Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-21236-9
ISBN E-Book 978-3-688-11155-8
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11155-8
Für Leandra und Allyssa
und Paco und Lucky
und natürlich Michael
«Ach, und was ist, wenn er dich gar nicht toll findet?», gab Liz zu bedenken.
Ich schaute sie groß an. «Wen kümmert’s?! Jetzt geht es erst mal darum, dass ich mich verliebe! Da können wir uns nicht mit solchen Kleinigkeiten aufhalten.»
«Ehrlich gesagt, Sanny, verstehe ich immer noch nicht, wieso du dich nicht verlieben kannst.»
Ich verdrehte die Augen. «Ach Liz, das hab ich dir schon hundertmal gesagt: Es liegt an meinem Bruder!»
Mein Versagen in puncto Verlieben lag ganz eindeutig daran, dass ich einen gleichaltrigen Bruder habe. Einen Zwillingsbruder. Einen nervigen, hirnlosen Zwillingsbruder. Wer mit so einem Typen wie meinem Bruder Konstantin aufwächst, verliert einfach den Glauben an die gesamte Männerwelt und an die Liebe.
Ich bin dreizehn und war noch nie verliebt. Das konnte nur an ihm liegen. Alle anderen in meiner Klasse sind seit drei Jahren ständig in irgendwen verliebt.
Auch Konny war dauernd verliebt. Er verliebt sich in alles, was sich bewegt, lange Haare hat und sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen kann. Dass er dabei zwei Tage lang auch mal einem langhaarigen Jungen nachstellte, brachte ihn nicht weiter aus dem Konzept. «Ups», meinte er bloß, als ich ihn darauf aufmerksam machte, «also von hinten sah der echt niedlich aus.»
Ich seufzte.
Liz schaute mich zweifelnd an: «Und du bist sicher, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist?»
«Ganz sicher!», nickte ich. «Ich bin im richtigen Alter und will jetzt endlich wissen, wie das ist!»
«Na gut», sagte Liz, «dann machen wir weiter.» Sie beugte sich wieder über unser Schulfoto.
«Was ist mit dem?», fragte ich und deutete auf einen Typen aus der zehnten Klasse. Er sah ganz süß aus.
«Sanny! Der ist zu alt für dich.»
«Das ist egal, ich will ihn ja nicht heiraten, ich will mich bloß verlieben.»
«Aber du kannst dich doch nicht aufgrund eines Fotos in jemanden verlieben!»
«Woher willst du das denn wissen?»
«Weil es bei dir mit den Filmstars auch nicht geklappt hat. Jeder Anfänger verliebt sich erst mal in einen Filmstar. Oder einen Musiker. Bloß du nicht.»
«Das liegt aber nur daran, dass ich das potenzielle Opfer nicht kennen lernen kann. Wir gehen jetzt die Jungs aus unserer Schule durch», entschied ich energisch, «ich wähle einen aus, und morgen suchen wir ihn auf dem Schulhof, und ich verliebe mich in ihn.»
«Okay. Aber dann lass uns die aus der Achten anschauen.»
Ich war einverstanden. Außerdem war da einer, der ganz nett aussah. Obwohl das eigentlich egal war – war ja nur ein Experiment.
Ich tippte auf den Jungen auf dem Schulfoto, Liz betrachtete ihn und meinte: «Gute Wahl! In den sind die Mädchen reihenweise verknallt.»
«Sehr gut, dann kann es ja nicht so schwer sein, sich in ihn zu verlieben.»
Liz nickte. «Wenn du es je schaffst, dann bei ihm!»
Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu: «Wenn es mit ihm nicht klappt, dann kannst du die Sache ein für alle Mal aufgeben.»
«Okay, abgemacht. Der oder keiner! Weißt du, wie er heißt?»
«Rob.»
«Cooler Name. Das ist schon mal wichtig. Stell dir vor, ich müsste sagen: ‹Klaus-Dieter holt mich heute Mittag ab.› Oder: ‹Karl-Friedrich und ich gehen heute ins Kino.›»
Liz lachte. «Also eigentlich heißt er Robert, aber er wird Rob genannt. Klingt besser, oder?»
