Cover

Bernhard Jaumann

Steinland

Kriminalroman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Bernhard Jaumann

Bernhard Jaumann wurde 1957 in Augsburg geboren, Studium in München. Er war zehn Jahre Lehrer für Deutsch, Geschichte, Sozialkunde und Italienisch in Bad Aibling, unterbrochen von Auslandsaufenthalten in Italien, Australien und Mexiko. Seit 1997 schreibt er regelmäßig Kriminalromane. Sein Aufenthalt in Namibia inspirierte den Autor zu dem Politthriller «Die Stunde des Schakals», für den er mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde. «Steinland» ist sein zweiter Namibia-Krimi mit Kriminalinspektorin Clemencia Garises.

Über dieses Buch

«Die Steine schrien aus dem Grau der Nacht. Sie seufzten nicht und jammerten nicht, es war kein Flüstern, kein Tuscheln, kein sachtes Wispern im Wind. Sie brüllten so laut, dass es in Elsa Rodensteins Ohren gellte.» Es ist eine klare, kalte Winternacht in Namibia. Elsa Rodenstein, das Gewehr quer vor der Brust, bewacht in stummer Verzweiflung den Leichnam ihres Mannes. Am nächsten Morgen nimmt Kriminalinspektorin Clemencia Garises die Aussage der Witwe und der deutschstämmigen Nachbarfarmer auf. Alles deutet auf einen Raubüberfall hin. Auch von dem Sohn fehlt jede Spur. Ist er das Opfer einer Entführung geworden? Nach einer wilden Verfolgungsjagd durch das Windhoeker Township Katutura gelingt es Clemencia zwar, einen Verdächtigen festzunehmen, dieser erzählt jedoch eine völlig andere Version der Ereignisse jener Nacht. Schon bald ist klar, dass es hier um viel mehr geht. Die von der Enteignung bedrohte Farm Steinland spielt offenbar eine Schlüsselrolle in den undurchsichtigen politischen Auseinandersetzungen um die Landreform in Namibia. Doch was die junge Kriminalinspektorin mindestens genauso umtreibt wie die politische Brisanz ihres neuesten Falls ist die Tatsache, dass ihr Bruder Melvin an dem Verbrechen beteiligt gewesen sein soll. Sie befürchtet Schlimmes, zumal Melvin verschwunden ist.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Foto Barry Lewis/In Pictures/Corbis

Karte Peter Palm, Berlin

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-463-40570-4 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-30751-3

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-30751-3

1

Die Steine schrien aus dem Grau der Nacht. Sie seufzten nicht und jammerten nicht, es war kein Flüstern, kein Tuscheln, kein sachtes Wispern im Wind. Sie brüllten so laut, dass es in Elsa Rodensteins Ohren gellte und die sicher geglaubten Mauern ums eigene Ich ins Wanken gerieten. Elsa Rodenstein meinte zu spüren, dass auch der Boden unter ihren Füßen nachgab. Gleich würde sie im Sand zwischen den Steinen versinken, bis zu den Knöcheln, bis zur Hüfte, zum Hals, und dann wäre sie verschwunden. Sie nahm das Gewehr quer vor die Brust, tat zwei Schritte und setzte sich auf einen kniehohen Felsbrocken. Eine Kante drückte durch den Stoff ihrer Hose. So war es besser.

Der Wind war frisch, die Winternacht klar, und das Mondlicht floss wie Wasser über den Abhang des Hügels im Südwesten. Dort oben war einer ihrer bevorzugten Sundowner-Plätze gewesen. Man konnte mit dem Bakkie bis zum höchsten Punkt fahren und hatte dann einen weiten Blick fast bis an die westliche Grenze der Farm. Vor allem nach einer guten Regenzeit, wenn das Gras wogte und im sterbenden Sonnenlicht golden erglänzte, konnte man sich keinen schöneren Platz auf Erden vorstellen. Gregor hatte sich immer ein Windhoek Lager aus der Coolbox geholt. Für Elsa hatte er einen Gin Tonic gemixt. «Nicht so viel Gin», hatte sie protestiert, und Gregor hatte gelächelt. Dann hatten sie nichts mehr gesagt, sondern nur noch in die Ferne geschaut, bis die Sonne am Horizont versickert war. Elsa Rodenstein war sich nicht sicher, ob sie jemals wieder auf den Hügel hinauffahren würde.

Doch, natürlich würde sie das irgendwann tun! Das Leben ging weiter, wie es immer weitergegangen war. Auch morgen würde für sie die Sonne aufsteigen. Und übermorgen. Und all die Jahre, die ihr noch blieben. Und wenn Elsa nicht mehr war, dann eben für die Generationen, die nach ihr kamen. Elsa durfte sich nicht gehenlassen, musste hart sein wie die Steine, die seit Ewigkeiten der Sommerglut und dem Winterfrost trotzten. Selbst wenn sie brachen, waren sie immer noch da. Und sie schrien nicht. In der Welt, die Elsa kannte, hatten sie nie geschrien. Sie wussten gar nicht, was das war: schreien. Elsa setzte den Kolben des Gewehrs vor ihren Füßen auf und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

«Geht jetzt!», sagte sie.

«Wir lassen dich nicht allein», sagte Schroeder. Mit den anderen vier Männern bildete er einen Halbkreis, fast so, als stünden sie um ein offenes Grab und warteten darauf, eine Schippe Sand auf den Sarg zu werfen. Nur, dass sie statt der Schaufel jeweils ein Gewehr in den Händen hielten. Der Vollmond schien so hell, dass ihre Körper Schatten warfen.

Schatten in der Nacht, dachte Elsa. Bewiesen sie nicht, dass es nie ganz dunkel wurde über diesem Land? Alles hatte seinen Zweck. Elsa sagte noch einmal: «Geht jetzt!»

«Herrgott», sagte Schroeder, «Tatort hin oder her, jeder wird verstehen, wenn du Gregor ins Farmhaus bringst, selbst unsere Polizei.»

Gregor? Elsa blickte auf den schwarzen Klumpen vor sich. Es hätte ein Felsbrocken sein können oder sonst etwas. Jedenfalls war es nicht ihr Mann. Höchstens ein toter Körper, der ihm zum Verwechseln glich. Elsa stellte sich vor, wie Gregor über ihnen schwebte und auf seinen Leichnam herabsah. Er würde es bei einem kurzen prüfenden Blick belassen, viel Aufhebens hatte er nie um sich gemacht. Er würde die Pumpe mustern. Die Sonnenkollektoren hatte er installiert, das Bohrloch war schon von seinem Großvater geschlagen worden. Bald würde Gregor die Augen abwenden, würde den Blick zu Kamp 3, in dem die Bullen standen, und zu Kamp 5 mit den Färsen wandern lassen, dann zu den Bergen im Norden, wo er die Leopardenspuren im Riviersand gefunden hatte, und schließlich zurück zu ihr. Wenn er könnte, würde er ihr zuflüstern, dass sie ihn dort drüben bei den anderen Gräbern begraben solle. Nach einem kurzen Zögern würde er hinzufügen, dass es damit gut wäre. Natürlich wusste er genau wie sie, dass das nicht stimmte. Manche Dinge konnte man nicht gut sein lassen.

