Delta-v

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David Lloyd George

James Tighe brach durch die Oberfläche eines Höhlensees, riss sich die Atemmaske herunter und rang nach Luft. Während er abwechselnd hustete und hastig atmete, beleuchteten seine Helm-LEDs das verschlammte Wasser um ihn herum. Jenseits dieser Lichtinsel lag endloses Dunkel.

Als die Verwirrung und das Herzrasen der Hypoxie nachließen, bohrte sich die Dekompressionskrankheit wie ein Dolch in seine Gelenke.

Aber der Schmerz hielt ihn bei Bewusstsein.

Er hatte wegen Luftnot mehrere Dekompressionsstufen überspringen müssen und wartete erst mal, bis sich abzeichnete, dass er überleben würde. Noch immer von Gelenkschmerzen gepeinigt, blickte er sich schließlich um.

Die Helmlampe erhellte eine Steilwand aus braunem Kalkstein wenige Meter vor ihm. Hinter sich hörte er ferne, hallende Rufe – dann Schreie. Tighe drehte sich um und beleuchtete eine felsige Wasserlinie, etwa zehn Meter entfernt. Sie sah anders aus als bei seinem Aufbruch vor acht Stunden. Staubwolken hingen in der Luft, und frisch fragmentierte, mächtige Kalksteinboulder lagen auf dem ansteigenden Höhlenboden dahinter.

Die schiere Größe der Gebiya-Kammer sprengte alle Maßstäbe. Sie war fast einen Kilometer lang, und ihre gewölbte Decke verlor sich 200 Meter über Tighe im Dunkel. Wäre dieses Dunkel nicht sternenlos gewesen, hätte Tighe sich schon fast einreden können, er sei im Freien statt tief unter der Erde in einer der größten Kalksteinhöhlen der Welt.

Tighe rief: «Chris!» Seine Stimme hallte wider. «Chris, bist du das?»

Das in Bewegung befindliche Licht antwortete: «Hier, J.T.!»

Tighe schwamm aufs Ufer zu. Als er im Flachen war, watete der dänische Höhlentaucher Christen Lykke ins Wasser und streckte ihm eine behandschuhte Hand hin, um ihm auf das Ufersims zu helfen. Sie trugen beide Trockenanzüge und Kreislauftauchgeräte.

Tighe sah, dass das ansteigende Steinufer mehrere Meter weit nass war. Er zog die Flossen aus und stand jetzt in seinen Tauchstiefeln da. «Wie schlimm ist es?»

In Lykkes Gesicht stand Schmerz. «Das Camp ist verschüttet. Sam ist eingeklemmt, und vier andere sind vermisst. Es gibt immer wieder Nachbeben.»

Von fern kam wieder ein gepeinigter Schrei.

«Ich glaube nicht, dass Sam es schafft. Unser Erste-Hilfe-Material ist größtenteils weg.» Lykke starrte aufs Wasser. «Wo ist Richard?»

Tighe blickte ebenfalls auf das Bassin. Er rang um Beherrschung. «Richard ist tot.»

Lykke sank in die Knie und raufte sich das Haar, kämpfte mit seinen eigenen Emotionen. «Ich habe versucht, zu euch zu kommen.» Er sah auf. «Meine Reserveflaschen sind verschüttet, J.T. Ich konnte nicht runtergehen –»

Tighe fasste Lykke an der Schulter und hockte sich neben ihn. «Du hättest nichts tun können, Chris. Gar nichts.» Tighe wandte sich in Richtung der Schreie. «Jetzt geht es darum, den anderen zu helfen.»

Lykke nickte grimmig.

Tighe ging durch das Boulderfeld hangaufwärts. «Wo ist Yuen?»

Lykke folgte ihm. «Sucht nach Überlebenden.»

Gleich darauf, als Tighe einen mächtigen Boulder umgangen

Tighe und Lykke begannen, Steine beiseitezuräumen.

Tighe fragte: «Nach wem graben wir?»

«Pell und Nakamura. Sie haben irgendwo hier gefilmt.»

«Hast du sie gehört?»

Chang schüttelte den Kopf.

Tighe inspizierte das Geröllfeld genauer. «Wenn sie da drunter sind, sind sie wahrscheinlich tot, Yu.»

«Sie könnten in einem Hohlraum sein.»

«Bist du sicher, dass du sie hier gesehen hast?»

Chang hielt inne, blickte sich dann um, offenbar unsicher. Die Kollapszone war riesig. Ab und zu stürzten Gesteinsbrocken aus dem Dunkel herab und kullerten den Hang hinunter.

«Hattest du schon Kontakt nach draußen?»

Chang schüttelte wieder den Kopf. «Die Telefonleitung ist unterbrochen.»

«Wir müssen das Basislager kontaktieren. Wie viele Überlebende gibt es in Camp 3?»

Chang ging umher, inspizierte das jetzt unvertraute Terrain. «Pell stand genau –»

Tighe packte Chang an den Schultern. «Wie viele Überlebende haben wir in Camp 3?»

Lykke antwortete an seiner Stelle: «Sechs. Sieben mit Sam.»

«Hier kommt zu viel Steinschlag runter.» Tighe wandte sich in Richtung der Lichter. «Wir müssen die Übrigen nach Camp 2 evakuieren. Vielleicht funktioniert ja dort die Verbindung nach draußen noch.»

Chang sagte: «Wir können hier nicht weg. Cobbett ist eingeklemmt.»

Lykke sagte ausdruckslos: «Er wird nicht überleben.»

Chang sah ihn finster an. «Du bist kein Arzt, Christen.»

Tighe trat zwischen sie und sagte zu Chang: «Wir beide können ja bei Sam bleiben. Alle anderen müssen hier weg.»

