Geeta S. Iyengar
Yoga für die Frau
Der Weg zu Gesundheit, Entspannung und innerer Kraft
Aus dem Englischen von Martina Mumprecht
Knaur e-books
Geeta S. Iyengar lehrt seit 1962 Yoga. Die Yoga-Meisterin steht in der Nachfolge ihres berühmten Vaters B. K. S. Iyengar und hat ein intensives Studium der indischen Philosophie und Medizin absolviert. Sie ist die Leiterin des Ramamani Iyengar Memorial Yoga Institute (RIMYI) in Poona und gibt weltweit Yoga-Seminare.
Die englische Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel »Yoga – A Gem for Women« bei Allied Publishers Private limited, New Delhi
© 2016 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 1983 bei Allied Publishers Private limited
© 1993/2007 der deutschsprachigen Ausgabe O. W. Barth Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic®, München
ISBN 978-3-426-43995-1
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Der Guru ist Brahman, der Guru ist Vishnu, der Guru ist Archyuta, der Gott.
Es gibt keinen, der größer ist als der Guru in allen drei Welten.
Der Guru schenkt göttliche Weisheit; er ist der spirituelle Führer und wie der große Gott selbst.
Er, der den Guru mit erhabener Hingabe verehrt, erlangt Jñāna.
Gott ist wie der Guru; der Guru ist wie Gott.
Es herrscht kein Unterschied zwischen den beiden.
Er soll mit großer Hingabe verehrt werden.
Dem Guru soll zu allen Zeiten gehorcht werden,
Mit aufrichtiger Hingabe gehorcht werden.
Er soll als Gott und Ātman gelten.
»Die Schuld gegenüber einer Mutter kann nie abgetragen werden.«
Zu den Lotosfüßen von Ammā, die in der Sphäre von Vishnu weilt, die mein Guru war, die mir die Freiheit und den moralischen Mut gab, den Weg des Yoga zu gehen, lege ich, ihre hingebungsvolle Tochter, dieses Buch nieder und widme es ihr in Ehrfurcht.
Ich war unschlüssig, obwohl beide – Verleger wie Autorin – mir versicherten, nur ich könne das Vorwort zu diesem Buch schreiben. Die Autorin, Geeta S. Iyengar, ist nicht nur meine Tochter, sondern auch meine Schülerin, und so war es für sie nur natürlich, den Segen des Vaters und Lehrers für ihre Arbeit zu erbitten. Der Verleger ist mein Freund und ebenfalls mein Schüler. Um unser gutes Verhältnis zueinander nicht zu gefährden, blieb mir gar nichts anderes übrig, als zuzusagen. Bei aller Freude über den Versuch meiner Tochter, zum Nutzen ihrer Schwestern über die Disziplinen und Übungen des Yoga zu schreiben, muß ich mich doch bemühen, ihr Werk so objektiv wie möglich zu betrachten.
Ohne Zweifel ist Yoga mein Atem selbst. Mein Leben und mein Sein sind von seiner Kunst, Wissenschaft und Philosophie durchdrungen. Geeta beobachtete zwar meine Übungen und meinen Unterricht des Yoga, zeigte aber keinerlei Neigung oder Wunsch, selbst damit anzufangen. Ihr Interesse dafür erwachte erst, als sie an Nephritis erkrankte. Fast hätte ihr Leiden einen tödlichen Ausgang genommen, denn die medizinische Behandlung brachte keine Besserung. Als unglücklicher Vater sah ich keine Möglichkeit, mit meinen dürftigen Einkünften die Unmengen an verschriebenen Medikamenten zu bezahlen. Da stellte ich sie vor die Wahl: Entweder sie wandte sich dem Yoga zu, dem einzigen Heilmittel für sie, oder sie wartete, bis die Krankheit ihr Opfer forderte. Obwohl sie noch sehr jung war – kaum zehn Jahre alt –, begriff sie mein Ultimatum sofort und entschloß sich, beim Yoga Zuflucht zu suchen. Sie gewann Vertrauen zu sich selbst und widmete von nun an ihr Leben der Übung des Yoga. Seitdem ging sie durch eine strenge Schule und lernte, diese schwierige Kunst zu meistern. Sie war eine hingebungsvolle Studentin, die Tag und Nacht mit Fleiß und Aufmerksamkeit übte. 1961 begann sie dann auch selbst zu unterrichten. Dieses Buch ist das Ergebnis ihrer fundierten Ausbildung und langjährigen Erfahrung.
Yoga nimmt auf der Suche nach Selbstverwirklichung – und damit Gottverwirklichung – eine einzigartige Stellung ein. Unser Körper ist ein Gefäß für die Fähigkeiten des Geistes, des Verstandes und der Seele. Damit sich der Körper aus seiner Verstrickung in Krankheiten befreien kann, muß der Verstand seine emotionalen Verhaftungen und seine intellektuelle Unruhe überwinden und die Ebene des vollkommenen Bewußtseins, frei von Vorurteilen und Dualitäten, erreichen. Dann erst wird der Körper des Übenden zur würdigen Wohnung, in der sich das reine Bewußtsein zu Hause fühlen kann. Das ist das Ziel dieses Buches.
Geetas Darstellung dieser Kunst, deren schwierige Techniken sie selbst beherrschen lernte, betont die große Bedeutung des Yoga im Leben der Frau und umfaßt eine Vielfalt von Āsanas mit ihrem großen Nutzen für Körper und Gesundheit, Prānāyāma mit seinen Bandhas und Dhyāna – Meditation. Ihre Übung ermöglicht es den danach Strebenden, ein friedliches und zufriedenes Leben zu führen. Nur sehr wenige Frauen haben Meisterschaft im Yoga erlangt wie Geeta, die bekannt ist für ihr Wissen auf diesem Gebiet und für die geschickte Ausführung der Übungen. Sie ist eine Quelle der Inspiration für andere und ihr Vorbild Ansporn, ihrem Beispiel zu folgen.