Elsa sah nach oben. Über ihr schwebte niemand. Die Sterne blinkten kalt aus dem schwarzen Himmel. Nur rund um den Mond verschwanden sie im Grau.

«Elsa …», sagte Schroeder.

«Es ist nicht Gregor, es ist nur sein toter Körper.»

«Gregor hätte nicht gewollt, dass du …»

«Was?», fragte Elsa scharf. Sie wusste am besten, was Gregor gewollt hätte, doch darauf kam es jetzt nicht an. Es galt zu tun, was getan werden musste. Das fiel ihr nicht schwer. Sie war in Namibia geboren, sie war eine Farmersfrau, sie hatte lange genug auf diesem harschen Land gelebt, um zu wissen, wie das ging. Schroeder schwieg, und die anderen auch.

«Jedenfalls danke, dass ihr gekommen seid», sagte Elsa. Durch die Hose spürte sie, wie die Kälte des Steins in ihre Glieder kroch. Gleich würde sie aufstehen und sich bewegen. Bis zum Farmfriedhof hinübergehen und wieder zurück. Immer hin und her. Die ganze Nacht durch. Bis ihre Beine sie nicht mehr trugen. Doch solange ihre Nachbarn noch hier waren, würde sie sitzen bleiben, als wäre sie mit dem Felsbrocken verschmolzen. Elsa fixierte Haseney. Der musste den Anfang machen. Er hatte eine hochschwangere Frau zu Hause sitzen. Man wusste doch, dass die Wehen gern dann einsetzten, wenn der Mann weg war. Haseney wurde anderswo gebraucht, nicht hier.

«Ich würde einfach gern allein sein», sagte Elsa. Allein mit dem Leichnam, mit dem Dunkel und mit dem Land, das unter ihm schlummerte. Mit dem dürren Gras, dem Sand und den Steinen, die keineswegs schrien, sondern stumm bleiben würden bis zum Ende der Zeiten. Haseney nickte langsam. Er schlug die Augen nieder und wandte sich um. Zögernd folgten ihm die anderen. Nur Schroeder konnte sich noch nicht entschließen.

«Ich bleibe in deinem Haus. Wenn irgendetwas ist …»

«Klar», sagte Elsa.

«Beim ersten Tageslicht schaue ich nach dir.»

«Ist gut», sagte Elsa. Sie sah Schroeder nicht hinterher. Als sie seine Schritte nicht mehr hörte, stand sie auf und streckte die Glieder. Von fern heulte ein Schakal. Ein anderer antwortete. Der war näher, vielleicht unten im Rivier. Elsa prüfte noch einmal, ob ihr Gewehr geladen war. Der Klumpen zu ihren Füßen hatte mit ihrem Mann nichts mehr gemein, aber es war immerhin ein menschlicher Leichnam. Sie konnte nicht zulassen, dass irgendwelche Aasfresser sich an ihm gütlich taten. Die Polizisten sollten erkennen können, was geschehen war. Sie sollten alles untersuchen, ihren Bericht schreiben und tun, was zu tun war. Darin bestand – verdammt noch mal – ihre Aufgabe.

Das Gestänge, auf dem die Sonnenkollektoren befestigt waren, glänzte im Mondlicht. Elsa strich über das Metall. Es fühlte sich kalt an. Und hart. Elsa drehte sich um, stapfte die hundert Meter zu den Gräbern hinüber, umrundete sie und kehrte zu dem Klumpen am Boden zurück. Der Sand knirschte unter ihren Sohlen, und die Steine, sie schrien doch. Unerträglich laut. Elsa legte das Gewehr ab und presste sich die Hände auf die Ohren.

 

 

Die Umfassung von Johann Rodensteins Grab war aus dem gleichen grauen Marmor, wie er in den Bergen am Rand der Farm zu finden war. Der rote Sand innerhalb des Rechtecks unterschied sich nicht von dem außerhalb. Nur ragte kein einziger verdorrter Grashalm aus ihm hervor, und statt der sich kreuzenden Käferspuren, die verwirrende Schriftzeichen rund um das Grab entstehen ließen, zeigte der sauber gerechte Sand hier dünne waagerechte Linien. Sie wirkten ein wenig wie die Zeilen eines unbeschriebenen Schulhefts, und tatsächlich war die Geschichte des Mannes, der hier begraben lag, nie aufgezeichnet worden.

Johann Rodenstein war im Oktober 1904 als Unteroffizier der kaiserlichen Schutztruppe nach Deutsch-Südwestafrika gekommen. Die Hereros waren schon geschlagen, als er in Swakopmund ausgeschifft wurde, doch Frieden herrschte deshalb noch lange nicht. Fast drei Jahre zog Johann Rodenstein gegen die Krieger der Nama-Chiefs Hendrik Witbooi und Jacob Morenga ins Feld. Er überlebte, und sobald es möglich war, nahm er seinen Abschied. Als 1908 bei Lüderitzbucht Diamanten gefunden wurden, begriff er als einer der Ersten, dass die aufgesammelten Reichtümer auch ausgegeben werden wollten. Was ihn auf die Idee brachte, Grammophone und die dazugehörigen Schellackplatten aus Deutschland zu importieren, war in der Familie nicht überliefert worden. Jedenfalls hatte er 1911 genügend Geld verdient, um sich in der Nähe von Karibib zwölftausend Hektar Land zu kaufen, es einzuzäunen und mit Rindern zu bestücken. Vielleicht als Andeutung auf seinen Nachnamen, vielleicht, um sich immer daran zu erinnern, woraus sein Besitz fast ausschließlich bestand, nannte er seine Farm «Steinland».

Im selben Jahr 1911 fand Johann Rodenstein eine Frau, die bereit war, seine Zukunft auch zu ihrer zu machen. Er holte sie selbst in Swakopmund vom Dampfer ab, an einem stürmischen Tag, an dem die Wellen des Atlantiks krachend gegen die Mole schlugen. Den Himmel auf Erden könne er ihr nicht versprechen, sagte er ihr zur Begrüßung, nur einen weiteren Himmel über einem weiteren Land, als sie sich das in Deutschland je vorgestellt hatte. Dann bestiegen sie die Eisenbahn nach Karibib.

Thalita beklagte sich nie, weder über das erste primitive Zuhause, in dem das Grammophon so fehl am Platz wirkte, noch in den folgenden Jahren, doch zur Heimat wurde Farm Steinland nur Johann Rodenstein. Trotz oder vielleicht gerade wegen der harten Aufbaujahre, der Internierung durch die Südafrikaner während des Ersten Weltkriegs, des doppelt schweren Neuanfangs danach, der Dürren und Seuchen, trotz oder wegen der Tatsache, dass zwei der fünf Kinder, die ihm Thalita schenkte, das erste Lebensjahr nicht überstanden und sie selbst bei der Totgeburt des sechsten starb.

