Alexandre Dumas
Die drei Musketiere
Roman
Aus dem Französischen von August Zoller
FISCHER E-Books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Abbildung: John Millar Watt,»Twenty Years After: The Capture of D'Artagnan« ©Bridgeman Art Library
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-400848-6
Am ersten Montag des Monats April 1625 schien der Marktflecken Meung, wo der Verfasser des Romans der Rose geboren wurde, in einem so vollständigen Aufruhr begriffen zu sein, als ob die Hugenotten gekommen wären, um ein zweites La Rochelle daraus zu machen. Mehrere Bürger beeilten sich, als sie die Frauen zur Hauptstraße stürzen sahen und die Kinder auf den Türschwellen schreien hörten, den Kürass umzuschnallen und, nachdem sie ihre Unsicherheit mit dem Griff zu einer Muskete oder Partisane überwunden hatten, zum Gasthof »Franc Meunier« zu laufen, vor dem sich eine lärmende, neugierige, dichte Menschenansammlung drängte, die von Minute zu Minute anwuchs.
Zu dieser Zeit waren solche panischen Schrecken gar häufig, und wenige Tage vergingen, ohne dass die eine oder andere Stadt irgendein Ereignis dieser Art in ihre Archive einzutragen hatte. Da gab es die adeligen Herren, die gegeneinander Krieg führten; da war der König, der den Kardinal bekriegte, und der Spanier, der den König bekriegte. Außer diesen stillen oder öffentlichen, geheimen oder erklärten Kriegen gab es Diebe, Bettler, Hugenotten, Wölfe und Lakaien, die mit aller Welt im Krieg lagen. Die Bürger bewaffneten sich immer gegen die Diebe, gegen die Wölfe, gegen die Lakaien, häufig gegen die adeligen Herren und die Hugenotten, zuweilen gegen den König – aber nie gegen den Kardinal und den Spanier. Infolge dieser festen Gewohnheit geschah es, dass die Bürger an jenem ersten Montag des Monats April 1625, als sie das Gelärme vernahmen und weder die gelbroten Standarten noch die Livreen des Herzogs von Richelieu sahen, zum Gasthof »Franc Meunier« eilten.
Hier angelangt, vermochte jeder die Ursache dieses Aufruhrs zu sehen und zu begreifen.
Ein junger Mann … entwerfen wir sein Porträt mit einem Federzug: Man denke sich Don Quijote mit achtzehn Jahren; Don Quijote ohne Bruststück, ohne Panzerhemd und ohne Beinschienen; Don Quijote in einem wollenen Wams, dessen blaue Farbe sich in eine unbestimmbare Nuance von Weinhefe und Himmelblau verwandelt hatte. Langes, braunes Gesicht, hervorspringende Backenknochen (ein Zeichen von Schlauheit), außerordentlich stark entwickelte Kiefermuskeln – ein untrügliches Zeichen, an dem der Gascogner selbst ohne Barett zu erkennen ist, und unser junger Mann trug ein mit einer Art von Feder verziertes Barett; der Blick offen und intelligent; die Nase gebogen, aber fein gezeichnet; zu groß für einen Jüngling, zu klein für einen gestandenen Mann, würde ihn ein ungeübtes Auge für einen reisenden Pächterssohn gehalten haben, hätte er nicht den langen Degen getragen, der ihm, an einem ledernen Wehrgehänge befestigt, beim Gehen an die Waden schlug und an das struppige Fell seines Pferdes, wenn er ritt.
Denn unser junger Mann hatte ein Pferd, und dieses Ross war sogar so merkwürdig, dass es auch wirklich auffiel. Es war ein Klepper aus dem Béarn, zwölf bis vierzehn Jahre alt, von gelber Farbe, ohne Haare am Schweif, aber nicht ohne Fesselgeschwüre an den Beinen, ein Tier, das, obwohl es den Kopf im Gehen noch unter die Knie sinken ließ, was die Anwendung des Sprungriemens überflüssig machte, noch seine acht Meilen am Tag zurücklegte. Unglücklicherweise verbargen sein seltsames Fell und sein fehlerhafter Gang die geheimen Vorzüge dieses Pferdes so gut, dass in einer Zeit, wo sich jedermann auf Pferde verstand, die Erscheinung der genannten Mähre in Meung, wo sie vor ungefähr einer Viertelstunde durch das Beaugency-Tor eingetroffen war, allgemeines Aufsehen erregte und somit auch den Reiter in ein ungünstiges Licht stellte.
Und dieses Aufsehen war für den jungen d’Artagnan (denn so hieß der Don Quijote dieser zweiten Rosinante) umso peinlicher, als er sich die lächerliche Seite nicht verhehlen konnte, die ihm, ein so guter Reiter er auch war, ein solches Pferd gab. So hatte er dieses Geschenk seines Vaters auch nur mit einem schweren Seufzer entgegengenommen. Es war ihm nicht unbekannt, dass dieses Tier einen Wert von höchstens zwanzig Livres hatte; die Worte allerdings, von denen die Gabe begleitet wurde, waren unschätzbar.
»Mein Sohn«, hatte der gascognische Edelmann in dem reinen Patois des Béarn gesagt, den Heinrich IV. nie hatte ablegen können, »mein Sohn, dieses Pferd ist vor bald dreizehn Jahren in dem Hause deines Vaters geboren und seit dieser Zeit hiergeblieben, so dass du gar nicht anders kannst, als es zu lieben. Verkaufe es nie, lass es ruhig und ehrenvoll an Altersschwäche sterben, und wenn du einen Feldzug mit ihm machst, so schone es, wie du einen alten Diener schonen würdest. Bei Hofe«, fuhr Vater d’Artagnan fort, »wenn du die Ehre hast, dorthin zu kommen, eine Ehre, auf die wir übrigens vermöge unseres alten Adels Anspruch erheben dürfen, halte würdig deinen Namen als Edelmann aufrecht, der von unsern Ahnen seit fünfhundert Jahren auf ruhmvolle Weise geführt worden ist. Um deiner selbst und der deinigen willen – unter den deinigen verstehe ich deine Verwandten und deine Freunde – dulde nie etwas, außer von dem Herrn Kardinal und vom König. Durch seinen Mut, höre wohl, nur durch seinen Mut macht ein Edelmann heutzutage sein Glück. Wer eine Sekunde zögert, lässt sich vielleicht den Köder entgehen, den ihm das Glück gerade während dieser Sekunde darreichte. Du bist jung, du musst aus zwei Gründen tapfer sein: einmal, weil du ein Gascogner, und dann, weil du mein Sohn bist. Fürchte die Gelegenheit nicht und suche das Abenteuer. Ich habe dich den Degen handhaben gelehrt, du besitzt einen eisernen Kniebug und eine stählerne Handwurzel; schlage dich bei jeder Veranlassung; schlage dich umso mehr, als Zweikämpfe verboten sind und es deshalb doppelten Mutes bedarf, sich zu schlagen. Mein Sohn, ich habe dir nur fünfzehn Taler, mein Pferd und die Ratschläge zu geben, die du soeben vernommen hast. Deine Mutter wird das Rezept zu einem gewissen Balsam mit dazutun, das sie von einer Zigeunerin erhalten hat, einem Balsam, der die wunderbare Kraft besitzt, jede Wunde zu heilen, die nicht gerade das Herz betrifft. Ziehe aus allem deinen Nutzen, lebe glücklich und lange.