Ich nickte. «Allerdings!»
Liz klappte das Jahrbuch unserer Schule zu. «Hoffentlich funktioniert’s.»
«Das wird schon, keine Sorge», beruhigte ich sie.
«Ist Konny in seinem Zimmer?», fragte sie unvermittelt – und völlig unnötig, denn von nebenan dröhnte die Musik so laut durch meine Zimmerwand, dass sich die Tapeten im Rhythmus hoben und senkten.
«Ja», nickte ich und verdrehte die Augen.
«Gut. Er hat nämlich noch mein Matheheft, ich will es zurück.»
«Was macht er mit deinem Matheheft?»
«Er hat behauptet, er müsse was nachtragen», winkte Liz ab.
Liz wollte gerade aufstehen, da wurde die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen.
«Hey, Streberin», grölte Konny, «erklär mir doch mal kurz …» Er brach ab, als er Liz sah.
«Liz!», rief er und setzte sein James-Bond-Gesicht auf. Das war seine neueste Masche. «Du Schönste aller Frauen, was sehen meine entzückten Augen!»
Ich machte eine Geste, als müsste ich mich gleich übergeben.
Konny brachte das nicht aus dem Konzept. «Eigentlich wollte ich meine Schwester, das Superhirn, was Mathematisches fragen. Aber wenn ich dich sehe, vergesse ich jedes Matheproblem. Kommst du mit zu mir?», flirtete er Liz an.
«War gerade auf dem Weg», meinte Liz kurz angebunden. «Ich hab nämlich auch ein kleines Matheproblem …»
«Immer doch, jederzeit, frag mich», strahlte Konny.
«Klar, mein Bruder und Mathematik – zwei fremde Galaxien treffen aufeinander!», warf ich ein.
Konny ignorierte mich, zog Liz vom Stuhl hoch und schaute ihr tief in die Augen.
Liz schüttelte den Kopf: «Ich will bloß mein Matheheft zurück, Konny.»
«Jeder Wunsch von dir ist mir Befehl», meinte Konny völlig unbeeindruckt.
Liz zappelte ungeduldig: «Mein Matheheft!»
«Deine Augen funkeln wie Sterne am Nachthimmel.» Konny war nicht zu bremsen.
Liz wandte sich genervt von ihm ab und ging zur Tür. «Dann hol ich es mir selbst.»
Konny sprintete hinter ihr her. «Du hast Recht. Lass uns gehen, Sanny erträgt es nicht, so viel Glück und Harmonie zu sehen, davon kriegt sie Pickel.»
«Raus hier!» Ich warf ihm ein Kissen an den Kopf.
Liz verdrehte die Augen. «Der ist wirklich nicht zu ertragen.»
Liz hatte null Interesse an meinem Bruder, aber er übersah diese Tatsache großzügig.
Als die beiden draußen waren, schwor ich mir: So wie Konny würde ich mich nie im Leben benehmen, nicht einmal, wenn ich verliebt wäre. Ich würde das mit kühlem Kopf und Würde angehen.
Ich grübelte. Würde es mir je gelingen, mich richtig zu verlieben? Hatte ich für mein Vorhaben den richtigen Jungen ausgewählt?
Ich konnte nicht bis morgen auf eine Antwort warten. Pixi und Dixi mussten mir helfen. Die beiden sind meine Orakelfische.
Ich hatte Pixi und Dixi schon seit vielen Jahren, und unsere Wahrsagemethode folgte einem ausgeklügelten System: Ich stellte ihnen eine Frage und streute dabei Futter ins Wasser. Wenn sie fraßen, hieß es ‹Ja›, wenn nicht, war das ein eindeutiges ‹Nein›.
Die Ja-nein-Futtermethode war die einfachste Form der Prophezeiung. Und sie ging blitzschnell. Nachteil war, dass es nur die Antworten ‹Ja› oder ‹Nein› gab.