Ihr Verdienst um den Yoga für Mädchen und Frauen liegt in den präzisen Erklärungen der Übungsabläufe. Die Āsanas, die zum Teil subtile Bewegungen erfordern, und Prānāyāma, der den Energiefluß reguliert, wirken in rhythmischer Weise auf die anatomischen, physiologischen, psychologischen und spirituellen Funktionen des menschlichen Körpers ein. Wie das geschieht, kann Geeta aufgrund ihrer Kenntnisse in Āyurveda, verbunden mit ihrem Yoga-Wissen, Schülern besonders gut vermitteln. Sie erläutert praktische Schritte für den Vorstoß von der rein physischen Ebene in eine höhere Dimension des Bewußtseins, will aber auch ganz einfach all jenen Frauen helfen, die unter den verschiedensten physischen und mentalen Problemen leiden. Egal ob es sich dabei um vielbeschäftigte Hausfrauen und Mütter oder um außer Haus arbeitende Frauen handelt. Den ständigen Anforderungen und Spannungen des modernen Lebens ausgesetzt, gefährden sie ihre Gesundheit und ihren Seelenfrieden – was sich wiederum nachteilig auf die geistige und seelische Entwicklung ihrer Kinder auswirkt. Innerer Frieden und Gesundheit können ohne Hilfe von Drogen und Medikamenten, allein durch Yoga, erlangt werden. Er verleiht dem Körper Gesundheit, den Nerven Ruhe, dem Verstand Wachsamkeit und sorgt für die notwendige mentale Entspannung.
Die Autorin hat die Āsanas in zwölf Abteilungen gegliedert, angefangen von einfachen Übungen im Stehen, Vorwärtsbeugungen, seitlichen Drehungen und Rückwärtsbeugungen der Wirbelsäule bis hin zu korrekten Atemtechniken während der Ausübung der Āsanas; dabei erläutert sie stets die Wirkungen der betreffenden Āsanas auf Körper, Nerven und Verstand. Damit leitet sie den Leser Schritt für Schritt in der Übung des Yoga an. Auf den meisten Abbildungen des Buches demonstriert sie selbst die verschiedenen Stellungen.
Die Autorin erläutert auch, wie Yoga ohne einen Lehrer geübt werden kann (Abteilung VIII über Yoga-Kurunta, »Yoga – selbst erlernt«), um Frauen zu helfen, die nicht die Möglichkeit haben, Unterricht zu nehmen. Die dabei verwendeten Hilfen sind sehr einfach: ein Seil, eine Wand als Stütze und ein niedriger Stuhl oder eine niedrige Bank.
Ein Wort noch zu den etwa zwanzig Bildern von Geetas Schwester, Vanita Sridharan. Sie wurden während ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft aufgenommen und sollen den Frauen Mut machen, auch in diesem Zustand Yoga zu üben. Die Autorin hat außerdem einige komplizierte Āsanas ins Repertoire mit aufgenommen, um die Bedenken mancher Frauen zu zerstreuen, deren Übung könnte nachteilige Folgen für sie haben.
Es herrscht allgemein die Ansicht, Yoga wäre für Frauen nicht geeignet. Diese Ansicht ist falsch und mißachtet die Tatsache, daß Frauen auf dieses moralische, intellektuelle und spirituelle Erbe der Menschheit den gleichen Anspruch haben wie Männer. Die Autorin zeigt den Frauen, daß sie Yoga auf die gleiche Weise lernen und praktizieren können wie Recht, Geschichte, Philosophie, Naturwissenschaften etc., um auch auf diesem Gebiet den Männern nachzueifern oder sie sogar zu übertreffen. Mögen nun viele Frauen danach streben, neue Höhen des Yoga zu erlangen, damit er, der zu unseren ältesten Überlieferungen zählt, bereichert werde.
Wenn das Buch die ihm gebührende Anerkennung findet bei allen seinen Lesern, und besonders bei den Frauen, für die es geschrieben wurde, wird das für mich eine große Freude sein.
B. K. S. Iyengar
Bevor ich begann, dieses Buch zu schreiben, dachte ich über die heutigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Frauen – verglichen mit den Bedingungen vergangener Jahrhunderte – nach. Das soziale und politische Umfeld, die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse der Frauen heute sind ganz anders als noch vor einigen Jahrzehnten. Der Wunsch vieler Frauen, auch im Beruf Erfolg zu haben, oder aber die prekäre wirtschaftliche Lage vieler Familien, die die Lohnarbeit auch einer Mutter notwendig macht, hat sowohl die Rolle wie die (Doppel-)Belastung der Frau entscheidend verändert. Und mehr denn je muß sie sich Gesundheit und innere Harmonie erhalten, will sie den gesteigerten Anforderungen des täglichen Lebens gerecht werden. Yoga kann ihr die dafür so notwendige Entspannung vermitteln, wenn sie täglich ein wenig ihrer Zeit den entsprechenden Übungen widmet.
Selten findet ein Schüler in der Person des Vaters seinen Guru. Ich betrachte mich als doppelt glücklich in dieser Hinsicht. Annā – mein Vater – ist mein Guru. Niemals oktroyierte er mir seine Überzeugungen oder Meinungen auf, noch versuchte er, mir Yoga-Sādhana aufzudrängen. Es herrschte keinerlei Zwang oder Druck. Yoga war meine freie Wahl. Wahrlich, ich lernte Yoga von ihm. Während des Yoga-Unterrichts behandelte er mich nicht als Tochter, sondern als Schülerin. Ich weiß, was für ein strenger Lehrer er ist. Er ist ein Pedant, was Disziplin anbelangt, und ein unbestechlicher Beobachter, aber seine Methode ist die sanfte Überzeugung und nicht der harte Verweis. Er erwartet Disziplin und leidenschaftliche Aufmerksamkeit von seinen Schülern. Ist nicht Yoga-Sādhana die höchste aller Disziplinen?