Ich habe nur ein Wort hinzuzufügen. Ich will dir ein Beispiel nennen, nicht das meinige, denn ich bin nie bei Hof gewesen und habe nur die Religionskriege als Freiwilliger mitgemacht. Ich spreche von Monsieur de Tréville, der einst mein Nachbar war und die Ehre hatte, als Kind mit unserem König Ludwig XIII., den Gott erhalten möge, zu spielen. Zuweilen arteten ihre Spiele in Schlachten aus, und bei diesen Schlachten war der König nicht immer der Stärkere. Die Schläge, die er abbekam, flößten ihm große Achtung und Freundschaft für Monsieur de Tréville ein. Später schlug sich Monsieur de Tréville fünfmal während seiner ersten Reise nach Paris mit anderen; vom Tode des seligen Königs an bis zur Volljährigkeit des jungen, ohne die Kriege und Belagerungen zu rechnen, siebenmal, und von dieser Volljährigkeit an bis auf den heutigen Tag wohl hundertmal! Nun ist er, allen Edikten, Ordonnanzen und Urteilssprüchen zum Trotz, Hauptmann der Musketiere, das heißt Anführer einer Legion von Cäsaren, die der König sehr hoch achtet und der Kardinal fürchtet, der sich sonst bekanntlich vor nichts zu fürchten pflegt. Noch mehr, Monsieur de Tréville nimmt jährlich 10 000 Taler ein; er ist also ein sehr vornehmer Herr. Er hat angefangen wie du, besuche ihn mit diesem Brief und richte dein Benehmen nach seinen Anweisungen, damit es dir ergehe wie ihm.«
Darauf gürtete Vater d’Artagnan dem Jüngling seinen eigenen Degen um, küsste ihn zärtlich auf beide Wangen und gab ihm seinen Segen.
Als er das väterliche Zimmer verließ, begegnete der junge Mann seiner Mutter, die ihn mit dem besagten Rezept erwartete, dessen häufige Anwendung die soeben erhaltenen Ratschläge wohl erforderlich machen würden. Der Abschied war diesmal länger und zärtlicher als der vorherige. Nicht als ob Monsieur d’Artagnan seinen Sohn, der sein einziger Sprössling war, nicht geliebt hätte, aber er war ein Mann und hätte es als eines Mannes unwürdig erachtet, sich seiner Rührung hinzugeben, während Madame d’Artagnan eine Frau und überdies Mutter war. Sie weinte schrecklich, und wir müssen es d’Artagnan dem Jüngeren zum Lob nachsagen, dass er sich trotz seiner Anstrengungen, ruhig zu bleiben, wie es die Pflicht eines zukünftigen Musketiers war, von der Natur hinreißen ließ und eine Menge Tränen vergoss, von denen er nur mit großer Mühe die Hälfte verbergen konnte.
Am selben Tag machte sich der junge Mann auf den Weg, ausgerüstet mit den drei väterlichen Geschenken, die, wie gesagt, aus fünfzehn Talern, dem Pferd und dem Brief an Monsieur de Tréville bestanden; die Ratschläge waren, wie man sich wohl denken kann, obendrein gegeben worden. Mit einem solchen Vademekum erschien d’Artagnan in moralischer wie in physischer Hinsicht als eine getreue Kopie des Helden von Cervantes, mit dem wir ihn so glücklich verglichen, als wir uns durch unsere Chronistenpflichten veranlasst sahen, sein Bild zu skizzieren. Don Quijote hielt die Windmühlen für Riesen und die Schafe für Armeen, d’Artagnan nahm jedes Lächeln für eine Beleidigung und jeden Blick für eine Herausforderung. Demzufolge hielt er seine Faust von Tarbes bis Meung geballt und fuhr wenigstens zehnmal am Tag an seinen Degenknauf; die Faust traf indessen keinen Kinnbacken, und der Degen kam nicht aus der Scheide. Nicht als ob der Anblick der unglückseligen gelben Mähre nicht oftmals ein Lächeln auf den Gesichtern der Vorübergehenden hervorgerufen hätte, aber da über dem Klepper ein Degen von beachtlicher Größe klirrte und über diesem Degen ein mehr wildes als stolzes Auge glänzte, so unterdrückten die Passanten ihre Heiterkeit, oder wenn ihre Heiterkeit mächtiger wurde als ihre Klugheit, so suchten sie wenigstens wie die antiken Masken nach nur einer Seite hin zu lachen. D’Artagnan blieb also majestätisch und in seinen Empfindungen unverletzt, bis er in dem unseligen Städtchen Meung eintraf.
Hier aber, als er an der Tür des »Franc Meunier« vom Pferd stieg, ohne dass irgendjemand, Wirt, Kellner oder Hausknecht, erschien, um ihm den Steigbügel zu halten, erblickte d’Artagnan an einem halbgeöffneten Fenster des Erdgeschosses einen Edelmann von schöner Gestalt und vornehmem Aussehen, jedoch leicht mürrischer Miene, der mit zwei Personen sprach, die ihm mit großer Untertänigkeit zuzuhören schienen. D’Artagnan glaubte natürlich, seiner Gewohnheit gemäß, der Gegenstand des Gesprächs zu sein, und horchte. Diesmal hatte er sich nur halb getäuscht; es war zwar nicht von ihm die Rede, aber von seinem Pferd, dessen Eigenschaften der Edelmann seinen Zuhörern aufzählte, und da diese Zuhörer, wie gesagt, große Ehrfurcht vor dem Erzähler zu hegen schienen, so brachen sie jeden Augenblick von neuem in schallendes Gelächter aus. Da nun ein halbes Lächeln reichte, um den jungen Mann zum Zorn zu reizen, so begreift man leicht, welchen Eindruck eine so geräuschvolle Heiterkeit auf ihn ausüben musste.
