Die Erzählungen erschienen 2014 in Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Erzählungen 1921 – 1934, Band 13, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2021
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Veröffentlicht im Einvernehmen mit The Estate of Vladimir Nabokov
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Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Coverabbildung Dmitri Nabokov Archive, The Nabokov Estate; nach: Daniela Rippl: Vladimir Nabokov. Sein Leben in Bildern und Texten. Berlin 1998
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN 978-3-644-00732-1
www.rowohlt.de
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ISBN 978-3-644-00732-1
Das falsche Entstehungsdatum (1924) bezieht sich auf einen Nachdruck in der Zeitung «Rul», der dort am 15., 17., 18. und 19. Dezember 1929 erschien.
In Tschechows Novelle duellieren sich zwei Russen in einer Kleinstadt am Schwarzen Meer, weil der eine die Lebensführung des anderen missbilligt (dieser lebt mit einer verheirateten Frau zusammen, die ihn langweilt und der er entrinnen möchte) und dauernd davon spricht, dass er Menschen dieses Schlags der Menschheit zuliebe gerne ausrotten würde. «Ehre» spielt für beide keine Rolle, sie halten Duelle für überholt und sinnlos, rutschen aber fast automatisch wegen eines zweideutigen Satzes in ihr eigenes Rencontre, bei dem jedoch keiner zu Schaden kommt. [D.E.Z.]
Eins der bekanntesten russischen Quasi-Volkslieder (Wetschernij swon, wörtl. ‹Abendglocke›, vorzugsweise für Männerchor mit Bass- oder Tenorsolo, geschrieben 1828 von dem Dichter und Übersetzer Iwan Koslow (1779–1840), nach einem Gedicht (‹Those evening bells›) des irischen Dichters Thomas Moore, vertont von Alexander Alabieff, einem der Begründer des russischen Kunstlieds.
Anspielung auf die Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajevo, die mittelbar den Ersten Weltkrieg auslöste.
Mayne Reid (1818–1883), amerikanischer Abenteuerschriftsteller irischer Herkunft, schrieb hauptsächlich Romane über den Wilden Westen, die auch bei russischen Jungen populär waren und die Nabokov im Alter von etwa zehn Jahren sehr schätzte, besonders The Headless Horseman (Der kopflose Reiter).
Lenins eigentlicher Name war Wladimir Iljitsch Uljanow.
Anmerkung des Autors: In dieser Geschichte sind natürlich alle Merkmale und Umstände, die einen Hinweis auf den echten Martyn geben könnten, absichtlich verändert. Ich sage das, damit Neugierige nicht vergebens «den Tabakladen an der Ecke» suchen.
GPU: Von 1922 bis 1934 der Name der sowjetischen Geheimpolizei. Die erste politische Polizei nach der Revolution war bis 1922 die Tscheka, und nach ihr hießen die Angehörigen der Staatssicherheit im Ostblock, auch die der Nachfolgeorganisationen, ‹Tschekisten›.
Walter de la Mare (1873–1956), englischer Schriftsteller (Romane, Kurzgeschichten, Kinderbücher), Gegner des Realismus.
Das Maskottchen des französischen Reifenherstellers Michelin, genannt ‹Bibendum› oder ‹Bonhomme Michelin›, ist ein Männchen aus übereinandergestapelten Autoreifen.
‹Jean Bart›: Großlinienschiff der französischen Marine, 1911 gebaut, im Ersten Weltkrieg als Munitionstransporter im Mittelmeer eingesetzt, im April 1919 am Beschuss von Sewastopol beteiligt (gerade als Nabokov und seine ganze Familie vor den Bolschewiki aus Sewastopol nach Konstantinopel flohen), nach 1920 repariert und in Toulon stationiert. Es ist also möglich, dass der Exilrusse Nikitin in der Prostituierten Ljalja eine Russin wiedererkennt, der er ein paar Jahre vorher auf der Krim begegnet war.
In der englischen Fassung der Erzählung, herausgegeben von Dmitri Nabokov (1995), ist der Rest der Geschichte weggelassen, nicht aber in dem von Nabokov selbst herausgegebenen Sammelband «A Russian Beauty» (1973).
Isaak Iljitsch Lewitan (1860–1900), produktiver russischer Maler der realistischen Stilrichtung.