Leben ist in Wahrheit eine Mischung aus Glück und Leid und wird es ewig bleiben. Es kann nicht anders sein, sonst hätte das Leben keine Bedeutung und würde zu toter Materie verkommen. Yoga läßt den Menschen Glück wie Leid mit Gleichmut ertragen. Ich freue mich daher sehr, mein Buch Yoga für die Frau meinen Lesern vorlegen zu können, doch hat meine Freude einen Beigeschmack von Trauer, da meine Mutter nicht mehr unter uns weilt und so nicht mehr an meiner Freude teilhaben kann – dabei war sie es, die mich durch ihr Beispiel und ihre Unterweisung mit dem Höheren in Berührung brachte. Es ist mir unmöglich, die Dankesschuld gegenüber meinem Vater und meiner Mutter, die zu meinen Gurus wurden, jemals abzutragen, außer indem ich stets aufrichtig dem Weg des Yoga, den sie mich lehrten, folge.
Mit diesem Buch, das auf meiner langjährigen Erfahrung und Beobachtung beruht, verfolge ich nur eine einzige Absicht: auf die spezifischen Bedürfnisse der Frauen einzugehen. Es schließt aber die Männer keineswegs aus, denn Yoga ist für beide, Frauen wie Männer, nützlich und wertvoll. Ich bin glücklich, meine Erfahrungen durch diese Darstellung einfacher Yoga-Techniken mit meinen Schwestern teilen zu können.
Dichter schreiben Sonette über die sorglose und fröhliche Kindheit; aber für mich war sie ein Alptraum. In einem Alter, wo andere Kinder heimlich Mangos oder Tamarindenfrüchte pflücken, war das Krankenbett mein Gefährte. Ich litt der Reihe nach an chronischem Fieber, Kopfweh, Erkältung, Husten und Magenschmerzen. Als wäre das nicht genug, bekam ich auch noch Typhus, Gelbsucht und Diphterie. Zum krönenden Abschluß meiner Leidensgeschichte erkrankte ich im Alter von zehn Jahren an Nephritis (Nierenentzündung). Meine unregelmäßige Anwesenheit in der Schule versteht sich dabei von selbst. Ich wurde zu schwach, um auch nur eine Treppenstufe hochsteigen zu können.
Mit einer schweren akuten Nephritis lag ich schließlich vier Tage lang bewußtlos in einem Krankenhaus. Die Ärzte hatten nur noch wenig Hoffnung für mich und unterrichteten meine Eltern dementsprechend. Mit Gottes Gnade überlebte ich und wurde nach drei Wochen entlassen. Ich seufzte tief auf vor Erleichterung bei dem Gedanken, nun von den vielen täglichen Spritzen verschont zu bleiben! Man hatte mir aber eine lange Medikamentenliste mitgegeben. Die Rückkehr nach Hause kam mir vor wie die Entlassung aus einem Gefängnis.
Zu Hause angekommen, legte mein Vater die Medikamentenliste beiseite und sagte streng: »Von morgen an keine Medikamente mehr. Entweder du übst Yoga oder du bereitest dich aufs Sterben vor.«
Vom nächsten Tag an begann ich, Yoga-Āsanas zu üben. Allmählich besserte sich mein Gesundheitszustand. Einmal wöchentlich ging ich zur eingehenden Nachuntersuchung. »Besserung des Gesundheitszustands, Medikamente weiterhin einnehmen«, lautete die stereotype Diagnose der Ärzte, und ich fuhr mit meinen Yoga-Übungen fort! Ich muß jedoch gestehen, nicht gerade regelmäßig geübt zu haben.
Später, als Studenten von weit her zu meinem Vater kamen, um bei ihm Yoga zu lernen, schämte ich mich dafür. Ich dachte, wenn Ausländer so viel Geld ausgeben, um Nutzen aus den Lehren meines Vaters zu ziehen, wäre bestimmt das wenigste, was ich tun könnte, aufrichtig und regelmäßig zu üben. Und ich beschloß, alles über Yoga zu lernen und eines Tages auch selbst Yoga zu unterrichten. Seit 1961 ist dieser Traum Wirklichkeit, und dieses Buch ist das Resultat meiner achtzehnjährigen Erfahrung als Yoga-Lehrerin. Außerdem habe ich in diesen Jahren viele Yoga-Demonstrationen gegeben.
Das Leben einer indischen Frau gleicht wahrhaftig einem Drahtseilakt. Ihre Stellung in der Gesellschaft, die Schwierigkeiten, mit denen sie aufgrund sozialer und wirtschaftlicher Zwänge fertig werden muß, die Verantwortung, die ihr die Natur auferlegt hat – dies alles führt zu Überlastung und zehrt an ihrer Gesundheit. Je mehr ich über meine Schwestern nachdachte – über Frauen und ihre besonderen Probleme –, desto überzeugter war ich davon, daß Yoga die Lösung für viele dieser Probleme bedeuten könnte. Wie Frauen in ihrem Leben durch die Übung von Yoga Erfüllung finden können, soll daher dieses Buch zeigen.
Dank der technologischen Fortschritte heutzutage hat sich der Mensch so manche schwere Arbeit erleichtern können. Doch dafür hat er sich ein anderes Übel eingehandelt: Schlaflosigkeit. Sie ist der Fluch unserer Zivilisation und wird mit Unmengen von Medikamenten – Schlaftabletten und Beruhigungsmitteln – erfolglos bekämpft. Denn der Schlaf, der sich durch die Einnahme von irgendwelchen Mittelchen einstellt, ist nicht mit dem natürlichen Schlaf zu vergleichen. Natürlicher Schlaf ist das Ergebnis eines ruhigen Körpers und Verstandes und läßt uns bestens gerüstet aufwachen, um mit den Problemen des kommenden Tages fertig zu werden. Wie wichtig der Schlaf ist, wußte schon Vāgbhata:
»Der Schlaf bestimmt über Glück und Leid, Fettleibigkeit und Magerkeit, Stärke und Schwäche, Potenz und Impotenz, Wissen und Unwissenheit, über Leben und Tod« (I. 7, 53).