D’Artagnan wollte sich jedoch zuerst über die Physiognomie jenes Unverschämten ins Bild setzen, der es wagte, sich über ihn lustig zu machen. Er heftete seinen stolzen Blick auf den Fremden und erkannte in ihm einen Mann von vierzig bis fünfundvierzig Jahren, mit schwarzen, durchdringenden Augen, bleicher Gesichtsfarbe, stark hervortretender Nase und schwarzem, perfekt gestutztem Schnurrbart; gekleidet war er in ein Wams und veilchenblaue Beinkleider mit Schnürnesteln von derselben Farbe, ohne jede weitere Zierde als die üblichen Ärmelschlitze, durch die das Hemd durchschien. Wams und Beinkleider schienen, obwohl neu, doch zerknittert wie lange in einem Mantelsack eingeschlossene Reisekleider. D’Artagnan stellte all dies mit der Geschwindigkeit des scharfen Beobachters fest, und ohne Zweifel von einem instinktartigen Gefühl angetrieben, das ihm sagte, dieser Fremde müsse einen großen Einfluss auf sein zukünftiges Leben haben.
Da nun in dem Moment, als d’Artagnan sein Auge auf den Edelmann mit der veilchenblauen Hose heftete, dieser Herr eine seiner gelehrtesten und gründlichsten Erläuterungen bezüglich der Mähre aus dem Béarn zum Besten gab, so brachen seine Zuhörer in ein schallendes Gelächter aus, und er selbst ließ augenscheinlich gegen seine Gewohnheit ein blasses Lächeln, wenn man so sagen darf, über sein Antlitz huschen. Diesmal konnte kein Zweifel bestehen, d’Artagnan war wirklich beleidigt. Erfüllt von dieser Überzeugung, drückte er sein Barett tief ins Gesicht und rückte, indem er sich Mühe gab, einige von den höfischen Mienen nachzuahmen, die er in der Gascogne bei reisenden vornehmen Herren abgeschaut hatte, eine Hand auf die Glocke seines Degens, die andere auf die Hüfte gestützt, vor. Leider verblendete ihn der Zorn mit jedem Schritt immer mehr, und statt einer würdigen stolzen Rede, die er sich im Stillen für seine Herausforderung zurechtgelegt hatte, lag ihm schließlich nichts anderes auf der Zunge als eine plumpe Grobheit, die er mit einer wütenden Gebärde begleitete.
»He, mein Herr«, rief er, »mein Herr, der Ihr Euch hinter jenem Laden verbergt, ja, Ihr, sagt mir doch, über wen Ihr lacht, dann wollen wir zusammen lachen.«
Der Edelmann richtete langsam die Augen von dem Pferd auf den Reiter, als ob er einiger Zeit bedurfte, um zu begreifen, dass so seltsame Worte tatsächlich an ihn gerichtet wurden; als ihm daran kein Zweifel mehr blieb, runzelte er leicht die Stirn und antwortete nach einer ziemlich langen Pause mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Ironie und Überheblichkeit:
»Ich spreche nicht mit Euch.«
»Aber ich spreche mit Euch«, rief der junge Mann, ganz außer sich über diese Mischung von Unverschämtheit und guten Manieren, von Anstand und Verachtung.
Der Unbekannte betrachtete ihn noch einen Augenblick mit seinem leichten Lächeln und zog sich langsam vom Fenster zurück, kam dann aus dem Wirtshaus, näherte sich d’Artagnan bis auf zwei Schritte und blieb vor dem Pferd stehen. Seine ruhige Haltung und seine spöttische Miene hatten die Heiterkeit derjenigen gesteigert, mit denen er geplaudert hatte und die am Fenster geblieben waren. Als d’Artagnan ihn auf sich zukommen sah, zog er seinen Degen einen Fuß lang aus der Scheide.
»Dieses Pferd ist offenbar oder war vielmehr in seiner Jugend eine Butterblume«, sprach der Unbekannte, während er in seiner Musterung fortfuhr, und wandte sich dabei an seine Zuhörer am Fenster, ohne dass er die Erbitterung d’Artagnans, der doch zwischen ihnen stand, im Geringsten zu beachten schien. »Es ist eine in der Botanik sehr bekannte, aber bis jetzt bei den Pferden sehr seltene Farbe.«
»Wer über das Pferd lacht«, rief der Möchtegern-Tréville wütend, »tut dies, weil er es nicht wagt, über den Herrn zu lachen.«
»Ich lache nicht oft, mein Herr«, erwiderte der Unbekannte, »wie Ihr selbst an meinen Gesichtszügen ablesen könnt, aber ich möchte mir doch gerne das Recht vorbehalten, zu lachen, wann immer es mir beliebt.«
»Und ich«, rief d’Artagnan, »ich will nicht, dass irgendjemand über mich lacht, wenn es mir missfällt!«
»Wirklich, mein Herr?«, erwiderte der Unbekannte, ruhiger als zuvor, »nun denn, das ist nicht mehr als billig.«
Und er drehte sich schnurstracks um und schickte sich an, durch das große Tor in das Gasthaus zurückzukehren, wo d’Artagnan bei seiner Ankunft ein aufbruchsbereit gesatteltes Pferd aufgefallen war.
Aber d’Artagnan war nicht der Charakter, dem es möglich gewesen wäre, einen Menschen ziehen zu lassen, der die Frechheit gehabt hatte, über ihn zu spotten. Er zog seinen Degen ganz aus der Scheide und ging dem Mann hinterher, wobei er rief:
»Umgedreht, mein Herr Spötter, damit ich Euch nicht auf den Rücken schlage.«
»Mich schlagen, mich?«, sagte der andere, der auf dem Absatz kehrtmachte und den jungen Mann mit ebenso großer Verwunderung wie Verachtung anschaute. »Geht, mein Lieber, Ihr seid ein Narr!« Dann fuhr er mit leiser Stimme, und als ob er mit sich selbst spräche, fort: »Das ist ärgerlich; welch ein Fund wäre dies für Seine Majestät, die überall nach Leuten sucht, um sie als Musketiere zu rekrutieren.«
Er hatte kaum geendet, als d’Artagnan mit seiner Degenspitze einen so wütenden Stoß nach ihm führte, dass er, ohne einen sehr raschen Sprung rückwärts, wahrscheinlich zum letzten Mal gescherzt hätte. Der Unbekannte sah jetzt, dass die Sache über einen Spaß hinausging; er zog seinen Degen, begrüßte seinen Gegner und ging würdevoll in Positur. Im selben Augenblick aber fielen seine zwei Zuhörer in Begleitung des Wirts mit Stöcken, Schaufeln und Feuerzangen über d’Artagnan her. Dadurch wurde sein Angriff so abrupt und gründlich abgelenkt, dass d’Artagnans Gegner, während dieser sich umwandte, um einen Hagel von Schlägen abzuwehren, seinen Degen mit der größten Gelassenheit einsteckte und von einem Akteur, der er beinahe geworden wäre, wieder zu einem Zuschauer des Kampfes wurde – eine Rolle, deren er sich mit seiner gewöhnlichen Unbewegtheit entledigte. Nichtsdestoweniger murmelte er durch die Zähne:
»Die Pest über alle Gascogner! Setzt ihn wieder auf sein orangefarbiges Pferd, er mag zum Teufel gehen.«
»Nicht ohne dich getötet zu haben, Feigling!«, rief d’Artagnan, während er sich so gut wie möglich und ohne einen Schritt zurückzuweichen, gegen seine drei Feinde, die ihn mit Schlägen überhäuften, zur Wehr setzte.
