Ralf Konersmann
Die Unruhe der Welt
FISCHER E-Books
Ralf Konersmann, geboren 1955, ist Professor für Philosophie an der Universität Kiel und Direktor des dortigen Philosophischen Seminars. Er ist u.a. Wissenschaftlicher Beirat der »Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie«, Mitherausgeber der »Zeitschrift für Kulturphilosophie« sowie des ›Historischen Wörterbuchs der Philosophie‹. Zuletzt ist das von ihm herausgegebene ›Wörterbuch der philosophischen Metaphern‹ als Studienausgabe (Darmstadt 2014) erschienen.
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Einst galt die dauerhafte Ruhe als Bedingung von Glück. Heute jedoch wird Unruhe belohnt, das Immer-Unterwegs-Sein, die permanente Veränderung. Ralf Konersmann rekonstruiert, wie die westliche Kultur ihr Meinungssystem revolutionierte und von der Präferenz der Ruhe zur Präferenz der Unruhe überging. Mit genealogischem Blick nimmt er die Unruhe nicht einfach als gegeben, sondern arbeitet heraus, wie sie überhaupt ihren Status hat erlangen können. Denn die Unruhe ist weder bloß Subjekt noch bloß Objekt, sie ist weder Innen noch Außen, weder Mittel noch Zweck, sondern jederzeit beides zugleich. Eine analytisch klare und stilistisch brillante Reise durch die geschichtlichen Stationen einer Vorstellung, die uns heute permanent am Laufen hält und die uns so selbstverständlich erscheint, dass niemand sie grundsätzlich hinterfragt.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Umschlagabbildung: Corinne Wasmuht, "Heidelberg", 2003, Öl auf Nessel, 290 x 250 cm (Detail)
Erschienen bei S. FISCHER
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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ISBN 978-3-10-402993-1
AnmerkungenÉmile Durkheim: Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903. Aus dem Französischen v. Ludwig Schmidts. Neuwied u. Darmstadt 1973, S. 120. – Die Beobachtung beschränkt sich keineswegs auf die entlegenen Verhältnisse von Stammesgesellschaften. Max Weber hat daran erinnert, wie entschieden das traditionelle Genügen an der Bedarfsdeckung dem Aufkommen kapitalistischer Verkehrsformen entgegenstand. Ein Haupthindernis bei der Einführung des Akkordlohnsystems bestand darin, dass die Betreffenden nicht etwa in der gleichen Zeit mehr arbeiteten, um ihr Einkommen zu steigern, sondern sich auch weiterhin an die Höhe des zuvor erzielten Lohnes hielten und, sobald diese erreicht war, nach Hause gingen. Die arbeitsfreie Zeit schien ihnen reizvoller als der Mehrverdienst, und es bedurfte des jahrhundertelangen Einsatzes der christlichen Tugendlehren, um die meisten von ihnen vom Gegenteil zu überzeugen und, wie Weber lakonisch resümiert, »die Welt umzubauen« (vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Hg. v. Dirk Kaesler. 3. Aufl., München 2010, S. 78, 82f. u. 201).
Die Unruhe wohne unserem Wesen inne (l’inquiétude est inhérente à notre substance), erklärt Mirabeau 1758, und sei verbunden mit der menschlichen Natur; es sei ihre Eigenschaft, stets das Gute zu suchen (Victor Riqueti, Marquis de Mirabeau: L’Ami des hommes ou Traité de la population. Nouvelle édition corrigée. Teil 1. Avignon 1758, S. 56f.; zur Anthropologisierung der Unruhe im 18. Jahrhundert vgl. Jean Deprun: La Philosophie de l’inquiétude en France au XVIIIe siècle. Paris 1979, S. 82ff.). – Der historischen Definition des Menschen als Unruhewesen ist allerdings sogleich widersprochen worden. Besonders die Kunst hat neuzeitspezifische Reservate der Ruhe erschlossen, die, wie Edmund Burke (1729–1797) argumentiert, der wahre Grund des Vergnügens sei. Unter Berufung auf Newtons Theorie der Nervenbahnen vertritt Burke die These, die leidenschaftliche Liebe setze eine Phase der »Erschlaffung« (relaxation) zwingend voraus (A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful. 5. Aufl., London 1767, insbes. Kap. 19; zur Ästhetisierung der Ruhe s.a. Mark William Roche: Dynamic Stillness. Philosophical Conceptions of Ruhe in Schiller, Hölderlin, Büchner, and Heine. Tübingen 1987).
Die allgemeine Tendenz solcher Einsprüche ist offensichtlich dahin gegangen, die Herausforderungen der Modernität zu unterlaufen und den »Weg nach innen« und in eine weltferne »Geborgenheit« anzutreten (Otto Friedrich Bollnow: Unruhe und Geborgenheit im Weltbild neuerer Dichter. 3., durchgesehene Aufl., Stuttgart u.a. 1953, insbes. S. 141ff.); umso kostbarer sind die Ausdrucksgestalten einer ebenso selbst- wie modernitätsbewussten Ruhe (vgl. Abb. 4), die sich mit der Lage auseinandersetzt und sich ihr gewachsen zeigt.
Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips. In: Ders.: Studienausgabe. Bd. 3. Hg. v. Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt a.M. 1975, S. 213–272, hier S. 264; s.a. Ders.: Das ökonomische Problem des Masochismus. In: Ebd., S. 339–354, hier S. 343f.
Kultur, schreibt Jacob Burckhardt, sei »der Inbegriff alles dessen, was zur Förderung des materiellen und als Ausdruck des geistig-sittlichen Lebens spontan zustande gekommen ist, alle Geselligkeit, alle Techniken, Künste, Dichtungen und Wissenschaften. Sie ist die Welt des Beweglichen, Freien, nicht notwendig Universalen, desjenigen, was keine Zwangsgeltung in Anspruch nimmt.« (Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Darmstadt 1962, S. 20.)
