Die Chemie des Todes

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Kapitel 1

Kaum ist das Leben aus dem Körper gewichen, wird er zu einem gigantischen Festschmaus für andere Organismen. Zuerst für Bakterien, dann für Insekten. Fliegen. Aus den gelegten Eiern schlüpfen Larven, die sich an der nahrreichen Substanz laben und dann abwandern. Sie verlassen die Leiche in Reih und Glied und folgen einander in einer ordentlichen Linie, die sich immer nach Süden bewegt. Manchmal nach Südosten oder Südwesten, aber niemals nach Norden. Niemand weiß, warum.

Mittlerweile sind die Proteine der Muskeln zerfallen und haben einen für die Vegetation tödlichen Chemiecocktail produziert. Durch die Larven, die über das Gras krabbeln, entsteht so eine Nabelschnur des Todes, die sich zu ihrem Ausgangspunkt zurückspannt. Unter den entsprechenden Bedingungen – warm und trocken beispielsweise, ohne Regen – kann sie meterlang werden, eine dicke, braune Schlangenlinie, die vor fetten gelben Larven zu pulsieren scheint. Ein sonderbarer Anblick, der jeden Neugierigen dazu veranlassen würde, dieses Phänomen zurück zu seinem Ursprung

Neil und Sam stießen am Rande von Farnley Wood auf die Madenspur, dort, wo der Wald an den Sumpf grenzt. Es war die zweite Juliwoche, und schon jetzt hatte man den Eindruck, der unnatürliche Sommer dauerte eine Ewigkeit. Die scheinbar pausenlose Hitze hatte die Bäume ausgeblichen und den Boden ausgetrocknet und knochenhart gemacht. Die Jungs waren auf dem Weg zum Willow Hole, einem mit Schilf umgebenen Teich, der in der Gegend als Schwimmbad benutzt wurde. Dort wollten sie sich mit Freunden treffen und den ganzen Sonntagnachmittag von einem überhängenden Baum in das lauwarme, grüne Wasser springen. Das hatten sie jedenfalls vorgehabt.

Ich sehe sie vor mir, gelangweilt und lustlos, erschlagen von der Hitze und ungeduldig miteinander. Neil, mit elf drei Jahre älter als sein Bruder, geht wohl etwas voraus, um Sam seine Ungeduld zu demonstrieren. Er hat einen Stock in der Hand, mit dem er auf die Büsche und Äste eindrischt, an denen er vorbeikommt. Sam trottet hinter ihm her und schnieft ab und zu. Nicht aufgrund einer Sommererkältung, sondern wegen des Heuschnupfens, durch den er auch die roten Augen hat. Ein leichtes Antihistamin würde ihm helfen, doch zu diesem Zeitpunkt weiß er das noch nicht. Er schnieft in jedem Sommer. Ganz der Schatten seines Bruders, geht er mit gesenktem Kopf, weshalb ihm und nicht Neil die Madenspur auffällt.

Er bleibt stehen und untersucht sie, ehe er seinen Bruder zurückruft. Neil ist genervt, doch Sam hat offensichtlich etwas entdeckt. Er versucht, sich unbeeindruckt zu geben, aber die wuselige Linie aus Maden fasziniert ihn genauso wie seinen Bruder. Die beiden beugen sich über die Larven,

Ob sie den Gestank wahrnahmen, als sie näher kamen? Wahrscheinlich. Er war bestimmt streng genug, um selbst in Sams verstopfte Nase zu dringen. Und wahrscheinlich wussten sie, was es war. Da die beiden keine Stadtjungs sind, wird ihnen der Kreislauf von Leben und Tod bekannt gewesen sein. Außerdem werden die Fliegen sie stutzig gemacht haben, das monotone Summen, das die Hitze erfüllte. Doch die Leiche, die sie entdeckten, war weder ein Schaf noch ein Reh und auch kein Hund, wie sie vielleicht erwartet hatten.

Sally Palmer war nackt und auch im hellen Sonnenlicht nicht mehr zu erkennen. Ihr Körper war durch und durch von Ungeziefer befallen, das unter ihrer Haut brodelte und aus Mund und Nase und anderen, unnatürlicheren Körperöffnungen hervorquoll. Die Larven, die aus ihr hervorströmten, sammelten sich am Boden, ehe sie in dieser Linie davonkrabbelten, die sich nun vor den Yates-Brüdern erstreckte.

