Eric-Emmanuel Schmitt
Nachtfeuer
Was ich in der Wüste erlebte
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
FISCHER E-Books
Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyon, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Er lebt heute in Brüssel. Mit seinen kleinen Erzählungen über die großen Religionen der Welt wie Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran, Oscar und die Dame in Rosa oder Das Kind von Noah wurde er international berühmt und gehört zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren in Frankreich. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Mit einem eigenen Theater in Paris, das er 2012 erwarb, erfüllte sich Eric-Emmanuel Schmitt einen langersehnten Traum.
Marlene Frucht, geboren 1980, übersetzt seit 2008 aus dem Französischen und Englischen. 2009 erhielt sie das Bode-Stipendium des Deutschen Übersetzerfonds. Zu ihren Autoren gehören Assia Djebar, Leila Marouane, Baptiste Beaulieu und Eric-Emmanuel Schmitt.
Als junger Philosophiestudent ist Eric-Emmanuel Schmitt von einem französischen Mystiker fasziniert, der einst bei den Tuareg in der Sahara lebte. Schmitt folgt seinen Spuren in die Wüste Algeriens. Bei einer Bergbesteigung verliert er seine Gruppe und verbringt die folgende Nacht schutzlos unter freiem Himmel. Er ist in größter Gefahr, und dann spürt er eine Kraft, die ihn überleben lässt. Diese mystische Erfahrung wird Schmitts Denken und Schreiben für immer verändern.
Covergestaltung: c/o QART Büro für Gestaltung Simone Andjelkovic
Coverabbildung: Marcelino Truong
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
La nuit de feu bei Albin Michel, Paris 2015
© Éditions Albin Michel, 2015
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
ISBN 978-3-10-490441-2
Ich glaube, ich habe Tamanrasset von dem Augenblick an geliebt, als ich noch im Flugzeug aus dem Fenster blickte und die kleine Stadt zum ersten Mal sah. Seit wir Algier verlassen hatten, waren wir über eine Mondlandschaft hinweggeflogen und hatten nichts gesehen als kilometerweise trockenen Sandboden, Geröll und Felsen, und darin eine wie mit dem Fingernagel in die Erde geritzte Linie, die schnurgerade verlaufende Piste, die den Jeeps, Lastwagen und Karawanen als Straße diente. Schon jetzt vermisste ich Bäume, ausgedehnte Felder, mäandernde Flüsse. Würde ich einen zweiwöchigen Marsch durch die Sahara überhaupt überstehen? Ich fürchtete mich vor der Kargheit, der versteinerten Landschaft, der pollenfreien Luft, vor einer Natur, die keine Jahreszeiten kennt. Es mochte daran liegen, dass ich von oben auf sie herabblickte, aber diese Gegend kam mir arm vor. Hin und wieder tauchte eine Oase auf, ein grün bewachsenes Fleckchen, wo um eine kleine Anhöhe ein paar Palmen, Dattelpalmen und Feigenbäume herum standen; jedes Mal flüsterte ich aufgeregt »Tamanrasset«, wurde aber sogleich von meinem Sitznachbarn korrigiert: Das war Ghardaia oder El-Golea, die Stadt der hunderttausend Palmen, oder In Salah. Dann ergriff die Monotonie wieder Besitz von den Landstrichen ohne jede Bewegung darin …
Wir waren bereits einen halben Tag unterwegs, als der Pilot endlich verkündete, dass wir nun unter uns Tamanrasset erblicken würden. Ich war überrascht, was für einen lieblichen Anblick die Stadt bot: Sie ruhte in einer Art Mulde zwischen zwei Armen aus Granit, die sich schützend um sie herumlegten. Zwischen steilen Böschungen lagen winzige, kubusförmige Behausungen aus safrangelbem Lehm, und ich fühlte mich an die Modellbauten meiner Kindheit erinnert, die ich für die Landschaft anfertigte, durch die sich meine elektrische Eisenbahn schlängelte.