Die Gegenüberstellung von Emotion und Passion wird im Allgemeinen auf René Descartes zurückgeführt, der im ersten Teil (Artikel 27) seiner Schrift über die Leidenschaften der Seele die bereits im Discours de la méthode (1637) und in den Meditationes de prima philosophia (1641) angedeutete Untersuchung der Irrtümer des Verstandes und der Sinneswahrnehmungen fortführt. Als passions möchte Descartes nun diejenigen émotions verstanden wissen, die direkt auf die Seele bezogen sind und ihre Regungen ursächlich beeinflussen (René Descartes: Les Passions de l’âme. In: Ders.: Œuvres. Hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. Bd. 11. Paris 1909, S. 349). Die bei Descartes selbst bloß angedeutete Antinomie wird in der weiteren Geschichte des Begriffspaars vereindeutigt, so bei Bonnet und Condillac. Im Anschluss an Théodule Ribot, der die begriffsgeschichtliche Entwicklung erstmals skizziert (Essai sur les passions. 3. Aufl., Paris 1910), findet der dänische Philosoph Harald Höffding den Begriffsnamen des Gesamtgefühls (Humor als Lebensgefühl. [Der grosse Humor]. Eine psychologische Studie. 2. Aufl., Leipzig 1930, S. 24). – Etwas sehr Ähnliches meint offenbar Niklas Luhmann, wenn er von einer Art »Superpassion« spricht: einer Passion, der es gelinge, andere Passionen »in ihren Dienst« zu nehmen (Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1984, S. 75).
Das Beispiel Montaignes ist die Angst, die seit den Zeiten der Stoa zu den Nachbarbegriffen der Sorge und der Unruhe gehört. In seinem Essai über die Unsicherheit unserer Urteile (I 47) schreibt er, »qu’il n’est passion contagieuse comme celle de la peur« (Michel de Montaigne: Les Essais. Hg. v. Pierre Villey. Paris 1988, Bd. 1, S. 285).
Weniger eindeutig als die gedankliche Nähe zur Stoa ist das Modell der Ansteckung, dem Montaigne mit seiner Theorie der Passionen zuneigt. Montaigne folgt weder dem älteren, theologischen Modell der miasmatischen Übertragung, das schon wortgeschichtlich mit ›Verunreinigung‹ und ›Sündhaftigkeit‹ assoziiert ist, noch dem modernen, bakteriologischen Modell der Infektion, das eine »einseitige Richtungsdominanz« vorgibt und die Ansteckung auf ursächliche ›Herde‹ und ›Träger‹ zurückführt (vgl. Hans Blumenberg: Begriffe in Geschichten. Frankfurt a.M. 1998, S. 93). Was Montaigne vorschwebt, ist offenbar das zu seinen Lebzeiten entwickelte Kontagionsmodell des Veroneser Mediziners und Poeten Girolamo Fracastoro (vgl. Hieronymus Fracastoro: Drei Bücher von den Kontagien, den kontagiösen Krankheiten und deren Behandlung. Übers.u. eingel. v. Viktor Fossel. Leipzig 1910, insbes. Erstes Buch), das interessanterweise ohne Subjektkonstruktion auskommt. Das Modell der Kontagion kennt nicht die Position eines verantwortlichen Urhebers. Die Übertragung der Kontagien oder seminaria geschieht durch direkten oder auch indirekten Kontakt und sogar durch Fernwirkung (per distans). Mit diesem Darstellungsmodell widersteht Fracastoro der Versuchung, einem Denkzwang zuliebe, der zu seiner Zeit auch unter Medizinern verbreitet war, epidemische Verursacher als moralisch Schuldige zu benennen. Stattdessen exponiert sein Ansteckungsmodell die Grunderfahrung der Passion: Der Augenblick der Kontaktaufnahme sprengt die Logik des Wollens, denn in ihm sind Erleben und Erleiden, Anziehung und Abstoßung, Zurückweisung und Verlangen eins. Dieser Effekt des Umspringens gilt für das Verhältnis von Unruhe und Passion ganz generell: Nicht nur ist die Unruhe eine Passion – Passionen stehen überhaupt im Verdacht, sowohl Erreger als auch Zeichen der Unruhe zu sein.
»Darin sind wir doch wohl einig«, schreibt Lessing am 2. Februar 1757 an Moses Mendelssohn, »daß alle Leidenschaften entweder heftige Begierden oder heftige Verabscheuungen sind? Auch darin: daß wir uns bei jeder heftigen Begierde oder Verabscheuung, eines größern Grads unsrer Realität bewußt sind, und daß dieses Bewußtsein nicht anders als angenehm sein kann? Folglich sind alle Leidenschaften, auch die allerunangenehmsten, als Leidenschaften angenehm.« (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Wilfried Barner. Frankfurt a.M. 1985ff., Bd. 11/1, S. 165–169, hier S. 166.)
Die Verbindung von Unruhe und Passion geht offenbar auf Paul Lafargue und seinen Essay über Das Recht auf Faulheit zurück, der 1883 erstmals erschien und 1891, übersetzt von Eduard Bernstein, auch auf Deutsch vertrieben wurde. Lafargue bezeichnet die menschliche Arbeit als eine für den gesellschaftlichen Organismus nützliche Leidenschaft (une passion utile à l’organisme social) und resümiert mit dieser Wortwahl seine These, daß die Arbeit 1848 in Frankreich nicht nur aus Vernunftgründen als ein »Recht« gesetzlich anerkannt worden sei, sondern als Folge eines von interessierter Seite geschürten Vorurteils. Die Passion der Arbeit sei mächtig genug gewesen, um von der Bourgeoisie, die sie überhaupt erstmals empfunden hat, umstandslos an das Proletariat weitergereicht zu werden. Der prominente deutsche Übersetzer hat das Bedenken Lafargues in Nebel gehüllt und den Begriff der Passion unterschlagen. Bernstein, ein führender Sozialdemokrat, wollte die Arbeiter als die Betrogenen der kapitalistischen Arbeitsorganisation erscheinen lassen, während es Lafargue gerade darauf angekommen war, die Fatalität des stillschweigenden Einvernehmens der am kapitalistischen Produktionsprozess Beteiligten bewusst zu machen: »Die maßlose Leidenschaft der Arbeiter für die Arbeit« (la passion extravagante des ouvriers pour le travail; die Textmanipulationen Bernsteins dokumentiert im Einzelnen Ernst Benz: Das Recht auf Faulheit oder Die friedliche Beendigung des Klassenkampfes. Lafargue-Studien. Stuttgart 1974, S. 60–73; vgl. Paul Lafargue: Das Recht auf Faulheit. Hg. u. eingel. v. Iring Fetscher. Übersetzt v. Eduard Bernstein. Frankfurt a.M., Wien 1966, S. 17–53, hier S. 31f.).