Gesunder, ungestörter Schlaf ist ein Lebensspender. Das Bewußtsein schaltet für ein paar Stunden ab und lädt seinen Akku für den nächsten Tag wieder auf. Das Nervensystem beruhigt sich, und wir wachen am nächsten Morgen erfrischt auf. Kann das Leben glücklich und sinnvoll sein, wenn uns diese natürliche Einrichtung – der Schlaf –verlorengeht? Weise und Philosophen haben das Leben mit einem Wagen verglichen, den zwei Pferde – das materielle und das spirituelle – ziehen, die im Einklang miteinander laufen. Jede Unausgeglichenheit in der Geschwindigkeit endet im Unglück. Das Problem unserer Zeit ist, daß das materielle Zugroß schneller rennt als das spirituelle. Ein Vers der Īshā-Upanishad drückt es so aus:
»Spirituelles Wissen und materielles Wissen – beide sind notwendig. Das Streben nach dem einen auf Kosten des anderen führt zum Zerfall. Materielles Wissen befähigt uns, den Problemen des Lebens zu begegnen, während spirituelles Wissen uns hilft, uns selbst zu verwirklichen« (II).
Gibt es einen Weg, materielles und spirituelles Wissen im Gleichgewicht zu halten und damit Harmonie in unser Leben zu bringen?
Es gibt vier Wege der Selbstverwirklichung: 1. den Weg des Wissens, 2. den Weg der Tat, 3. den Weg der Hingabe und 4. den Weg des Yoga. Die Wege sind zwar verschieden, führen aber zum gleichen Ziel.
Der Weg des Wissens ermöglicht dem, der ihn wählt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, der richtigen Führung zu folgen, Prakriti (Natur) und Purusha (individuelle Seele) voneinander zu unterscheiden, die Selbstverwirklichung zu erreichen und endlich eins zu sein mit Gott.
Wer dem Weg der Tat folgt, setzt seinen Dienst für die Menschheit dem Gottes-Dienst gleich. Gute Taten und Pflichterfüllung führen ihn zur Befreiung.
Wer nach Hingabe strebt, erkennt die Gegenwart Gottes in jedem beseelten und unbeseelten Objekt. Bhakta, der eifrige Anhänger, ist voller Liebe für jedes lebendige Ding und erlangt die Befreiung mit Gottes Namen auf seinen Lippen.
Wer den Weg des Yoga geht, lernt die Bewußtseinsschwankungen zu beherrschen, den Verstand zu festigen und so das innere Selbst zu erkennen – und durch das Selbst, das klar wie Kristall ist, schaut er Gott.
In der Bhagavad-Gītā rät Krishna dem Arjuna:
»Der Yogi ist größer als der Asket, der Gelehrte oder der Mann der Tat; darum sei ein Yogi, o Arjuna« (VI. 46).
Das hohe Lob, das Yoga zuteil wurde, bedeutet keine Herabsetzung der drei anderen Wege, sondern verweist auf den Reichtum, den der Yoga erlangte, indem er die anderen drei, die Wege des Wissens, der Hingabe und der Tat, in sich aufgenommen hat.
Zum Erreichen eines jeden Ziels ist Einheit unentbehrlich. Ohne Hingabe und Liebe ist Advaita, das heißt Nicht-Dualität (von universellem Bewußtsein und individueller Seele) unmöglich. Advaita ist nicht durch Wissen allein zu erlangen. Wissen, Hingabe und Tat sind derart miteinander verflochten, daß es unmöglich ist, ohne das Zusammenspiel etwas zu erreichen. Es gibt keine Hingabe ohne Wissen, keine Tat ohne Hingabe, und Yoga ist nicht möglich ohne die Vereinigung der drei Wege. In diesem Sinn ist Yoga einzigartig.
Der Āyurveda teilt den menschlichen Körper in sechs Hauptpartien ein: den Kopf, die Brust, die beiden Arme und die beiden Beine. Der Kopf ist der Sitz der Erkenntnis, im Herzen wohnt die Hingabe, und die Arme und Beine dienen dem Tun. Auf dem Weg des Yoga vereinigen sich Körper, Verstand und Seele und handeln in Einklang miteinander. Darum ist der Yoga das Fundament für alle anderen Wege.
Shiva, der in dem Yoga-Bīja den außerordentlichen Stellenwert der Kunst und Wissenschaft des Yoga erklärt, sagt zu Pārvatī:
»O Pārvatī, Gelehrte, Einsiedlerin, Gerechte und die, welche die Sinne beherrscht, sogar Gott selbst kann Befreiung nicht ohne das Streben nach Yoga erlangen.« Und an anderer Stelle sagt er:
»Beim Studium aller heiligen Schriften und Wissenschaften und beim wiederholten Nachdenken darüber entsteht die Überzeugung, die Kunst und Wissenschaft des Yoga wäre die einzige wahre und beständige Lehre« (Shiva-Samhitā I. 17).
Ein Vers der Atrisamhitā unterstreicht die Bedeutung des Yoga: Yoga hilft Wissen zu erlangen; Yoga lehrt einen jeden seine Pflicht; Yoga ist eine Buße; darum ist es wesentlich, Yoga zu studieren.
In der Katha-Upanishad wird Nachiketā von Yama in Yoga unterrichtet:
»Nachiketā, der dieses Wissen und die Disziplin des Yoga vom Gott des Todes erlangt hatte, verwirklichte das Selbst; er wurde von allen Unreinheiten befreit und damit unsterblich. Andere mögen es ihm gleichtun und auch so werden« (VI. 18).
Versuchen wir nun herauszufinden, was Yoga eigentlich ist.
Das Wort Yoga stammt von der Sanskrit-Wurzel yuj, was soviel wie »verschmelzen«, »verbinden«, »vereinen« bedeutet. Yoga ist die Vereinigung der Seele mit der ewigen Wahrheit, ein Zustand ungetrübter Seligkeit, der durch die Überwindung von Dualitäten erreicht wird. Das Studium der Yoga-Disziplin schärft die Urteilskraft und führt zum Verständnis der wahren Natur der Seele, die mit den Sinnen oder dem Intellekt allein nicht völlig begriffen werden kann. Das Studium des Yoga macht es möglich, den Zustand des reinen Bewußtseins zu erreichen und das innere Selbst zu verwirklichen.