»Noch so eine Gascognade«, murmelte der Edelmann. »Bei meiner Ehre, diese Gascogner sind unverbesserlich! Setzt also den Tanz fort, da er es durchaus so will. Wenn er einmal müde ist, wird er schon sagen, es sei genug.«
Aber der Unbekannte wusste noch nicht, mit was für einem hartnäckigen Menschen er es zu tun hatte; d’Artagnan war nicht der Mann, der um Gnade gebeten hätte. Der Kampf dauerte also noch einige Sekunden fort, doch endlich ließ d’Artagnan erschöpft seinen Degen fahren, den ein Knüppelhieb entzweibrach. Ein anderer Schlag, der seine Stirn traf, schmetterte ihn praktisch im selben Moment blutend und fast ohnmächtig nieder. In diesem Augenblick kamen von allen Seiten Leute herbeigelaufen. Der Wirt fürchtete das Aufsehen und trug den Verwundeten mit Hilfe einiger Kellner in die Küche, wo man ihn notdürftig versorgte.
Der Edelmann aber hatte seinen früheren Platz am Fenster wieder eingenommen und betrachtete mit einer gewissen Ungeduld die umherstehende Menge, deren Verweilen ihm sehr ärgerlich zu sein schien.
»Nun! Wie geht es dem Wüterich?«, fragte er, als er den Wirt eintreten hörte, der sich nach seinem Befinden erkundigen wollte.
»Eure Exzellenz sind gesund und wohlbehalten?«, fragte der Wirt.
»Ja, vollkommen gesund und wohlbehalten, mein lieber Wirt, aber ich habe gefragt, was aus unserem jungen Mann geworden ist.«
»Es geht ihm besser«, erwiderte der Wirt, »er ist in Ohnmacht gefallen.«
»Wirklich?«, sprach der Edelmann.
»Doch ehe er in Ohnmacht fiel, raffte er alle seine Kräfte zusammen, rief nach Euch und forderte Euch heraus.«
»Dieser Bursche ist also der leibhaftige Teufel!«, rief der Unbekannte.
»O nein, Eure Exzellenz, es ist kein Teufel«, entgegnete der Wirt mit einer verächtlichen Grimasse, »denn während seiner Ohnmacht haben wir ihn durchsucht und in seinem Päckchen nicht mehr als ein Hemd, in seiner Börse keine zwölf Taler gefunden, was ihn jedoch nicht davon abhielt, kurz bevor er in Ohnmacht fiel, zu bemerken, wenn dergleichen in Paris geschehen wäre, so müsstet Ihr dies sogleich bereuen, während Ihr es hier erst später bereuen würdet.«
»Dann ist er irgendein verkleideter Prinz von Geblüt«, sagte der Unbekannte kalt.
»Ich teile Euch dies mit, gnädiger Herr«, versetzte der Wirt, »damit Ihr auf Eurer Hut sein möget.«
»Und er hat in seiner Wut keinen Namen genannt?«
»Allerdings, er schlug an seine Tasche und sagte: ›Wir wollen sehen, was Monsieur de Tréville zu der Beleidigung sagen wird, die seinem Schützling widerfahren ist.‹«
»Monsieur de Tréville?«, sprach der Unbekannte mit steigender Aufmerksamkeit. »Er schlug an seine Tasche, während er den Namen des Monsieur de Tréville aussprach? … Hört, mein lieber Wirt, während Euer junger Mann in Ohnmacht lag, habt Ihr sicherlich nicht versäumt, ein wenig in diese Tasche zu schauen. Was fand sich darin?«
»Ein Brief, adressiert an Monsieur de Tréville, Hauptmann der Musketiere.«
»Wirklich?«
»Es ist, wie ich Eurer Exzellenz zu sagen die Ehre habe.«
Der Wirt, der nicht eben mit übergroßem Scharfsinn begabt war, gewahrte den Ausdruck nicht, den seine Worte auf dem Gesicht des Unbekannten hervorriefen. Dieser entfernte sich von der Fensterbank, auf die er sich bis jetzt mit dem Ellbogen gestützt hatte, und legte seine Stirn in Falten wie ein Mensch, den etwas beunruhigt.
»Teufel!«, murmelte er zwischen den Zähnen, »sollte mir Tréville diesen Gascogner geschickt haben? Er ist noch sehr jung! Aber ein Degenstich bleibt ein Degenstich, welches Alter auch sein Spender haben mag, und man nimmt sich vor einem jungen Bürschchen weniger in Acht als vor anderen Leuten; zuweilen genügt ein schwaches Hindernis, um einem großen Plan in den Weg zu treten.«
Und der Unbekannte versank in ein Nachdenken, das mehrere Minuten währte.
»Hört einmal, Wirt«, sagte er, »werdet Ihr mich nicht von diesem Brausekopf befreien? Ich kann ihn mit gutem Gewissen nicht töten, und dennoch«, fügte er mit kühl drohender Miene hinzu, »ist er mir unbequem. Wo befindet er sich?«
»Im ersten Stock in der Stube meiner Frau, wo man ihn verbindet.«
»Hat er seine Kleidung und seine Tasche bei sich? Er hat sein Wams nicht ausgezogen?«
»All dies blieb im Gegenteil unten in der Küche. Aber wenn Euch dieser junge Irre unbequem ist …?«
»Gewiss. Er verursacht in Eurem Gasthaus ein Ärgernis, das ehrliche Leute nicht aushalten können. Geht hinauf, macht meine Rechnung und benachrichtigt meinen Lakaien.«
»Wie! Gnädiger Herr, Ihr verlasst uns schon?«
»Das konntet Ihr schon daraus ersehen, dass ich Euch Befehl gegeben hatte, mein Pferd zu satteln. Hat man mir nicht Folge geleistet?«
»Allerdings, und das Pferd steht fertig aufgezäumt unter dem großen Tor, wie Eure Exzellenz selbst haben sehen können.«
»Das ist gut. Tut, was ich Euch gesagt habe.«
»Soso!«, sprach der Wirt zu sich selbst, »sollte ihm vor dem jungen Burschen bange sein?«
Aber ein gebieterischer Blick des Unbekannten machte seinen Gedanken rasch ein Ende. Er verbeugte sich demütig und ging hinaus.