Als zehntausend Kilometer nördlich die Nazis an die Macht gelangten, als seine deutschstämmigen Nachbarn Morgenluft witterten und heim ins Reich strebten, interessierte ihn das nicht. Da war er längst hier zu Hause. Die Dorflinden und Tannenbäume, die in den Liedern auf seinen Schellackplatten besungen wurden, waren ihm nur noch Worte. Zu Weihnachten schmückte er einen Weißdorn, und als er spürte, dass es mit ihm zu Ende gehen würde, ging er zu den Zypressen, die er nahe des ersten Bohrlochs gepflanzt hatte, und grub sich eigenhändig das Grab, in dem er bestattet werden wollte. Zwei Wochen später schippten seine Söhne es über seinem Sarg wieder zu. Da keiner von ihnen wusste, wo genau er geboren worden war, gravierten sie auf seinen Grabstein ein: Johann Rodenstein, geb. am 4. 11. 1878 in Deutschland, gest. am 12. 4. 1936 auf Steinland.

Die Schrift litt unter Wind und Wetter, doch Johann Rodensteins Nachkommen sorgten dafür, dass sie alle paar Jahre erneuert wurde. Bis heute, in der dritten Generation, wurde das Grab zweimal wöchentlich gesäubert, die Marmoreinfassung gekehrt und der Sand sorgfältig gerecht. Ob der Mann, der darunter lag, damit einverstanden gewesen wäre, konnte niemand wissen. Vielleicht hätte er es vorgezogen, Käferspuren über sich zu lesen. Vielleicht hätte er sein Grab gern ununterscheidbar von dem Land gesehen, das ihm zur Heimat geworden war.

 

 

In Katutura hatte sich am Morgen eine dünne Eisschicht auf dem Kübel Wasser gebildet, den Miki Selma regelmäßig für die streunenden Hunde hinausstellte. Hier draußen im offenen Farmland war es sicher noch zwei, drei Grad kälter gewesen. Davon zeugte bis jetzt der scharfe Wind, der anscheinend direkt vom Südpol kam. Obwohl die Sonne inzwischen ziemlich hoch stand, ließ er Kriminalhauptinspektorin Clemencia Garises frösteln. Frau Rodenstein schien ihn nicht zu bemerken. Angeblich hatte sie die ganze Nacht hier draußen gewacht. Spürte man keine Kälte, wenn der Ehemann erschossen und der Sohn entführt worden war?

«Vielleicht gehen wir besser rein.» Clemencia Garises deutete in Richtung des Farmhauses, das circa einen halben Kilometer entfernt lag.

Das graue Haar flatterte Frau Rodenstein übers Gesicht, aber sie selbst rührte sich nicht. Sie saß auf einem Stein und hielt mit beiden Händen ein Gewehr umklammert. Sie sollte loslassen. Das Gewehr und alles andere auch. Frau Rodenstein sollte sich an ihren Küchentisch setzen, eine warme Decke um die Schultern legen und eine Tasse Tee trinken. Clemencia sagte: «Ich muss Ihre Aussage aufnehmen. Schriftlich.»

Clemencias Kollege Tjikundu machte gerade die letzten Fotos vom Tatort. Als die Männer der Scenes of Crime Unit erfahren hatten, wie weit die Farm von Windhoek entfernt war, hatten sie plötzlich jede Menge unaufschiebbare Arbeit entdeckt. So musste eben Tjikundu die Spuren sichern, die im niedergetrampelten dürren Gras um die Leiche vielleicht noch zu finden waren. Die uniformierten Kollegen aus Karibib hatten ihren Wagen bis zum Wassertank neben der Solarpumpe gefahren. Sie standen bereit, um die Leiche in den Wagen zu hieven. Clemencia fragte: «Frau Rodenstein?»

«Vielleicht kann ich Ihnen helfen? Ich war gestern Nacht dabei», sagte der Farmer, der sich als Gunnar Schroeder vorgestellt hatte.

«Dann kommen Sie eben auch mit», sagte Clemencia. In der Ferne peitschte der Wind feinen roten Sand über die Kante des Hügels. Sand, Steine, blattlose Dornbüsche und dürres Gras, so weit das Auge reichte. Wenn man in Windhoek lebte, vergaß man leicht, dass fast der ganze Rest Namibias aus nichts anderem bestand. Endlose wüste Weiten, die das Sterben natürlicher als das Leben erscheinen ließen. Nur war am Tod eines Menschen, dem eine Gewehrkugel den Schädel aufgerissen hatte, nichts natürlich. Die Leiche lag seltsam gekrümmt am Boden. Seitlich, mit angezogenen Knien.

Tjikundu nickte Clemencia zu und sprach dann mit den Uniformierten. Er gestikulierte, wandte sich kopfschüttelnd ab und kam zu Clemencia herüber. Auch die beiden Polizisten näherten sich zögernd. Sie hatten keine Bahre, keinen Leichensack, gar nichts. Tjikundu flüsterte Clemencia ins Ohr: «Ich habe extra nachgefragt, ob wir etwas aus Windhoek mitnehmen sollen.»

Die Polizisten bückten sich zu der Leiche hinab und griffen mit bloßen Händen zu. Endlich stand Frau Rodenstein auf. Ohne noch einmal auf ihren toten Mann zu blicken, wandte sie sich ab und lief mit schnellen Schritten los. Auf dem Trampelpfad zum Farmhaus schlossen Clemencia, Tjikundu und Gunnar Schroeder zu ihr auf. Der Wind schob nun von hinten, ließ das Gefühl entstehen, leicht bergab zu gehen, obwohl das Gelände eben war. Schnell wurden die Bäume, die um das Haus gepflanzt waren, größer. Winterlich kahle Jacarandas überragten immergrüne Zitrusbäume, zwischen denen die weiß getünchten Mauern durchschimmerten. Das Dach über der großen Veranda wurde von zwei überdimensionierten Säulen getragen. Davor erstreckte sich eine Fläche kurz geschnittenen Rasens, auf dem ein einsamer Pfau herumstolzierte. Bei jedem Schritt ruckte er mit dem Kopf nach vorn, als wolle er nach irgendetwas picken. Dann blieb er stocksteif stehen.

Hinter Frau Rodenstein ging Clemencia auf die Stufen der Veranda zu und versuchte, sich schnell einen Überblick zu verschaffen. Ein gemauerter Braaiplatz fürs Grillen, ein Wasseranschluss mit Steinbecken, Stühle, die verlassen herumstanden. Die Nebengebäude lagen weiter hinten. Links knatterten große Planen, die über die Autounterstände gespannt waren, im Wind. Fünf Autos – meist Bakkies, aber auch ein Citi Golf – parkten darunter.

Dass sie nicht alle den Rodensteins gehörten, wurde Clemencia klar, als sie sah, dass im langgestreckten Flur des Hauses zwei weitere Farmer warteten. Der eine hieß Haseney, und auch der andere hatte einen deutschen Namen. Man stand eine Weile herum, bis Frau Rodenstein die Tür zu einem der Zimmer öffnete und mit einer Handbewegung alle einlud, Platz zu nehmen. Tjikundu blieb neben der Tür stehen. Clemencia zog den Stuhl am Kopfende des Tisches zurück und merkte gerade noch an den Blicken der anderen, dass das verkehrt war. Hier hatte wohl immer der Hausherr gesessen.