Was der Schlossherr beschreibt, ist eindeutig das Gemälde «Dorotea» von Fra Sebastiano del Piombo, Geburtsname Sebastiano Luciani (1485–1547). Es ist auch bekannt als «Bildnis einer jungen Römerin» oder «Die Venezianerin»; Sebastiano siedelte 1511 aus Venedig auf Wunsch des Papstes nach Rom über. «Dorotea» malte er 1512/13, und man ist offenbar nicht sicher, ob das Porträt noch eine Venezianerin oder schon eine Römerin darstellt; Römerin wäre wahrscheinlicher. Das Bild wurde 1885 von den staatlichen Berliner Museen aus der Schloss-Blenheim-Sammlung des Herzogs von Marlborough erworben (daher vielleicht das Schlossambiente von Nabokovs Erzählung) und hing in den 1920er Jahren im Berliner Kaiser-Friedrich-Museum (dem heutigen Bode-Museum), aus dem Nabokov es wahrscheinlich kannte; heute hängt es in der Berliner Gemäldegalerie. In seinem Roman «Gelächter im Dunkel» (1932) lässt Nabokov seine Hauptfigur, einen Berliner Kunstkritiker, eine kenntnisreiche Biographie über Sebastiano verfassen, der in der Kunstwelt zu der Zeit praktisch unbekannt war; eine fiktive, aber geradezu prophetische Studie. In Venedig mit Bellini und Giorgione befreundet, fand Sebastiano in Rom einen Konkurrenten in Raffael und überwarf sich mit Michelangelo, dem er den als beleidigend empfundenen Rat gegeben haben soll, das «Jüngste Gericht» in der Sixtinischen Kapelle nicht als (männliches) Fresko, sondern («weibisch») in Öl auszuführen. Nach diesem Zerwürfnis verriss ihn Giorgio Vasari in seinem maßgebenden Werk über die Künstler der Renaissance in Grund und Boden, und mit der Zeit geriet er fast vollständig in Vergessenheit. Erst 2008, als ihm in Rom und Berlin Einzelausstellungen gewidmet worden waren (also 72 Jahre nach Nabokovs «Venezianerin» und 66 Jahre nach dessen «Gelächter im Dunkel») fand er wieder allgemeine internationale Anerkennung. (Siehe auch Gerard de Vries/D. Barton Johnson: «Nabokov and the Art of Painting», Amsterdam: Amsterdam University Press, 2006.)
Der Oberst hält sich für einen Sachverständigen, aber einige kleine Fehler in seinem Vortrag verraten, dass er das im Unterschied zu McGore nicht ist – sondern nur ein Pseudoexperte, der leicht auch eine Kopie für echt halten könnte. So schrieb Sebastiano keine Sonette. Was der stolze Kunstsammler belehrend vorträgt, ist durchsetzt mit dem Klatsch des frühen 16. Jahrhunderts. Die Feindschaft zwischen Sebastiano und Raffael wegen der Fornarina war nur ein Gerücht. La Fornarina (die Bäckerin) war der Beiname von Margherita Luti, Raffaels Modell und möglicherweise auch Geliebte. Er malte sie, Sebastiano tat es nicht. Dieser wurde mit ihr nur wegen einer Verwechslung in Beziehung gebracht. In der Blenheim-Sammlung wurde nämlich Sebastianos Dorotea fälschlich als Raffaels Fornarina geführt. (Siehe Gavriel Shapiro: «The Sublime Artist’s Studio – Nabokov and Painting», Evanston, IL: Northwestern University Press, 2009.)
Der Atlasspinner (wissenschaftlich Attacus atlas, L., 1758) ist einer der größten Nachtfalter der Welt, zuhause in Indien und im ganzen tropischen Südostasien bis hinauf nach China. Seine Spannweite beträgt bis zu 240 Millimeter. Seine Flügelspitzen sind stark gebogen und verleihen ihnen das Aussehen eines Schlangenkopfes. Möglicherweise ist er auch der kurzlebigste aller Nachtfalter. Der erwachsene Falter ist zum Fressen nicht ausgerüstet, sodass er nur so lange lebt, wie die Fettreserven ausreichen, die seine riesige grüne, bis zu 120 Millimeter lange und bis zu 20 Millimeter dicke Raupe angelegt hat, nämlich etwa zwölf Tage.