Ich trat aus dem Flugzeug und spürte sogleich den Atem dieser Gegend, der sanft um meine Ohren und über meine Lippen hinwegstrich, und fasste dies als eine herzliche Umarmung auf, mit der die Wüste mich willkommen hieß.
Dann brachten wir unser Gepäck ins Hotel – zum Glück wies ein notdürftig angenageltes Schild auf die Funktion des Gebäudes hin, denn ansonsten unterschied sich das Haus, bis auf einen überdimensioniert wirkenden Empfangstresen aus gelbem Holz im Eingangsbereich, in keiner Weise von den umstehenden Gebäuden.
Dort erwartete uns Moussa, ein Targi (ein Mann aus dem Volk der Tuareg), mit dem wir im vergangenen Monat mehrmals in Kontakt gestanden hatten und der uns, per Fax oder am Telefon, mit den nötigen Informationen für unser Drehbuch versorgt hatte. Moussa hatte einen braunen Teint, war groß, schmal gebaut und in ein Gewand aus schwarzer Baumwolle gehüllt, und er schenkte uns ein so freimütiges, freundliches Lächeln, als würden wir einander schon ewig kennen, und lud uns gleich zum Abendessen bei sich zu Hause ein.
Die Gastfreundschaft anderer Leute hat mich schon seit jeher fassungslos gemacht, denn ich bin in Lyon aufgewachsen, und in dieser frostigen, verschlossenen Großstadt pflegt man Freunde erst zu sich nach Hause einzuladen, nachdem man sie monatelang (manchmal sogar jahrelang) skeptisch beobachtet hat. Jemanden in sein Zuhause zu bitten, kommt einer Auszeichnung gleich, es ist, als würde man ihm das Diplom überreichen, mit dem er sich fortan als »akzeptabler Umgang« ausweisen kann. Moussa aber freute sich, obwohl er so gut wie nichts über uns wusste, uns willkommen zu heißen, und öffnete uns spontan seine Tür – umso spontaner, als sein Haus überhaupt keine Tür besaß.
Es war ein niedriger Bau aus Lehm, der geduckt in einer Straße stand, in der die kastenförmigen Behausungen einander glichen wie die Waben eines Bienenstocks, und der nur aus zwei winzigen Räumen bestand, einer Küche und einem Gemeinschaftsraum. Die kleine Kammer, in der Moussas Frau und seine Töchter das Essen vorbereiteten, bekam ich nicht zu Gesicht, denn davor hing ein Vorhang aus Baumwolle als Sichtschutz; stattdessen verbrachte ich den ganzen Abend in dem leeren, blitzsauberen Zimmerchen, das sich Nacht für Nacht in das Schlafzimmer der gesamten Familie verwandelte. Dieser Raum wirkte aufgrund der völligen Abwesenheit von Möbeln, Nippes oder Bildern karg, ja asketisch auf mich, dafür aber kam mir das Couscous umso üppiger und bunter vor; die Fleisch- und Gemüsestücke lagen wie Schmuckstücke auf ihrem Kissen aus grobem Weizengrieß. Die Wirkung des Minztees auf mich war stärker als die eines teuren Weines: Das süße, duftende, würzige Getränk entfaltete in meinem Mund ein wahres Geschmacksfeuerwerk, exotisch und vertraut zugleich und so intensiv, dass es mir zu Kopf stieg.
Draußen war die Nacht hereingebrochen und ebenso rasch, wie es dunkel geworden war, war die Temperatur gefallen. Innerhalb von zwanzig Minuten war erst das Purpur aus dem dämmrigen Himmel verschwunden, dann hatte sich ein Wind erhoben, der erfrischend über die gras- und strauchlose Landschaft wehte, dann aber gewann die Dunkelheit vollends die Oberhand und erstickte auch den Lufthauch wieder.