Clemencia ließ sich an der Längsseite nieder. Der Raum wurde von einem offenen, sauber ausgefegten Kamin beherrscht. An der gegenüberliegenden Wand stand ein antiker Schrank. Dunkles Holz mit eingesetzten bunten Glasscheiben. Auf der dazu passenden Vitrine thronte ein Grammophon mit elfenbeinfarbenem Schalltrichter. Das Radio daneben sah fehl am Platz aus. Einen Fernseher konnte Clemencia nicht entdecken. Sie legte ihren Notizblock auf das polierte Holz vor sich, und wie auf Kommando begann Frau Rodenstein zu reden:

«Wir saßen hier, hatten gerade das Kaminfeuer angezündet und hörten nebenbei Radio, als der Anruf kam. Es muss kurz nach 19 Uhr gewesen sein, denn die Nachrichten des deutschen Dienstes hatten schon begonnen. Gregor ging ans Telefon, er sprach englisch und fragte zweimal, wer denn dran sei. Dann hörte er eine Weile zu, und als er den Anrufer fragte, woher er das alles wisse, legte der offensichtlich auf. Gregor setzte sich ruhig und teilte uns mit, dass er vor einem Überfall gewarnt worden sei. Eine Gruppe Krimineller wollte in der Nacht angeblich die Sonnenkollektoren von den Bohrlochpumpen stehlen. Das war nicht unwahrscheinlich, es ist in letzter Zeit einiges hier in der Gegend vorgefallen. Thomas, mein Sohn, bestand darauf, die Polizei zu benachrichtigen, obwohl uns allen klar war, dass keiner von denen wegen einer anonymen Warnung auch nur die Füße vom Tisch nehmen, geschweige denn bis auf die Farm herausfahren würde. Doch wir wollten uns nicht vorwerfen lassen, es nicht wenigstens versucht zu haben.»

Clemencia hätte ihre Kollegen in Schutz nehmen sollen. Nach den neuen Richtlinien musste jeder Kilometer, der mit einem Dienstfahrzeug zurückgelegt wurde, gerechtfertigt werden. Wenn überhaupt ein einsatzfähiger Wagen bereitstand. Und abgesehen davon hatten sie eben nur beschränkte Kräfte zur Verfügung. Was wussten denn diese Farmer schon davon, wie es in den Townships von Windhoek zuging! Da lebten zweihunderttausend Menschen dicht an dicht, und viele davon unter Bedingungen, die die Weißen hier kaum als Leben bezeichnet hätten. Natürlich rechtfertigte die Not keine Verbrechen, aber sie geschahen nun mal. In Katutura verging keine Nacht ohne Diebstähle, Überfälle, Messerstechereien, Misshandlungen und Vergewaltigungen. Wenn ein paar Beamte dort durch die Nachbarschaft patrouillierten, taten sie zehnmal mehr für die Sicherheit im Land, als man sich das hier draußen vorstellen konnte.

Clemencia sagte nichts, nickte Frau Rodenstein nur zu fortzufahren.

«Gregor rief bei den Nachbarn an. Die Männer ließen alles liegen und stehen, packten ihre Gewehre ein und waren nicht einmal eine Stunde später da. Dann …» Aus irgendeinem Grund stockte Frau Rodenstein.

Schroeder übernahm. «Das ist ein ungeschriebenes Gesetz bei uns. Wenn dich einer braucht, bist du zur Stelle, weil du genau weißt, dass du bei der nächsten Gelegenheit auf seine Hilfe angewiesen bist. Sei es bei einem Veldfeuer oder wenn du bei einem Puffotternbiss kein Serum hast oder eben bei einem Überfall. Wir kamen also, sprachen uns ab und bezogen an den Farmpads Posten, die möglichen Dieben als Anfahrt dienen konnten. Um 23 Uhr meldete Thomas über Funk, dass ein Wagen von der D 1953 abgebogen sei und der Fahrer die Scheinwerfer ausgeschaltet habe. Das mussten sie sein. Haseney erwartete die Kerle weiter westlich und übernahm die Überwachung. Bald war klar, dass sie zum Bohrloch nahe des Farmhauses wollten. Gregor ließ Elsa, also Frau Rodenstein, die Lichter im Haus löschen, um die Tsotsis in Sicherheit zu wiegen. Elsa ließ es sich nicht nehmen, uns zum Bohrloch zu begleiten. Mit dem Gewehr kann sie genauso gut umgehen wie einer von uns.»

«Waren Ihre Arbeiter auch dabei, Frau Rodenstein?», fragte Tjikundu von der Tür her. Frau Rodenstein schüttelte stumm den Kopf.

«Warum haben Sie den Wagen der Tsotsis nicht einfach angehalten?», fragte Clemencia.

«Damit die uns sagen, sie seien nur versehentlich vom Weg abgekommen? Damit wir sie zur Polizei verfrachten, wo sie umstandslos laufengelassen werden, sodass sie es in der nächsten Nacht noch einmal versuchen können? Oder in der übernächsten? Nein, wenn du die Halunken nicht auf frischer Tat ertappst, wirst du das Problem nie los.»

Schroeder stützte die Ellenbogen auf der Tischplatte ab. Er hatte dicke Pranken, die es gewohnt waren, zuzupacken. Jede einzelne Schwiele kündete davon, dass Probleme dazu da waren, gelöst zu werden. War ein Zaun durchbrochen, flickte man ihn. Wurde die Weide in der Trockenheit knapp, fütterte man Luzerne zu. Wurde ein Leopard zum Problemtier, erschoss man ihn. Und wollten Tsotsis eine Farm berauben, trat man ihnen genauso mit der Waffe in der Hand entgegen. Auch auf die Gefahr hin, dass jemand sein Leben ließ. Das war nun mal so.

«Per Funk vereinbarten wir, sie einzukreisen, aber erst einmal in sicherer Entfernung zu bleiben», fuhr Schroeder fort. «Sobald sie das Solarpaneel abmontiert hatten, wollten wir sie stellen. Also pirschten wir uns aus verschiedenen Richtungen ans Bohrloch heran. Und dann ging irgendetwas schief. Wahrscheinlich schien der verdammte Mond einfach zu hell. Oder sie hatten uns vorher schon bemerkt und warteten auf uns. Ich war vielleicht fünfzig Meter entfernt, duckte mich hinter die Viehtränke und hatte ein ungutes Gefühl, weil ich bloß einen der Kerle am Gestänge des Kollektors herumturnen sah. Wie viele es waren, wusste ich nicht, doch sicher nicht nur einer. Die kommen nie allein, haben gar nicht den Mumm dazu. Ich konzentrierte mich auf ihren Wagen, den sie frech bis ans Bohrloch gefahren hatten. Die Türen standen offen, doch nichts regte sich. Wo waren die Kerle?»

Lag es am Ton, an der Wortwahl? Clemencia merkte, wie sich Schroeder in die Geschehnisse der vergangenen Nacht hineinredete. Wie sie ihm wieder lebendig wurden und gleichzeitig Worte fanden, die sich festsetzen und noch in zwanzig Jahren Verwendung finden würden, wenn er zu vorgerückter Stunde ins Erzählen geriete.

«Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr, gut dreißig oder vierzig Schritte vom Wagen entfernt. Ein Schatten wuchs aus der Erde hoch. Er sah seltsam aus, irgendwie … jedenfalls dauerte es einen Augenblick, bis ich begriff, dass es zwei Männer waren, die miteinander rangen, und dann hörte ich Gregor aufschreien …»

«Es war eigentlich kein Schrei», verbesserte Farmer Haseney, der neben Schroeder saß. «Es war ein scharfer Ruf, aus dem kein bisschen Angst herauszuhören war.»