Sie will kyrillisch ХВ schreiben, die Abkürzung für Христос воскресе!, Christus ist auferstanden!
‹Dädalisch›: Der Erfinder Dädalus war eine Gestalt der griechischen Mythologie. Um der Gefangenschaft unter König Minos auf Kreta zu entkommen, baute er aus Vogelfedern und Kerzenwachs für sich und seinen Sohn Ikarus Flügel, mit denen beide davonflogen. Den Warnungen seines Vaters zum Trotz flog Ikarus zu hoch und kam der Sonne zu nahe, sodass das Wachs seiner Flügel schmolz, er ins Meer stürzte und starb. Dädalus war also sozusagen ein antiker Schneider von Ulm oder Lilienthal, ein früher Erfinder des Flugzeugs, das darum hier ‹dädalisch› brummt.
Gemeint ist möglicherweise das großformatige Gemälde Die Zerstörung von Pompeji und Herculaneum von John Martin (1822) in der Londoner Tate Gallery.
Gemeint ist möglicherweise die Romanze, die in Charles Gounods Oper Faust (1859) Margarethes Bruder am Anfang des Dritten Aktes neben einem Rosen- und Fliederbusch singt: «Blümlein traut, sprecht für mich / Recht inniglich! / Liebesgruss zu ihr traget, / ‹Bist so schön›, schmeichelnd saget …»
Die beiden Opern sind «Ruslan und Ljudmila» (1842) von Michail Glinka nach einem Versepos von Alexander Puschkin und «Eugen Onegin» (1878) von Peter Tschaikowskij nach dem Versroman von Puschkin.
Es handelt sich um das bekannte Gemälde «Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci» (1852) von Adolph Menzel. Im Hintergrund rechts steht Nabokovs Vorfahr, der Komponist und Hofkapellmeister Carl Heinrich Graun (1704–1759).
Den Stadtteil Moabit gibt es realiter, aber eine St.-Markus-Straße findet sich weder dort noch anderswo in Berlin.
Der Dichter Michail Lermontow starb am 27. Juli 1841 26-jährig bei einem Duell mit Nikolai Martynew in Pjatigorsk/Nordkaukasus am Fuß des fünfgipfeligen Berges Maschuk. Lermontow hatte nicht die Absicht, seinen Gegner zu treffen, und ging wahrscheinlich davon aus, dass auch dieser danebenschießen wolle.
In Puschkins Erzählung «Der Schuss», enthalten in «Belkins Geschichten» (1830), isst ein Duellant aus einer Mütze (nicht aus einer Papiertüte) Kirschen, während sein Gegner für seinen Schuss zielt. Dieser schließt daraus, dass anderen ihr Leben nichts wert ist, und bricht das Duell ab.
Frz. abattoir: Schlachthof.
In der Beschreibung der Route der Duellanten fällt kein Name außer einmal «Wannsee», aber sie war Nabokov offenbar so vertraut, dass sich aus einigen konkreten Details, die er erwähnt, Ort und Weg rekonstruieren lassen. Das Duell sollte offenbar abseits der Chaussee im ausgedehnten Kiefernwald zwischen dem Bahnhof Seddin und dem Seddiner See stattfinden, etwa 45 km südwestlich des Stadtzentrums von Berlin. Das Ziel der Zugfahrt muss der Bahnhof von Seddin an der früher so genannten «Wetzlarer Bahn» von Berlin über Wannsee gewesen sein. Vom Bahnhof Seddin gehen sie zu dritt «die Chaussee» entlang, die zum Seddiner See führt, bis sie an einer Abzweigung zu einem Gasthof kommen. Dort entflieht Anton Petrowitsch seinen Sekundanten über den Hinterhof und gelangt durch unwegsames abschüssiges Gelände an einen größeren See (den Seddiner See), wo ihm ein Fischer den Weg zurück in Richtung Wannsee weist. Darauf irrt er ein Stück am Seeufer entlang und durch den Wald, bis er wieder auf Gleise stößt. Das könnte am 9 km entfernten Bahnhof Michendorf gewesen sein, und von dort fährt er wie auf der Hinfahrt auf der Strecke der Wetzlarer Bahn zum Bahnhof Wannsee zurück und weiter mit der Wannseebahn, die 1927 noch keine elektrifizierte S-Bahn war, zum Potsdamer Bahnhof.