»Dieser Bursche darf Mylady nicht zu Gesicht bekommen«, fuhr der Fremde fort. »Sie muss bald da sein; sie bleibt schon allzu lange aus. Offenbar ist es besser, wenn ich das Pferd nehme und ihr entgegenreite … Könnte ich nur erfahren, was dieser Brief an Tréville enthält!« Und unter fortwährendem Murmeln wandte sich der Fremde nach der Küche.
Inzwischen war der Wirt, der nicht daran zweifelte, dass die Gegenwart des jungen Menschen den Unbekannten aus seiner Herberge vertrieb, zu seiner Frau hinaufgegangen, wo er d’Artagnan wieder bei Bewusstsein fand. Er machte ihm begreiflich, die Polizei könnte ihm einen schlimmen Streich spielen, da er mit einem vornehmen Herrn Streit angefangen habe – denn nach Meinung des Wirts konnte der Unbekannte nur ein vornehmer Herr sein –, und er veranlasste ihn, trotz seiner Schwäche aufzustehen und seinen Weg fortzusetzen. Halb betäubt, ohne Wams und den Kopf mit Leinenbinden umwickelt, stand d’Artagnan auf und ging, vom Wirt gedrängt, die Treppe hinab; als er aber in die Küche kam, war das Erste, was er sah, sein Gegner, der am Fußtritt einer schweren, mit zwei stattlichen normannischen Pferden bespannten Karosse in Seelenruhe plauderte.
Seine Gesprächspartnerin, deren Kopf im Rahmen des Kutschenschlags erschien, war eine Frau von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren. Wir haben bereits erwähnt, wie schnell d’Artagnan eine Physiognomie aufzufassen wusste; er sah also auf den ersten Blick, dass die Frau jung und hübsch war. Diese Schönheit fiel ihm umso mehr auf, als sie eine in den südlichen Gegenden, die d’Artagnan bis jetzt bewohnt hatte, ganz fremde Erscheinung war. Es handelte sich um eine hellhäutige Dame mit langen blonden, auf die Schultern herabfallenden Locken, großen, schmachtenden blauen Augen, rosigen Lippen und Alabasterhänden; sie sprach sehr lebhaft mit dem Unbekannten.
»Also befiehlt mir Seine Eminenz …«, sagte die Dame.
»Sogleich nach England zurückzukehren und sofort Nachricht zu geben, falls der Herzog London verlassen hat.«
»Und was meine übrigen Instruktionen betrifft? …«, fragte die schöne Reisende.
»Sie sind in dieser Schatulle enthalten, die Ihr erst jenseits des Kanals öffnen dürft.«
»Sehr wohl; und Ihr, was macht Ihr?«
»Ich kehre nach Paris zurück.«
»Ohne das freche Bürschchen zu züchtigen?«, fragte die Dame.
Der Unbekannte war im Begriff zu antworten, aber in dem Augenblick, als er den Mund öffnete, sprang d’Artagnan, der alles gehört hatte, auf die Schwelle der Küchentür.
»Das freche Bürschchen züchtigt andere«, rief er, »und ich hoffe, dass derjenige, den er zu züchtigen hat, ihm diesmal nicht entkommen wird.«
»Nicht entkommen wird?«, echote der Unbekannte, die Stirn in Falten legend.
»Nein, vor einer Dame, denke ich, werdet Ihr nicht zu fliehen wagen.«
»Bedenkt«, rief Mylady, als sie sah, dass der Edelmann die Hand an den Degen legte, »bedenkt, dass die geringste Verspätung alles verderben kann.«
»Ihr habt recht«, rief der Edelmann, »reist also Eurerseits, ich tue desgleichen.«
Und indem er der Dame mit dem Kopf zunickte, sprang er auf sein Pferd, während der Kutscher der Karosse sein Gespann kräftig mit der Peitsche antrieb. So stieben die Gesprächspartner im Galopp in die entgegengesetzten Richtungen der Straße auseinander.
»Heda! Eure Rechnung«, schrie der Wirt, dessen Ergebenheit für den Reisenden in tiefe Verachtung umschlug, als er sah, dass er sich entfernte, ohne seine Zeche zu bezahlen.
»Bezahle, Schlingel«, rief der Reisende im Galopp seinem Bedienten zu, der dem Wirt ein paar Geldstücke vor die Füße warf und dann eiligst seinem Herrn nachgaloppierte.
»Ha, Feigling, Elender, falscher Edelmann!«, rief d’Artagnan und lief dem Bedienten nach.
Aber der Verwundete war noch zu schwach, um eine solche Erschütterung auszuhalten. Kaum hatte er zehn Schritte gemacht, so klangen ihm die Ohren, er sah nichts mehr, ein Schleier von Blut zog über seine Augen, und er stürzte auf die Straße nieder, wobei er beständig schrie: »Feigling! Feigling! Feigling!«
»Er ist in der Tat sehr feige!«, murmelte der Wirt, indem er sich d’Artagnan näherte und sich durch diese Schmeichelei mit dem armen Jungen zu versöhnen suchte wie der Reiher aus der Fabel abends mit seiner Schnecke.
»Ja, sehr feige«, sagte d’Artagnan mit schwacher Stimme, »aber sie ist sehr schön.«
»Wer sie?«, fragte der Wirt.
»Mylady«, stammelte d’Artagnan und fiel zum zweiten Mal in Ohnmacht.
»Gleichviel«, sprach der Wirt, »es bleibt mir doch dieser da, den ich sicherlich einige Tage behalten werde. Da lassen sich immerhin elf Taler verdienen.«
Man weiß bereits, dass sich der Inhalt von d’Artagnans Börse gerade auf elf Taler belief.