Es spielt vermutlich kaum eine Rolle, wer zuerst davonrannte, doch ich glaube, dass es Neil war. Sam musste sich wohl wie immer nach dem großen Bruder richten und versuchen, bei dem Wettlauf nicht abgehängt zu werden, der sie zuerst nach Hause führte und dann auf das Polizeirevier.

Und schließlich zu mir.

Aber das stimmte nicht. Es war nur so, dass wir bis dahin nicht erkannt hatten, was mitten unter uns lebte.

Kapitel 2

Ich war zum ersten Mal in den Broads, zum ersten Mal in Norfolk. Die Gegend kam mir aufregend unvertraut vor. Ich betrachtete die grenzenlose Leere, atmete die feuchte, kalte Luft ein und spürte, wie sich etwas, wenn auch nur minimal, in mir entspannte. So wenig einladend es hier auch zu sein schien, es war nicht London, und das genügte mir.

Niemand holte mich ab. Ich hatte mich nicht um einen Transport vom Bahnhof gekümmert. So weit im Voraus hatte ich nicht geplant. Ich hatte wie alles andere auch mein Auto verkauft und keinen Gedanken daran verschwendet, wie ich in das Dorf gelangen sollte. Damals war ich noch nicht ganz bei mir gewesen. Falls ich überhaupt darüber nachgedacht hatte, dann mit der Arroganz eines Städters, und hatte wohl angenommen, es müsste Taxis, einen Laden oder irgendetwas geben. Doch es gab keinen Taxistand und

Es wurde langsam dunkel, als ich schließlich das Dorf erreichte. Ein oder zwei Autos waren auf dem Weg an mir vorbeigefahren, doch keines hatte angehalten. Die einzigen anderen Anzeichen einer Zivilisation waren ein paar weit verstreute Bauernhöfe, die ein gutes Stück von der Straße entfernt lagen. Dann erkannte ich im Dämmerlicht den Turm einer Kirche vor mir. Es sah aus, als wäre er halb in einem Acker vergraben. Nun gab es einen Gehsteig, zwar schmal und rutschig vom Regen, aber besser als der Straßenrand und die Hecken, an denen ich seit dem Bahnhof entlanggegangen war. Nach einer weiteren Kurve entdeckte ich das eigentliche Dorf, das so versteckt lag, bis man förmlich darüber stolperte.

Es handelte sich nicht gerade um ein Postkartendorf. Es war zu verlebt und zersiedelt, um dem Ideal eines malerischen englischen Dorfes zu entsprechen. Außen gab es eine Reihe Vorkriegshäuser, aber diese wurden bald von Steincottages abgelöst, deren Mauern mit Feuersteinbrocken übersät waren. Je näher ich dem Dorfkern kam, desto älter wurden die Häuser, jeder Schritt führte mich weiter zurück in die Geschichte. Trist kauerten sie sich dort aneinander, in ihren dunklen Fenstern spiegelte sich blankes Misstrauen.

Ich blieb stehen. Vor mir konnte ich sehen, dass jenseits der Straße weitere Häuser lagen. Doch dahinter endete Manham schon wieder. In manchen Fenstern brannte Licht, aber ein anderes Lebenszeichen gab es nicht. Ich stand im Regen, unsicher, welchen Weg ich einschlagen sollte. Dann hörte ich ein Geräusch und sah zwei Gärtner, die auf dem Friedhof arbeiteten. Ungeachtet des Regens und der einsetzenden Dämmerung harkten sie das Gras zwischen den alten Grabsteinen. Ohne aufzuschauen arbeiteten sie weiter, als ich mich näherte.

«Können Sie mir sagen, wo die Arztpraxis ist?», fragte ich, während Wasser von meinem Gesicht tropfte.

Sie hielten inne und betrachteten mich trotz ihres beträchtlichen Altersunterschiedes auf so ähnliche Weise, dass sie Großvater und Enkel sein mussten. Beide Gesichter hatten den gleichen ungerührten, gelassenen Ausdruck und

«Da geradaus.»