Chang begann wieder, mit den Händen zu graben. «Wir bleiben zusammen.»

«Schau dich doch um.» Tighe blickte ins Dunkel hinauf. «Diese Karstkammern sind in sich instabil. Wenn die Decke runterbricht, wird das ganze Team verschüttet.»

Ein plötzliches Grollen, zu tief, um hörbar zu sein, ließ Tighes Brustkorb vibrieren.

Lykke kauerte sich zusammen und presste sich an den nächsten Boulder. «Nachbeben!»

Ferne Schreie hallten durch die Kammer, als Chang und Tighe neben Lykke in Deckung gingen.

Plötzlich begann der massive Fels um Tighe herum sich zu wellen und zu verschieben und dabei zu reißen. Ein naher Knall betäubte Tighe, und der steinerne Boden warf ihn einen Meter in die Luft. Er schlug hart auf, und Dutzende Boulder und Gesteinsbrocken rollten und sprangen im Schein seiner Helmlampe hinab zum Höhlenbassin, wo sie ins schwappende Wasser klatschten und Zehn-Tonnen-Wellen gegen die jenseitige Wand schleuderten.

Das Beben ließ nach und hörte schließlich auf. Noch eine Weile hagelte es riesige Brocken, und dem ohrenbetäubenden Bumm ihres Einschlags folgten jeweils Dutzende von Sekundäreinschlägen.

Tighe rappelte sich auf, packte Chang und zog ihn hangaufwärts. «Du musst die anderen anweisen, sich in Sicherheit zu bringen.»

Lykke folgte ihnen.

Chang blickt dorthin zurück, wo Pell und Nakamura verschwunden waren.

«Sie sind tot! Hilf den Überlebenden.»

Wasserrauschen war plötzlich in der riesigen Höhlenkammer zu hören, hallte von fernen Wänden wider. Sie blieben alle drei stehen und horchten. Das Geräusch schwoll jäh zu einem Tosen an, das vom oberen Ende der Kammer kam.

Tighe sagte: «Er hat seinen Lauf geändert.»

Chang überschrie das immer noch anschwellende Tosen. «Jetzt können wir nicht mehr zurück!»

«Aber hierbleiben können wir auch nicht!»

Lykke sah sie beide an. «Was sollen wir tun?»

Tighe ging weiter auf die Lichter zu. «Wir befreien Sam, nehmen an Material mit, was wir können, und klettern dann.»

Chang fasste Tighe an der Schulter. «Klettern wohin?»

Tighe zeigte nach oben. «In der Decke gibt es ein halbes Dutzend unerforschte Gänge – Nebenarme des ursprünglichen Flussbetts. Einer davon könnte zum Ausgang zurückführen.»

«Wenn wir das tun, weiß der Rettungstrupp nicht, wo er uns suchen soll.»

«Niemand kann unter diesen Umständen eine Rettungsaktion starten. Wir müssen uns selbst retten.» Tighe schaltete seine Helmlampe aus. «Batterie sparen. Jeder Zweite macht seine Lampe aus. Wir werden jede Minute Licht brauchen, um einen neuen Rückweg zu finden.»

Chang starrte ins Leere.

«Geh vor, Yu.»

Nach einigen Sekunden nickte Chang und ging los, in Richtung der Lichter. «Mir nach.»

Baliceaux

Einen Monat später – 6. November 2032

James Tighe folgte einem von Tiki-Fackeln erhellten Weg durch ein Gewimmel von gutgekleideten Partygästen. Livriertes Personal patrouillierte mit Tabletts umher, bot Kaviar-und-Krabben-Brioches oder eingelegte Austern mit Gurke an.

Überall standen lachende, attraktive Menschen, Drink in der Hand. Tighe war mindestens zehn Jahre älter als sie alle. Auf der anderen Seite der Bucht tanzten Leute zu Algorave unter einem mondhellen karibischen Himmel, den jemand durch Laserstrahlen aufpeppen zu müssen glaubte. Würziger Sativa-Geruch wehte vorüber. Schwarze Kleider mit Spaghettiträgern, perfekt sitzende Jacketts zum weißen Hemd, Handmade-Chronometer an den Männerhandgelenken. Tighe fühlte sich wie ein Alien.

Im Vorübergehen bekam er Gesprächsfetzen mit.

«Tarantelkäse.»

«Wie in aller Welt machen sie den?»

«Haben ein Blockchain-Nonprofit gegründet.»

«Wie sieht ihr Exitplan aus?»

Eine schöne junge Frau zog an einem Bling-Bling-Verdampfer und beäugte Tighe.

Sein Aussehen hatte ihm immer den Weg geebnet. Dank seiner athletischen Statur und seinem jungenhaften Charme war er den gravierenderen Folgen seiner schlechten Lebensentscheidungen stets entgangen. Und hier und jetzt, in Maßjackett, Chinos und weißem Hemd, wirkte er auf lässige Art reich.

Mit siebenunddreißig besaß er kein einziges respektables Outfit. Dieses hier war bei seiner Ankunft auf der Insel für ihn geschneidert worden. Das Jackett fiel perfekt über die Schultern. Der Hemdstoff war geschmeidig wie Flüssigkeit.

In dieser Verkleidung studierte Tighe die soziale Szenerie. Hunderte Gäste verschiedenster ethnischer Zugehörigkeit, mit weißen Zähnen, reiner Haut und der entspannten Haltung von Leuten, deren Zukunft gesichert ist.

Sie schienen ihn als einen der ihren zu akzeptieren. Andere Gäste nickten ihm zu, als würden sie ihn kennen.

Ein Mann patschte ihm auf den Arm. «Sind Sie James Tieg?»

Tighe nickte. «Es spricht sich ‹Tai› aus. Nennen Sie mich J.T.»