Der Wirt hatte mit elf Tagen Krankheit zu einem Taler den Tag gerechnet; aber er hatte die Rechnung ohne seinen Gast gemacht. Am andern Morgen stand d’Artagnan schon um fünf Uhr auf, ging in die Küche hinab, verlangte außer einigen anderen Ingredienzien, deren Liste nicht überliefert ist, Wein, Öl und Rosmarin und bereitete sich, das Rezept seiner Mutter in der Hand, einen Balsam, mit dem er seine zahlreichen Wunden salbte; dann erneuerte er seine Kompressen selbst und wollte keine ärztliche Hilfeleistung gestatten. Der Wirksamkeit des Zigeunerbalsams und vielleicht auch ein wenig der Abwesenheit jedes Arztes hatte es d’Artagnan zu verdanken, dass er schon am selben Abend wieder auf den Beinen und am andern Tag beinahe völlig geheilt war.
In dem Augenblick aber, als er Rosmarin, Öl und Wein bezahlen wollte – die einzige Ausgabe des Herrn, der strenge Diät hielt, während das gelbe Ross, wenigstens nach Aussage des Wirts, dreimal so viel gefressen hatte, als sich vernünftigerweise bei seiner Gestalt voraussetzen ließ –, fand d’Artagnan in seiner Tasche nur noch seine kleine Samtbörse sowie die elf Taler, die sie enthielt; der Brief an Monsieur de Tréville jedoch war verschwunden.
Der junge Mann suchte diesen Brief zunächst mit großer Geduld, drehte seine Taschen um und nochmals um, durchwühlte seinen Mantelsack, öffnete und schloss seine Börse wieder und wieder; als er aber die Überzeugung gewonnen hatte, dass der Brief nicht mehr zu finden war, geriet er in einen dritten Wutanfall, der ihn leicht zu einem neuerlichen Verbrauch von aromatischem Wein und Öl hätte veranlassen können; denn als man sah, dass dieser junge Brausekopf sich erhitzte und drohte, er werde alles im Hause kurz und klein schlagen, wenn man seinen Brief nicht finde, da ergriffen der Wirt einen Spieß, seine Frau einen Besenstiel und seine Burschen dieselben Stöcke, die zwei Tage zuvor schon ihren Dienst getan hatten.
»Mein Empfehlungsschreiben«, schrie d’Artagnan, »mein Empfehlungsschreiben, zum Teufel, oder ich spieße euch alle auf wie die Fettammern!«
Unglücklicherweise hinderte ihn ein Umstand daran, seine Drohung wahr zu machen; sein Degen war erwähntermaßen beim ersten Kampf in zwei Stücke zerbrochen worden, was er völlig vergessen hatte. Als d’Artagnan wirklich vom Leder ziehen wollte, sah er sich schlicht mit einem Degenstumpf von acht bis zehn Zoll bewaffnet, den der Wirt sorgfältig wieder in die Scheide gesteckt hatte. Den übrigen Teil der Klinge hatte der Herr der Herberge geschickt auf die Seite gebracht, um sich einen Bratspieß daraus zu machen.
Diese Enttäuschung dürfte wohl unseren jähzornigen jungen Mann nicht zurückgehalten haben, aber der Wirt bedachte, dass die Forderung, die sein Gast an ihn stellte, völlig berechtigt war.
»In der Tat«, sprach er und senkte seinen Spieß, »wo ist der Brief?«
»Ja, wo ist dieser Brief?«, rief d’Artagnan. »Ich sage Euch vor allem, dass dieser Brief für Monsieur de Tréville bestimmt ist und dass er sich wiederfinden muss; geschieht dies nicht, so wird er schon dafür sorgen, dass er gefunden wird!«
Diese Drohung schüchterte den Wirt vollends ein. Nach dem König und dem Herrn Kardinal war Monsieur de Tréville wohl der Mann, dessen Name von Soldaten und sogar von Bürgern am häufigsten im Mund geführt wurde. Zwar gab es noch den Pater Joseph, aber sein Name wurde immer nur ganz leise ausgesprochen, so groß war der Schrecken, den die graue Eminenz einflößte, wie man den Vertrauten des Kardinals nannte.
Er warf also seinen Spieß weit von sich, befahl seiner Frau, dasselbe mit ihrem Besenstiel zu tun, und seinen Dienern, ihre Stöcke wegzulegen; dann ging er mit gutem Beispiel voran und begann nach dem verlorenen Brief zu suchen.
»Enthielt dieser Brief etwas Wertvolles?«, fragte der Wirt, nachdem er einen Augenblick fruchtlos gesucht hatte.
»Heiliger Gott, ich glaube es wohl!«, erwiderte der Gascogner, der mit Hilfe dieses Schreibens seinen Weg zu machen hoffte, »er enthielt mein ganzes Vermögen.«
»Anweisungen auf Spanien?«, fragte der Wirt unruhig.
»Anweisungen auf die Privatschatulle Seiner Majestät«, erwiderte d’Artagnan, der darauf zählte, er werde durch diese Empfehlung in den Dienst des Königs aufgenommen werden, und deshalb, ohne zu lügen, diese etwas kecke Antwort geben zu können glaubte.
»Teufel!«, rief der nunmehr völlig verzweifelte Wirt.
»Aber daran liegt nichts«, fuhr d’Artagnan mit typisch französischer Unverfrorenheit fort, »daran liegt nichts, das Geld zählt gar nicht; der Brief war alles. Ich hätte lieber tausend Goldmünzen verloren als diesen Brief.«
Es wäre nicht gewagter gewesen, zwanzigtausend zu sagen, aber eine gewisse jugendliche Schüchternheit hielt ihn zurück.
Da befiel eine plötzliche Eingebung den Wirt, der sich verloren wähnte, nachdem nichts zu finden war.
»Dieser Brief ist durchaus nicht verloren«, rief er.
»Ach!«, seufzte d’Artagnan.
»Nein, er ist Euch gestohlen worden.«
»Gestohlen! Und von wem?«
»Von dem Edelmann von gestern. Er ist in die Küche hinabgegangen, wo Euer Wams lag, und daselbst allein geblieben. Ich wollte wetten, dass er ihn gestohlen hat.«
»Meint Ihr?«, erwiderte d’Artagnan nicht sehr überzeugt, denn er kannte ja allein den ganz auf ihn bezogenen Inhalt des Briefes und sah nichts darin, was einen andern nach seinem Besitz hätte lüstern machen können. Keiner von den Dienern, keiner von den anwesenden Gästen hätte etwas davon gehabt, sich das Papier anzueignen.