Der Dialekt war eine weitere Bestätigung, dass ich mich nicht mehr in London befand, eine Anreihung von Vokalen, die in meinen Stadtohren ganz fremd klang. Ich dankte ihnen, aber sie hatten sich schon wieder ihrer Arbeit zugewandt. Ich folgte dem Weg, auf dem das Prasseln des Regens durch die überhängenden Äste noch verstärkt wurde. Nach einer Weile kam ich zu einem breiten Tor, das den Eingang zu einer schmalen Auffahrt versperrte. An einem Torpfosten war ein Schild mit der Aufschrift «Bank House» angebracht. Darunter befand sich eine Messingtafel, auf der «Dr. H. Maitland» stand. Flankiert von Eiben führte die Auffahrt erst durch einen gepflegten Garten sanft bergan und dann hinab auf den Hof eines stattlichen, georgianischen Hauses. An einer altgedienten gusseisernen Stange neben der Eingangstür kratzte ich den Dreck von meinen Schuhen ab und pochte dann mit dem schweren Klopfer laut an die Tür. Ich wollte gerade erneut klopfen, als geöffnet wurde.

Eine rundliche Frau in mittleren Jahren mit tadellos frisiertem silbergrauem Haar schaute mich an.

«Ja?»

«Ich möchte gerne zu Dr. Maitland.»

Sie runzelte die Stirn. «Die Praxis ist geschlossen. Und der Doktor macht zurzeit leider keine Hausbesuche.»

«Nein … Ich meine, er erwartet mich.» Darauf erhielt ich keine Reaktion. Mir wurde bewusst, wie ramponiert ich nach der Stunde Marsch durch den Regen aussehen musste. «Ich bin wegen der Stelle hier. David Hunter!?»

«Vom Bahnhof.»

«Vom Bahnhof? Aber der ist doch meilenweit entfernt!» Sie half mir bereits aus dem Mantel. «Warum haben Sie nicht angerufen und uns gesagt, wann Ihr Zug ankommt? Wir hätten Sie abholen lassen können.»

Ich antwortete nicht. Um ehrlich zu sein, war ich auf die Idee gar nicht gekommen.

«Kommen Sie ins Wohnzimmer. Dort ist der Kamin an. Nein, lassen Sie Ihren Koffer hier stehen», sagte sie und wandte sich ab, um meinen Mantel aufzuhängen. Sie lächelte. Zum ersten Mal bemerkte ich ihre angestrengten Züge. Was ich vorher für Schroffheit gehalten hatte, war lediglich Erschöpfung. «Hier wird ihn niemand stehlen.»

Sie führte mich in ein großes, holzgetäfeltes Zimmer. Eine abgewetzte alte Ledercouch stand vor einem Kamin, in dem ein Holzfeuer glimmte. Der Teppich war ein Perser, alt, aber immer noch schön. Er lag auf umbrabraunen, glänzend gebohnerten Bodendielen. Das Zimmer roch angenehm nach Kiefer und Holzrauch.

«Setzen Sie sich doch. Ich sage Dr. Maitland, dass Sie hier sind. Möchten Sie eine Tasse Tee?»

Das war ein weiteres Zeichen dafür, nicht mehr in der Stadt zu sein. Dort hätte man mir Kaffee angeboten. Ich dankte ihr und starrte, nachdem sie hinausgegangen war, in die Flammen. Nach der Kälte draußen machte mich die Wärme schläfrig. Hinter der Verandatür war es nun völlig dunkel. Regen prasselte gegen die Scheibe. Das Sofa war

Ich stand noch immer vor dem Kamin, als die Frau zurückkehrte. «Wollen Sie mir bitte folgen? Dr. Maitland ist in seinem Arbeitszimmer.»

Mit auf den Dielenbrettern quietschenden Schuhen folgte ich ihr durch den Korridor. Sie klopfte leise an die Tür am anderen Ende und öffnete sie mit einer lockeren Vertrautheit, ohne auf eine Antwort zu warten. Sie lächelte erneut, als sie einen Schritt zurück machte, um mich eintreten zu lassen.

«Ich bringe gleich den Tee», sagte sie und schloss die Tür, als sie hinausging.

Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann. Wir sahen uns einen Augenblick lang an. Obwohl er saß, konnte ich sehen, dass er groß war. Er hatte ein kräftiges, tief zerfurchtes Gesicht und dichtes Haupthaar, das eher cremefarben als grau war. Die dunklen Augenbrauen widerlegten aber jeden Anflug von Altersschwäche, und die Augen darunter hatten einen stechenden und wachsamen Blick. Sie musterten mich, ohne dass ich hätte sagen können, welchen Eindruck sie gewannen. Plötzlich war ich leicht beunruhigt, mich nicht gerade von meiner besten Seite zu zeigen.