Ein anderer Mann schüttelte den Kopf. «J.T.! Super, Mann!»

Jemand klopfte ihm auf den Rücken. «Gut gemacht, Yank.»

Eine Generation-Alpha-Frau in einem hautengen Minikleid rief: «O! Mein! Gott!» Sie zog ein Handy, schneller als jeder Revolverheld seinen Colt. Im nächsten Moment machte sie neben ihm ein Duckface, während ihr Handy – Blitz! – ein Selfie schoss. Kurze Inspektion. «Noch eins.» Ein Instant-Lachen und diesmal eine hochgezogene Augenbraue und ein drolliges Lächeln neben seinem verdutzten Gesicht. Blitz. «Hab’s.» Sie ging ohne ein weiteres Wort davon, den Kopf gesenkt, das Handy mit den Daumen bearbeitend.

Tighe musste an die Kayapó in Brasilien denken. Sie hassten es, fotografiert zu werden. Er fühlte sich ihnen auf einmal verwandt, weil er um seine Social-Media-Seele fürchtete – bis ihm einfiel, dass er ja keine hatte.

Jemand drückte Tighe ein kaltes Red Stripe in die Hand. «Cheers, Mann!»

Umstehende Gäste erhoben ihre Gläser und Bierflaschen. Einer war ein Schauspieler, den Tighe aus dem amerikanischen Fernsehen kannte. Der Weg vor ihm war voll von Models, Entrepreneuren, Künstlern und Talkshow-Experten. Und hier war er, Tighe, mitten unter ihnen, und badete in seinen fünfzehn Minuten

In dem Moment übertönte ein Zischen den Algorave. Ein vielstimmiges «Ah!» kam aus der Menge. Finger zeigten himmelwärts. Bald schon entpuppte sich das Zischen als das Geräusch von Jettriebwerken.

Tighe folgte dem kollektiven Aufwärtsblick und sah hoch droben eine einzelne Gestalt vor dem Licht wirbelnder Laserstrahlen – ein Mensch, der auf einem Jet-Board durch den Nachthimmel carvte. Der Lärm wurde ohrenbetäubend, als der Mensch, das Board wie ein Surfer steuernd, mitten über der Party Kurven und Parabeln flog. Triebwerkswind zerzauste Palmen und hob Röcke, während das Publikum begeistert brüllte. Der behelmte Jet-Boarder im weißen Fluganzug jagte über die Leute hinweg und forderte, indem er die Arme triumphierend hochriss, noch mehr Applaus. Auf seinem Anzug prangte der stilisierte Namensschriftzug «Joyce» über die gesamte Länge.

Die Menge tobte, und der Düsenlärm wurde leiser, als der Jet-Boarder nordwärts entschwand, in Richtung des Herrenhauses auf der anderen Seite der Insel. Der Algorave war wieder zu hören, im Verein mit aufgeregtem Geschnatter.

Eine Frau in Tighes Nähe: «Heilige Scheiße! War das wirklich Nathan?»

«Hier …» Ein Mann hielt sein Handy hoch, um den Beweis für das zu erbringen, was sie alle gerade gesehen hatten.

Nathan Joyce. Ihr milliardenschwerer Gastgeber.

Tighe war erleichtert, dass sich die Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihn richtete. Stattdessen erzählten sich die Umstehenden jetzt, was gerade passiert war – anhand ihrer Handyvideos von Joyces Überflug, die sie sich gegenseitig vorspielten.

«Schick es mir!»

«Ich lade es gerade hoch!»

Warum bin ich hier? Diese Frage wiederholte sich in Tighes Kopf. Nathan Joyces Einladung hatte dazu nicht viel gesagt.

Tighe drehte sich um und erblickte einen würdevollen Filipino in einem weißen Jackett mit schwarzer Fliege. Er hatte seinen Nachnamen richtig ausgesprochen. Tighe nickte.

«Mr. Joyce ist gerade von Mustique gekommen, Sir, und würde Sie gern unter vier Augen sprechen, wenn Sie einen Moment Zeit hätten.»

Einen Moment? Sehr witzig. Tighe war um die halbe Welt hierhergeflogen worden. Von Moment konnte wohl nicht die Rede sein. «Klar.»

«Folgen Sie mir bitte.»

Tighe stellte sein Bier ab und ging hinter dem Butler her durchs Partytreiben. Schließlich bestiegen sie beide einen wartenden autonomen Golfcart, der sofort den Hauptweg der Insel entlangschnurrte – in Richtung des Herrenhauses, das eine halbe Meile entfernt lag.

Tighe wusste über Nathan Joyce nur, was er im Internet gefunden hatte – einen Haufen nette, anekdotische Geschichtchen, die es in der Suchmaschinenoptimierung nach oben geschafft hatten, während die eigentlichen Informationen sechzehn Seiten tief vergraben waren. Gleichermaßen bewundert und geschmäht – oft von denselben Leuten –, predigte Joyce das Evangelium des Wagnisses, und sein Glaube war weltweit auf dem Vormarsch.

Aus durchschnittlichen Verhältnissen kommend, hatte es Joyce schon in jungen Jahren zum Milliardär gebracht, zuerst mit Kryptowährungen und dann durch eine ganze Serie von Tech-Start-ups, die (ohne dass Tighe je von ihnen gehört hatte, geschweige denn wusste, was sie machten) von Tech-Giganten gekauft worden waren.

Jetzt, mit Ende dreißig, besaß Joyce die Kontrollmehrheit Dutzender eng gehaltener Unternehmen in den Bereichen Neue Medien, Immobilien, Biotechnologie, Luft- und Raumfahrt und erneuerbare Energien. Er machte oft Schlagzeilen durch die Verkündigung grandioser, impraktikabel klingender Geschäftspläne.