Der interessierte Leser muss bei Lukian nachschlagen; der gewöhnlich wohlinformierte Diogenes Laertius überliefert die Anekdote nicht. Eine Übersetzung bietet Georg Luck: Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker in deutscher Übersetzung mit Erläuterungen. Stuttgart 1997, S. 99 [Nr. 166]; s.a. Manfred Koch: Faulheit. Eine schwierige Disziplin. Springe 2012, S. 82f.
Vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Aus dem Französischen v. Hans Naumann. Frankfurt a.M. 1968, S. 270ff., und Strukturale Anthropologie II. Aus dem Französischen v. Eva Moldenhauer u.a. Frankfurt a.M. 1992, S. 40ff. – Exemplarisch hat Jan Assmann (Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, S. 66–86) die Schematik dieser Gegenüberstellung beklagt, allerdings zu Unrecht. Lévi-Strauss will ja gerade zeigen, dass die Gegenbegriffe keineswegs als objektive Größen, sondern als Funktionen kultureller Verständigung zu behandeln sind. »Immer, wenn wir eine Kultur als inert oder stationär qualifizieren, müssen wir uns fragen, ob dieser scheinbare Immobilismus nicht von unserer Unkenntnis ihrer tatsächlichen, bewußten oder unbewußten, Interessen herrührt und ob diese Kultur, da sie andere Kriterien als unsere eigenen hat, nicht uns gegenüber der gleichen Täuschung unterliegt. Anders gesagt, wir erscheinen einander als uninteressant, ganz einfach, weil wir uns nicht ähneln.« (Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie II, a.a.O., S. 383f. u. 400.)
Die ungeachtet solcher Erläuterungen vorgetragene Kritik ist auch deshalb erstaunlich, weil Lévi-Strauss argumentativ und selbst mit der Wahl seines Kategorienpaares das Verfahren der dynamis antithetiké aufnimmt, das der Pyrrhoniker Sextus Empiricus im dritten nachchristlichen Jahrhundert entwickelt hat (vgl. Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Frankfurt a.M. 1968). Offenbar einer Formulierung von Aristoteles folgend (vgl. Von der Seele, 424a), reinterpretiert Sextus den Gegensatz der Begriffe als Zusammenspiel, um über den Nachweis ihrer wechselseitigen Abhängigkeit der Ausflucht in die dogmatische Entscheidung zu widerstehen und ihr die aus seiner Sicht allein vernunftgemäße Position der Zurückhaltung entgegenzusetzen. Das Problem einer Hermeneutik der Unruhe, auf das Sextus direkt zu sprechen kommt (vgl. Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Nr. I 107), ist damit umrissen. Als Beobachter bleiben wir Teil des Widerstreits und bedürften – wenn es sie denn gäbe – selbst »der entscheidenden Instanz«, bevor »wir selbst urteilen können« (ebd., Nr. I 59). Die historische Parallele ist aufschlussreich, denn wie Sextus hat auch Lévi-Strauss eine kulturhermeneutische Urteilstheorie im Sinn. Mit Blick auf die Diagnostik der Unruhe müssen wir schließen, dass diese niemals objektiv ist; die Art, wie sie uns zum Gegenstand wird, ist durch die Erwartungen und Erfahrungen von vornherein mitbestimmt, die in unser Urteil, ja selbst in die Formulierung unseres Interesses bereits eingeflossen sind.
Immanuel Kant: Neuer Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe und der damit verknüpften Folgerungen in den ersten Gründen der Naturwissenschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Berlin 1902ff., Bd. 2, S. 13–26, hier S. 17.
Alexander von Humboldt: Lateinamerika am Vorabend der Unabhängigkeitsrevolution. Eine Anthologie von Impressionen und Urteilen. Aus seinen Reisetagebüchern zusammengestellt und erläutert durch Margot Faak. Berlin 1982, S. 175f.
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. In: Ders.: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. 2. Aufl., Berlin 1988, Bd. 5, S. 9–243, hier S. 149 (Nr. 213). – Mit deutlicher Anspielung auf Nietzsches Aktualisierung hat Theodor W. Adorno die »Tugend des Denkens« durch eine zweifache Verneinung porträtiert: »weder emsiges sich Tummeln noch stures sich Verbohren, sondern der lange und gewaltlose Blick auf den Gegenstand« (Anmerkungen zum philosophischen Denken. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1969, Bd. 10.2, S. 599–607, hier S. 602). Während jedoch Nietzsche in der Stillstellung und in dem Herausholen »aus dem Stossen, Schieben und Zermalmen des historischen Stromes« (Nachgelassene Fragmente 1869–1874. In: Kritische Studienausgabe, a.a.O., Bd. 7, S. 813) die genuine Kulturleistung der Theorie erkannte, hat sich Adorno mit dem Kunstgriff des Innehaltens bis zuletzt schwergetan. In der parallel zu jenem Radiovortrag niedergeschriebenen Negativen Dialektik von 1966 konstatiert er mit zeitkritischem Unterton: »Das Unmenschliche daran, die Fähigkeit, im Zuschauen sich zu distanzieren und zu erheben, ist am Ende eben das Humane, dessen Ideologen dagegen sich sträuben.« (Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. 6, S. 7–412, hier S. 356; vgl. Martin Seel: Adornos Philosophie der Kontemplation. Frankfurt a.M. 2004.)