»Ihr sagt also«, ergänzte d’Artagnan, »Ihr habt diesen frechen Edelmann im Verdacht?«
»Ich sage, dass ich vollkommen davon überzeugt bin«, fuhr der Wirt fort, »als ich ihm mitteilte, Euer Gnaden sei ein Schützling des Monsieur de Tréville und Ihr hättet sogar einen Brief an diesen erlauchten Herrn, da schien er sehr unruhig zu werden und fragte mich, wo dieser Brief sei; dann ging er sogleich in die Küche hinab, weil er wusste, dass Euer Wams dort lag.«
»Dann ist er mein Dieb«, sagte d’Artagnan, »ich werde mich bei Monsieur de Tréville darüber beklagen, und Monsieur de Tréville wird sich beim König beklagen.«
Daraufhin zog er majestätisch zwei Taler aus seiner Tasche, gab sie dem Wirt, der ihn mit dem Hut in der Hand bis vor die Tür begleitete, und bestieg wieder sein gelbes Ross, das ihn ohne weiteren Zwischenfall bis zur Porte Saint-Antoine in Paris trug, wo er es für drei Taler verkaufte, was sehr gut bezahlt war, da d’Artagnan es auf der letzten Etappe stark überbeansprucht hatte. Der Rosskamm, dem d’Artagnan die Mähre für besagte neun Livres abtrat, verbarg dem jungen Mann auch keineswegs, dass er diese außerordentliche Summe nur wegen der originellen Farbe des Tieres bezahlte.
D’Artagnan hielt also zu Fuß seinen Einzug in Paris, trug sein Päckchen unter dem Arm und marschierte so lange umher, bis er ein Zimmer fand, dessen Miete seinen kargen Mitteln entsprach. Es handelte sich um eine Art Mansarde in der Rue de Fossoyeurs, nicht weit vom Luxembourg.
Sobald d’Artagnan die Miete bezahlt hatte, nahm er seine Unterkunft in Besitz und verbrachte den restlichen Teil des Tages damit, Posamenten an sein Wams und seine Strümpfe anzunähen, die seine Mutter von einem beinahe neuen Wams seines Vaters abgetrennt und ihm heimlich zugesteckt hatte. Dann ging er zum Quai de la Ferraille, um seinen Degen mit einer neuen Klinge versehen zu lassen, und anschließend zum Louvre, wo er sich bei dem ersten Musketier, dem er begegnete, nach dem Palais des Monsieur de Tréville erkundigte. Es lag in der Rue du Vieux-Colombier, das heißt ganz in der Nähe der Wohnung, die d’Artagnan gemietet hatte – ein Umstand, der ihm als ein glückliches Vorzeichen für den Erfolg seiner Reise erschien.
Zufrieden mit der Art und Weise, wie er sich in Meung benommen hatte, ohne Gewissensbisse wegen der Vergangenheit, voll Vertrauen auf die Gegenwart und voll Hoffnung für die Zukunft, legte er sich hierauf nieder und schlief den Schlaf des Gerechten.
Dieser noch ganz provinzmäßige Schlaf währte bis um neun Uhr morgens, als er aufstand, um sich zu dem berühmten Monsieur de Tréville zu begeben, dem dritten Mann im Königreich, wenn es nach der Einschätzung seines Vaters ging.
Monsieur de Troisville, wie seine Familie in der Gascogne noch hieß, oder Monsieur de Tréville, wie er sich selbst in Paris schließlich nannte, hatte wirklich gerade so wie d’Artagnan angefangen, nämlich ohne einen Heller, aber mit jenem Grundstock an Kühnheit, Witz und Verstand, der bewirkt, dass der ärmste gascognische Krautjunker mehr an Hoffnungen zum väterlichen Erbteil erhält, als der reichste Edelmann des Perigord oder Berry in Wirklichkeit empfängt. Sein unverschämter Mut und sein noch viel unverschämteres Glück in einer Zeit, wo die Schläge wie Hagel fielen, hatten ihn auf die Höhe der schwer erklimmbaren Leiter gehoben, die man Hofgunst nennt und von deren Sprossen er immer vier auf einmal erstiegen hatte.
Er war der Freund des Königs, der, wie jedermann weiß, das Andenken seines Vaters Heinrich IV. sehr in Ehren hielt. Der Vater des Monsieur de Tréville hatte ihm in seinen Kriegen gegen die Liga so treu gedient, dass er ihm in Ermangelung von barem Geld – etwas, das dem Béarner sein ganzes Leben lang abging, denn er bezahlte seine Schulden stets mit dem einzigen Ding, das er nicht zu entlehnen brauchte, mit Witz –, dass er ihm in Ermangelung von barem Geld, wie gesagt, nach der Übergabe von Paris die Vollmacht verlieh, einen goldenen Löwen im roten Feld mit dem Wahlspruch Fidelis et fortis als Wappen zu führen. Das war zwar viel für die Ehre, aber wenig für sein Vermögen. Als der berühmte Gefährte des großen Heinrich starb, hinterließ er also seinem Herrn Sohn als einziges Erbe seinen Degen und seinen Wahlspruch. Dieser doppelten Gabe und dem fleckenlosen Namen, von dem sie begleitet war, hatte Monsieur de Tréville seine Aufnahme unter die Haustruppen des jungen Fürsten zu verdanken, wo er sich seines Schwerts so gut bediente und seiner Devise so treu war, dass Ludwig XIII., einer der besten Fechter seines Königreichs, zu sagen pflegte: Wenn er einen Freund hätte, der sich schlagen wollte, so würde er ihm den Rat geben, zum Sekundanten zuerst ihn selbst und dann Monsieur de Tréville oder vielleicht sogar diesen an erster Stelle zu nehmen.
Ludwig XIII. hegte eine wahre Anhänglichkeit an Tréville, eine königliche Anhänglichkeit, eine selbstsüchtige Anhänglichkeit allerdings, darum aber nicht weniger eine Anhänglichkeit. In dieser unglücklichen Zeit strebte man mit aller Macht danach, sich mit Männern vom Schlag Trévilles zu umgeben. Viele konnten sich den Beinamen fortis geben, der die zweite Hälfte seiner Devise bildete, aber nur wenige Edelleute hatten Anspruch darauf, sich Fidelis zu nennen, wie der erste Teil hieß. Tréville gehörte zu Letzteren; er war einer von den seltenen Menschen mit dem gehorchenden Verstand des Hundes, dem blinden Mut, dem raschen Auge, der schnellen Hand, ein Mann, dem das Auge nur gegeben schien, um zu sehen, ob der König mit jemandem unzufrieden war, und diesen jemand, einen Besme, einen Maurevers, einen Poltrot de Méré, einen Vitry niederzuschlagen. Tréville hatte bis jetzt nur die Gelegenheit gefehlt, aber er lauerte darauf, er hatte sich gelobt, sie beim Schopfe zu ergreifen, sobald sie in Reichweite wäre. Ludwig XIII. machte Tréville zum Hauptmann seiner Musketiere, die in Bezug auf Ergebenheit oder vielmehr Fanatismus für ihn dasselbe waren wie seine Leibwache für Heinrich III. und seine schottische Garde für Ludwig XI.