Baliceaux sagte etwas über Joyces Modus Operandi aus. Jahrhundertelang war es ein zu den Grenadinen gehöriges unbewohntes 130-Hektar-Inselchen gewesen. Seine schroffe Topographie machte die Erschließung zu teuer für Hotelanlagen und Ferienwohnungen, aber Joyce sah, was andere nicht sahen: die nötige Höhe, um dem Anstieg des Meeresspiegels durch den Klimawandel standzuhalten.

Jetzt, da die Strandvillen der Prominenten auf den Exumas regelmäßig überschwemmt wurden, war Baliceaux eine der wertvollsten Privatresidenzen der Welt. Selbst wenn der Meeresspiegel um fünf Meter stieg, würde hier die Party weitergehen.

Der autonome Golfcart hielt unter einem begrünten Vordach am Eingang des Herrenhauses.

Der Filipino-Butler stieg aus. «Hier entlang bitte.»

Er führte Tighe durch ein mit Schnitzereien verziertes Holzportal, vorbei an grimmigen, Anzug tragenden Sicherheitsleuten. Das Interieur war rustikal tropisch, das Raumklima so weit heruntergekühlt und entfeuchtet, dass es in etwa dem norwegischen Sommer entsprach. Hier drinnen war es erstaunlich friedlich in Anbetracht der riesigen Open-Air-Disco ganz in der Nähe.

Nachdem er Tighe durch den Hauptflur geführt hatte, öffnete der Butler eine zweiflügelige Tür und ließ ihn in ein geräumiges Arbeitszimmer, voll mit Andenken und Antiquitäten aus aller Welt: Beinschnitzereien, Sextanten, einem großen Messingfernrohr auf einem Stativ, Modellen von Segelschiffen, Rennflugzeugen, Raketen, gerahmten alten Karten und regalweise Büchern.

Es hätte ein gemütliches Refugium sein können, wäre da nicht der 120-Zoll-8K-Flachbildschirm an der Wand überm Kamin gewesen – mit Tighes dreckverschmiertem Gesicht in kristallklarer Videoqualität, überlebensgroß, in Ich-Perspektive von jemandes Helmkamera gefilmt.

Eine Gestalt saß auf dem Sofa und betrachtete das Video. Selbst

Die Tür des Arbeitszimmers schloss sich hinter Tighe.

Im Video rief Tighe in die Kamera: «Wir können hier nicht bleiben!» Das tiefe Grollen reißenden Gesteins erschütterte das Arbeitszimmer mit Hilfe beeindruckender Lautsprecher.

Jemand schrie etwas im Off. Die Helmkamera drehte sich hin – und zeigte einen Mann im orangefarbenen Caving-Anzug und Helm. Er klammerte sich an eine Felswand, die um ihn herum in Stücke brach. Ein Seil führte vom Gurt des Mannes am Fels herüber.

Eine Stimme: «Lass los, John! Die Decke kommt runter! Lass los!»

Jetzt sah man Tighe, wie er seine eigene Sicherung ausklippte, dann ohne zu zögern durchs Dunkel sprang, den anderen Caver packte – und ihn vom Fels wegriss, obwohl der Mann nicht loslassen wollte. Sekunden nachdem sie an dem Seil zurückgeschwungen waren, brach die gesamte Felsfront weg, und eine große Partie der Decke stürzte mit ohrenbetäubendem Dröhnen herab. Die Kamera fing Tighe und den Caver ein, aneinander festgeklammert, ein menschliches Pendel über dem Nichts.

Tighe hängte sich in den Gurt des Cavers ein und blickte in die Kamera. «Hol uns rauf, Lars.»

Das Bild fror ein.

Der Zähler rechts unten zeigte an, dass das Video über zweiunddreißig Millionen Mal gesehen worden war.

Ohne sich umzudrehen, sagte Joyce: «Ganz schön riskant, um einen Mann zu retten, den Sie kaum kannten.»

Tighe wusste nicht, was er davon halten sollte. «Er hatte Batterien bei sich, die wir brauchten.»

Joyce ließ das einen Moment auf sich wirken. «Verstehe.» Er stand auf und drehte sich zu Tighe um. «Sie waren nach dem Beben vier Tage in der Tianxing-Höhle eingeschlossen.»

Tighe sagte immer noch nichts, während Joyce um das Sofa herumkam.

Tighe sagte nichts.

«Und doch haben Sie zehn von sechzehn Mann lebend nach draußen gebracht – und Sie waren noch nicht mal der Expeditionsleiter.»

«Ich hatte keine Wahl.»

«Oh, doch. Sie hatten ständig die Wahl. Sie mussten dauernd Entscheidungen treffen, Entscheidungen auf Leben und Tod unter extremer Belastung.» Joyce musterte Tighe. «Das da ist der einzige Clip, der es ins Internet geschafft hat, aber es gibt noch über zweihundert Stunden Material von den Helmkameras der Expedition. Ich habe jede Minute gesehen.»

Tighe verengte die Augen. War Joyce wirklich an das Videomaterial der Expedition gekommen? Das hatte nicht mal er selbst gesehen.

«Organisationspsychologen werden diese Aufnahmen jahrelang studieren. Im einschlägigen Vortragszirkus könnten Sie gutes Geld verdienen.»

«Haben Sie mich deshalb eingeladen?»

Joyce lachte. «Himmel, nein, das wäre wirklich Vergeudung.» Er streckte Tighe die Hand hin. «Ich bin Nathan Joyce.»

Tighe zögerte, gab ihm dann die Hand. «Alle nennen mich J.T.»

«J.T.» Joyce war groß und schlank, mit intensivem Blick und festem Händedruck. Um seine Augenwinkel spielte ein Lächeln. «Danke, dass Sie den weiten Weg hierher gemacht haben. Ich glaube, unser Vorhaben wird Sie interessieren.»