Bei komplizierteren Sachverhalten musste man die Objektmethode anwenden. Dazu hielt ich einen Gegenstand ins Aquarium, der das fragliche Objekt darstellte. Dann musste man beobachten, was geschah. Und das konnte dauern. Deshalb war diese Methode nicht für Notfälle geeignet.
Ich ging zu meinem Aquarium, nahm etwas Fischfutter und streute es ins Wasser. Die entscheidende Frage war: «Hab ich mit Rob die richtige Wahl getroffen?» Pixi und Dixi waren nirgends zu sehen. Ich klopfte an die Scheibe. «Hey, ihr Schlafmützen, ich hab euch was gefragt!»
Pixi und Dixi sausten erschreckt nach oben.
«Hey, was ist, hier ist Futter!» Ich steckte den Finger ins Wasser und rührte ein wenig herum.
Pixi und Dixi verzogen sich wieder. Wahrscheinlich war es kein guter Moment, eine Frage zu stellen. Ich musste es später noch einmal versuchen.
Ich wollte gerade mit Liz in meinem Zimmer verschwinden, da kam meine Mutter die Treppe herauf.
«Hausaufgaben gemacht, Konny?», fragte sie, als sie im Stechschritt auf Liz und mich zumarschierte.
«Bin gerade dabei», sagte ich.
Meine Mutter blieb stehen und musterte zuerst mich, dann Liz.
«Liz erklärt mir Mathe», versuchte ich die Situation zu erläutern.
Meine Mutter legte die Stirn in Falten: «Liz hat in Mathe eine Fünf.»
«Ach ja, ich erklär Liz Mathe», änderte ich kurzerhand meine Aussage.
Meine Mutter lachte. «Na toll. Du hast doch auch eine Fünf. Zwei Blinde helfen sich beim Sehen?!»
«Konny hat mein Matheheft ausgeliehen, und ich will es zurückhaben», sagte Liz knapp.
Na ja, so kann man es auch formulieren.
«Konny, gib Liz das Heft und komm mit, ich habe eine Aufgabe für dich», kommandierte meine Mutter.
Ich versuchte Widerstand zu leisten. «Ach, und was ist mit Mathelernen?»
Meine Mutter grinste: «Als ob das bei dir etwas nützen würde!»
«Was denn! Kein Zutrauen zu deinem eigen Fleisch und Blut?»
«Nee, dafür kenn ich dich zu lange. Du wirst sowieso nichts lernen, du wirst wieder versuchen abzuschreiben, wirst erwischt werden, kriegst wieder eine Fünf und gleichst das dann im Zeugnis wieder mit der Eins in Deutsch aus. Los, komm», befahl sie und ging zur Treppe.
Ich holte Liz’ Heft, gab es ihr und lief kopfschüttelnd hinter meiner Mutter her.
«Ich weiß wirklich nicht, ob dein pädagogisches Konzept klug durchdacht ist!», tadelte ich sie.
«Mach dir darüber mal keine Sorgen. Das hab ich im Griff.»
Ich gab mich geschlagen und trottete hinter ihr die Treppe runter. Sie ging ins Wohnzimmer, auf der Couch saß Konny. Konny Nummer zwei. Mein kleiner Bruder. Nicht dass meine Eltern keine neue Idee für einen weiteren Namen gehabt hätten. Mein Bruder heißt eigentlich Kornelius.
Nur mein Vater, ein «Kornblum» von Geburt, hat die volle K-Macke. Merkt man sofort bei unseren Namen. Kassandra! Konstantin! Kornelius! Unser Vater heißt Konrad, unsere Mutter Susanne. Sie wusste ja nicht, dass sie mal einen Kornblum mit K-Macke heiraten wird. Außerdem kämpft sie heimlich gegen Vaters K-Nummer. Sie war nämlich diejenige, die anfing, Kassandra Sanny zu nennen. Und als mein Vater protestierte und meinte: «Nenn das Kind nicht Sanny, das hört sich ja an, als würde es nicht zu unserer Familie gehören», fauchte meine Mutter ihn an: «Was soll denn das? Mein Name fängt doch auch nicht mit K an. Hast du ein Problem damit, dass ich Susanne heiße?!» Mein Vater zuckte ertappt zusammen, und seither heißt Kassandra Sanny. Als dann unser kleiner Bruder auf die Welt kam und Kornelius genannt wurde, war die Welt meines Vaters wieder in Ordnung.