«Herrgott, Mann, Sie sehen ja wie aus dem Wasser gezogen aus!» Seine Stimme war ein schroffes, aber freundliches Bellen.

«Ich bin vom Bahnhof zu Fuß gegangen. Es gab keine Taxis.»

Er schnaubte. «Willkommen im wunderschönen Manham. Sie hätten mir Bescheid sagen sollen, dass Sie einen

«Einen Tag früher?», wiederholte ich.

«Genau. Ich habe Sie erst morgen erwartet.»

Nun ging mir auch auf, was die geschlossenen Läden zu bedeuten hatten. Heute war Sonntag. Mir war nicht bewusst gewesen, dass mir das Zeitgefühl derart abhanden gekommen war. Und er tat so, als bemerke er nicht, wie mich mein Fauxpas aus dem Konzept brachte.

«Egal, nun sind Sie hier. Da haben Sie mehr Zeit, um sich einzugewöhnen. Ich bin Henry Maitland. Nett, Sie kennen zu lernen.»

Er streckte seine Hand aus, ohne aufzustehen. Und erst in diesem Moment entdeckte ich, dass sein Stuhl Räder hatte. Ich machte einen Schritt nach vorne, um seine Hand zu schütteln, aber da hatte er mein Zögern schon bemerkt. Er lächelte trocken.

«Jetzt wissen Sie, warum ich die Anzeige aufgegeben habe.»

Sie hatte unter den Stellenangeboten in der Times gestanden, eine kleine Annonce, die man leicht hätte übersehen können. Doch aus irgendeinem Grund war sie mir direkt ins Auge gefallen. Eine Praxis auf dem Land suchte für befristete Zeit einen praktischen Arzt. Sechs Monate, Unterkunft wird gestellt. Auch der Ort reizte mich. Nicht, dass ich besonders scharf darauf gewesen war, in Norfolk zu arbeiten, doch damit wäre ich weg aus London. Ich hatte mich ohne viel Hoffnung oder Begeisterung beworben und eine höfliche Absage erwartet, als ich eine Woche später den Brief öffnete. Zu meiner Überraschung wurde mir der Job angeboten. Ich musste den Brief zweimal lesen, bis ich verstand. Zu einer anderen Zeit hätte ich mich vielleicht gefragt, wo

Ich schrieb postwendend zurück, dass ich die Stelle annehme.

Jetzt sah ich meinen neuen Arbeitgeber an und fragte mich reichlich spät, auf was ich mich da eingelassen hatte. Als könne er meine Gedanken lesen, klatschte er sich mit den Händen auf die Beine.

«Autounfall.» Es lag weder Verlegenheit noch Selbstmitleid in seiner Stimme. «Es besteht die vage Möglichkeit, dass sie mit der Zeit wieder etwas einsatzfähiger werden, aber bis dahin komme ich nicht allein klar. Ich habe es ein Jahr lang mit Urlaubsvertretungen versucht, aber das reicht mir jetzt. Jede Woche ein neues Gesicht, davon hat keiner was. Sie werden schnell merken, dass die Leute hier keine Veränderungen mögen.» Er griff nach einer Pfeife und Tabak auf seinem Schreibtisch. «Stört es Sie, wenn ich rauche?»

«Es stört mich auch nicht, wenn Sie nicht rauchen.»

Er lachte auf. «Gute Antwort. Aber ich bin nicht Ihr Patient. Denken Sie daran.»

Er hielt inne, während er ein Streichholz an seine Pfeife hielt. «So», sagte er und inhalierte den Rauch. «Nach der Arbeit an einer Universität wird das eine ziemliche Veränderung für Sie werden, oder? Und das hier ist mit Sicherheit etwas anderes als London.» Er schaute mich über die Pfeife hinweg an. Ich wartete darauf, dass er mich aufforderte, meinen bisherigen Werdegang darzulegen. Aber das tat er nicht. «Wenn es noch Zweifel gibt, dann wäre das jetzt der richtige Zeitpunkt, sie zu äußern.»

«Keine Zweifel», sagte ich ihm.

Er nickte zufrieden. «In Ordnung. Sie werden erst mal hier wohnen. Ich werde Janice bitten, Ihnen Ihr Zimmer

«Darf ich etwas fragen?» Er hob die Augenbrauen und wartete. «Warum haben Sie mich angestellt?»