Im Schein einer Öllampe, deren Flamme unsere Gesichter mit einem wie flüssig wirkenden, goldenen Licht übergoss, ergab sich die Unterhaltung wie von selbst. Gérard, der Regisseur des Films, und ich saßen auf dem blanken Boden und bedrängten unseren Gastgeber mit Fragen, die er uns mit seiner samtenen, wohlklingenden Stimme beantwortete. Noch mehr als seine Worte faszinierten mich die langen, schmalen Hände des Tuareg, deren knochige Handflächen in so feingliedrigen Fingern endeten, dass man an Spinnenbeine denken musste; diese Hände streckten sich wieder und wieder nach uns aus, um uns mit Essen oder Informationen zu versorgen. Ich fasste sofort Vertrauen zu diesen fremd anmutenden Händen.
Wir sprachen über das Leben der Tuareg … Auch wenn er in Tamanrasset eine Wohnung besaß, war Moussa nach wie vor ein Nomade, der neun Monate im Jahr in der Wüste unterwegs war. Sein Haus war lediglich so etwas wie ein gemauertes Zelt, das er regelmäßig gegen ein Stoffzelt eintauschte, und aus diesem Grund befand sich sein gesamtes Hab und Gut – Kleidung, Töpfe, Geschirr – säuberlich verschnürt in ein paar Säcken, die er und die Seinen überallhin mitnahmen. Niemand brauchte hier Stühle, Betten, Koffer, Türen, Schlösser oder Schüssel …
»Und wo verstecken Sie Ihr Telefon, Moussa? Und das Faxgerät?«
Fröhlich erklärte er uns, dass sein Schwager in zehn Kilometern Entfernung ein Reisebüro führte, und dorthin hätte er sich wiederholt begeben. In seinen Augen entsprachen ein Telefon und ein Faxgerät genau den Bedürfnissen der Region; man sah ihm an, wie stolz er war, dass sein Verwandter über diese moderne Technik verfügte. Nachdem er sich ausführlich über seine derart erfolgreiche Familie ausgelassen hatte, begann er, uns die Landschaften zu beschreiben, die wir auf unserem Weg durchqueren würden:
»Bioutifoul!«
Dieses eine Wort wurde von ihm unaufhörlich wiederholt:
»Bioutifoul!«
Ihm zufolge würden wir lauter Orte durchqueren, die schlicht und einfach bioutiful! waren, bevor wir weitere Orte zu sehen bekämen, welche ebenfalls bioutifoul waren. Während das Vokabular an Abwechslung zu wünschen übrig ließ, lieferten die Blicke, mit denen er seine Ausrufe begleitete, einen aufschlussreicheren Kommentar dazu: Hier würde es lieblich aussehen, dort majestätisch, hier furchteinflößend und dort harmonisch. Er setzte seine wechselnden Gesichtsausdrücke ein wie ein großer Maler seine Farben, um seine bioutifoul-Ausrufe damit auszuschmücken.
Das Interesse, das wir der wunderbaren Kultur der Tuareg entgegenbrachten, erschien ihm als deren Botschafter völlig normal; er dagegen stellte uns keine einzige Frage über uns, unser Land oder unsere Gebräuche. Ich ahnte bereits etwas, was ich im Laufe unserer Reise bestätigt finden würde: In der Wüste kümmert man sich nicht um den Rest der Welt, denn schließlich befindet man sich ja im Zentrum der Welt!
Um zweiundzwanzig Uhr verabschiedeten wir uns von Moussa und gaben ihm ebenso viele thank yous zurück wie er uns mit bioutifouls überhäuft hatte.
Um auf Nummer sicher zu gehen, fragte Gérard: »Wie heißt noch mal das Hotel?«.