Kornelius ist inzwischen fünf, und er hat durchgesetzt, dass man ihn ebenfalls Konny nennt, so wie mich. Kann ich verstehen, ich bin eben sein großes Vorbild. Seither gibt es einen «großen» und einen «kleinen» Konny in der Familie.
«Ich muss einkaufen», erklärte meine Mutter und deutete mit dem Kopf auf meinen kleinen Bruder. «Ich hab ihn gerade wieder eingefangen und will nachher nicht wieder die ganze Gegend nach ihm absuchen. Deshalb passt du auf ihn auf. Spielt irgendwas. Beschäftige ihn!»
«Kein Problem», meinte ich sofort. Es ist nämlich wichtig, meiner Mutter nie zu widersprechen, das erträgt sie nicht. Es ist einfacher, erst mal ja zu sagen und dann zu machen, was man will.
«Glaub bloß nicht, du kannst dich verdrücken, sobald ich zur Tür raus bin», warnte sie mich.
Warum durchschaute sie mich so schnell?
«Wenn ich zurückkomme, will ich Konny noch am selben Platz vorfinden. Verstanden?!»
«Klar doch!», nickte ich.
Meine Mutter atmete tief aus. Sie hatte keine Wahl.
Es wäre bestimmt alles gut gegangen, wenn nicht drei Minuten später Kai gekommen wäre. Mein Vater mag Kai. Aber ich glaube, das liegt daran, dass sein Name auch mit K anfängt, denn laut meiner Mutter ist Kai ein noch schlimmerer Chaot als ich.
Kai stand plötzlich bei uns vor der Tür und hatte einen Hund dabei. Einen ziemlich großen, eine Mischung aus Bobtail und Golden Retriever. Sah etwa aus wie eine überdimensional große Klobürste auf vier Beinen.
«Hab dir ’nen Hund mitgebracht», begrüßte mich Kai.
«Hey, klasse», meinte ich. «Andere Besucher bringen höchstens mal eine Tafel Schokolade mit.»
Ich streichelte den Hund, der freute sich, sprang an mir hoch, und ich fiel hintenüber. Ich lag auf dem Rücken, der Köter stand über mir und leckte mir das Gesicht.
«Gut, ich sehe, ihr versteht euch. Also dann», meinte Kai, drehte sich um und ging.
«Hey, halt, warte mal!», brüllte ich, schob den Hund weg, sprang auf und hielt Kai am Ärmel fest.
«Was soll das?!», wollte ich wissen.
«Was?»
«Na, mit dem Hund?!»
«Was soll mit dem sein? Ist ’n Geschenk für dich.»
«Danke, aber vielleicht sagst du mir noch zwei, drei Worte dazu. Wem gehört er denn?»
«Dir!»
So kamen wir nicht weiter. Kai war von der schlichten Sorte.
«Und wem hat er bis vor zwei Minuten gehört?»
«Mir.»
«Was? Seit wann hast du denn einen Hund?!»
Kai schaute auf die Uhr. «Seit genau anderthalb Stunden.»
Mit Kai musste man Geduld haben und die richtigen Fragen stellen.
«Okay, und wo hast du ihn her?»
«Aus dem Tierheim.»
«Und wieso hab ich ihn jetzt?»
«Meine Mutter mag keine Hunde.»
«Und warum hast du das nicht vorher geklärt, bevor du ihn aus dem Tierheim geholt hast?»
«War ’n Versuch. Ich habe sie gefragt, sie hat nein gesagt, aber ich hatte gehofft, sie ändert ihre Meinung, wenn sie Frankenstein erst mal sieht.»
