommen unberechenbar und anstrengend.« Er fand jeden Tag Beweise für diesen Gedanken, ob er den Transport eines Möbelstücks am Steilhang beobachtete oder das umständliche Anlegen und Vertäuen eines Bootes.
Auf dem verschneiten Weg vom Turm nach unten reißt gleich in der zweiten Kurve eine der beiden Schneeketten des Suzuki und verklemmt sich an der Vorderachse. Wir müssen das Auto stehen lassen. Samantha, die beiden Koffer und ich schlittern also den Berg hinunter, rutschen aus, halten uns an Bäumen fest oder aneinander, fangen die sich selbständig machenden Gepäckstücke wieder ein und sind schließlich ziemlich durchnässt, als wir unten ankommen. Aber wir haben auch ein paarmal laut gelacht. Als sie in das Taxi steigt, das vor der Pizzeria Concordia wartet, fragt sie: »Willst du nicht doch mitkommen?«
Doch es ist nur so dahingesagt, das weiß sie selbst. Das Taxi fährt los, in Richtung eines kühlen Raumes mit viel Stahl, in Richtung einer Bahre, auf der ein Tuch zurückgezogen wird, in Richtung eines wächsernen, fremd aussehenden Gesichts. Ich winke Samantha nach, sie winkt aus dem Rückfenster zurück.
Anstatt vor Cristina Contes Wohnungstür zu stehen, liege ich also an diesem Tag am Steilhang unter meinem Auto. Es ist schon dunkel, als der Suzuki wieder oben vor dem Turm parkt, mit neuen Schneeketten an den Füßen.
Abends ruft die Vizechefin meiner Plattenfirma an. Sie fragt nach dem Stand der Aufnahmen für das neue Album. Sie schäme sich ein bisschen, sagt sie, aber sie wolle doch darauf hinweisen: Aus Vermarktungssicht wäre es natürlich nicht verkehrt, wenn das Album bald käme. Oder wenigstens die Single.
»Die letzten Aufnahmen von Stormy Hopton – mit dieser Ankündigung sollte man nicht zu lange warten«, sagt sie. »Du weißt ja, wie schnell die Menschen vergessen.«
Sie heißt Farina und hat eine markante Reibeisenstimme. Ich erkläre ihr, dass alle Aufnahmen fertig sind und ich mit der Band bald die ersten Mixe besprechen werde.
Später sitze ich auf dem Sofa, mit Stormys grüner Elektrogitarre auf den Knien, das Kabel eingesteckt in einen alten Marshall-Verstärker, vor mir der Rest Whisky aus der Flasche des seltenen Single Malts, den Stormy mitgebracht hat. Draußen schneit es wieder.
Bei mir klingt das Riff des Intros nur melancholisch. Stormys Finger haben mehr Druck gemacht, der Traurigkeit noch die Entschlossenheit abgerungen, das Leben bald wieder zu genießen.
She’s a thief and she’s called Luna
She stole my sleep and I should sue her
Das sind die ersten Zeilen meiner Single. Das Lied handelt natürlich von Cristina.
Hatte es etwas Gutes, dass ich mich heute nicht darum kümmern konnte, wo Cristina abgeblieben ist?
Wie sich herausstellen sollte: ja. Denn im Laden, wo ich die neuen Schneeketten gekauft habe, traf ich einen Mann von der Gemeinde, der mich auf meinen Antrag angesprochen hat, eine Gasleitung zum Turm zu legen. Wie alt ist der Antrag? Ein Jahr? Zwei Jahre?
Der Mann sagte, ich müsse den Antrag zuerst direkt beim Energieunternehmen einreichen, in der Gemeindeverwaltung könnten sie erst danach tätig werden. Dieser Satz bedeutete, dass ich die nächsten zehn Jahre wie bisher schwere Gasflaschen zum Turm hochtransportieren werde, anstatt einfach nur einen Hahn aufzudrehen. Aber der Satz hat mich auf eine Idee gebracht.
Gleich am Nachmittag telefonierte ich mit einem Verwaltungsangestellten des Stromanbieters ASPEM in Luino. Der Mann heißt Emil Fachett. Jedenfalls glauben das seine Arbeitskollegen seit fast neun Jahren. Der Name steht auch so in seinem Pass, in seiner Steuererklärung, auf der Karte seiner Krankenversicherung. Er hat eine Frau, einen Hund und einen 1er BMW. Die Italiener nennen ihn alle Emilio, manche auch Facchetti, weil sein Nachname ähnlich klingt wie der eines berühmten Verteidigers von Inter Mailand. Eine lupenreine Existenz, dieser Mann. Dafür habe ich gesorgt. Lupenreine Existenzen waren mein Fachgebiet als Kommissar. Falsche lupenreine Existenzen.