»Hotel.«
»Wie bitte?«
»Das Hotel heißt Hotel«, erklärte Moussa lachend. »Bis vor kurzem gab es hier nur das eine … Mittlerweile hat die Regierung das Hotel Tahat gebaut, das aber niemals das Hotel Hotel ersetzen wird!«
Der Ort war nun in eine milde Nachtstimmung getaucht, die nichts mehr mit der Finsternis zu tun hatte, die direkt auf die Dämmerung gefolgt war. Als hätte sich die Umgebung an die Dunkelheit gewöhnt …
Während wir an einer Reihe dürrer Tamarisken vorübergingen, fiel mir auf, dass es weiter hinten einige Häuser gab, die über Elektrizität verfügten. Nach der lieblichen Helligkeit eines im Schein einer Öllampe verbrachten Abends kamen mir die grünlichen Neonlampen, die ein schmutziges Licht und hässliche Schatten hervorbrachten, alles andere als fortschrittlich vor, sondern vielmehr wie ein Schandfleck … Ihr Leuchten störte mich. Wie kann man gleichzeitig so sehr blenden und so wenig erhellen?
Ich schwankte bei jedem Schritt … Der Tee, die Unterhaltung, die Atmosphäre – was weiß ich? – hatten mich trunken gemacht … Oder aber es lag an den Anstrengungen der Reise … oder die ungewohnte Umgebung setzte mir zu … Zigmal musste ich mich auf eine kleine Mauer stützen. Ständig stolperte ich über meine eigenen Füße. Mir blieb immer wieder die Luft weg.
»Geht’s dir gut?«
Ein besorgter Gérard blickte mich schief von der Seite an.
Verlegen wandte ich meine allerletzte Energie auf, damit er nicht merkte, wie benommen ich mich fühlte.
»Alles bestens.«
Obwohl ich das eigentlich nur gesagt hatte, um seine Neugier abzuwenden, war es nicht gelogen. Auch wenn mein Gang so aussah, als hätte ich Gleichgewichtsprobleme, fühlte ich mich wohl, träge, entspannter als in Paris, durch das wir noch am selben Morgen gehetzt waren. Meine Schwäche stand für eine wirre Vorstellung, die intuitive Ahnung, dass ich mich in einer irgendwie bedeutsamen Landschaft befand, in einer Gegend, die auf mich gewartet hatte … Oder auf die ich gewartet hatte …
»Gute Nacht.«
»Bis morgen.«
»Halb acht an der Rezeption, nicht vergessen, Éric.«
»Ich stelle mir den Wecker!«
Ich durchquerte den Innenhof des Hotels und hob, kurz bevor ich mein Zimmer betrat, noch einmal den Kopf.
Da stürzte mir der Himmel auf den Kopf. Die Sterne glänzten hell, lebendig, zum Greifen nah. Die Unendlichkeit lächelte mir zu. Einen Wimpernschlag lang witterte ich, dass hier eine Begegnung mit dem Außergewöhnlichen auf mich wartete.
Aber da ich mich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnte, schlug ich die Augen nieder. Zu spät! Keine Kraft mehr … Vollkommen erschöpft ließ ich mich nicht von meinem Plan abbringen: schlafen.
Als ich die Dusche betrat, scheuchte ich sechs Kakerlaken auf, die entrüstet über die unebenen Kacheln huschten. Aus den Rohren strömte ein Geruch nach Füßen und Dreck. Ich wich zurück und hielt mir die Nase zu. Mich hier länger aufzuhalten würde mich nicht sauberer, sondern nur noch schmutziger machen! War ich überhaupt so schmutzig? Zumal ich ja allein schlafen würde …
Obwohl ich eigentlich ein Hygiene-Fanatiker war, verzichtete ich darauf, die Wasserhähne zu berühren, und streifte stattdessen ein sauberes Hemd über, das so gut nach Lavendel duftete, dass es mir die Illusion von Sauberkeit vermittelte; anschließend ließ ich mich aufs Bett fallen – eine dünne Schaumstoffmatratze, die direkt auf dem Zementsockel lag –, ohne den Wänden Beachtung zu schenken, die mit zerquetschten Mücken gesprenkelt waren.
Ich schlief schnell ein, voller Ungeduld – nicht etwa, weil ich diese Welt verlassen, sondern weil ich so rasch wie möglich zu ihr zurückkehren wollte.