Platon: Laches 187e. – Die sokratische Schärfe zielt – negativ – auf die Vermeidung von Irrtümern und – positiv – auf die Sicherstellung geistiger Beweglichkeit. Formelhaft gesagt: Sokratisch und in diesem Sinne kritisch ist die Suche, nicht jedoch das Haben von Wissen. Mit Recht bestimmt Vladimir Jankélévitch die sokratische Strategie als reine »Mobilisierung«, die in genau dem Maße unruhig ist, wie sie sich der doktrinären Festschreibung von Sätzen, Urteilen und Verfahrensregeln entzieht. »Es ist Sokrates, […] der die Bürger wahnsinnig macht, der sie mit Dialektik und scharfen Ideen trunken macht; es gibt nunmehr Platz in Griechenland für die beweglichen und losgelösten Ideen, für die fruchtbare Kritik. […] Es ist also nunmehr vorbei mit dem Dämmerzustand, dem Ausruhen und dem Glück.« (Die Ironie. Aus dem Französischen v. Jürgen Brankel. Berlin 2012, S. 13; s.a. Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Berlin 2014, S. 89ff.).
Francis Bacon: The Novum Organum. In: Works. Hg. v. James Spedding, Robert Leslie Ellis u. Douglas Denon Heath. Bd. 1. London 1858, S. 128. Ich zitiere die deutsche Übersetzung von Rudolf Hoffmann, die Wolfgang Krohn für die maßgebliche deutschsprachige Ausgabe übernommen hat (Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch – deutsch. Hg. v. Wolfgang Krohn. 2 Teilbände. Hamburg 1990, S. 23 [Vorrede]). – Noch im gleichen Jahrhundert gründet, wie Fontenelle berichtet, der Astronom Eustachio Manfredi eine Akademie der Unruhigen (Academia degli inquieti; vgl. Bernard Le Bovier de Fontenelle: Éloge de Manfredi. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. 1. Paris 1818, S. 501–512 u. Éloge du comte Marsigli, ebd., S. 440–448, hier S. 446; vgl. Deprun, La Philosophie de l’inquiétude, a.a.O., S. 218), die dann im Jahr 1712 in der Universität von Bologna aufgehen wird. Der Name der Unruhigen (inquiets) sei recht passend für die modernen Philosophen, fügt Fontenelle hinzu, da sie an keine Autorität mehr gebunden seien. Sie »suchen« (cherchent) und »werden immer suchen« (chercheront toujours).
Unverkennbar weist das Theorieverständnis Bacons auf die Neuzeit voraus. Die älteren Theorietraditionen der platonisch-aristotelischen Linie hatten die Erkenntnis als Widerschein der vollständigen und zeitlosen Ordnung des Seins begriffen, und genau dieser Maßstab wird nun Bacon zum Problem. Aus Theorie wird Forschung, und das Ideal des in seiner Klause unbehelligt seinen Betrachtungen nachhängenden Gelehrten weicht der Praxis der wissenschaftlichen Gesellschaften, die ihre Ergebnisse gemeinsam diskutieren und sofort in Vorläufigkeiten umwandeln. »Unruhig (inquiette), leidenschaftlich, tatkräftig«, folgert der Naturforscher Charles Bonnet 1762 in seinen Considerations sur les corps organisés, »kann die Vernunft bei ihren Resultaten nicht stehenbleiben. Sie will darüber hinausblicken« (Bd. 1, Amsterdam 1762, S. 109). Möge die Vernunft bei ihrer Suche nach Wahrheit auch gelegentlich irren, fährt Bonnet fort, so sei dies doch besser, als die Leidenschaft der Suche zu verlieren. Die Anerkennung der Unruhe ist folgenreich, denn sie macht jede Wissensform, die, wie die Orthodoxie, das rastlose Umherirren vermeiden und die Gemüter beruhigen will, des Dogmatismus verdächtig. Die Wissenschaft wird nun explizit »revolutionär« und trägt das Ihre dazu bei, die Revolution als den Zustand der Dinge zu normalisieren. Vom Dogma hingegen, dessen Autorität einmal auf den Kanon der beglaubigten, verlässlichen und in diesem Sinn gültigen Lehrsätze gegründet war, bleibt nur das Image des selbstverschuldeten Starrsinns, der sich der fälligen Erneuerung widersetzt. In symmetrischer Gegnerschaft zum statischen Lehrgebäude des Dogmas steht deshalb seit Beginn des 18. Jahrhunderts die Kritik, die, was immer sie auch vorbringt, allein durch ihre Verlautbarung die gewünschten Mobilisierungseffekte erzielt. Im Zeichen dieser Kritik steht schließlich für Foucault die dreifache »Unruhe des Diskurses« (l’inquiétude du discours) – die Geschichtlichkeit seiner Materialität, die Flüchtigkeit seiner inneren Ordnung sowie die Getriebenheit durch äußere »Mächte und Gefahren« (Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France, 2. Dezember 1970. Aus dem Französischen v. Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1991, S. 10; s.a., wenngleich mit anderer Schwerpunktsetzung, Michel Pêcheux: L’Inquiétude du discours. Hg. v. Denise Maldidier. Paris 1990, S. 97ff. u. 245ff.). Aus cartesianischen und kantianischen Prämissen lässt sich der Weg in die Unruhe systematisch herleiten: Für die Epistemologie der Neuzeit heißt Erkennen, sich mit Vorläufigkeiten arrangieren und auf den Beruhigungseffekt »dogmatischer« Gewissheit auf lange Sicht und vermutlich sogar überhaupt verzichten zu müssen.