«Das ist doch egal.»

«Nein, das ist überhaupt nicht egal», sagte Haseney. «Gregor hat nicht geschrien, sondern gerufen. Es klang nicht panisch, nur überrascht und ein wenig wütend.»

«Was hat er denn gerufen?», fragte Clemencia.

«Plötzlich herrschte Stille.» Schroeder fuhr fort, als habe er den Einwurf nicht gehört. «Die Art von Stille, bei der du unwillkürlich den Atem anhältst. Es kann sich nur um ein paar Zehntelsekunden gehandelt haben, aber in dem Moment habe ich den Himmel, das Land und mich selbst so intensiv wie selten zuvor gespürt. Alles war eins und gehörte so fraglos zusammen, dass ich wusste, es konnte nicht dauern. Das Gefühl werde ich nie vergessen. Und auch nicht, wie gleich darauf das Chaos losbrach. Haseney schaltete seine Taschenlampe ein, und Müller blendete auch auf, die Lichtkegel irrten übers Veld, und Thomas rannte brüllend in Richtung seines Vaters, und Metall schlug klirrend auf Metall, der Kerl oben am Sonnenkollektor ließ sich zu Boden fallen, und da waren noch mehr Schritte irgendwo, und ich sprang hinter dem Felsen vor und schrie irgendetwas, ich weiß nicht, was, und dann hatten die Handscheinwerfer Gregor erfasst. Der Tsotsi, der einen halben Kopf kleiner war, stand schräg hinter ihm, hielt ihm das Gewehr an die Schläfe und brüllte: ‹Ich knalle ihn ab, wenn ihr nicht …› Er beendete seinen Satz nicht einmal, oder?»

«Nein», sagte Haseney.

«Nein», sagte der dritte Farmer am Tisch.

«Keine Ahnung, ob Thomas ihn überhaupt verstanden hat», sagte Haseney.

«Er rannte wie verrückt, hätte gar nicht so schnell stoppen können», sagte der andere Farmer.

«Es war immerhin sein Vater, der da bedroht wurde», sagte Haseney.

«Wir haben nicht als Erste geschossen, keiner von uns», sagte der andere.

«Der Tsotsi hat einfach abgedrückt», sagte Schroeder.

«Einfach so?», fragte Tjikundu.

Clemencia sah verstohlen zu Frau Rodenstein hinüber. Mit durchgestrecktem Rücken saß sie auf ihrem Stuhl, ohne sich anzulehnen. Ob es ihr etwas ausmachte, den Tod ihres Mannes so noch einmal miterleben zu müssen, war ihrer Miene nicht zu entnehmen. Nicht einmal, ob sie überhaupt ein Wort mitbekommen hatte.

«Hören Sie», sagte Schroeder, «Sie werden von uns doch nicht erwarten, dass wir uns irgendwelche Entschuldigungen für den Mörder zusammenphantasieren? Der Kerl hat abgedrückt, bevor jemand die Chance hatte zu reagieren. Die Mündung des Gewehrs war keine zehn Zentimeter von Gregors Kopf entfernt. Da konnte sich jeder ausrechnen, was passieren würde. Das war vorsätzlicher Mord und nichts anderes. Wie ein Mensch so etwas tun kann, ist mir ein Rätsel.»

Clemencia blickte ihn an. Es lag nicht daran, dass ein Weißer einem Schwarzen das Menschsein absprach und dass das an längst vergangene Apartheid-Zeiten erinnerte. Die Hautfarbe hatte nichts damit zu tun, Clemencia hätte nur gerne auch die andere Seite gehört, bevor sie sich ihr Urteil bildete. Sie sagte: «Sprechen Sie weiter!»

«Der Schuss knallte, und im Strahl der Taschenlampe sah ich Gregor zusammenbrechen. Er sank erst auf die Knie, verharrte so einen Moment und kippte dann zur Seite weg. Ich legte mein Gewehr an, ganz ruhig, hatte nur den einen Gedanken, das Schwein zu erwischen, und das gelang mir auch mit dem ersten Schuss. Die Kugel riss den Kerl herum, das Gewehr glitt aus seinen Händen, aber er selbst blieb auf den Beinen, krümmte nur den Oberkörper nach vorn. Ich hätte ihm noch eine verpasst, das gebe ich offen zu, doch das ging nicht, weil Thomas mir ins Schussfeld lief. ‹Nein›, kreischte er, ‹nein, nein›, als ob es nicht längst zu spät gewesen wäre, und dann war er endlich dort, warf sich über seinen Vater, hob seinen Kopf an, fühlte nach seinem Puls.

Vom Farmhaus her kläfften die Hunde. Ich sah Elsa wie versteinert im Veld stehen und dachte noch, dass sie besser im Haus geblieben wäre. Dann nahm ich mein Gewehr wieder hoch, aber wie aus dem Nichts war da plötzlich einer der anderen Tsotsis und hob die Waffe auf, die zu Boden gefallen war. Er zielte nach unten, auf Thomas, und schrie: ‹Soll der auch noch dran glauben? Wollt ihr das?› Mit dem Gewehr im Anschlag ging ich langsam auf ihn zu, und die anderen von uns auch, nur Haseney hielt den in Schach, der vom Gestänge herabgesprungen war. Ich hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte, war aber froh, geschossen zu haben. So musste den Kerlen klar sein, dass keiner von ihnen lebend davonkommen würde, wenn sie Thomas etwas antaten. Andererseits konnten wir auch nicht zuerst feuern. Wir haben alle gelernt, mit der Waffe umzugehen, das können Sie mir glauben, aber es war schlicht nicht möglich, den Kerl so zu treffen, dass er nicht noch den Finger krümmen konnte.

So standen wir uns auf ein paar Meter Entfernung gegenüber. Die Taschenlampen waren aus, da wir alle das Gewehr im Anschlag hatten, doch es war hell genug, um erkennen zu können, wie schrecklich Gregor zugerichtet war. Thomas hatte aufgegeben, saß apathisch im Sand und hielt die Hand seines Vaters. Der Mörder röchelte laut. Es hörte sich an, als entweiche die Luft durch die Wunde im Bauch. Ein Vogel, der wahrscheinlich durch die Schüsse aufgeschreckt worden war, flatterte vorbei. In den Angestelltenwohnungen beim Farmhaus gingen nun die Lichter an. Elsa rührte sich nicht. Ihr Mann lag tot im Sand, und jetzt sollte vor ihren Augen auch noch ihr Sohn ermordet werden? Trotzdem sagte ich dem Kerl, der Thomas bedrohte, dass er aufgeben solle, sonst würde ich schießen. Er lachte nur. Es klang gehetzt. Völlig verrückt. Ergeben würde der sich nicht. Entweder frei davonkommen oder an Ort und Stelle sterben und so viele wie möglich mit ins Verderben reißen, etwas anderes gab es für den nicht. Ich senkte das Gewehr und sagte: ‹Du lässt ihn gehen, und wir lassen euch gehen.› Er schüttelte den Kopf. Der mit der Schusswunde deutete auf Thomas und presste hervor: ‹Wir nehmen ihn mit.› Ich schüttelte den Kopf. Verdammt, es war, als müssten wir einen Handel abschließen und könnten uns nicht einigen, wer noch etwas drauflegen sollte. Der Dritte, der von Haseney in Schach gehalten wurde, rief herüber: ‹Wir lassen ihn laufen, sobald wir sicher sind, dass uns keiner verfolgt.› Er ließ die erhobenen Hände sinken und kam näher. Haseney hinderte ihn nicht daran.»