Ich befand mich gar nicht in einem unbekannten Land, sondern war ganz offenbar in einem Versprechen gelandet.
Nach dem Aufwachen bin ich kein ganzer Mensch; Teile von mir stecken noch eine Weile im Schlaf fest. Mein Hirn dümpelt vor sich hin, schmort im eigenen Saft, weiß nicht, wo es sich befindet; ich kann mich kaum bewegen; mir fehlen die Worte und die Erinnerungen. Manchmal fällt mir noch nicht einmal mein Name ein … Ich tauche aus jeder Nacht auf wie ein gestrandeter Kadaver, der bei Ebbe ans Ufer gespült wird. Für eine unbestimmte Zeit bin ich dann diese leere Hülle, ein Bewusstsein ohne Inhalt, das lediglich sein eigenes Vorhandensein registriert. Dann kehrt allmählich und schwerfällig meine Identität zurück, ihrem eigenen Rhythmus folgend, wie ein Löschblatt, auf dem sich eine Flüssigkeit ausbreitet; und irgendwann stelle ich dann fest, dass ich endlich wieder ich bin.
So war es auch an jenem Morgen im Hotel Hotel, es war dasselbe Spiel wie an allen anderen Tagen, das aus mir einen morgendlichen Schiffbrüchigen macht.
Als ich die Augen aufschlug und den Raum dabei vermeintlich zum ersten Mal sah, fiel mir sofort das Licht auf. Was für ein Leuchten! Meine Finger tasteten nach dem Wecker und beendeten das Klingeln. Mein Blick wanderte über die cremefarben verputzten Wände, über die der Schatten der Vorhänge tanzte, die ein leichter Lufthauch in der Nähe des Fensters zum Flattern brachte. Wo hatte ich die Nacht verbracht? Von draußen drangen unbekannte Klänge herein, gedämpfte Stimmen, die eine fremde Sprache sprachen, grüne Vogelschreie, wütende Katzen, deren schrilles Miauen die durchdringenden Motorradgeräusche übertönte.
Wo?
Ein paar Fliegen begannen, oberhalb meines Kopfkissens im Kreis zu fliegen. Was waren das für unnachgiebige Schnüfflerinnen, ein Geschwader aus lauter Spioninnen, die mich umschwirrten, als hätten sie noch nie einen Franzosen gesehen.
Algerien … Tamanrasset … Reise mit Gérard …
Ich seufzte zufrieden, als mir wieder einfiel, dass ich mich ja am Tor zur Wüste befand und dass ein neuer Tag vor mir lag.
Doch irgendetwas stimmte nicht. Was nur?
Als ich ein Hupen hörte, wusste ich, was es war: Es fehlte jenes Rauschen, das charakteristisch für jede Stadt ist. Kein Verkehr, der die Straßen verstopfte. Hin und wieder vernahm ich zwar ein Auto, aber dann ließ sich das Geräusch genauso deutlich ausmachen, wie wenn man sich mitten auf dem Lande befindet. Normalerweise bedrängt einen das städtische Chaos mit viel Lärm und wenig Stille; hier dagegen nahmen sich die lauten Klänge vor einem Hintergrund der Stille aus. Tamanrasset, jene Fläche, die noch vor hundert Jahren den Zelten der Nomaden nicht mehr als eine Wasserstelle anzubieten gehabt hatte, hatte sich die Würde einer einzigartigen Stadt bewahrt.
Mittlerweile, da das Blut unter meiner Haut wieder zu fließen begonnen hatte, fingen meine Knöchel, meine Hände, mein Hals an zu schmerzen. Die Mücken hatten sich an mir gütlich getan. Ein Festmahl …
Meine Trägheit verfügte, dass die Stiche mich ja nicht umbringen würden, also schloss ich wieder die Augen, um noch ein bisschen zu dösen. Sieben Uhr morgens? Wozu? Es musste sich um einen Irrtum handeln … Ich lag auf dem Bauch und unternahm Versuche, erst die Position meines Kopfes, dann die meiner Beine und Arme ganz leicht zu verändern, aber jeder Körperteil wog eine Tonne. Würde es mir gelingen, meine Glieder anzuheben? Sie führten ein Eigenleben. Ob ich wohl so kühn war, von ihnen zu verlangen, sich gemeinsam zu bewegen?