Yoga befreit von Leid, Krankheiten und Bewußtseinsschwankungen. Er verleiht Heiterkeit und Gelassenheit sowie innere Einheit inmitten der vielfältigen Kämpfe ums Überleben. Er ist die Kunst, sich selbst zu erkennen und um die ewige Wahrheit zu wissen. Yoga ist das Studium der Funktionen, die der Körper, der Geist und der Verstand im Prozeß, der zum Erlangen der Freiheit führt, haben. Er ist die Erfahrung des selbsterlangten Wissens und nicht das Resultat von Buchwissen oder spitzfindiger theoretischer Argumentation. Yoga ist eine Philosophie, ein Lebensstil, in dem sich Kunst und Wissenschaft treffen.
Wie Krishna Arjuna erklärt:
»Allein das Wissen des Yoga befähigt einen Intellektuellen, dessen Verstand ruhig geworden ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und den Kurs seines Lebens kundig zu steuern« (Bhagavad-Gītā, II. 50).
Yoga lehrt uns, unsere Pflicht zu tun, ohne dabei an Belohung zu denken; in die Wirren des Lebens verwickelt zu sein, ohne darin aufzugehen; richtig zu handeln und uns von diesem Leben zu befreien.
Leben ist eine Kunst. Yoga erhöht unsere Lebensqualität. Also ist auch er eine Kunst. Er beflügelt unsere Gedanken und versetzt uns in die Lage, schwierigen Situationen im Leben mit Gleichmut zu begegnen. Er lehrt uns, ein Ziel im Leben anzustreben, Freundlichkeit, Konzentration, Frömmigkeit, Zufriedenheit und Freude zu entwickeln – und aufzugeben, was nicht wesentlich ist; Wert auf gute Gewohnheiten zu legen und ein aufrichtiges Leben zu führen. Yoga ist diszipliniertes Handeln, um endgültige Freiheit zu erlangen.
Die Wissenschaft des Yoga besteht darin, durch Beobachtung und Übung Wissen zu erlangen. Er ist eine Wissenschaft, die sich mit dem Körper und dem Verstand beschäftigt – die den Rhythmus des Verstandes durch die Beherrschung des Körpers kontrolliert. Die Übung von Yoga verleiht Körper und Verstand Gesundheit und Kraft. Nur wenn Körper und Verstand einen Zustand des Gleichgewichts gefunden haben, kann Selbstverwirklichung gelingen. Die Wissenschaft des Yoga lehrt uns, diese Harmonie auf geschickte und systematische Art herzustellen.
Der Mensch wird von Gefühlen bestimmt. Der Verstand – und mit ihm der Körper – quälen sich mit Kummer und Glück, Schande und Ehre, Niederlage und Erfolg. Einen Sādhaka tangieren diese Dualitäten nicht – er lernt, angesichts einander widersprechender Gefühle Gleichmut zu bewahren. Yoga ist eine Philosophie, die uns hilft, Zuversicht zu gewinnen und allen Unbeständigkeiten des Lebens, Leiden wie Freuden, mit Gleichmut zu begegnen. Er ist eine Philosophie, die uns auf der Suche nach Wahrheit aus der materiellen Welt weg in die spirituelle Welt führt – im Bestreben, die Natur des Daseins zu ergründen.
Der große Weise Patañjali definierte Yoga als Yoga Chittavritti-Nirodha, als die Herrschaft über die Schwankungen des Verstandes, der Vernunft und des Ego. So wie das aufgewühlte Wasser eines Flußes den Mond nicht klar widerspiegelt, kann auch ein unruhiger Verstand die Seele nicht richtig reflektieren. Nur ein klares Bewußtsein spiegelt die Seele wider. Selbstverwirklichung ist nur möglich, wenn wir die Schwankungen des Verstandes überwinden und das unbewegte Bewußtsein erlangen.
Wir verwenden auf dem Gebiet des Yoga den Ausdruck Chitta im Sinne von »Bewußtsein«. Chitta umfaßt damit Verstand, Vernunft und Ego. Das Bewußtsein bildet die Brücke zwischen physischer und spiritueller Entität. Ist es der physischen Welt zugewandt, verliert es sich in der Jagd nach Vergnügen. Ist es der spirituellen Welt zugewandt, wird es sein endgültiges Ziel erreichen. Es herrscht ein ewiges Tauziehen zwischen den beiden Welten, wobei sich das Bewußtsein mal mehr auf die eine, mal mehr auf die andere Seite ziehen läßt, abhängig von dem Guna, der Qualität, die in ihm vorherrscht, die entweder sattva, rajas oder tamas ist.
Der Sattva-Zustand erleuchtet das Bewußtsein, indem er ihm Gelassenheit und Heiterkeit schenkt.
Der Rajas-Zustand verleiht einem Menschen Energie, Aktivität, Spannungs- und Willenskraft. Ein solcher Mensch besitzt Ehrgeiz, Unbeugsamkeit, Kühnheit und Stolz.
Der Tamas-Zustand läßt den Menschen in Apathie, Trägheit und Unwissenheit versinken.
Chitta oder Bewußtsein setzt sich aus den drei Grundeigenschaften von Sattva, Rajas und Tamas zusammen. Abhängig von der vorherrschenden Eigenschaft bilden sich die Bewußtseinszustände oder -veränderungen. Sie unterliegen folgenden fünf Bedingungen:
Pramāna ist die Sicht der Wirklichkeit, wie sie durch die fünf Sinne und den Verstand vermittelt wird. Sie ergibt sich auf drei Arten: durch pratyaksha oder direkte Wahrnehmung, anumāna oder Folgerung und āgama oder Zeugnis heiliger Schriften.
Viparyaya ist eine irrtümliche Sicht oder falsche Erkenntnis – wie das Verwechseln des Seils mit einer Schlange im Dunkeln.
Vikalpa ist eine Einbildung oder Vorstellung, die keine reale Grundlage besitzt. (Beispiel: eine unfruchtbare Frau, die glaubt, ein Kind zu kriegen.)
Nidrā ist Schlaf.
Smriti ist Erinnerung.