«Was hätte ich denn tun sollen, Herrgott?», fragte Haseney.

«Der Kerl zog Thomas hoch, der andere drückte ihm den Lauf des Gewehrs in den Rücken und dirigierte ihn zu ihrem Wagen. Der mit der Schusswunde wankte hinterher. Ich hoffte, dass wenigstens er vor meinen Augen krepieren würde, doch er war zäh genug, um es bis in den Wagen zu schaffen. Ohnmächtig mussten wir zusehen, wie sie losfuhren. Von Thomas haben wir seitdem nichts mehr gehört.»

«Sie hatten einen blauen Ford Escort mit der Nummer N212–346W», sagte Haseney.

«Haben Sie das Kennzeichen dem Notruf durchgegeben?», fragte Clemencia.

«Sobald wir am Farmhaus waren. Die Polizei versprach, die Leute an den Roadblocks und die zuständigen Einsatzkräfte zu alarmieren. Ob das gemacht wurde, wissen wir natürlich nicht.»

Von einer Fahndung hatte Clemencia nichts mitbekommen. Als sie am Morgen informiert worden war, hatte keiner das Kennzeichen erwähnt. Es hätte nur einen Anruf gekostet, um den Halter des Fahrzeugs herauszufinden, und nicht viel mehr Mühe, um festzustellen, ob es sich um einen einschlägig Vorbestraften handelte. Wertvolle Stunden waren vergeudet worden, und wenn Clemencia nachforschte, würde sie wahrscheinlich feststellen, dass das auf irgendeine haarsträubende Banalität, gepaart mit Gedankenlosigkeit, zurückzuführen war. Vielleicht hatte irgendwer in der Notrufzentrale alle Stifte mitgehen lassen, um die Kinder in der weiteren Verwandtschaft für den Schulunterricht auszustatten. Vielleicht hatte man auch nur vergessen, Büromaterial nachzubestellen, oder es gab einen anderen Grund, dass der diensthabende Beamte das Kennzeichen nicht notieren konnte. Und als er es aus dem Kopf weitergeben wollte, hatte er die letzten zwei Ziffern vergessen. Statt sich die Blöße zu geben, das einzugestehen oder noch einmal bei den Zeugen nachzufragen, hatte er die Information einfach unter den Tisch fallen lassen. Er würde behaupten, sie nie erhalten zu haben. Ein paar Stunden später würde er das wahrscheinlich sogar selbst glauben.

«Waren Sie nahe genug dran, um das Kennzeichen zweifelsfrei lesen zu können?», fragte Clemencia.

«Hundertprozentig», sagte Schroeder.

«Der Mond schien so hell, man hätte Zeitung lesen können», sagte Haseney.

«Gut», sagte Clemencia und stand auf. Sie wandte sich an Frau Rodenstein. «Ich brauche noch ein Foto.»

«Ein Foto?» Frau Rodenstein schien nur schwer aus den Gedanken zurückzufinden, in die sie sich verbissen hatte.

«Von Ihrem Sohn.» Natürlich würde Clemencia alles daransetzen, Thomas Rodenstein unversehrt zurückzubringen, doch die Chancen standen schlecht. Wenn die Angreifer ihn tatsächlich während ihrer Flucht ausgesetzt hätten, müsste er sich längst gemeldet haben. So leer war das Land hier draußen auch wieder nicht, dass man nicht nach ein paar Stunden Fußmarsch zu einem Farmhaus gelangt wäre. Also blieben nur zwei Möglichkeiten. Im besten Fall hielten die Tsotsis den jungen Rodenstein immer noch in ihrer Gewalt. Aber warum hätten sie das tun sollen? Und wie? In den Townships Windhoeks, wo sie wahrscheinlich untergekrochen waren, irgendetwas oder irgendjemanden vor seinen Nachbarn zu verbergen, war praktisch unmöglich. Das hatte Clemencia oft genug selbst festgestellt. Wenn die Täter es für zu riskant gehalten hatten, Thomas Rodenstein laufenzulassen, musste es ihnen noch riskanter erscheinen, ihn weiter mit sich herumzuschleppen. Im schlechtesten und leider auch wahrscheinlichsten Fall hatten sie ihr Problem so gelöst, wie es auch die weißen Farmer gern getan hätten. Mit der Schusswaffe.

Als Frau Rodenstein ihr ein Passfoto in die Hand drückte, hatte Clemencia das Gefühl, noch irgendetwas Tröstliches sagen zu müssen. «Ich möchte Ihnen …»

«Ja?»

Clemencia blickte auf das Foto hinab. Der Mann darauf war um die dreißig, hatte hellblondes, lockiges Haar und eine spitze Nase. Er lächelte nicht. Das war völlig normal. Auf Passfotos lächelte man nicht. Clemencia wusste nicht, wie sie den begonnenen Satz zu Ende führen sollte. Sie sagte: «Ich halte Sie auf dem Laufenden.»

Frau Rodenstein begleitete Tjikundu und sie vor die Tür. Der Wind war böiger geworden. In einem halben Kilometer Entfernung peitschte er den Staub um Pumpe und Wassertank. Der Wagen, der Gregor Rodenstein abtransportieren sollte, war verschwunden. Auch sonst gab es da draußen nichts zu sehen. Nur dürres Gras und Steine und wehenden roten Sand, der das eingesickerte Blut überdecken würde. Tjikundu nickte Frau Rodenstein zu und ging zum Auto vor, das im Windschatten des Nebengebäudes parkte.

«Wann geben Sie die Leiche frei?», fragte Frau Rodenstein.

Die Leiche? Es handelte sich um ihren Mann, mit dem sie seit zig Jahren verheiratet war! Um einen Menschen, der einen Namen hatte! Sicher, Frau Rodenstein mochte unter Schock stehen, sie mochte ihre Trauer in der eiskalten durchwachten Nacht eingefroren haben, sie mochte sich vorgenommen haben, vor niemandem und schon gar nicht vor einer schwarzen Polizeiinspektorin Schwäche zu zeigen, aber Clemencia verstand sie dennoch nicht. Diese Distanz, diese Kälte. Vielleicht war Clemencia ihr Unbehagen anzusehen, denn Frau Rodenstein schob schnell nach: «Wegen der Beerdigung. Es gibt einiges zu erledigen, die Trauerfeier, der Pfarrer, die Todesanzeige in der Zeitung, und wenn ich das Datum wüsste …»

«Ein paar Tage wird es wohl dauern», sagte Clemencia.

«Ich würde es gern hinter mich bringen.»