Da hörte ich vom Flur aus Gérards energische Stimme:
»Éric! Vergiss nicht, dass wir heute zu den Schmuckhändlern fahren wollen.«
Ich unterbrach meine Überlegungen, die in erster Linie dazu dienten, meine Faulheit zu rechtfertigen, sprang aus dem Bett, traf in der Dusche erneut auf die entrüsteten Kakerlaken, trat den Rückzug an und behielt sie fest im Blick, während ich begann, mich wie meine Großeltern einst zu waschen, mit einem Waschlappen, vor dem Waschbecken stehend.
Dann ging ich zu Gérard. Der Empfangsbereich war gleichzeitig der Speisesaal. Ich trank einen bitteren Kaffee und bestrich ein Stück Brot mit einer Dattelmarmelade, die trotz der Erwähnung der Früchte nur nach Zucker schmeckte. Während ich angestrengt kaute, blätterte Gérard in verschiedenen Büchern über die Region herum, so dass ich zu ihm hinüberschielen und mich vergewissern konnte, dass ich um diese Uhrzeit des Lesens noch nicht mächtig war.
Dann erschien Moussa, voller Energie, fröhlich, noch jovialer als am Vortag. Er führte uns zu einem khakifarbenen Jeep, den er sich von seinem Schwager geliehen hatte, und stellte uns das Fahrzeug mit so viel Stolz vor, als handelte es sich um ein Familienmitglied. Ich setzte mich nach hinten, noch immer nicht recht bei mir, und wir fuhren los.
Eigentlich war ich der Meinung gewesen, dass mir als Erwachsener im Auto nicht mehr schlecht werden würde, merkte jedoch, dass es mir wieder so ging wie als Kind. Der holprige Weg, die Löcher darin, die brüske Art, mit der Moussa darüber hinwegbretterte, drehten mir die Eingeweide um. Mir wurde schlecht. Während ich mir sehnlichst wünschte, endlich aussteigen zu können, musste ich mich an den Haltegriffen der Tür festklammern, um nicht rauszufallen. Der Lärm und die Stöße vermittelten mir den Eindruck, als würden wir mit hundert Stundenkilometern dahinrasen, während es in Wirklichkeit wohl höchstens zwanzig waren …
Moussa bremste in der Nähe einer Reihe schütterer Bäume.
»Freunde, da wären wir!«
Der Schmuckmarkt hatte nichts mit der Place Vendôme gemeinsam. Er war am Stadtrand gelegen und bestand aus einem Rechteck gestampfter Erde, umgeben von Gestrüpp. Im Staub standen ein paar Zelte. Die Artikel lagen auf Tüchern ausgebreitet. Plastiktüten anstelle von Schachteln oder Schatullen.
Die einzigen Anwesenden schienen die Verkäufer zu sein, und ich fürchtete, dass wir die einzigen Kunden waren. Noch seltsamer war, dass keiner der Männer, die hier auf und ab wandelten, in Begleitung einer Frau war; zwar waren die meisten Schmuckstücke für Frauen bestimmt, doch war es nicht an ihnen, die Auswahl zu treffen.