»Dass Sie anrufen, ist kein gutes Zeichen«, sagte Fachett am Telefon. »Muss ich Angst haben?«
»Nein«, antwortete ich. »Alles dicht. Keine Sorge. Sie müssen mir nur einen Gefallen tun.«
Schweigen am Ende der Leitung. Wir hatten in neun Jahren nicht ein Wort gewechselt. Das ist das Wichtigste an solchen Operationen, an deren Ende ein ganz neues Leben steht: Jede Verbindung zum alten Leben muss gekappt werden.
»Einen Gefallen?«, wiederholte er schließlich misstrauisch. V-Mann war er gewesen, eingeschleust in eine Terrorgruppe mit islamistischem Hintergrund. Dann war er aufgeflogen. Wir konnten ihn gerade noch rausholen und verschwinden lassen.
»Ich brauche ein Schreiben, das mir Zugang zu einer Wohnung in Varese verschafft«, erklärte ich.
»Varese ist gar nicht mein Gebiet«, sagte er.
»Das spielt keine Rolle. Muss nur was zum Vorzeigen sein, falls jemand fragt. Dringende Überprüfung der Gas- oder Stromleitung zum Beispiel, Sicherheitsgründe, so etwas, mit ASPEM-Briefkopf.«
Er sträubte sich, aber nicht lange. Eine Stunde später hatte ich die Mail.
Sie liegt jetzt ausgedruckt auf dem Wohnzimmertisch. Und ein Bund mit Dietrichen liegt daneben, nur zur Sicherheit. Vielleicht brauche ich die ja gar nicht, weil die Nachbarin einen Schlüssel hat.
Ich möchte noch einen Whisky. Aber die Flasche ist wirklich leer.
Die Viale Sant’Antonio in Varese ist eine kerzengerade, langweilige Straße. Mietshaus reiht sich an Mietshaus, jedes einzelne sagt: Geh weiter, hier gibt’s nichts Besonderes. Verblichene Farben, verrostete Balkongitter, Kabelsalat an den Mauern. In der Nähe der Nummer 64 gibt es eine Bushaltestelle, eine Reinigung, eine geschlossene Bäckerei und einen Reparaturladen für Elektrogeräte. Cristina Conte hat ein eigenes kleines Messingschild mit ihrem Namen und einer Klingel am Türrahmen des Hauseingangs angeschraubt – über dem chaotisch beschrifteten Klingelbrett der anderen Bewohner. Vielleicht wohnt sie ganz oben, in einem ausgebauten Dachgeschoss?
Heute Morgen habe ich noch zweimal ihre Handynummer gewählt.
Piep, piep. »Fehlgeschlagener Anruf«.
Jetzt drücke ich die Messingklingel und warte auf den Ton eines Türöffners. Die Tür ist mehr ein Tor, zweiflüglig, ich vermute dahinter eine Durchfahrt in den Innenhof. Eine Sprechanlage gibt es nicht. Nach drei Versuchen gebe ich auf und klingele der Reihe nach von unten nach oben bei den anderen Bewohnern. Endlich ertönt ein leises Summen, und der eine Türflügel lässt sich aufdrücken.
In der Durchfahrt steht an der Wand ein Motorrad unter einer schweren grauen Plane. Ich hebe sie ein Stück an. Es ist Cristinas alte Moto Guzzi. Auf ihr haben wir mal einen Ausflug um den See gemacht. An jenem Abend habe ich mir auf dem Rücksitz so allerhand ausgemalt für uns beide. Ihre Haare wehten in mein Gesicht, und der Duft hat mich glücklich gemacht.
Oben, im zweiten Stock, erwartet mich ein ernster Mann am Treppenrand. Bart, Brille, dicker Bauch. Er mustert mich von oben bis unten.
»Sehr freundlich von Ihnen, den Schneematsch bis hier hoch zu tragen«, sagt er und macht eine Kopfbewegung in Richtung meiner Füße.
»Scusi«, sage ich. Entschuldigung. Ich frage ihn nach Cristina Conte, sage, wir von ASPEM könnten sie nicht erreichen. »Ist sie verreist? Ausgezogen?«
»Keine Ahnung«, antwortet er. »Die ist so leise, man weiß eh nie, ob sie zu Hause ist. Schleicht nach oben, schleicht nach unten, oft nachts. Stella im dritten Stock sagt, sie ist bei der Polizei. Kriminalpolizei.«
»Stella?«
»Stella Badoni.«
Stella Badoni öffnet ihre dunkelgrüne Wohnungstür nach dem ersten Klingeln so schnell, als hätte sie dahinter gewartet. Und sie sieht schon am Vormittag so aus, als wäre sie abends zu einem Dinner beim Bürgermeister eingeladen. Mindestens siebzig ist sie, würde ich schätzen, sie trägt ein dunkelblaues, faltenfreies Kostüm, eine weiße Bluse darunter und ein rotes Seidentuch um den Hals. Ein goldener Reif hält ihre schwarz gefärbten Haare zurück, ihr Gesicht ist stark geschminkt.