«Natürlich», sagte Clemencia. In der Nähe des Autounterstands wirbelte der Wind im Kreis herum. Eine dünne Staubsäule baute sich auf und lief ein paar Meter aufs Haus zu, bevor sie in sich zusammenbrach. Leise sagte Clemencia dann doch noch: «Mein Beileid!»

Frau Rodenstein nickte nicht einmal.

Clemencia wandte sich ab. Tjikundu saß schon im Wagen. Als sie die Farmpad entlanghoppelten, musterte Clemencia die dürren, vom Wind gepeitschten Dornbüsche neben der Fahrspur. Hinter jedem hätte ein Toter liegen können. Eine zweite Leiche, deren Namen Frau Rodenstein nicht mehr aussprechen würde. Clemencia presste ihre Stirn schräg gegen die Seitenscheibe und blinzelte in den stahlblauen Himmel. Ob es hier Geier gab, die durch ihr Kreisen zeigten, wo sich der Tod niedergelassen hatte? Doch sosehr sie auch suchte, der Himmel blieb wie leer gefegt.

Erst auf der Hauptstraße fragte sich Clemencia, ob sie an Frau Rodensteins Stelle ihren Mann beerdigen würde, solange ihr gemeinsamer Sohn vermisst wurde. Dann wurde ihr bewusst, dass Frau Rodenstein ihren Sohn am Schluss überhaupt nicht erwähnt hatte. Berührte sie die Ungewissheit über seinen Verbleib so wenig? Und wie konnte sie über die Beerdigung ihres Mannes reden, als handle es sich um ein rein organisatorisches Problem?

Tjikundu blieb die Fahrt über schweigsam. Nur einmal fragte er, was Clemencia davon halte, dass die Rodensteins ihre schwarzen Arbeiter nicht mit auf die Verbrecherjagd genommen hatten.

«Warum?», fragte Clemencia zurück. «Würdest du sie für zuverlässigere Zeugen halten?»

«Das nicht, aber wenn es gefährlich wird oder Drecksarbeit zu erledigen ist, schicken die Weißen doch immer ihr Personal vor.»

Clemencia zuckte mit den Achseln. Aus Gründen, die sie selbst nicht genau verstand, atmete sie auf, als sie sich der Stadt näherten und die ersten Brennholzverkäufer mit ihren Bündeln am Straßenrand hockten. Der Verkehr wurde dichter, die Schornsteine des Van-Eck-Kraftwerks rauchten, und auf den Trampelpfaden, die von den Hüttensiedlungen hinter den kahlen Hängen zur B1 und weiter ins nördliche Industriegebiet führten, trotteten Menschen hin und her. Fast so, als hätten sie ein Ziel.

 

 

Der blaue Escort mit der Nummer N212–346W war erst vor drei Monaten auf einen gewissen Tobias Kausiku überschrieben worden. Der wohnte in Big Bend Extensions, einer ehemals illegalen Hüttensiedlung, die von der Stadt Windhoek allmählich mit der grundlegenden Infrastruktur ausgestattet wurde. Elektrischen Strom gab es noch nicht, aber im Abstand von zweihundert Metern standen öffentliche Wasseranschlüsse, von denen man sich gegen eine monatliche Einheitsgebühr von hundert Namibia-Dollar die nötigen Eimerfüllungen nach Hause schleppen konnte. Alles in allem war es keine Gegend, in der sich irgendwer ein Auto leisten konnte. Außer einem einsamen Taxi vor einer illegalen Kneipe und einem ausgeschlachteten VW-Bus war auch nirgends ein Wagen zu sehen.

Clemencia Garises und ihr Kollege Bill Robinson fuhren langsam Richtung Westen. Längs der Staubstraße standen Toilettenverschläge, ein paar Meter dahinter Wellblechbehausungen, die weder stabiler und behaglicher noch wesentlich größer wirkten. Clemencia ließ immer wieder stoppen, um nach Tobias Kausiku zu fragen, denn erkennbare Grundstücksnummern waren nur an wenigen Hütten aufgemalt. Zum Glück kannte man sich hier. Hinter einem großen Zelt, das irgendeiner evangelikalen Sekte als Kirchenersatz diente, waren sie am Ziel.

Kausiku musste tatsächlich in letzter Zeit zu Geld gekommen sein. Jedenfalls war sein Grundstück das einzige, das von einer Mauer umgeben war. Offensichtlich war sie ganz frisch hochgezogen worden. Der oben aufgeworfene Putz, in den senkrecht Glasscherben gedrückt worden waren, schien nicht einmal ganz durchgetrocknet zu sein. Das zweiflügelige Gittertor war noch nicht in die Maueröffnung eingelassen, lag aber schon bereit. Mit seiner goldfarbenen Lackierung, den schneckenförmigen Verzierungen und den gedrehten Spitzen an der Oberseite hätte es auch einem europäischen Adelssitz gut angestanden.

«My home is my castle», sagte Robinson spöttisch.

Die Hütte selbst unterschied sich nicht von denen auf den Nachbargrundstücken. Die Plastikplanen auf dem Dach waren mit Steinen und alten Autoreifen beschwert. Die Wände bestanden aus einem wilden Gemisch von Wellblech, Brettern, Kunststoffplatten und aufgeschnittenen, zu einer Fläche geklopften Kanistern. Neben der Tür hatte jemand mit weißer Farbe «Emmy’s Hair Salon» aufgepinselt. Das «Y» von «Emmy’s» war zu einer Zeichnung erweitert worden, in der man mit viel gutem Willen eine stilisierte Schere erkennen konnte. Die Frau, die links neben der Tür auf einem Plastikstuhl saß und einen Säugling stillte, war deutlich jünger als Clemencia. Zu ihren Füßen wiegte ein etwa vierjähriges Mädchen eine Waschmittelflasche in den dünnen Armen, als wäre es eine Puppe. Die Reste des fast ganz abgeschabten Etiketts ließen auf eine Flasche der Marke Skip schließen.

Robinson wies auf die Reifenspuren im Sand. Clemencia nickte. Es war noch nicht lange her, dass hier ein Auto gestanden hatte. Sie grüßte und fragte die Frau nach Tobias Kausiku.

«Geht es um das Auto?»

Clemencia und Robinson sahen sich an. Über die Hintergründe ihres Besuchs hatten sie noch kein Wort verlauten lassen.

Die Frau deutete auf das Loch in der Mauer und sagte: «Die haben ausgenutzt, dass das Tor noch nicht fertig ist. Wir hatten den Wagen gestern Nachmittag hier abgestellt, und heute Morgen war er weg. Er muss in der Nacht geklaut worden sein. Tobias ist gerade bei euch, bei der Polizei, um den Diebstahl anzuzeigen.»

«In der Nacht geklaut?», fragte Clemencia. Ausgerechnet in der Nacht, in der mit diesem Wagen ein Überfall verübt worden war, der in Mord und Entführung geendet hatte?

«Oder schon am Abend. Tobias und ich sind früh schlafen gegangen.»

Das klang sehr nach einem unverlangten Alibi für ihren Mann. Clemencias Misstrauen wurde dadurch nicht geringer. Sie fragte: «Sie haben nichts gehört?»

«Nein.»