Moussa erklärte den Händlern, wer wir waren, die sogleich für den Willkommenstee sorgten und Armbänder, Halsketten, Diademe und Ringe vor uns ausbreiteten, in der Erwartung, dass wir ihnen etwas davon abkaufen würden. Wie sollten wir ihnen vermitteln, dass wir eigentlich nur Schaulustige waren, die potentielle Kulissen für einen Film in Augenschein nahmen, und dass es uns daher genügen würde, den Schmuck nur zu betrachten? Nachdem wir zu Anfang begeistert die Schönheit der Gegenstände gelobt hatten, war es nun alles andere als einfach, zu begründen, warum wir gar nichts kaufen wollten! Geduldig und unermüdlich priesen die Tuareg ihre Ware an. Der Druck nahm zu. Um uns zu überzeugen, fingen sie an, darüber zu reden, was für eine Freude wir unseren Ehefrauen, Verlobten, Schwestern und Müttern mit diesen Geschenken bereiten würden … So langsam fing ich an, mich in ihrer Gegenwart nicht Manns genug zu fühlen: Hatte ich nicht geradezu die Pflicht, meine männliche Überlegenheit zu demonstrieren, indem ich solchen Tand mit nach Hause brachte?
Als Moussa dämmerte, dass wir nicht interessiert waren, führte er uns zu den Kunsthandwerkern, Angehörige der Kaste der Inaden, die verzierte Dolche schmiedeten: Vielleicht interessierten wir uns ja eher für männlichen Schmuck? In der Hoffnung, unsere Wünsche erraten zu haben, glitzerten seine Augen vor Ungeduld.
Die Situation wurde langsam peinlich für uns. Aus Feigheit oder Freundlichkeit kehrte ich zurück und wählte ein Paar Ohrringe aus. Gérard handelte einen Preis für einen Dolch mit kunstvoll verziertem Griff aus.
Moussa war beruhigt.
»Sind Sie zufrieden?«
»Ja.«
»Wirklich zufrieden?«
»Dieser Schmuck wird in Paris mächtig Eindruck machen.«
»Dann bin ich auch zufrieden!«
Er hatte an sich gezweifelt, nicht an uns …
Wir stiegen wieder in den Jeep, um zu unserer nächsten Station zu fahren: die Kapelle und die Festung, in der Charles de Foucauld gewohnt hatte.
Gérard und ich tauschten, während die Sonne unsere Schultern briet, einen vielsagenden Blick aus. Charles de Foucauld … Der Gedanke an ihn schüchterte uns ein … Charles de Foucauld, der tapfere Kämpfer, dem wir zur Zeit unsere gesamte Lektüre und Arbeitszeit widmeten und der sogar unsere Träume beherrschte … Charles de Foucauld, über den wir alles herausfinden wollten … Charles de Foucauld, der weiße Marabout … Hundert Jahre nach diesem Helden, von dem unser Drehbuch handelte, würden wir die Orte aufsuchen, an denen er gelebt hatte.
Die wirkliche Reise findet immer dann statt, wenn eine Vorstellung mit einer Wirklichkeit konfrontiert wird; sie liegt irgendwo zwischen diesen beiden Welten. Wenn der Reisende sich nichts erhofft, dann sieht er nur, was die Augen sehen; hat er die Orte aber bereits zuvor in seinen Gedanken konstruiert, wird er mehr sehen als das, was vor ihm liegt, ja er wird sogar die Vergangenheit und die Zukunft sehen, die jenseits des Augenblicks liegen. Selbst wenn er eine Enttäuschung erleben sollte, wird sie sich als reicher und fruchtbarer erweisen als ein bloßes Protokoll.
Der Stöße ungeachtet, legte ich den Kopf zurück, wandte mein Gesicht dem Himmel und der Hitze des Tages zu und konzentrierte mich mit geschlossenen Lidern auf die Ereignisse, die mich hierher geführt hatten.
In was für einem Abenteuer befand ich mich da, das mich in die Sahara geführt hatte?
Ich war achtundzwanzig Jahre alt und unterrichtete Philosophie an der Universität Savoyen. Als junger Professor stand ich am Beginn einer vielversprechenden Karriere, denn ich hatte an einer Elitehochschule studiert, bereits promoviert, einen Lehrauftrag an einer Uni und somit keine schlechten Chancen – zumindest wenn ich dem schmeichelhaften Raunen meiner Lehrer Glauben schenkte –, eines Tages an der Pariser Sorbonne oder sogar am Collège de France zu ›enden‹.