Diese fünf Wandlungen oder vrittis des Bewußtseins machen uns zu extrovertierten Menschen und halten uns in der materiellen Welt gefangen. Mit anderen Worten: Es dominieren die Rajas- und Tamas-Qualitäten. Herrscht Sattva vor, wendet sich das Bewußtsein nach innen, und Güte und Reinheit erfüllen uns. Yoga lehrt uns, die fünf Vrittis einzuschränken und ein spirituelles Leben zu führen.
Patañjali nennt uns ein doppeltes Heilmittel, das den Bewußtseinsschwankungen entgegenwirkt: Es besteht aus »Studium oder Übung« und dem »Nichtvorhandensein weltlicher Verlangen« (I. 12).
Der Dichter Vyāsa schreibt:
»Wissen bleibt denen verschlossen, die dem Vergnügen frönen, und das Vergnügen geziemt sich nicht für jene, die studieren.«
Ohne strenge Übung gewinnen wir nichts. Ohne Übung erlangen wir weder Reinheit von Körper und Verstand, noch können wir die Schwankungen unseres Bewußtseins kontrollieren. Die Früchte der materiellen Welt lassen sich nicht ohne anhaltende Anstrengung ernten; die anhaltende Anstrengung muß sich vertausendfachen, um Selbsterkenntnis zu gewinnen. Diese strenge Übung muß gleichermaßen auf vier Ebenen stattfinden: der moralischen, der physischen, der mentalen und der spirituellen. Patañjali sagt:
»Diese strenge Übung muß ständig, ununterbrochen und mit Hingabe und Respekt verrichtet werden; nur dann wird das Fundament gelegt oder der Boden geebnet« (I. 14).
»Vervollkommnung erlangt man weder durch das Tragen safranfarbener Gewänder noch durch Diskutieren; sicher aber läßt sie sich im Tun und mit beharrlicher Übung erlangen« (Hatha-Yoga-Pradīpikā, I. 66).
Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Anstrengung. Vairāgya oder das Nichtvorhandensein weltlicher Verlangen kann im Beherrschen der Sinne, im Erfüllen seiner Pflicht, ohne eine Belohnung zu erwarten, und im Handeln in Güte und Reinheit vollbracht werden. Beharrliche Übung und das Nichtvorhandensein weltlicher Ziele hängen voneinander ab – sie sind wie die Flügel eines Adlers, der sich nur in der Luft halten kann, wenn die Bewegungen beider Flügel aufeinander abgestimmt sind.
Das richtige Funktionieren des Körpers hängt von seinen einzelnen Teilen ab. Das Fehlen oder Kranksein irgendeines Gliedes beeinträchtigt die Gesundheit des ganzen Körpers. Das gleiche Prinzip gilt für das Studium des Yoga und seiner Teile. Jede Unzulänglichkeit im Studium und bei der Vervollkommnung einer der acht Stufen des Yoga versperrt den Weg zur Selbstverwirklichung.
Die acht Stufen nach Patañjali sind:
Yama – das Verhalten gegenüber anderen oder gesellschaftliche Disziplin
Niyama – der Umgang mit sich selbst oder individuelle Disziplin
Āsana – die Übung der Stellungen zur körperlichen Disziplin
Prānāyāma – die Beherrschung des Atems zur mentalen Disziplin
Pratyāhāra – das Sich-nach-innen-Ausrichten oder die Disziplin der Sinne
Dhāranā – Konzentration
Dhyāna – Meditation
Samādhi – Selbstverwirklichung
Alle acht Stufen durchdringen einander gegenseitig und hängen voneinander ab. Mögen sie auch als voneinander verschieden erscheinen, so führen sie doch zum gleichen Ziel. So wie die Sonnenstrahlen sich brechen und das Spektrum des sichtbaren Lichtes bilden, wurde Yoga in acht Stufen, die sich wie die Glieder eines Fächers öffnen, aufgeteilt.
Wer nicht am spirituellen Aspekt des Yoga interessiert ist, kann ihn natürlich auch nur um seines körperlichen Nutzens willen üben. Gesundheit von Körper und Verstand ist für jeden Menschen wichtig, ob er nun mehr geschäftliche Erfolge oder Fortschritte in der Selbstverwirklichung anstrebt. Yoga verheißt dem Gläubigen wie dem Atheisten oder Agnostiker die gleiche Erfüllung. In der Tat ist durch Yoga schon so manch einer anderen Sinnes geworden – und eine der Schönheiten des Yoga sind seine vielen offenen Türen. Yoga schenkt allen, die körperliches Wohlbefinden, Seelenfrieden oder mehr Konzentration erreichen wollen, was immer sie verlangen, und stellt sie zufrieden.
Patañjali sagt:
»Das Studium der acht Teile des Yoga führt zur Reinigung von Körper, Geist und Verstand; die Flamme der Erkenntnis wird am Leben gehalten, und die Urteilskraft entspringt ihr« (II. 28).
Im Yoga-Sūtra des Patañjali wird Yoga als achtteilig beschrieben. Einige der Yoga-Upanishads jedoch betrachten ihn als sechsgliedrig. In der Amritānanda-Upanishad findet sich folgende Zeile:
»Disziplin der Sinne, Meditation, Beherrschung des Atems, Konzentration, Logik und Selbstverwirklichung sind die sechs Stufen des Yoga« (6).
In der Yoga-Chūdāmani-Upanishad werden die sechs Glieder des Yoga wie folgt aufgelistet:
»Stellungen, Beherrschung des Atems, Disziplin der Sinne, Konzentration, Meditation und Selbstverwirklichung sind die sechs Yogāngas« (2).
Die Texte machen aber auch klar, daß zum Erreichen von Samādhi sowohl die Stufen Yama und Niyama (gesellschaftliche und individuelle Disziplin) als auch Āsanas wie Padmāsana und Svastikāsana Voraussetzungen sind. Mögen daher die Texte auch von Shadanga oder dem sechsgliedrigen Yoga sprechen, so ist der Unterschied zu Ashtānga-Yoga doch gering.
