Lettipark

Judith Hermann

Lettipark

Erzählungen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Judith Hermann

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt ›Sommerhaus, später‹ (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband ›Nichts als Gespenster‹. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien ›Alice‹, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, ›Aller Liebe Anfang‹. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.

 

Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

In einem einzigen Moment ändert sich ein ganzes Leben. Durch einen Blick, eine Berührung entsteht plötzlich eine Nähe. Oder Menschen entfernen sich voneinander.Sie kreuzen unseren Lebensweg, begleiten uns, machen uns glücklich und bleiben trotzdem unfassbar. In kurzen Erzählungen spürt Judith Hermann diesen alles entscheidenden Momenten nach, die man so schnell übersieht. So konzentriert wie leicht setzt sie die Worte,zwischen denen sich das Drama der Existenz aufzeigt.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Nicole Lange, Darmstadt

Coverabbildung: Tobias Bohm

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403716-5

Am Morgen waren die Kohlen gekommen. Wir waren früh aufgestanden und hatten das letzte Holz in den Ofen gelegt, wir hatten mit den Händen in den Jackentaschen frierend vorm Haus auf der Straße im Morgennebel gestanden und unseren weißen Atemwolken zugesehen. Die Kohlen kamen pünktlich, wir hatten den Kipper durch die schmale Gasse zwischen der Scheune und dem Traktorschuppen gewinkt, so weit wie möglich ran an den Stall, in dem schon seit Jahren kein Tier mehr gewesen ist. Die Briketts waren aufs Wintergras geprasselt, ein großer Haufen, gute Kohlen, kaum Bruch dabei, und der silbrige Kohlenstaub war in die Luft gestiegen.

 

Wir hatten den Vormittag damit verbracht, die Kohlen von der Wiese in den Stall zu schippen. Sieben Tonnen Kohle, wir hatten Schaufeln und Forken,

 

Wir hatten den Kaffee ausgetrunken und den Kaffeesatz ins Gras geschüttet. Wir saßen noch einen

Er sah uns an und sagte, was macht ihr. Selbstverständlich. Er sagte das sehr selbstverständlich, und wir sagten, wir warten schon auf dich, wir schippen Kohlen, du kannst uns helfen.

 

Im letzten Winter war Vincents Mutter gestorben. Vincents Vater hatte sich von ihr getrennt, und sie hatte darüber zuerst die Nerven verloren, dann war sie krank geworden. Oder es war umgekehrt, sie war zuerst krank geworden und hatte dann die

 

Wir saßen in der winterlichen Mittagssonne mit den leeren Kaffeetassen vor dem Wall aus Kohlen. Uns war warm von der Arbeit, wir waren wach. Wir redeten mit Vincent, wir fragten ihn, ob ihn auf dem Weg zu uns nicht der Biber aufgehalten hätte, der Biber würde jedes Kind, das zu schnell auf dem Rad unterwegs sei, anhalten und dazu auffordern, langsamer zu fahren. Aber Vincent ließ sich nichts weismachen. Er sagte, ihr redet Quatsch, und er wurde so ärgerlich, dass wir aufhörten, auf diese

 

Wir dachten an seine Mutter, die eine anziehende Frau gewesen war, groß und zerbrechlich, mit einer unnachahmlichen Weise, beim Gehen die langen Beine zu setzen, ungelenk, wie ein Fohlen. Sie hatte immer einen wehmütigen Eindruck gemacht, aber wir hatten sie auch toben gehört, und da war sie alles andere als hilflos gewesen. In den ersten Wochen ihrer Erkrankung hatten wir sie auf der Station, auf der sie lag, besucht, da war sie schon blind gewesen und hatte immer wieder gesagt, es ist so schade, dass ich eure schönen Gesichter nicht sehen kann.

Es ist so schade, dass ich eure schönen Gesichter nicht sehen kann.

Wir hatten nicht gewusst, dass unsere Gesichter für Vincents Mutter schön gewesen waren, und wir waren mit dem Eindruck nach Hause gegangen, dass man manche Dinge erst sagen kann, wenn sie unwiderruflich vorbei sind.