Das hatte mich beschäftigt. Nicht so sehr, dass ich das Angebot abgelehnt hätte, aber die Frage war mir dennoch im Hinterkopf geblieben.

«Sie machten mir einen geeigneten Eindruck. Gute Zeugnisse, exzellente Referenzen, und Sie waren bereit, für den Hungerlohn, den ich anbiete, zu kommen und am Ende der Welt zu arbeiten.»

«Ich hätte zuerst ein Bewerbungsgespräch erwartet.»

Er fegte die Bemerkung mit seiner Pfeife beiseite und hüllte sich in Qualm. «Bewerbungsgespräche kosten Zeit. Ich suchte jemanden, der so schnell wie möglich anfangen konnte. Und ich vertraue meinem Urteil.»

In seinen Worten lag eine Bestimmtheit, die ich beruhigend fand. Erst sehr viel später, als es keinen Zweifel mehr daran gab, dass ich bleiben würde, vertraute er mir bei einem Malt Whisky lachend an, dass ich der einzige Bewerber gewesen war.

Aber damals war ich auf diesen simplen Grund nicht gekommen. «Ich habe Ihnen nicht verheimlicht, dass ich als praktischer Arzt wenig Erfahrung habe. Wie können Sie sicher sein, dass ich der Aufgabe gewachsen bin?»

«Glauben Sie, dass Sie der Aufgabe gewachsen sind?»

Ich nahm mir einen Augenblick Zeit für die Antwort; im Grunde fragte ich mich das selbst zum ersten Mal. Ich war den weiten Weg hierher gekommen, ohne überhaupt viel nachzudenken. Ich war vor einem Ort und vor Menschen geflohen, deren Nähe mir nun zu schmerzhaft war. Ich überlegte

«Ja», sagte ich.

«Na also.» Er schaute mich durchdringend an, seine Miene verriet aber auch einen Anflug von Erheiterung. «Außerdem ist es ja nur eine befristete Stelle. Und ich werde ein strenges Auge auf Sie haben.»

Er drückte einen Knopf an seinem Schreibtisch. Irgendwo in der Ferne ertönte ein Summer im Haus. «Abendessen gibt es für gewöhnlich gegen acht Uhr, sofern es die Patienten zulassen. Sie können sich jetzt ausruhen. Haben Sie Ihr Gepäck mitgebracht oder wird es geschickt?»

«Mitgebracht. Ich habe es bei Ihrer Frau gelassen.»

Er sah mich verwirrt an und lächelte dann verlegen. «Janice ist meine Haushälterin», sagte er. «Ich bin Witwer.»

Die Wärme des Zimmers schien mich zu ersticken. Ich nickte.

«Ich auch.»

 

So wurde ich Arzt in Manham. Und so war ich drei Jahre später einer der Ersten, der hörte, was die Yates-Brüder im Farnley Wood entdeckt hatten. Natürlich wusste erst mal niemand, wer es war. Angesichts ihres Zustandes konnten die Jungs nicht einmal sagen, ob es sich bei der Leiche um einen Mann oder um eine Frau handelte. Als sie endlich wieder in ihrem vertrauten Zuhause waren, waren sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie nackt gewesen war oder nicht. Irgendwann hatte Sam sogar behauptet, sie hätte Flügel gehabt, bevor er unsicher wurde und in Schweigen verfiel. Neil starrte ausdruckslos vor sich hin. Was sie gesehen hatten, lag so weit außerhalb der Grenzen all dessen, was sie

Zu dem Zeitpunkt noch nicht.

Deshalb war die felsenfeste Überzeugung von Linda Yates umso merkwürdiger. Sie saß in dem kleinen Wohnzimmer und hatte den Arm um ihren niedergeschlagenen, jüngsten Sohn gelegt, der sich an sie schmiegte, während er halbherzig den knallbunten Fernsehschirm betrachtete. Ihr Mann, ein Landarbeiter, war noch bei der Arbeit. Nachdem die Jungs nach Hause gerannt waren, hatte sie mich atemlos und hysterisch angerufen. Auch an einem Sonntagnachmittag hatte man in einem so kleinen und abgelegenen Ort wie diesem nie dienstfrei.