Henri Bergson nennt die verdauerte Unruhe – mit einem aus dem Umfeld des französischen Darwinismus genommenen Begriff – »Transformismus« (Schöpferische Evolution. Aus dem Französischen v. Margarethe Drewsen. Hamburg 2013, S. 35; vgl. Paul Broca: Sur le Transformisme. In: Bulletin de la société d’anthropologie de Paris 5 [1870], S. 76–84 u. 168–242). – Abweichend vom alltäglichen Sprachgebrauch bezeichnet die »wahre Dauer« (durée vraie) die Vitalität und Kontinuität der Veränderung, ein unablässiges und drängendes Werden, das eben dadurch »dauert«, dass es fortlaufend Neues freisetzt. Aus den theologischen Implikationen dieses Weltmodells und speziell der Anlehnung an die scholastische Idee der creatio continua, die ihn über die cartesianischen Meditationen (vgl. III 31) erreicht haben mag, hat Bergson nie ein Hehl gemacht. Seine Philosophie des Lebens entpuppt sich, wie das Denken des späten Schelling, bei genauerem Hinsehen als eine Philosophie der Offenbarung.
Vgl. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Ders.: Studienausgabe. Hg. v. Alexander Mitscherlich u.a. Frankfurt a.M. 1974, Bd. 9, S. 191–270, hier S. 270. – Die Negativbegriffe Unbehagen, Unlust, Unglück, Unruhe rangieren in Freuds berühmter Schrift von 1930, die ursprünglich unter dem Titel »Unglück in der Kultur« erscheinen sollte, auf einer Ebene. »Die Menschen«, heißt es im Schlussabsatz, »haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung.«
»Für das größte Unheil unsrer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten, ein guter Kopf könnte wohl noch eins und das andere interpolieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.« (Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Hamburger Ausgabe. Bd. 4: Briefe der Jahre 1821–1832. Hg. v. Karl Robert Mandelkow. München 1988, S. 159.) – Die Wortschöpfung Goethes kombiniert offenbar die Geschwindigkeit (velocitas) mit dem Teuflischen (lucifer) und lenkt so die Aufmerksamkeit auf den mythischen Anteil der Faszination, der die eben anbrechende Moderne in seinen Augen erliegt. Manfred Osten stellt den Neologismus in den Zusammenhang des Werkganzen: »Alles veloziferisch« oder Goethes Entdeckung der Langsamkeit. Zur Modernität eines Klassikers im 21. Jahrhundert. Frankfurt a.M., Leipzig 2003, S. 33ff.; s.a. Michael Jaeger: Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Würzburg 2004, S. 59ff. Im 19. Jahrhundert war das vélocifère ein großstädtisches Fortbewegungsmittel, eine Art Laufrad.
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. In: Ders.: Kritische Studienausgabe, a.a.O., Bd. 2, S. 232. – Das 285. Stück des ersten Teils ist überschrieben mit den Worten »Die moderne Unruhe« und zeigt Nietzsche als Kulturkritiker: »Nach dem Westen zu« werde »die moderne Bewegtheit immer grösser«, heißt es da. »Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus.«
Schon Sigmund Freud hat vor der Aufweichung der Fachbegriffe gewarnt – wie wir heute wissen, vergeblich (Die ›kulturelle‹ Sexualmoral und die moderne Nervosität. In: Ders.: Studienausgabe, a.a.O., S. 9–32). – Wie Ursula Link-Heer berichtet, hat der Charcot-Schüler Jules Déjerine bereits 1886 die These vertreten, die Neurasthenie sei nur die geringfügig veränderte Neuauflage immer desselben, seit Jahr und Tag bekannten Krankheitsbildes (Nervosität und Moderne. In: Konzepte der Moderne. Hg. v. Gerhart von Graevenitz. Stuttgart, Weimar 1999, S. 102–119, hier S. 103 u. 105).
Friedrich Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Begründet von Julius Petersen. Bd. 20. Weimar 1962, S. 309–412, hier S. 407 (27. Brief).
Unter dem Eindruck der napoleonischen Kriege begrüßt Schlegel die repräsentative Verfassung »als die fixierte Unruhe, die angehaltne Revolution« (Signatur des Zeitalters. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Erste Abteilung. Bd. 7. München, Paderborn, Wien 1966, S. 483–596, hier S. 584).
André Gide an Paul Valéry, 3. November 1891. In: André Gide – Paul Valéry: Briefwechsel 1890–1942. Hg. v. Robert Mallet. Aus dem Französischen v. Hella und Paul Noack. Frankfurt a.M. 1987, S. 155–157, hier S. 157.
Mit der über die Narziss-Figur erfolgten Einbeziehung der Leiblichkeit sprengt Gide den Rahmen der platonisch geprägten Leib-Seele-Lehre. Diese hatte den Leib im Verdacht, die Seele ganz gegen deren wahre Bedürfnisse zu dem hinzudrängen, »was sich niemals auf gleiche Weise verhält«, so »daß sie dann selbst schwankt und irrt und wie trunken taumelt, weil sie ja eben solches berührt« (Phaidon 79c; s.a. Ulf Schmidt: Metaphysischer Stillstand. Die Schrift, die Idee und der Tod bei Platon. In: Stillstellen. Medien / Aufzeichnung / Zeit. Hg. v. Andreas Gelhard, Ulf Schmidt u. Tanja Schultz. Schliengen 2004, S. 211–228). Die vielzitierte Leibfeindschaft der platonischen Idealismen entspringt einer elementaren Orientierung an der Norm der Ruhe, die dem Menschen allerdings nicht gegeben, sondern nur gegen den Tumult der Welt und im Widerstand zu erringen ist. Inbegriff dieser Anstrengung ist die Theorie.
Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann. In: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Erich Trunz. 9. Aufl., München 1981, Bd. 12, S. 96–129, hier S. 98.
André Gide: Traktat vom Narziß – Theorie des Symbols. In: Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Hg. v. Hans Hinterhäuser u.a. Aus dem Französischen v. Christiane Brockerhoff. Stuttgart 1989ff., Bd. 7, S. 155–167, hier S. 157.
Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, S. 136 u. 298.