 

Vincent sagte, ich glaub, ich lass das mit der Schubkarre. Ich kann euch auch ohne meine Schubkarre helfen.

Und also standen wir von der Schwelle auf und vertraten uns die Beine, wir hielten uns das Kreuz und streckten uns in der Wintersonne, und dann machten wir weiter. Wir schafften den Rest der Kohlen in den Stall, wir bildeten doch wieder eine Kette, und Vincent half uns. Seine Mutter hatte uns gezeigt, dass man an der Liebe sterben kann. Sie war der lebendige Beweis dafür gewesen, dass man an einem gebrochenen Herzen sterben kann, sie hatte sich aus Liebe in sich selber eingeschlossen. Es war eigenartig zu denken, dass das Vincents ganzes Leben bestimmen würde, und wir nahmen die Kohlen aus seinen kleinen schmutzigen Händen entgegen wie Hostien.

Als Ella vom Fluss zurückkommt, brennt hinter dem Circuswagen ein Feuer, aber Carl ist nicht zu sehen. Möglicherweise ist Carl schon wieder abgereist. Das Feuer ist sehr ordentlich, sorgfältig gegeneinandergestellte, gleichgroße Holzscheite, es qualmt nicht, brennt sauber und wird noch eine ganze Weile brennen. An den Rand der Feuerstelle, ein Kreis aus Feldsteinen, die von der Asche weiß geworden sind, hat Carl frisches Holz gestapelt, die Schnittstellen sind hell, das Holz ist leicht. Daneben liegt Reisig. Auf dem Klappstuhl an der Feuerstelle eine Decke.

 

Der Circuswagen ist alt, rot und blau gestrichen, die Farbe blättert ab. An der schmalen Seite führt eine Treppe zur Tür hoch, zwei Fensterchen gehen auf die Wiese raus. Um die Räder wuchern Disteln und verblühter Löwenzahn. Ella steigt die Treppe

Ella lehnt eine Weile an der geöffneten Tür und sieht in den Wagen hinein. Im Ofen zieht der Wind. Im Netz über dem Klapptisch wartet eine Spinne. Es riecht nach ihnen beiden. Sie macht die Tür wieder zu, steigt die Treppe runter und setzt sich auf den Klappstuhl ans Feuer. Weit weg, im Haus hinter der ungemähten Wiese, brennt schon Licht, die anderen Circuswagen, in einer Reihe, mit Abstand zueinander aufgestellt, sind dunkel. Als Carl und Ella am Mittag angekommen waren, war eine klapperdürre, bis zum Hals tätowierte Gestalt in einem Sari von der Treppe des Circuswagens neben ihrem hochgeschreckt und ins Wageninnere geflohen, als hätten sie sie bei einer elementaren Beschäftigung

 

Also bleibt sie einfach am Feuer sitzen. Sie wird auf gar keinen Fall ins Haus rübergehen, zu den anderen rübergehen, sie kennt die anderen überhaupt nicht, diese Leute sind Leute, die Carl kennt. Er hatte Ella den anderen vorgestellt, eher knapp, er hatte es ihr selbst überlassen, sich dazuzusetzen oder wieder zurück zum Wagen zu gehen. Die klapperdürre Gestalt, von nahem besehen ein Mädchen, und ihre Tätowierungen stellten einen Schwarm von Kugelfischen mit gesträubten Stacheln dar, war

 

 

Wie spät ist es denn?

Sie sagt das anstelle eines Grußes, und er zieht die Schultern hoch.

Sie sagt, willst du dich zu mir setzen, und er nickt, und sie geht und holt den zweiten Stuhl aus dem Circuswagen; offenbar hat ihr Feuer die richtige Größe für einen kleinen Jungen gehabt. Sie stellt den Stuhl neben ihren, und er setzt sich.