Wir warteten noch auf die Ankunft der Polizei. Die Beamten hatten es anscheinend nicht gerade eilig, ich fühlte mich jedoch verpflichtet zu bleiben. Ich hatte Sam das Beruhigungsmittel gegeben, ein so leichtes, dass es beinahe ein Placebo war, und widerwillig die Geschichte angehört, die von seinem Bruder wiederholt wurde. Ich versuchte, nicht zuzuhören. Ich wusste ziemlich genau, was sie wohl gesehen hatten.

Es war etwas, woran ich nicht erinnert werden musste.

Das Wohnzimmerfenster war sperrangelweit offen, doch kein kühlender Windhauch zog herein. Die Welt draußen war blendend hell, von der Nachmittagssonne weiß gebleicht.

«Es ist Sally Palmer», sagte Linda Yates aus heiterem Himmel.

Mir war nicht zu Ohren gekommen, dass sie vermisst wurde. «Wie kommen Sie denn darauf?»

«Ich habe von ihr geträumt.»

Das war nicht gerade die Antwort, die ich erwartet hatte. Ich schaute die Jungs an. Sam, der jetzt ruhiger war, schien nicht zuzuhören. Aber in dem Blick, mit dem Neil seine Mutter ansah, las ich, dass alles, was hier gesagt wurde, sich in dem Moment im Dorf verbreiten würde, in dem er aus dem Haus ging. Sie hielt mein Schweigen für Skepsis.

«Sie stand an einer Bushaltestelle und weinte. Ich fragte sie, was los wäre, aber sie sagte nichts. Dann schaute ich zu Boden, und als ich wieder aufsah, war sie verschwunden.»

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

«Man träumt nie ohne Grund», fuhr sie fort. «Und das war der Grund für diesen Traum.»

«Ich bitte Sie, Linda, wir wissen noch nicht, wer es ist. Es könnte jeder sein.»

Sie schaute mich mit einem Blick an, der sagte, dass ich Unrecht hatte, aber sie fing keine Diskussion an. Ich war froh, als ein Klopfen an der Tür die Ankunft der Polizei ankündigte.

Es waren zwei Beamte, beides Prachtexemplare der Spezies

«So, ihr glaubt also, ihr habt eine Leiche gefunden, ja?», verkündete er vergnügt, wobei er mir einen Blick zuwarf, als ließe er mich auf Kosten der Jungs an einem Witz für Erwachsene teilhaben. Während Sam sich an seine Mutter schmiegte, murmelte Neil Antworten auf seine Fragen, beide eingeschüchtert durch die Autorität in Uniform bei ihnen zu Hause.

Es dauerte nicht lange. Der ältere Polizeibeamte schlug sein Notizbuch zu. «Na gut, dann wollen wir mal losgehen und nachschauen. Wer von euch Jungs zeigt uns, wo es war?»

Sam vergrub den Kopf im Schoß seiner Mutter. Neil sagte nichts, aber er wurde blass. Erzählen war eine Sache. Da noch einmal hingehen eine andere. Ihre Mutter sah mich besorgt an.

«Ich halte das für keine gute Idee», sagte ich. Tatsächlich hielt ich es für eine miserable Idee. Aber ich hatte schon genug mit der Polizei zu tun gehabt, um zu wissen, dass man mit Diplomatie weiter kam als mit Konfrontation.

«Und wie sollen wir sie dann finden, wenn keiner von uns sich hier auskennt?», entgegnete er.

«Ich habe eine Karte im Wagen. Ich kann Ihnen den Weg zeigen.»

Der Polizist versuchte nicht, sein Missfallen zu verbergen. Wir gingen hinaus und blinzelten angesichts der plötzlichen Helligkeit. Das Haus war das letzte in einer Reihe kleiner Steincottages. Unsere Wagen parkten auf einem Weg am Ende der Straße. Ich nahm die Karte aus meinem Landrover

«Die Stelle liegt ungefähr drei Meilen von hier. Sie müssen den Wagen stehen lassen und über das Marschland in den Wald gehen. Nach Aussage der Jungs müsste die Leiche irgendwo dort in der Gegend sein.»

Ich zeigte das Gebiet auf der Karte. Der Polizist brummte.

«Ich habe eine bessere Idee. Wenn Sie nicht wollen, dass einer der Jungs uns hinführt, bringen Sie uns doch hin!» Er schenkte mir ein unfreundliches Grinsen. «Sie scheinen sich hier auszukennen.»