Gide greift einen Topos auf, der bereits am Ende des 18. Jahrhunderts im Umkreis der sich konsolidierenden Geschichtsphilosophie populär geworden war. In direktem Widerspruch zu der klassischen Ursprungserzählung, wie sie Hesiod entwickelt und dann Ovid kanonisch ausformuliert hatte, forderte nun William Jackson dazu auf, diese ganze Gedankenordnung »umzukehren« (invert the order) und das Goldene Zeitalter als das nunmehr letzte der Geschichte aus der Vergangenheit in die Zukunft zu versetzen (The Four Ages. In: William Jackson: The Four Ages. Together with Essays on Various Subjects. London 1798, S. 1–94, hier S. 2f.). Die Geläufigkeit dieser Verkehrungsgeschichte, deren weiterer Weg sich über den Traité hinaus bis zu Benjamins 14. These Über den Begriff der Geschichte verfolgen lässt, erklärt die Leichtigkeit, mit der Gide den Mythos in den Gegenmythos umspringen lassen und dessen Modernitätstauglichkeit ohne weiteres voraussetzen kann. Der Mythos der Mobilisierung und die Mobilisierung des Mythos gehören zusammen.
Gide, Traktat vom Narziß, a.a.O., S. 165.
Vgl. Vinzenz Rüfner: Forma fluens. Studie zum Wandel der Form von der forma fluens über den fluxus formae zur fluxio (Funktion). In: Konkrete Vernunft. Festschrift für Erich Rothacker. Hg. v. Gerhard Funke. Bonn 1958, S. 39–59; die Faszinationsgeschichte der Metapher protokolliert – ohne allerdings Gide zu erwähnen – Ulrich Johannes Beil: Die Wiederkehr des Absoluten. Studien zur Symbolik des Kristallinen und Metallischen in der deutschen Literatur der Jahrhundertwende. Frankfurt a.M. u.a. 1988.
Vgl. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Deutsch von Marianne von Eckhardt-Jaffe. Frankfurt a.M. 1971, S. 158ff.; s.a. Stefan Matuschek: »Was du hier siehest, edler Geist, bist du selbst.« Narziß-Mythos und ästhetische Theorie bei Friedrich Schlegel und Herbert Marcuse. In: Narcissus. Ein Mythos von der Antike bis zum Cyberspace. Hg. v. Almut-Barbara Renger. Stuttgart, Weimar 2002, S. 79–98.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik II. In: Ders.: Werke. Theorie Werkausgabe. Red. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1970, Bd. 6, S. 206. – Im Gegenzug zum Ungestüm und zur »Zufälligkeit« der Unruhe (Hegel) erproben die Philosophen der Geschichte figürliche Bestimmtheiten, die, wie exemplarisch Hegels »List der Vernunft«, der Entwicklung in der Zeit zu derjenigen Prägnanz verhelfen sollen, über die das ziellose Treiben der Unruhe von sich aus nicht verfügt (vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner: Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens. Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980).
Vgl. Felix Philipp Ingold: Rhythmische Präfiguration. Vorgeschichte und Gegenwart des Gedichts. In: Rhythmus. Wiener Vorlesungen zur Literatur 1996/97 (Der Prokurist 19/20, 1998). Hg. v. Oswald Egger. Wien 1998, S. 323–366. »Der Künstler wäre wenig«, pointiert Valéry (ebd., S. 344) die zeitgemäße Konvergenz von Hervorbringen und Entspringenlassen, »wäre er nicht der Spielball dessen, was er macht.« Die Verdeutlichung der Unruhe als Passion bestätigt sich hier. Das Porträt des Künstlers als Inquieteur betont dessen Empfänglichkeit für die Macht der Unruhe, die ihn anregt und sein Werk autorisiert. Was er zu leisten vermag, verdankt sich einer Auffassung von künstlerischer Produktion, in der Leiden (Passivität) und Leidenschaft (Aktivität) zur Einheit gefunden haben. In seinen hinterlassenen »Kategorien der Ästhetik« wird Walter Benjamin aus diesen Revisionen ein neues Pathos gewinnen und dem Vorurteil widersprechen, das die Kunst dem Register des Schöpferischen und der Originalität zuweist. »Nun ist aber das Kunstwerk nicht ein ›Geschaffenes‹. Es ist ein Entsprungenes, Uneinsichtige mögen es ein Entstandenes oder Gewordenes nennen; ein ›Geschaffenes‹ ist es auf keinen Fall.« (In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a.M. 1974, Bd. I.3, S. 828–830, hier S. 828.)
Vgl. Frank Lestringant: André Gide L’Inquiéteur. Le ciel sur la terre ou l’inquiétude partagée 1869–1918. Paris 2011, S. 11ff., u. Paul Archambault: Plaidoyer pour L’Inquiétude. Paris 1931, S. 101–110. Walter Benjamin übersetzt das Wort behutsam: der »Beunruhigung Stiftende« (André Gide und sein neuer Gegner. In: Ders.: Gesammelte Schriften, a.a.O., Bd. III, S. 482–495, hier S. 492). – Ohne von dem neuen Formulierungsangebot seines Gesprächspartners Gebrauch zu machen, wird Paul Valéry die Distanz zur Unruhe vollständig aufgeben. Er sei, wird er den Cahiers anvertrauen, »manchmal nichts anderes als eine einzige Unruhe inmitten ungeheurer Anlagen. / Ich sage wirklich: eine Unruhe – Nur diese Abstraktion bleibt von mir übrig.« (Cahiers/Hefte. Hg. v. Hartmut Köhler u. Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt a.M. 1987ff., Bd. 1, S. 132; zur Leitmotivik des Tumults und des Wirbels vgl. Gerhard Neumann: »Tourbillon«. Wahrnehmungskrise und Poetologie bei Hofmannsthal und Valéry. In: Études germaniques 53 [1998], S. 397–424). Die Schlusspointe des Bekenntnisses unterläuft den voreiligen Anschluss an die geläufige, seit der Renaissance überlieferte Künstler-Imago des zweiten Gottes (vgl. Ernst Kris u. Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt a.M. 1980, S. 64ff.; s.a. Gottfried Boehm: Analoge Schöpfung – Das Naturverständnis in der modernen Kunst. In: Mensch und Natur. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit. Hg. v. Gotthard Fuchs. Frankfurt a.M. 1989, S. 103–119). Im direkten Vergleich wird rasch deutlich, dass auch die spezifisch poetischen Qualitäten der Unruhe, wie ihre geschichtlichen, im Umfeld einer radikalen Unbestimmtheit zu suchen sind. Während der divino artista an die ideellen, ins Material eingesenkten Vorzeichnungen der Werke gebunden bleibt und in diesem Sinne noch immer mimetisch vorgeht, ist der zur Unruhe bekehrte Künstler von aller Bindung frei. Der Beunruhigte bekennt sich zu eben jenem Typus, den Goethes Maximen und Reflexionen (Nr. 1312) ausdrücklich missbilligt hatten – zu jenen »problematischen Naturen, die keiner Lage gewachsen sind, in der sie sich befinden, und denen keine genugtut. Daraus entsteht der ungeheure Widerstreit, der das Leben ohne Genuß verzehrt.« Das Bild des Inquieteurs und des Dichters, der selbst zu einer Gestalt der Unruhe wird, erklärt eben diese, von Goethe als typisch modern beargwöhnte Entgrenzung zur Ausgangslage künstlerischen Schaffens. Dem Inquieteur ist nicht nur vieles und vieles Besondere möglich, sondern alles. Es ist diese durch den Bruch mit dem künstlerischen Selbstverständnis der Vergangenheit gewonnene Ungebundenheit und Bindungslosigkeit – einschließlich der dramatisch erhöhten Gefahr der Unverbindlichkeit –, die Valéry in seiner Aufzeichnung abstrakt nennt. Das aber bedeutet: Nicht nur in den Raum der Geschichte, sondern auch in den Raum der Kunst führt die positivierte Unruhe eine neue gedankliche Ordnung ein.