Hauptunterschied zwischen den beiden Systemen ist folgender: Shadanga-Yoga richtet sich an kleine Gruppen, Angehörige besonderer Schulen oder Klöster, die aufgrund der bereits gegebenen Regeln ihrer Vereinigung der speziellen Gebote Yama und Niyama nicht mehr bedürfen. Patañjali dagegen entwirft ein vollständiges philosophisches System für jedermann. Er gibt deshalb sorgfältige Anleitungen, wie wir leben sollen und physisches und mentales Gleichgewicht durch gewisse Verhaltensregeln erlangen können, um schließlich in den Genuß spiritueller Wonne zu kommen.
Nach Patañjali müssen zur Selbstverwirklichung die Seele, der Geist, der Verstand und die Sinne in Einklang miteinander handeln. Der Lernende muß sich der dreifachen Suche – Bahiranga-Sādhana, Antaranga-Sādhana und Antarātman-Sādhana – (der äußeren, inneren und spirituellen Suche) – verpflichten. Folgende Übersicht wird es dem Leser erleichtern, die dreifache Suche zu verstehen:
Bevor wir uns die acht Aspekte des Yoga näher anschauen, wollen wir noch einen Blick auf die dreifache Suche werfen.
Der Körper ist der Tempel der Seele. Genau wie ein sauberer Tempel reine Gedanken heraufbeschwört, führt ein sauberer Körper zu einem reinen Verstand und ist darum ein geeignetes Zuhause für das Selbst.
In der Yogashika-Upanishad wurde die Bedeutung eines sauberen Körpers wie folgt erklärt:
»Der Körper ist ein Tempel und die Seele darin wie Shiva. Darum streife Unwissenheit ab und verehre den Körper als Gottes Zuhause« (I. 168).
Gott hat uns den Körper als Kapital auf den Weg der Selbstverwirklichung mitgegeben. So wie der kluge Geschäftsmann sein Kapital einsetzt, um Gewinne zu erzielen, muß der Körper sorgfältig in Yama, Niyama, Āsana und Prānāyāma ausgebildet werden, um der Selbstverwirklichung dienen zu können. Er muß vollkommen gesund und widerstandsfähig sein bzw. werden. Der erste Schritt in Richtung Selbstverwirklichung ist, den Körper rein und frei von Krankheit zu halten. Das ist Bahiranga-Sādhana, das Trachten nach äußerer Reinheit.
Ist die Reinheit des Körpers erreicht, besteht der nächste Schritt darin, die Reinheit des Verstandes zu erlangen. Dafür müssen wir verstehen, wie das Bewußtsein funktioniert. Der Verstand stützt sich auf die fünf Wahrnehmungsorgane – Nase, Zunge, Augen, Ohren und Haut –, um etwas über die äußere Welt zu erfahren. Der Verstand begehrt, und die Sinne sind ihm zu Diensten. Er ist sein Gefangener in der Befriedigung seiner Bedürfnisse. Der Reinigungsprozeß hilft, Verstand und Sinne zu kontrollieren.
Das Bewußtsein hat sechs erklärte Feinde: Lust, Ärger, Gier, Versuchung, Stolz und Eifersucht.
Bei der Überwindung dieser Feinde, die der Selbstverwirklichung im Weg stehen, sind prānāyāma (Beherrschung des Atems) und pratyāhāra (Disziplin der Sinne) die wichtigsten Verbündeten.
In der Hatha-Yoga-Pradīpikā wird die Bedeutung des Atems folgendermaßen betont:
»Ein gestörter Atem führt zu einem gestörten Bewußtsein, ein regelmäßiger Atem zu einem ruhigen Bewußtsein. Die beiden gehen Hand in Hand. Darum legt der Yogi wert auf einen regelmäßigen und ruhigen Atem – er beherrscht auf diese Weise sein Bewußtsein und verlängert damit sein Leben« (II. 2).
Weiter heißt es:
»Der Herr der Sinne ist der Verstand, der Herr des Verstandes ist der Atem; der Meister des Atems ist das Nervensystem – die Ruhe der Nerven und die Konzentration hängen allein von dem regelmäßigen, weichen und rhythmischen Geräusch des Ein- und Ausatmens ab« (IV. 29).
Innere Reinheit gewinnt man durch die Beherrschung der Sinne und des Verstandes, was schließlich zu Selbstbeherrschung führt. Danach ist der Schüler für die nächste Stufe bereit.
Auf dieser Stufe erlangt das Bewußtsein Ausgeglichenheit und Konzentration und richtet sich auf die Seele aus. Hier werden die letzten Stufen des Ashtānga-Yoga – dhāranā (Konzentration), dhyāna (Meditation) und samādhi (Selbstverwirklichung) – geübt und entwickelt.
Der Suchende lebt in der Seele, ist aktiv, aber frei vom Ego und vom niedrigen Selbst. Tatsächlich ist er seiner eigenen Existenz nicht mehr gewahr, weil er sich endlich jenseits sinnlicher Vergnügen und vordergründig-materiellen Wissens befindet. Er hat die ewige Seligkeit erreicht.
In der Katha-Upanishad heißt es dazu treffend:
»In dem Wagen, der Körper genannt wird, ist die Seele Passagier, der Geist Wagenlenker und der Verstand der Zügel. Um diese Existenz mit dem Ziel der Selbstverwirklichung zu durchqueren, müssen die Pferde (Sinne) beherrscht werden. Dazu sollte der Wagen (Körper) gesund sein; nur dann kann der Lenker (Geist) durch richtigen Gebrauch der Zügel (Verstand) die Pferde (Sinne) beherrschen« (III. 3, 4, 9).
Betrachten wir jetzt jeden einzelnen der acht Aspekte des Yoga näher.
Yama – es bedeutet soviel wie Einschränkung oder Sich-Zurückhalten – umfaßt die »Man soll nicht«-Regeln des Yoga – analog zum biblischen »Du sollst nicht«.