Clemencia musterte die Hütte. Die einzige Fensteröffnung war nur mit Plastikfetzen verklebt. Man musste schon einen festen Schlaf haben, um nicht aufzuwachen, wenn ein paar Meter entfernt ein Auto kurzgeschlossen wurde. Noch dazu, wenn es das einzige war, das es weit und breit gab. Clemencia sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb vier. Sie fragte: «Warum hat Ihr Mann den Diebstahl nicht gleich heute Morgen gemeldet?»

«Er ist nicht mein Mann.»

«Gut», sagte Clemencia, «warum hat Tobias …?»

«Er ist der Vater meines zweiten Kindes, aber er sorgt auch für das erste. Er ist ein guter Mann.»

«Ich möchte ja nur wissen, wieso er nicht gleich zur Polizei gegangen ist.»

Die Frau zuckte die Schultern. «Wer geht schon gern zur Polizei?»

Da war etwas Wahres dran. Nicht nur in dieser Gegend waren die Leute überzeugt, dass die Polizei ausschließlich eingriff, wenn man gut auf sie verzichten konnte. Weil man eine Kneipe ohne Lizenz betrieb oder nicht nachweisen konnte, woher die Handys stammten, die man verhökerte. Wurde man dagegen selbst überfallen, war nie ein Uniformierter zu sehen. Und hatte die Nachbarschaft mal einen gestellt, der ein Schulmädchen vergewaltigt hatte, verhinderte die Polizei sogar, dass man ihn mit Benzin übergoss und anzündete. Mit dem, was in den Gesetzbüchern stand, hatte das Gerechtigkeitsempfinden in den Townships wenig gemein. Ein paar Dinge fanden darin überhaupt keinen Platz. Zum Beispiel einen guten Mann, der sich sogar um nicht leibliche Kinder sorgte, zu verpfeifen.

«Ein schönes Hoftor habt ihr da», sagte Robinson. «Hat sicher eine Stange Geld gekostet?»

«Ging so», sagte die Frau.

«Und das Auto?»

«Mein Friseurladen läuft ganz gut.»

Robinson lachte, als habe er gerade einen besonders guten Witz gehört. Ob er auch gelacht hätte, wenn statt dieser Emmy eine Frau seiner eigenen Hautfarbe vor ihm gesessen hätte? Nein, dann hätte er gar nicht so gefragt. Das wirklich Schlimme daran war, dass Robinsons Reaktion nicht nur von schlecht verstecktem Rassismus zeugte. In der Sache hatte er wohl recht. Man konnte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass der plötzliche Wohlstand im Hause Kausiku nicht mit legalen Mitteln zustande gekommen war.

Clemencia schickte Robinson los, um die Nachbarn zu befragen. Sie selbst setzte sich auf den Sandboden und lehnte den Rücken an die Wellblechwand. Das kleine Mädchen verzog sich mit ihrer Plastikflaschenpuppe hinter die Hütte. Clemencia deutete auf den Säugling und fragte nach seinem Namen.

«Sie hat noch keinen», sagte die Mutter.

«Wie alt ist sie denn?»

«Sechs Wochen.»

Sechs Wochen, und noch keinen Namen? Clemencia erinnerte sich, dass Miki Matilda einmal erwähnt hatte, das sei anfangs durchaus sinnvoll. Die Mutter leide weniger, wenn ein noch namenloses Kind sterbe. Außerdem fänden die bösen Geister schwerer Zugriff, weil sie nicht wüssten, wie sie das Kind rufen sollten. Nur galt das doch für die Mutter genauso. Wie sprach sie denn ihr Kind an?

Emmy zog die Bluse über ihre Brust und sagte: «Ich weiß nicht, wann Tobias kommt.»

Clemencia nickte.

«Das kann dauern», sagte Emmy.

«Wissen Sie, was gestern Nacht geschehen ist?», fragte Clemencia.

Emmy zuckte mit den Achseln zum Zeichen, dass ihr das egal war. Ihre eigene Welt war ihr groß genug. Was draußen geschah, wollte sie nicht erfahren, schon gleich gar nicht, wenn es darauf hinauslief, dass man ihr ihren Tobias wegnahm. Und doch wusste sie, dass genau das passieren würde. Man würde ihn verhaften und einsperren, und das goldfarbene Tor würde liegen bleiben, bis es geklaut würde oder bis sie einen anderen Mann fände, der sich um zwei fremde Kinder unter der Bedingung kümmern würde, dass er ihr noch ein drittes machen konnte. So würde es kommen, Clemencia wusste es, und sie wusste es, doch sie schüttelte den Kopf und sagte: «Tobias war die ganze Nacht hier bei mir.»

Clemencia sagte nichts mehr, bis Robinson zurückkehrte. Ein Nachbar hatte Tobias Kausiku am vorigen Abend mit zwei anderen Männern wegfahren sehen. An die Uhrzeit konnte er sich nicht erinnern, es sei aber schon dunkel gewesen.

«Um 19 Uhr war Tobias wieder da und hat dann das Haus …», sagte Emmy.

Ohne sie zu beachten, berichtete Robinson weiter. Andere Nachbarn hätten den blauen Escort am Vormittag im Hof stehen sehen. Erst gegen 11 Uhr sei Tobias Kausiku damit weggefahren.

«Die lügen», sagte Emmy. Dabei würde sie bleiben, mochten auch noch so viele Zeugen ihrer Darstellung widersprechen.

«Ich würde mich gern mal umsehen», sagte Clemencia. Sie erhob sich und stieß die Tür auf. Die Hütte bestand aus einem einzigen rechteckigen Raum, der durch ein nagelneues, mit plüschigem weißem Stoff bezogenes Sofa beherrscht wurde. Ihm gegenüber stand auf einem umgedrehten Bierkasten ein Flachbildfernseher. Geklaut und noch nicht weiterverscherbelt, schätzte Clemencia. Zwei Matratzen lehnten hochkant im Eck. Wenn sie für die Nacht auf dem gestampften Boden ausgelegt würden, gäbe es kaum mehr Platz, um die Füße aufzusetzen. Neben der Tür befand sich ein zweiflammiger Gasherd, über dem ein paar Bretter für Kochgeschirr und Vorräte befestigt waren. Weiter links schloss sich ein offenes Schränkchen mit gestapelter Kleidung an. Der Müllsack daneben diente wohl für die Schmutzwäsche. An der Seitenwand des Schränkchens lehnte ein Spiegel, durch dessen Glas sich ein Sprung zog. Es war der einzige Gegenstand, der an einen Friseursalon erinnerte. Ein wackliger Tisch, ein Plastikstuhl und ein paar Wasserkanister vervollständigten die Einrichtung. Dass in diesem Raum kein entführter Farmer versteckt wurde, konnte man mit einem Blick sehen. Es schien auch nicht wahrscheinlich, dass schon jemals ein Weißer hier gewesen war.

Im Sonnenlicht, das durch die offene Tür einfiel, wirbelten Staubteilchen. Sie wurden unsichtbar, sobald sie in den Schattenbereich eintauchten. Clemencia machte ein paar Schritte, tastete sich durch die T-Shirts und Hosen im Schränkchen, überprüfte dann das Sofa und die wenigen anderen Stellen, an denen man vielleicht eine Waffe verstecken konnte. Nichts. Auch keine Blutspuren, die von einem Angeschossenen stammen könnten.