Die Encyclopédie hatte den perturbateur im 12. Band der Ausgabe von 1774 als unruhigen (inquiet) und aufrührerischen Menschen bestimmt, der die Geister der Bürger erregt (emeut) und die Unruhe (désordre) in der Gesellschaft schürt. Augenzwinkernd fügt Diderot hinzu, dass diese Definition auf die aufklärungskritischen Theologen, mit deren Dictionnaire de Trévoux die Encyclopédie rivalisierte, wohl am besten zutreffe. (Vgl. Denis Diderot: Pertubateur. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Hg. v. Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert. Livorno 1774, Bd. 12, S. 403.)
Mit der rezeptionsästhetischen These Ernst Cassirers, in der Kunst komme »der dynamische Prozeß des Lebens selbst« zur Darstellung (Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur [1944]. Frankfurt a.M. 1990, S. 229 u. 230), ist Gides produktionsästhetisches Anzapfen der Inquietät nur auf den ersten Blick vereinbar. Während der Inquieteur von den Leidenschaften getrieben ist, möchten sowohl Cassirers tragischer Dichter als auch dessen Publikum die Gefühle nach dem Beispiel der aristotelischen Katharsis-Lehre beherrschen und durch Beherrschung (ebd., S. 228) beruhigen. Die so gewonnene Ruhe ist denn auch – zumindest in den von Cassirer angeführten Beispielen – zu allen Zeiten erreicht und als eine »dynamische […] Ruhe« (ebd., S. 229) zur Norm der Darstellung gemacht worden. »Wir hören die ganze Skala menschlicher Emotionen von der tiefsten bis zur höchsten Note, die Bewegung und das Vibrieren unserer ganzen Existenz.« (Ebd., S. 231) Die Nuancierung ist eigentlich mehr psychologischer als ästhetischer Natur. Sie will auf die Leistung einer Kunst hinaus, die sich der Unruhe gerade nicht hingibt, sondern sie, indem sie sie Gestalt werden lässt, bezwingt und zähmt. Dem kunstästhetischen Ergebnis dieses Domestizierungsvorgangs ist das Ritardando schon eingebaut. Es lautet: Lebendigkeit.
Tagebucheintrag vom 28. Mai 1893; vgl. Gide, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. I, 1, S. 417; vgl. Gabriel Marcel: Der Mensch als Problem. Übers. v. Herbert P.M. Schaad. 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1964, S. 117ff.
Vgl. Jacob Burckhardt: Die Griechen und ihr Mythos. In: Ders.: Griechische Kulturgeschichte. Bd. 1. Darmstadt 1962, S. 16–50, insbes. S. 28ff.
Bernard Le Bovier de Fontenelle: Über den Ursprung der Mythen. In: Ders.: Philosophische Neuigkeiten für Leute von Welt und für Gelehrte. Ausgewählte Schriften. Hg. u. aus dem Französischen v. Helga Bergmann. 2. Aufl., Leipzig 1991, S. 228–242, hier S. 228, 236f. u. 233. – Fontenelle argumentiert vor dem Hintergrund der längst zugunsten des Logos gefallenen Entscheidung. Es wäre allerdings falsch, aus der Bestimmtheit dieses Urteils, dessen sich die Aufklärer stets aufs neue versichert haben, pauschal auf das Desinteresse am Mythos zu schließen. Das Bewusstsein der Überlegenheit scheint im Gegenteil die Ausbildung einer eigenen Aufmerksamkeit für die Denkformen und Bildwelten vergangener Zeiten begünstigt zu haben. Hans Robert Jauß (Mythen des Anfangs: Eine geheime Sehnsucht der Aufklärung. In: Ders.: Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt a.M. 1989, S. 24–66, hier S. 25f.) hat drei Ebenen dieses Interesses unterschieden. Demnach nahmen sich die Aufklärer der Mythen zunächst an, um sie zu travestieren und für ihre Polemik gegen das Ancien régime einzuspannen; sodann, um sie aktualisierend umzudeuten und als Vorläufer ihrer eigenen Absichten zu deklarieren; und schließlich, um über die Kritik an ihnen den christlichen Offenbarungsglauben zu treffen. Die Strategien verdeutlichen die konzeptionellen Grenzen dieser Wahrnehmung. Sie operiert auf allen drei Ebenen instrumentalistisch und behandelt den Mythos konsequent als historischen Bildervorrat, textstrategisch gesprochen: als Illustration und nicht als Zitat.