Tighe hörte in der Ecke einen Stuhl knarzen und merkte plötzlich, dass da noch ein Mann an einem runden Tisch saß – Südasiate, in den Sechzigern, mit gepflegtem grauem Bart und teuer aussehender Brille. Der Mann trug Jackett und Sommerhose, war aber nicht annähernd so stylish gekleidet wie die Partygäste am Pool.

Der Wirtschaftswissenschaftler kam heran und drückte Tighe kräftig die Hand.

Tighe fühlte sich deplatziert. «Von Wirtschaft verstehe ich gar nichts, aber es ist mir eine Ehre.»

«Mr. Tighe. Die Ehre ist ganz meinerseits. Sie sind ein sehr mutiger Mann.»

Darauf gab es keine angemessene Antwort, also nickte Tighe nur.

Joyce deutete aufs Sofa. «Setzen Sie sich. Können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten?»

«Nein. Danke.» Tighe setzte sich, innerlich auf der Hut. Irgendwas war hier im Gang, er wusste nur nicht was.

Der Ökonom fischte eine kleine Fernbedienung von einem Sideboard und drückte darauf. Der Fernseher ging aus, und stattdessen erschien über dem Couchtisch ein Hologramm. Es bestand aus drei Wörtern in weißen 3D-Lettern.

Was ist Geld?

Tighe war verdutzt. Er hatte noch nie eine freischwebende Holoprojektion live gesehen.

Joyce bemerkte seine Reaktion. «Ganz schön cool, was? Softwaredefiniertes Licht. Ich war Angel Investor in der Firma, die es entwickelt hat.»

Tighe starrte auf die Wörter Was ist Geld?. Jetzt erst drang ihre Bedeutung zu ihm durch. Irgendwie kam ihm das Ganze vor wie der Auftakt zur aufwendigsten Time-Share-Werbeveranstaltung der Welt. «Mr. Joyce –»

«Nathan, bitte.»

«Okay, Nathan, danke für die Einladung –»

«Aber warum Sie hier sind? Ich werde es Ihnen erklären. Zuerst aber möchte ich, dass Sie sich einen kleinen Vortrag anhören, den Sankar derzeit in gewissen Kreisen hält.» Als Tighe etwas sagen

«Natürlich.» Korrapati trat neben das leuchtende Hologramm und sah Tighe eindringlich an. «Können Sie mir sagen, wo das Geld herkommt, Mr. Tighe?»

Tighe blickte von dem Wissenschaftler zu Joyce und wieder zurück. Offenbar war das ihr gemeinsames Ding. «Ich … ich nehme an, aus einer Münzanstalt.»

«Um das klarzustellen: Mit ‹Geld› meine ich nicht die physischen Mittel – die Scheine und die Münzen –, sondern die Werteinheit, die das Geld repräsentiert. Wie entsteht eine gegebene Geldeinheit?»

Tighe wollte antworten, stellte aber überrascht fest, dass er es nicht wusste.

«Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Viele MBAs wissen es auch nicht.»

Die holographischen Wörter morphten zu einer Ein-Dollar-Note.

«Tatsächlich werden nur 5 Prozent allen Geldes von Regierungen in Form von umlaufendem Bargeld erschaffen.»

Der holographische Dollar schrumpfte vor einem Hintergrund von scrollenden Datenbanksätzen zu einem winzigen Rechteck.

«Die übrigen 95 Prozent des Geldes werden von Geschäftsbanken erschaffen, und zwar jedes Mal, wenn sie einen Kredit vergeben.»

Tighe sah Joyce fragend an. Joyce bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, weiter aufzupassen.

Das Hologramm verwandelte sich jetzt in ein Haus mit einem «Verkauft»-Schild im Vorgartenrasen.

«Wenn zum Beispiel eine neue Hypothek begründet wird, kommt dieses Geld nicht aus einem Banktresor. Vielmehr wird das Geld durch die Kreditvergabe erschaffen. Die Bank stellt es dem Kreditnehmer als Bankkredit zur Verfügung, und der Kreditnehmer verspricht, die Darlehenssumme in der Zukunft plus Zinsen zurückzuzahlen. Die neue Schuld wird bei einer Zentralbank dem Konto der

Tighe runzelte die Stirn. «Moment mal. Wie kann das sein?»

«Weil in der modernen Welt Geld keine realen Werte repräsentiert – Geld repräsentiert Schulden. Und je mehr Schulden in der Welt geschaffen werden, desto mehr Geld gibt es.»

Tighe sah wieder Joyce an.

Joyce bedeutete Korrapati fortzufahren.

«Nur der Klarheit halber: Es ist sehr wichtig, dass die Bank das virtuelle Geld, das sie verleiht, zurückerhält – und zwar mit Zinsen –, oder die Bank geht insolvent. Aber solange Darlehen zurückgezahlt werden, kann eine Bank immer weiter neues Geld in Form von Kredit erschaffen.»

Das Hologramm zeigte jetzt ein Säulendiagramm mit einem Pfeil, der beständig anstieg.

«Und so geht es immer weiter, es wird immer neues Geld erschaffen, weil immer mehr Leute, Unternehmen, Staats- und Gebietskörperschaften Kredite aufnehmen. Aber das System hat einen Schwachpunkt …»

Eine weitere Linie erschien im Diagramm. Sie war mit Fällige Rückzahlungen beschriftet und begann ein ganzes Stück über und kurz hinter der ansteigenden Schuldenlinie – und jagte sie bergauf.

«Banken verleihen nur den Kapitalbetrag. Zurückgezahlt werden muss er jedoch plus Zinsen – und bei langfristigen Krediten wie Hypothekenkrediten übersteigen die Gesamtzinsen den Kapitalbetrag bei weitem. Wenn die Gesamtgeldmenge nicht immer weiter wächst, wird nicht genug Geld da sein, um alle Kapitalbeträge plus Zinsen zurückzuzahlen.