Ich konnte ihm ansehen, dass mir keine Wahl bleiben würde. Ich sagte ihnen, sie sollten mir folgen, und fuhr los. Das Innere des alten Landrovers roch nach heißem Plastik. Ich kurbelte beide Fenster so weit wie möglich herunter. Das Lenkrad verbrannte mir die Hände, als ich es umklammerte. Als ich sah, wie weiß meine Fingerknöchel waren, versuchte ich mich zu entspannen.

Die Straßen waren eng und kurvenreich, aber es war nicht weit. Ich parkte auf einem zerfurchten Halbkreis ausgedörrter Erde, die Beifahrertür streifte eine vertrocknete Hecke. Hinter mir kam der Polizeiwagen ruckelnd zum Stehen. Die zwei Beamten kletterten heraus, der ältere zog sich die Hose über den Bauch. Der jüngere, mit Sonnenbrand und Ausschlag vom Rasieren, hing ein bisschen zurück.

«Es gibt einen Pfad durch den Sumpf», erklärte ich ihnen. «Der führt Sie zum Wald. Sie müssen ihm nur folgen. Es können nicht mehr als ein paar hundert Meter sein.»

Der ältere Polizist wischte sich den Schweiß vom Kopf. Unter den Achselhöhlen hatte sein weißes Hemd dunkle,

«Dafür ist es zu heiß. Sie wollen uns nicht vielleicht zeigen, wo es Ihrer Meinung nach ist?»

Er klang halb hoffnungsvoll, halb spöttisch.

«Wenn Sie erst einmal im Wald sind, kann ich Ihnen auch nicht mehr weiterhelfen», sagte ich ihm. «Achten Sie einfach auf Maden.»

Der Jüngere lachte auf, hielt aber inne, als der andere ihn böse anschaute.

«Sollten Sie das nicht der Spurensicherung überlassen?», meinte ich.

Er schnaubte. «Die werden sich bedanken, wenn wir sie wegen eines gammeligen Rehs rufen. Und das ist es meistens.»

«Die Jungs sehen das anders.»

«Ich schaue lieber erst mal selbst nach, wenn Sie nichts dagegen haben.» Er gab dem Jüngeren ein Zeichen. «Bringen wir es hinter uns.»

Ich schaute zu, wie die beiden durch eine Lücke in der Hecke kletterten und auf den Wald zugingen. Er hatte mich nicht gebeten zu warten, und eigentlich gab es keinen Grund zu bleiben. Ich hatte sie so weit gebracht, wie ich konnte; der Rest war ihre Sache.

Doch ich blieb. Ich ging zum Landrover und holte eine Flasche Wasser unter dem Sitz hervor. Es war lauwarm, aber mein Mund war trocken. Ich setzte meine Sonnenbrille auf, lehnte mich gegen den staubigen grünen Kotflügel und schaute Richtung Wald, dahin, wohin die Polizeibeamten gingen. Sie waren bereits in der flachen Ebene des Sumpflandes verschwunden. Bei der Hitze flirrte die dunstige Luft, und ringsum war das Summen und Zirpen von Insekten zu

Ich rührte mich immer noch nicht fort.

Kurz darauf sah ich die beiden Gestalten zurückkommen. Ihre weißen Hemden wippten vor den ausgeblichenen Grasbüscheln. Noch ehe sie bei mir waren, sah ich, wie blass sie waren. Der Jüngere hatte einen feuchten Fleck Erbrochenes auf seinem Hemd, der ihm nicht bewusst zu sein schien. Wortlos reichte ich ihm die Wasserflasche. Er nahm sie dankbar.

Der Ältere wich meinem Blick aus. «Hier draußen kriege ich bestimmt einen Scheißempfang», brummte er, während er zum Wagen ging. Er versuchte, wieder seine frühere Schroffheit aufzusetzen, schaffte es aber nicht ganz.

«Dann war es also kein Reh», sagte ich.

Er sah mich düster an. «Ich glaube, wir brauchen Sie hier nicht mehr.»

Er wartete, bis ich im Landrover war, bevor er seinen Notruf abgab. Als ich wegfuhr, war er immer noch am Funkgerät. Der jüngere Beamte starrte auf seine Füße, die Wasserflasche baumelte in seiner Hand.

Ich machte mich auf den Weg zurück zur Sprechstunde. Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, aber ich hatte ein Netz aufgespannt, mit dem ich sie zurückhielt wie Fliegen. Doch obwohl ich mich bemühte, nichts an mich herankommen

Ich fuhr geradeaus weiter. Zu Sally Palmers Hof.