«Frankenstein?»
«Ja, cooler Name für ’n Hund, was? Ist mir selbst eingefallen.»
Nee, also mit dem Namen hätte er bei uns in der K-Familie keine Chance.
«Ich werde ihn Karl nennen.»
«Wie du willst», nickte Kai großzügig.
«Und die vom Tierheim haben ihn dir einfach so mitgegeben?»
«Nur auf Probe. Ich muss morgen Bescheid geben, ob wir ihn nehmen. Kannst du ja dann machen. Hier ist die Adresse», sagte Kai und gab mir einen Zettel.
«Jetzt komm doch erst mal rein», versuchte ich Kai zu überreden.
Doch der schüttelte den Kopf. «Muss in zehn Minuten wieder daheim sein. Meine Mutter ist völlig ausgerastet, ich hab Hausarrest für den Rest des Tages. Durfte nur den Hund zurück ins Tierheim bringen.»
«Und wieso bringst du ihn dann zu mir?»
«Du wohnst näher, hatte keine Lust, wieder den ganzen Weg zurückzulaufen.»
Das leuchtete mir ein. Kai ging.
Hm, nun hatten wir also einen Hund.
Hey, mit Hund kann man bestimmt superleicht Mädchen kennen lernen. Das würde ich gleich mal testen. Ich nahm Karl und ging los.
Am Gartentor fiel mir Konny wieder ein. Ich raste zurück ins Haus. Hoffentlich war es noch nicht zu spät.
«Hey, Konny, komm mal her, schau mal, was ich habe!», rief ich voller Hoffnung.
Keine Antwort.
«Konny, wir haben einen Hund!»
Nichts.
Mist! Mir war zwar klar, was passiert war, aber ich lief trotzdem nochmal zurück ins Wohnzimmer, um mich zu vergewissern. Tatsächlich: Der Platz, auf dem Konny gesessen hatte, war leer. Die Terrassentür stand auf. Verflixt!
Ich schaute auf den Hund: «Kannst du Spuren lesen?», fragte ich ihn und hielt ihm einen Hausschuh von Konny unter die Nase. Der Hund jaulte auf und ging drei Schritte zurück.
Ich nahm die Leine in die Hand und zog den Hund zur Tür raus.
«Los, komm, das ist jetzt die Chance für dich, ein Held zu sein. Damit ist dir ein Schlafplatz in diesem Haus sicher.»
Die Sache sah nicht gut aus für mich.
Ich konnte nur hoffen, der Hund würde den Ernst der Lage begreifen.
«Konstantin! Kassandra!», brüllte meine Mutter durchs Haus. Wenn sie wütend ist, ruft sie uns bei vollem Namen.
Sie stand unten in der Diele, den kleinen Konny an der Hand, und schnaubte vor Wut. «Wo ist dein Bruder?»
Da sie den Träumer an der Hand hatte, schloss ich messerscharf, dass sie den Chaoten meinte. Ich ging die Treppe runter.
«Keine Ahnung. Hat er was angestellt?»
«Allerdings: Verletzung der Aufsichtspflicht. Er sollte auf Konny aufpassen, während ich einkaufen war. Auf dem Heimweg habe ich den Kleinen bei Flohmüllers im Apfelbaum entdeckt.»
«Was hast du denn im Apfelbaum gemacht?», wandte ich mich an meinen kleinen Bruder.
«Geguckt.»
«Wie, geguckt? Wonach hast du denn geguckt?»
«Nur so. In die Gegend geguckt.»
«Das kannst du doch auch vom Boden aus, dafür musst du doch nicht auf einen Baum klettern.»
Der kleine Konny schaute meine Mutter fragend an.
«Sanny hat Recht», meinte sie. «Zum Gucken musst du nicht auf einen Baum klettern.»
Konny war empört über so viel Unverstand: «Natürlich muss ich auf einen Baum klettern, wenn ich von oben gucken will.»
Meine Mutter überlegte kurz und nickte: «Stimmt.»