Deshalb ist ‹Wachstum› das Mantra der Finanzwirtschaft. Deshalb werden die Konsumenten dazu gedrängt, immer mehr zu konsumieren, und deshalb steigen die Preise beständig – weil neue

Am schockierendsten für den Laien ist die Tatsache, dass die Rückzahlung von Krediten Geld vernichtet. Wenn die meisten Kreditschulden zurückgezahlt würden, würde das der Wirtschaft keineswegs nützen, es würde sie im Gegenteil lähmen. Keine Schulden hieße kein Geld.»

Das Hologramm morphte zu eine Schlange von abgerissen aussehenden Menschen, die vor einer Suppenküche anstanden.

«Denken Sie an die Große Depression, Mr. Tighe. Zwischen 1929 und 1932 verringerte sich die Gesamtgeldmenge in den USA um fast ein Drittel. Da faule Kredite abgeschrieben wurden, gab es insgesamt weniger Geld, um Zinsverbindlichkeiten zu bedienen, was zu einer Kaskade von Pleiten führte.»

Das Hologramm verwandelte sich jetzt in Cartoon-Bankgebäude, die umfielen wie Dominosteine.

«Die Große Depression war kein Fall von Überschuldung. Sie war ein Fall von Unterschuldung

Tighe runzelte verwirrt die Stirn.

Erneut erschien das virtuelle Diagramm mit der ansteigenden Schuldenlinie.

«Schulden sind der Motor der modernen Wirtschaft, weshalb sie ständig wachsen müssen. Je höher die Schulden, desto größer die Geldmenge und desto mehr wirtschaftliche Aktivität – aber auch desto mehr Zinsen, die bezahlt werden müssen, um das System am Laufen zu halten.»

Korrapati sah finster drein. «Das heißt, auch jetzt, da der Klimawandel die menschliche Zivilisation zu vernichten droht, zwingt uns unser Wirtschaftssystem, immer größeres Wachstum anzustreben – was irgendwann unmöglich sein wird.»

Die holographische Fällige-Rückzahlungen-Linie überholte schließlich die Schuldenlinie – und beide Linien stürzten jäh ab.

«Mein Finanzmodell sagt vorher, dass beim derzeitigen Verlauf diese Schuldenblase innerhalb der nächsten zehn Jahre platzen wird,

Tighe war sprachlos.

«Allerdings gibt es einen Ort, wo praktisch unendliche Expansion möglich ist – ja, wo sie bereits erfolgt. Wo unser gegenwärtiges schuldenbasiertes Finanzsystem noch Millionen von Jahren ungestört expandieren kann.» Korrapati zeigte nach oben. «Den Weltraum.»

Korrapati betätigte die Fernbedienung, und das Hologramm verschwand.

«Die kommerzielle Nutzung unseres Sonnensystems erlaubt es, die menschliche Ökonomie über die Erde hinaus auszuweiten und das Problem der akkumulierten Schulden in unserem Wirtschaftssystem anzugehen, indem sie die Gesamtmenge an Rohstoffen und Energie steigert, ohne die CO2-Emissionen zu erhöhen und den Klimawandel zu beschleunigen. Das ist der einzig sichere Weg, den baldigen globalen Wirtschaftskollaps zu vermeiden.»

Tighe war erst einmal wie erschlagen, blickte dann in Korrapatis erwartungsvolles Gesicht. «Versteh ich’s richtig? Sie wollen sagen, die Menschheit muss sich in den Weltraum ausdehnen – nicht um der Wissenschaft oder Forschung willen, sondern damit die Banken nicht pleitegehen?»

«Um der Erhaltung der Zivilisation willen.»

«Wäre es da nicht einfacher, das Geldsystem anders zu gestalten?»

«Das Finanzsystem zu verändern ist schwieriger, als Sie glauben – zumal die Profiteure des gegenwärtigen Wirtschaftssystems ihre ganze Macht daransetzen werden, den Status quo aufrechtzuerhalten. Und Kryptowährungen haben ihre eigenen energie- und klimapolitischen Schattenseiten.»

Joyce räusperte sich.

Tighe sah den Milliardär an.

«Ein Schlüsselwort, J.T.: Asteroidenbergbau

«Asteroidenbergbau.»

«Ich habe Dr. Korrapatis Finanzmodell studiert. Und meine

«Hören Sie, ich weiß ja nicht, warum Sie mich hierhergeholt haben, aber da muss irgendein Irrtum vorliegen.» Tighe stand auf. «Ich bin kein Investor.»

«Es liegt kein Irrtum vor, J.T. Ich habe ein Asteroidenbergbau-Unternehmen gegründet, und wir suchen die Crew für unsere erste bemannte Expedition. Ich hätte Sie gern dabei.»

Tighe setzte sich langsam wieder hin.

«Asteroidenbergbau wird eine gefährliche Sache sein. Ein Job für Wagemutige.» Joyce zeigte auf den Bildschirm. «Ich habe gesehen, wozu Sie fähig sind. Wir übernehmen die gesamten Trainingskosten, und es gibt einen Signing-Bonus – den Sie behalten dürfen, auch wenn Sie es nicht in die Endauswahl schaffen.»

«Sie wollen Menschen losschicken, um Asteroidenbergbau zu betreiben?»

«Ja.»

«Im Weltraum.»

«Richtig.»

«Gibt es nicht schon Unternehmen, die das mit Robotern machen?»