 

Dann löst er den Blick vom Feuer und sieht in den Himmel hoch. Er sieht den Circuswagen, er sieht Ella aus den Augenwinkeln an. Sie reden ein wenig miteinander. Der Junge fragt Ella, wie viele Sterne es gebe, seine Stimme klingt rau und kratzig, und er fragt in einem Ton, als wüsste er die richtige Antwort sowieso.

Also, wie viele Sterne haben wir noch mal.

Ella sagt, oh, keine Ahnung. Ich hab keine Ahnung. Unendlich viele?

Der Junge sagt bestätigend, da, über uns, sind schon mal tausend. Ungefähr tausend. Dann gibt’s ja noch die Milchstraße.

Und schwarze Löcher, sagt Ella.

Ella zögert, dann sagt sie, aber das Universum schläft ein. Wusstest du das? Es schläft ein, die Sterne werden ausgehen. Ganz viele sind schon ausgegangen.

Den Jungen scheint diese Aussicht wenig zu überraschen. Er nickt und schweigt eine Weile, dann hebt er einen Stock auf und stochert damit in der Glut. Er legt fachmännisch etwas Holz nach. Ella findet ihn ungewöhnlich ernsthaft, erwachsen schweigsam, aber sein Gesicht ist rund und noch sehr kindlich, er ist hübsch. Unmöglich, ihn nach seinen Eltern zu fragen. Nach einer Schule, nach Geschwistern, Freunden, irgendwelchen Dingen, die er gerne macht oder nicht gerne macht. Sie wartet ab, sie hat plötzlich das Gefühl, sie sollte an und für sich alles abwarten. Wenn Carl dabei wäre, könnte sie nichts abwarten, sie könnte den Jungen gar nicht beachten, sie wäre viel zu sehr mit Carl beschäftigt.

Der Junge macht eine Weile nachdenklich das Geräusch der knackenden Scheite nach. Piff paff. Piffpaff. Er legt den Kopf schief, zieht die Schultern hoch und hustet. Dann sagt er, willst du ein Bild haben.

Na, so ein Bild eben, ich hab’s mal aus der Zeitung ausgeschnitten und will’s verschenken, aber niemand will es haben.

Ella sagt, was ist denn darauf zu sehen.

Der Junge sagt, ich weiß es nicht.

Er sagt, soll ich’s dir einfach zeigen, und als Ella nickt, steht er auf und läuft davon. Sie ist sich fast sicher, dass er nicht wiederkommen wird. Dass er einem anderen Erwachsenen über den Weg laufen und ins Bett geschickt werden, dass er über anderen Einfällen Ella, ihr Feuer, das Bild vergessen wird. Aber er kommt wieder, und sie fragt ihn nicht, wo er gewesen ist, wo das Bild gelegen hat – in einem Buch, unter einer Matratze, mitten auf dem Tisch in der Küche des Hauses, an dem alle anderen sitzen, und sie fragt ihn auch nicht, ob er Carl begegnet sei.

 

Der Junge kommt außer Atem wieder, als wäre er gerannt. Als hätte er seinerseits gedacht, Ella könnte sich mitsamt dem Feuer, dem Circuswagen, den zwei Klappstühlen in Luft aufgelöst haben. Er setzt sich wieder auf seinen Stuhl neben sie und wartet, bis sein Atem sich beruhigt hat. Dann zieht er aus der Hosentasche ein Stück Papier. Mehrfach geknickt, und er faltet es auseinander und reicht es Ella wortlos.

Ella sagt, wie lange trägst du das denn schon mit dir herum, und der Junge sagt ausweichend, ach, ich weiß es nicht mehr. Ich glaube, schon ein paar Wochen. Schon eine ganze Weile. Du willst es jedenfalls auch nicht haben.

Nein, sagt Ella fest. Entschuldige. Ich will es jedenfalls auch nicht haben.

Es tut ihr leid, aber sie will es wirklich nicht haben. Sie denkt, er sollte es verbrennen. Und schließlich sagt der Junge das von sich aus – ich muss es verbrennen. Oder.

Ella sagt, das ist eine gute Idee. Das solltest du tun.