Der Kardinal wiederum blieb diesbezüglich nicht hinter dem König zurück. Als dieser zweite oder vielmehr erste König von Frankreich die eindrucksvolle Elitetruppe sah, mit der sich Ludwig XIII. umgab, wollte er ebenfalls eine Leibwache haben. So bekam er seine Musketiere, wie Ludwig XIII., und man sah diese beiden mächtigen Nebenbuhler in allen Provinzen Frankreichs und sogar in auswärtigen Staaten die berühmtesten Kampfhähne ausheben. Auch stritten sich Ludwig XIII. und Richelieu oft, wenn sie abends eine Partie Schach spielten, über die Meriten ihrer Bediensteten. Jeder lobte den Mut und die Haltung der seinigen, und während sie sich laut gegen Zweikämpfe und Händel aussprachen, stachelten sie dieselben ganz in der Stille gegeneinander auf, und die Niederlage oder der Sieg ihrer Leute bereitete ihnen wahren Kummer oder maßlose Freude. So erzählen es wenigstens die Memoiren eines Mannes, der bei einigen dieser Niederlagen und vielen dieser Siege beteiligt war.
Tréville hatte seinen Herrn bei dessen schwacher Seite gepackt, und dieser Geschicklichkeit verdankte er die lange und beständige Gunst eines Königs, der nicht den Ruf großer Treue in seinen Freundschaften hinterlassen hat. Mit einem verschmitzten Lächeln ließ er seine Musketiere vor dem Kardinal Armand Duplessis paradieren, wobei sich der graue Schnurrbart Seiner Eminenz vor Zorn sträubte. Tréville verstand sich vortrefflich auf den Krieg dieser Zeit, in der man, wenn man nicht auf Kosten des Feindes leben konnte, auf Kosten seiner Landsleute lebte; seine Soldaten bildeten eine gegen jedermann, nur gegen ihn nicht, unbotmäßige Legion lebendiger Teufel.
Aufgelöst, betrunken, mit Schmissen im Gesicht, so sah man die Musketiere des Königs oder vielmehr Monsieur de Trévilles in den Schenken, auf den Straßen, bei öffentlichen Lustbarkeiten, wo sie grölten und sich ihren Schnurrbart strichen, ihre Degen klirren ließen, aus lauter Mutwillen den Leibwachen des Kardinals Rippenstöße versetzten und unter tausenderlei Scherzen am helllichten Tag auf offener Straße vom Leder zogen; sie wurden zuweilen getötet, aber sie wussten gewiss, dass man sie in diesem Fall beweinte und rächte; öfter töteten sie selbst, aber sie wussten ebenso gewiss, dass sie nicht im Gefängnis verschimmeln würden, denn Monsieur de Tréville war da, um sie herauszuholen. So wurde das Loblied des Monsieur de Tréville auch in allen Tonlagen von diesen Männern gesungen, die den Satan nicht fürchteten, vor ihm aber zitterten wie Schüler vor ihrem Lehrer, seinem geringsten Wort gehorchten und stets bereit waren, sich töten zu lassen, um sich von einem Vorwurf reinzuwaschen.
Monsieur de Tréville hatte sich anfangs dieses mächtigen Hebels für den König und die Freunde des Königs, dann für sich selbst und für seine Freunde bedient. Übrigens findet man in keinem Memoirenwerk dieser Zeit, die so viele Memoiren hinterlassen hat, dass dieser würdige Edelmann, nicht einmal von seinen Feinden – und er hatte deren so viele unter den Männern der Feder wie unter denen des Degens – nirgends, sagen wir, findet man, dass dieser würdige Edelmann angeklagt worden wäre, er habe sich für die Mitwirkung seiner fanatischen Anhänger bezahlen lassen. Bei einem seltenen Talent für Intrigen, das ihn auf dieselbe Stufe mit den größten Intriganten stellte, war er ein ehrlicher Mann geblieben. Noch mehr, trotz der großen Stoßdegen, die lendenlahm machen, und der angestrengten Übungen, die ermüden, war er einer der galantesten Boudoirläufer, einer der feinsten Verehrer der Damenwelt, einer der geschraubtesten Schönredner seiner Zeit geworden; man sprach von Trévilles Liebesglück, wie man zwanzig Jahre zuvor von Bassompierre gesprochen hatte, und das wollte etwas heißen. Der Hauptmann wurde also bewundert, gefürchtet und geliebt, und dies bildet wohl den Höhepunkt menschlicher Glücksumstände.
Ludwig XIV. verschlang mit seiner weiträumigen Ausstrahlung alle kleinen Gestirne seines Hofes, sein Vater aber, eine Sonne pluribus impar, ließ jedem seiner Günstlinge seinen persönlichen Glanz, jedem seiner Höflinge seinen eigentümlichen Wert. Außer dem Lever des Königs und dem des Kardinals zählte man damals in Paris mehr als zweihundert einigermaßen besuchte Levers. Unter den zweihundert kleinen Levers war das von Tréville eines derjenigen, zu denen man sich am meisten drängte.
Der Hof seines in der Rue du Vieux-Colombier gelegenen Hauses glich einem Lager, und dies von morgens sechs Uhr im Sommer und von acht Uhr im Winter. Fünfzig oder sechzig Musketiere, die sich hier abzulösen schienen, um stets eine imposante Zahl darzustellen, gingen beständig in völliger Kriegsrüstung und zu jedem Tun bereit umher. Auf einer der großen Treppen, auf deren Raum unsere moderne Zivilisation ein ganzes Gebäude errichten würde, stiegen die Bittsteller von Paris, die irgendeine Gunst zu erhaschen suchten, auf und ab; ferner die Edelleute aus der Provinz, deren höchster Wunsch war, ins Korps aufgenommen zu werden, und die in allen Farben verbrämten Lakaien, die die Botschaften ihrer Gebieter an Herrn von Tréville überbrachten. Im Vorzimmer ruhten auf langen, kreisförmigen Bänken die Auserwählten, das heißt diejenigen, die berufen waren. Das Gesumme dauerte vom Morgen bis zum Abend, während Monsieur de Tréville in seinem an dieses Vorzimmer angrenzenden Kabinett Besuche empfing, Klagen anhörte, seine Befehle erteilte und, wie der König auf seinem Balkon im Louvre, sich nur an das Fenster zu stellen hatte, um Menschen und Waffen Revue passieren zu lassen.