«Es gibt mehrere, die in der Vorbereitungsphase sind, ihre Technologie ist noch unerprobt. Wir glauben, dass uns die Entsendung von Menschen zusammen mit Robotern, trotz der erheblichen Mehrkosten, einen Konkurrenzvorteil verschafft – in erster Linie die Fähigkeit, Technik iterativ vor Ort zu entwickeln, um Innovation zu beschleunigen. Wie Dr. Korrapati aufgezeigt hat, ist Zeit ein zentraler Faktor.»

Tighe ließ das auf sich wirken. «Okay. Ich sehe da zwei Probleme …» Er zählte sie an den Fingern ab. «Erstens, ich habe keine Ahnung von Asteroiden, und zweitens, ich habe keine Ahnung von Bergbau.»

«Das ist mir bewusst. Diese ganze neue Industrie ist noch so spekulativ, dass niemand weiß, wie schwierig die Sache wird. Wir

Tighe zeigte auf den dunklen Bildschirm. «Sie glauben, ich hätte dort in Tianxing keine Angst gehabt? Ich hatte einen Mordsschiss.»

«Aber Sie waren immer noch fokussiert und haben effektiv gehandelt. Wir wollen Leute, die das Unerwartete beflügelt.»

Tighe lachte bitter. «Leute, ‹die das Unerwartete beflügelt›? Ich komme kaum mit dem Erwarteten klar. Das werden Sie schnell merken. Ich meine, mein Privatleben ist eine einzige Katastrophe. Ich würde nicht mal eine Bonitätsprüfung bestehen, geschweige denn einen Psychotest. Ich bin nicht das, was man einen vernünftigen Menschen nennt.»

Joyce musterte Tighe. «Ich will keine vernünftigen Leute – ich will verlässliche Leute.»

«Warum in aller Welt halten Sie mich für verlässlich?»

«Weil jeder Caver, mit dem wir gesprochen haben, sagt, er würde Ihnen sein Leben anvertrauen.»

Tighe war erstaunt, dass Joyce so gründliche Nachforschungen über ihn angestellt hatte.

«Tatsache ist, dass manche Menschen im Alltag nicht so gut funktionieren, unter extremen Bedingungen aber Überragendes leisten. Ich halte Sie für einen dieser Menschen.»

Tighe wollte den Kopf schütteln, ließ es aber bei genauerem Nachdenken bleiben.

Joyce insistierte: «‹Vernünftige› Menschen meiden unnötige Risiken. Sie hingegen riskieren regelmäßig Ihr Leben, nur um irgendwohin zu gelangen, wo noch nie jemand war. Wenn Sie ein vernünftiger Mensch wären, J.T., würden wir dieses Gespräch nicht führen. Und andersherum, wenn ich ein vernünftiger Mensch wäre, wäre ich nicht reich.»

Tighe begegnete Joyces eindringlichem Blick.

«Tue ich was?»

«Höhlentauchen ist eine der gefährlichsten Aktivitäten überhaupt. Es erfordert Mut, Können, Intelligenz, körperliche Belastbarkeit. Und doch tun Sie es auf eigene Kosten und ohne auf Rettung hoffen zu können. Warum?»

So dargestellt, klang es selbst für Tighe verrückt. «Ist schwer zu erklären.»

«Versuchen Sie’s.»

Tighe suchte nach Worten. «Wenn ich eine unerforschte Höhle ertauche, ist es kein Nervenkitzel. Eher im Gegenteil. Ich fühle mich total zentriert. Es ist ein gesteigertes Realitätsgefühl – wie man sich vielleicht fühlen würde, wenn jetzt ein Tiger hier in diesen Raum spaziert käme, man wäre ganz und gar im gegenwärtigen Moment. Vergangenheit und Zukunft gäbe es nicht mehr.»

Joyce dachte über Tighes Worte nach. «Die buddhistischen Mönche in Kopan nennen das Mindfulness – ein meditativer Zustand, der selbst für Erleuchtete schwer zu erreichen ist.»

«Ein guter Freund von mir, Richard Oberhaus, hat mal gesagt, Höhlentauchen befreie einen von dem ganzen hinderlichen Kram des Lebens. Vielleicht ist das ja das Gleiche wie Meditation. Ich weiß es nicht.»

«‹Hinderlicher Kram›, das gefällt mir.» Joyce nickte anerkennend. «Also, wenn Sie ein ‹gesteigertes Realitätsgefühl› suchen, das kann ich Ihnen liefern wie kein anderer – und was Sie noch von mir haben können, ist gutes Geld, mal ganz abgesehen von einem Arbeitsplatz mit einer Wahnsinnsaussicht …» Bei diesem Wort machte Joyce eine Handbewegung, und ein leuchtendes Hologramm der Milchstraße erschien zwischen ihnen in der Luft.

Das Licht im Raum dimmte herunter, was das Leuchten der Sterne noch intensivierte.

Die gesamte Milchstraße funkelte vor Tighe, als schwebte er bereits im Weltraum. Ihm gegenüber stand der Mann, der ihn dorthin schicken wollte.

«Wenn die Menschen je eine Raumfahrerspezies werden sollen, müssen wir hinaus in den Weltraum – und nicht nur besuchsweise. Es gilt, dort Wirtschaftsstrukturen aufzubauen. Roboter werden uns dabei helfen, aber sie sind nicht das Endziel. Wir müssen die menschliche Präsenz in unserem Sonnensystem ausweiten – nur so erreichen wir exponentielles Wachstum.»

Tighe dachte kurz nach. «Warum Asteroiden? Warum nicht mit dem Mond anfangen?»

«Geopolitische und juristische Komplikationen. Überlegen Sie mal, der Mond spielt in der menschlichen Kultur von jeher eine prominente Rolle – in Liedern, in Poesie und Prosa. Auf seiner Oberfläche kann niemand so leicht eine Bergbauindustrie etablieren. Meine Berater meinen, es würden jahrelange Rechtsstreitigkeiten anfallen, ehe kommerzieller Mondbergbau profitabel möglich wäre.»