Es ist nicht gut, daß der Mensch allein lebt. Aber als Mitglied einer jeden Gesellschaft hat er bestimmte Verpflichtungen und muß sich an gewisse Regeln halten, um sein eigenes Glück ebenso wie das der anderen zu wahren. Laut Patañjali sind das: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Mäßigung auf sexuellem Gebiet und Nichtbegehren. Dies sind die großen universellen Moralgebote, die nicht von Stand, Ort und Zeit abhängen und denen zuwider zu handeln durch nichts gerechtfertigt wird, das heißt, sie sind immer und überall gültig. Ihre Beachtung hat Reinheit zur Folge.
Yoga-Texte zählen mehrere Varianten der als grundlegend anerkannten Regeln auf.
Die Yoga-Upanishads beschreiben Yama mit folgenden Begriffen: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nichtstehlen, Mäßigung auf sexuellem Gebiet, Vergebung, ruhiger Verstand, Frömmigkeit, Mitgefühl, Mäßigung beim Essen und Sauberkeit. Die Hatha-Yoga-Pradīpikā kennt dieselben ethischen Prinzipien.
Gewalt ist das Fehlen von Liebe – Feindseligkeit ist der Ursprung jedes Gewaltakts. Nur Liebe kann die Menschen verbinden und der Gesellschaft Zusammenhalt verleihen. Ein Yogi trägt keinen Haß im Herzen, sondern nur Liebe für alle. Gewalt ist das Ergebnis von Angst, Egoismus, Ärger und Mangel an Selbstvertrauen. Gewaltlosigkeit heißt Respekt vor dem anderen – Gewaltlosigkeit ist ein Bewußtseinszustand.
Patañjali sagt, jeder, der einen Yogi trifft, der frei ist von gewalttätigen Gedanken, sei dazu bestimmt, sich seiner feindseligen Gefühle zu entledigen.
Sprich die Wahrheit, sprich, was erfreulich ist, aber sprich nicht die Wahrheit, die unerfreulich ist, noch Unwahrheit, die gefällt – das ist überlieferter Glaube, sagt das Mahābhārata.
Nach der Darshana-Upanishad ist Wahrheit Beweis der Wirklichkeit, der sich aus dem Gebrauch der fünf Sinne ergibt.
Das Yoga-Shāstra sagt: »Wenn Geist und Verstand in ihrem Urteil übereinstimmen, ist das die Wahrheit, ist das wirkliche Erkenntnis.«
Ein Yoga-Student sollte der Wahrheit in Gedanken, Worten und Werken dienen.
Wer eine Lüge erzählt, ist giftiger als eine Schlange. Die Zunge, die keine Knochen hat, kann sich nach Belieben drehen und wenden und muß beherrscht werden. Anders können wir nicht wissen, in welchem Moment sie von der Wahrheit abweicht.
»Du sollst nicht stehlen«, heißt es schon im Alten Testament, und asteya bedeutet, nur das anzunehmen, was man zum Leben braucht. Alles übrige ist Gier.
Das Verlangen nach dem Besitz anderer ist, auch wo es nur in Gedanken stattfindet, eine dem Stehlen verwandte Sünde.
Ein ernsthafter Yoga-Schüler, der Asteya praktiziert, strebt nicht nach Reichtum; besitzt er jedoch Geld und Gut, setzt er sie zum Nutzen anderer ein.
Brahmacharya bedeutet nicht lebenslängliches Zölibat, aber sexuelle Mäßigung in der Ehe. Kālidāsa beschreibt den idealen König in der Raghuvamsha:
Er sammelt Reichtümer nur, um damit Gutes zu tun, und genießt seine Sexualität nur, um einen Sohn zu zeugen. Kāma oder Sexualität ist ohne Zweifel eine der treibenden Kräfte im Menschen, die richtig kanalisiert sein will. Ehepartner sollten sich treu sein und in ihren sexuellen Aktivitäten maßvoll. Ungezügelte Sexualität kann verhängnisvolle Folgen haben.
Die Sinne sollten stets auf Brahman, den Erhabenen, gerichtet sein, damit man nicht vom Weg des Yoga abweicht.
»Der Körper bleibt nur dann gesund und stark, wenn manas (Verstand) und prāna (Atem) ruhig sind in ihm. Ist der Verstand klar, werden auch Atem und Lebensenergie regelmäßig und ruhig. Aus der beständigen Lebensenergie schöpfen wir Kraft und Widerstandsfähigkeit des Körpers« (Hatha-Yoga-Pradīpikā, IV. 28).
Parigraha ist Erwerbslust, das Anhäufen von Reichtum aus persönlicher Gier. Hat die Krankheit der Erwerbslust einmal Besitz von uns ergriffen, werden wir sie unmöglich wieder los. Natürlich braucht man gewisse Mittel, um seine Grundbedürfnisse zu decken – Essen, Unterkunft und Kleider kosten nun mal Geld. Doch was darüber hinausgeht, ist Aneignungssucht, ist nachgerade eine Krankheit. Sogar in unseren Gebeten bitten wir Gott um vieles aus Eigensucht. Jemand, der frei ist vom Verlangen nach unnützen Gegenständen und unangemessenen sinnlichen Vergnügen, ist frei von der mentalen Krankheit der Erwerbs- und Aneignungssucht.
Patañjali sagt, wer das »Ich« und das »Mein« abzuschütteln vermag, ist fähig, die Dinge in ihrer richtigen Perspektive zu sehen.
Seinen Feinden zu vergeben, mögen sie ihm auch körperlich oder seelisch Leid zugefügt haben, ist ein Ziel des Yogi, das dem Gebot Christi entspricht, auch noch die andere Wange hinzuhalten, wenn man auf die eine geschlagen worden ist.
Ruhe und Klarheit des Verstandes führen das Ich zu der Erkenntnis: »Ich bin das Selbst.«
Mit allen mitzufühlen und dies in Gedanken, Worten und in Werken auszudrücken, ist das Attribut eines Yogi.
Einfach, offen und aufrecht zu sein ist ārjava.
Seinen Gaumen zu beherrschen und nur zur Erhaltung der Gesundheit zu essen, anstatt zur Befriedigung des Gaumens, ist Mäßigung.
Shaucha bezeichnet die innere und äußere Sauberkeit des Körpers.