Una donna classica, würde mein Freund Ambrogio sagen. Eine klassische Frau. Tatsächlich werden diese alten Italienerinnen immer seltener, die wie Festungen des guten Geschmacks in jeder Situation unangreifbar gut aussehen. Wir sprechen zwei, drei Minuten, dann bietet sie mir einen Kaffee und einen Stuhl in ihrer Küche an. Auf dem Tisch, auf dem Fenstersims und sogar auf dem Kühlschrank stehen merkwürdige kleine Figuren aus bemalten Walnussschalen.
»Meine Enkelin«, sagt Stella stolz. »Sie ist eine große Künstlerin.«
Menschen wie Stella Badoni wünscht man sich bei jeder polizeilichen Ermittlung – zumindest am Anfang. Menschen, die gerne behilflich sind, die gerne reden, die auch ungefragt so viel erzählen, wie sie wissen.
Cristina Conte sei schon seit Mitte Dezember nicht mehr in ihrer Wohnung gewesen. Ein Polizeibeamter habe vier Bonsaibäume vorbeigebracht, mit der Bitte, sie zu pflegen.
»Das war wohl ein Kollege von ihr, er sagte, Signora Conte sei in Kur.« Sie schüttelt den Kopf. »Der hatte bestimmt keine Ahnung, wie kompliziert diese Bonsais sind. Ich hab’s gegoogelt. Lieber Gott, das ist eine Lebensaufgabe, sage ich Ihnen. Nicht ab und zu gießen und fertig. Ha! Schön wär’s.«
Sie sagt, dass Cristina Conte eine nette Frau ist, dass sie viel arbeitet, zu viel, und dass sie nie, nie, nie Besuch bekommt. »Und viel reden tut sie auch nicht. Ab und zu ein paar Sätze übers Wetter oder die Politik.«
Nein, einen Schlüssel zur Wohnung hat sie nicht, auch sonst niemand im Haus, soviel sie weiß.
Ich lüge und sage, dass ich schon von der Polizei einen bekommen habe.
»Sind die Polizisten heutzutage nicht komisch?«, sagt Stella.
»Warum?«, frage ich.
»So weich irgendwie, so gar nicht entschlossen«, sagt sie. »Dieser Mann hat mich mehr an einen Pfarrer erinnert, der die Beichte abnimmt, als an einen Verbrecherjäger.«
Ich denke an Cristinas jungen Kollegen und male mir das Bild aus, das Stella von einem Polizisten hat. Ich hätte dem sicher auch nicht entsprochen. Ich bedanke mich und mache mich auf den Weg zwei Stockwerke weiter nach oben. An Cristinas Wohnungstür ist jedenfalls kein Polizeisiegel. Die Vermutung mit dem ausgebauten Dachgeschoss war wohl richtig. Die Tür ist ziemlich neu und das Schloss ein modernes Sicherheitsschloss. Da ich definitiv aus der Übung bin, brauche ich eine ganze Weile, bis das Schloss mit einem lauten Knacken aufspringt.
Es ist ein großer Unterschied, ob man mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss in eine fremde Wohnung eindringt – oder illegal, wie ein Dieb. Meine Gedanken rasen, meine Hände fliegen, mein Puls ist hoch.
Du hast alle Zeit der Welt, sage ich mir. Niemand wird dich stören, höchstens Cristina selbst. Dann wäre meine Mission ohnehin beendet.
Mission? Was für eine Mission?
Ich bin ein liebeskranker Stalker, der im Leben der Frau rumschnüffelt, die ihn abserviert hat. Ich begehe eine Straftat und riskiere mein wunderbares neues Leben. Der Impuls, hier schleunigst wieder zu verschwinden, hämmert in meiner Blutbahn. In der Stille der Wohnung kann ich diesen Hammer physisch hören.
Eine andere Stimme in mir sagt: Feigling. Diese Frau bedeutet dir etwas, vielleicht braucht sie deine Hilfe. Irgendetwas stimmt hier nicht. Wenn nicht du, wer sonst wird hier etwas unternehmen? Die Polizisten von heute sind Weicheier, hat die Nachbarin gesagt oder jedenfalls gemeint. Und du bist auch so ein Weichei.
Cristinas Wohnung besteht aus einem kleinen Flur und vier Räumen. Wohnküche, Schlafzimmer, Bad – und ein viertes