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Einleitung in die Philosophie der Mythologie. Bd. 1. Darmstadt 1957, S. 482; vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos. 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1990, S. 165ff.
Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Frankfurt a.M. 1990, S. 126. – Cassirer führt eine Bemerkung Bronisław Malinowskis an, die mit Recht die gestalterische Raffinesse herausstreicht, mit der sich der Mythos als historische Wissensform behauptet: »Ein durch Berufung auf das Übernatürliche begründetes Zeremoniell erwächst aus dem Leben, aber nie macht es die praktischen Bemühungen des Menschen zunichte. Im magischen oder religiösen Ritual versucht der Mensch, Wunder zu wirken, nicht weil er die Grenzen seiner geistigen Kräfte verkennt, sondern umgekehrt, weil er sie ganz besonders deutlich wahrnimmt. Um noch einen Schritt weiterzugehen, scheint mir die Anerkennung dieser Tatsache unerläßlich zu sein, wenn wir ein für alle Mal die Wahrheit begründen wollen, daß die Religion ihren eigenen Inhalt und ein eigenes, rechtmäßiges Gebiet, auf dem sie sich entwickelt, besitzt.« (Ebd., S. 129.)
Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die in jüngerer Zeit unternommenen, schon von Schleiermacher angeregten Versuche, die Bibel als Literatur zu lesen – nicht, um der Vorlage ein weiteres Mal im Namen einer fremden Logik über den Mund zu fahren, sondern um herauszufinden, mit welchen poetischen, narrativen und rhetorischen Mitteln der Text seine Aussage trifft und vor allem: wie er sie autorisiert (vgl. Robert Alter: Von der Kunst, Sinn zu erzeugen. In: Bibel als Literatur. Hg. v. Hans-Peter Schmidt u. Daniel Weidner. München 2008, S. 31–55; ich verweise auf die Einleitung von Daniel Weidner im gleichen Band).
Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Birgit Recki. Bd. 12. Hamburg 2002, S. 125.
Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, a.a.O., S. 13, 18, 34, 56 u.ö. – Blumenbergs Mythentheorie unterläuft die schematische Gegenstellung von Mythos und Logos, um einerseits die logischen Anteile des Mythos und andererseits die mythischen Anteile des Logos zu erschließen. Eine Nachbarschaft zum Projekt der Dialektik der Aufklärung, die man immer wieder unterstellt hat, ist aus diesem Interesse nicht herleitbar, ja man könnte sagen, Blumenberg habe gerade auch gegen diese Art der Dialektik energisch angeschrieben. Weit davon entfernt, die Aufklärung ideologiekritisch entlarven zu wollen, stellt Blumenberg seine Nachweise mythischer Theorieanteile in den Zusammenhang einer nüchternen Funktionsanalyse, die mit der wissenschaftstheoretischen Selbstbeschränkung auf den Gewinn positiver Erkenntnis keineswegs bereits geleistet ist. Die Faustregel, Mythos und Logos nicht länger gegeneinander auszuspielen, gilt für beide Seiten. Wie viel Affektivität in die Theorie einfließen und wie viel »Handlungs- und Bewirkbarkeitssuggestionen« (ebd., S. 18) aufgebaut werden mussten, damit ihre Leistungen überhaupt als relevant gelten konnten, zeigt die funktional dem Mythos nahestehende Demonstration der Fähigkeit, »das Außergewöhnliche als das Regelrechte durch Prognose auszuweisen« (S. 33). Der Logos hat, als er den Mythos zu bekämpfen begann, ungewollt auch dessen Erbe angetreten und musste sicherstellen, nicht hinter den Leistungen des Mythos zurückzubleiben. Die damit eröffnete Konkurrenz gefährdete aber nicht nur den Mythos, sondern auch den Status der Wissenschaftlichkeit. Die ideologischen Projekte der Wissenschaft, allen voran der Positivismus und der Naturalismus, versuchen von diesem Dilemma zu profitieren und neigen dazu, nach Art des Mythos Totalerklärungen für Gott und die Welt anzubieten. Darin liegt so etwas wie die Tragik der Wissenschaft: Es ist gerade ihr Erfolg und es sind die durch den Erfolg geweckten Erwartungen, die es ihr schwermachen, das einst vom Mythos gegebene Versprechen, was alles sich wissen und bewahrheiten lässt, auf Distanz zu halten.
Der Inquieteur entzieht sich der von Georg Simmel angeregten Typologie, wonach die großen Künstlerfiguren Europas entweder als »Gestalter« oder als »Schöpfer« aufgetreten seien (Gestalter und Schöpfer. In: Ders.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 13: Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Bd. II. Frankfurt a.M. 2000, S. 184–189). Verglichen mit dieser Alternative, zielt Gides Künstlerentwurf auf einen dritten Typus, den die Kunstavantgarden dann aufgreifen und vielfach abwandeln werden: den Künstler als Arrangeur kunstvoll eingefädelter und doch unbewusst ablaufender, ganz und gar ihrer Eigendynamik überlassener Automatismen.
Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1969, Bd. 3, S. 141.
Mit diesen Worten resümiert Jean Deprun das Geschichtsverständnis im Umkreis Voltaires: »L’inquiétude se dédouble ainsi en effet et en cause: la cause de l’inquiétude, c’est l’inquiétude« (La Philosophie de l’inquiétude en France au XVIIIe siècle. Paris 1979, S. 106). – Den Anschluss solcher Auskünfte an die Kritik, wie sie dann Horkheimer und Adorno vortragen werden, sichert Voltaires verlässlicher Kontrahent Rousseau. Auf der letzten Manuskriptseite seiner Rêveries parodiert er die Tautologie Voltaires und verleiht ihr ungeahnte Frische: Die Unruhe sei nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver, heißt es dort, sei nichts anderes als die »Ablenkung von dieser Unruhe« (Träumereien eines einsam Schweifenden. Les rêveries du Promeneur Solitaire (1776–1778). Hg. u. übers. v. Stefan Zweifel. Berlin 2012, S. 224).