Joyce ließ das Hologramm der Galaxie mit einer Handbewegung verschwinden. «Außerdem enthalten bestimmte erdnahe Asteroiden Hunderte Millionen Tonnen Wasser, Eisen, Stickstoff und Ammoniak. Und sie sind mit weniger Energieeinsatz zu erreichen als unser guter Mond. Und wichtiger noch: Einige dieser Asteroiden bedeuten eine tödliche Gefahr für die Menschheit, sollten sie je die Erde treffen. Was heißt, es wird wohl niemand für ihren Schutz vor Gericht ziehen.»

«Und die Rohstoffe bringen Sie wohin?»

«Was den Wert von Asteroidenrohstoffen ausmacht, ist vor allem ihre Bewegungsbahn – über der Gravitationssenke der Erde, und da sollen sie auch bleiben. Dort, im Cislunarraum, plane ich die Errichtung von Kraftwerken, CO2-intensiven Industrien und einer Weltraum-Warenbörse – die Anfänge einer ganzen cislunaren Ökonomie, die das praktisch unbegrenzte Wachstum ermöglicht, das Dr. Korrapati beschrieben hat, und dabei noch den Klimawandel bremst.»

«Gewonnene Rohstoffe von erdnahen Asteroiden in einen entfernten retrograden Mondorbit zu bringen, ist mit einem niedrigeren Delta-v möglich, als man es bräuchte, um dieselbe Masse von der Mondoberfläche zu heben.»

Tighe warf ein: «Delta-v? Ich weiß nicht, was das ist.»

«Der griechische Buchstabe Delta ist das mathematische Standardsymbol für Differenz. Delta-v bezeichnet eine Änderung der Geschwindigkeit. Alle Himmelsobjekte sind in Bewegung – was heißt, man muss entweder beschleunigen oder verlangsamen, um sie zu erreichen. Je höher das Delta-v, desto größer der Energieverbrauch – und desto höher die Kosten. Wenn es um Weltraumwirtschaft geht, J.T., ist Delta-v der Unterschied zwischen Profit und Verlust. Mit anderen Worten: Delta-v ist alles

Tighe konnte kaum glauben, dass er dieses Angebot in Erwägung zu ziehen begann. «Mr. Joyce –»

«Nathan.»

«Nathan, ich habe Jahre gebraucht, um zu lernen, in Höhlen 200 Meter tief zu tauchen. Über Raumfahrt weiß ich nichts. Meine mangelnden Kenntnisse könnten andere das Leben kosten.»

Joyce trat näher an Tighe heran. «Unsere Crewmitglieder werden gründlich ausgebildet. Mit Ihrer Sachkenntnis, was Atemgasgemische und Druckverhältnisse betrifft, sind Sie den meisten Kandidaten voraus – sogar vielen der Ex-Astronauten.»

Tighe überlegte, was es noch an Einwänden geben könnte. In den Weltraum zu fliegen, war ihm nie in den Sinn gekommen – es war eine Kinderphantasie. Aber das Erdbeben in Tianxing hatte sein Leben aus den Fugen gerüttelt. Warum nicht auch seine Zukunft? Trotzdem, es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie merkten, dass er nicht dem entsprach, was sie in ihm sahen.

Und auch nicht das, was Richard Oberhaus in ihm gesehen hatte.

Schließlich sah Tighe auf. «Sie haben was von einem Signing-Bonus gesagt?»

«Wie lange geht das Trainingsprogramm?»

«Die erste Phase der Kandidatensichtung dauert neunzig Tage. Für die Ausgewählten schließt sich ein sechsmonatiges strenges Ausbildungsprogramm an, gefolgt von zwei Wochen Training im niedrigen Erdorbit. Wenn ich recht informiert bin, haben Sie momentan keine Expeditionen anstehen.»

Niedriger Erdorbit. Tighe überlegte. «Und wenn ich mir’s anders überlege?»

«Behalten Sie den Signing-Bonus. Ich betrachte ihn als eine billige Versicherung gegen ungeeignete Kandidaten. Besser – und weniger kostspielig –, man entdeckt sie hier auf der Erde.» Joyce setzte sich auf die Armlehne des Sofas. «Also, was sagen Sie, J.T.? Wenn Sie ein echter Entdecker sind, ist das die ultimative Expedition.»

Tighe blickte zu dem dunklen Bildschirm. «Das Helmkamera-Video aus Tianxing – ich hätte gern eine Kopie.»

«Natürlich. Wenn jemand ein Recht darauf hat, dann Sie.»

Tighe holte tief Luft. «Ich habe zwar keine Ahnung von Wirtschaft oder vom Weltraum, aber ich habe noch nie eine Expedition abgelehnt, die eine echte Herausforderung ist. Ich bin mit von der Partie.»

Joyce lächelte und schüttelte Tighe die Hand. «Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Meine Leute kommen morgen mit dem Papierkram in Ihrem Bungalow vorbei. Einstweilen viel Spaß heute Nacht!»

Die seltsame Begegnung endete genau in dem Moment, als Joyce bekommen hatte, was er wollte. Die zweiflügelige Tür öffnete sich, und der weißbejackte Butler stand wartend da.

Im Hinausgehen bemerkte Tighe gleich neben der Tür eine umwerfend aussehende Frau, ungefähr in seinem Alter und mit

Tighe hielt sie für ein Supermodel oder sonst irgendeine Celebrity. So sah Joyces Leben aus.

Tighe blickte sich noch einmal um, ehe er dem Butler den Flur entlang folgte. Bevor sich die Tür des Arbeitszimmers schloss, sah er, wie die Frau ihm ihrerseits hinterherblickte.