Chrysaliden (gebildet zu grch. chrýseos, ‹golden›) nannten Sammler früher die mit goldglänzenden Flecken bedeckten Puppen mancher Schmetterlinge. Engl. aurelian (Schmetterlingssammler, der engl. Titel der Erzählung) ist ebenfalls eine Anspielung auf deren goldene Flecken, nämlich eine Ableitung von lat. aureus, ‹golden›.
Ein realer Entomologe und eine Autorität: Hans Rebel (1861–1940), Professor für Zoologie in Wien, Direktor des dortigen Naturhistorischen Museums und Mitautor des damals maßgebenden Catalogs der Lepidopteren des Palaearctischen Faunengebiets von Otto Staudinger, letzte Auflage 1901.
Bei diesem Fund handelt es sich um den in Westeuropa und Russland nicht seltenen Lindenschwärmer (Mimas tiliae, L., 1758).
Otto Staudinger (1830–1900), deutscher Entomologe und Insektenhändler, Gründer der Firma Staudinger & Bang-Haas in Dresden-Blasewitz, Verfasser eines damals für jeden Sammler unerlässlichen Schmetterlingskatalogs, dem Nabokov allerdings kritisch gegenüberstand, unter anderem, weil er zu viele Unterarten und Aberrationen zu eigenen Arten erhoben hatte (was dem Geschäft nützte).
Curt Eisner (1890–1981), Berliner Geschäftsmann (Stahlgeschäft) und Amateurentomologe, 1936 in die Niederlande emigriert, führender Experte für Apollofalter.
Tatsienlu ist der alte tibetische Name der Stadt Kangding, an einer alten Handelsstraße im Nordwesten der chinesischen Provinz Sichuan im lange umkämpften Grenzgebiet zu Tibet in 2600 Meter Höhe gelegen. Viele Insekten (und andere Tiere und Pflanzen, speziell Rhododendren) wurden von französischen katholischen Missionaren, die hier ein sehr karges, gefährdetes und einsames Leben führten, in dem bis dahin unerforschten bergigen Gebiet um Tatsienlu entdeckt, unter anderen von Pater Léonard-Louis Déjean (1846–1906).
… Ragusa ist hier ein früherer Name der Stadt Dubrovnik in Kroatien, nicht die gleichnamige Stadt auf Sizilien.
«Inseln der Seligen» ist eine alte Bezeichnung für die Inselgruppen im Ostatlantik (Azoren, Madeira, Kanaren und Cap Verde).
Die Sierra de Albarracín, ein Gebirgszug bei Teruel in Aragonien, ist unter Entomologen bis heute bekannt für ihren Schmetterlingsreichtum. Es wurden 1200 Arten gezählt.
Der Artname dieses Schmetterlings verrät dem Leser auch, um welchen Nachtfalter es sich gehandelt haben dürfte: Synanthedon uralensis (Bartel, 1906) aus der Familie der Glasflügler (Sesien): kleine Falter, die andere Insekten wie Bienen, Wespen, Ameisen täuschend ähnlich nachahmen. Was Pilgram dem Besucher zeigt und verkauft, dürfte eine mehr oder minder vollständige Sammlung der Gattung Synanthedon sein, die zurzeit mehr als 90 Arten umfasst.
Der Schlesier Oskar Theodor Baron (1847–1926) war eigentlich Seemann, Geodät und Ingenieur, den es nach Kalifornien und Mexiko verschlug, wo er nebenbei naturkundliche Studien betrieb. Sein Hauptgebiet waren mittelamerikanische Kolibris. Durch einen glücklichen Zufall fand er in Mexiko einen bis dahin völlig unbekannten Edelfalter, Baronia brevicornis (Salvin, 1893), der sich als der einzige Vertreter seiner Gattung erweisen sollte.
‹Woskressensk› ist der Name, den Nabokov mehrfach für das Dorf Roshdestweno verwendet hat, wo sich das schlossartige Herrenhaus seines Onkels Wassilij Rukawischnikow mit seinen ausgedehnten Parks und Ländereien befand. Gut 4 km nördlich von Roshdestweno lag der Landsitz der Familie Nabokov, Wyra. (Auf der Karte, die Nabokov für seine Memoiren «Erinnerung, sprich» zeichnete, sind Roshdestweno und Wyra nur halb so weit voneinander entfernt.) So viele Details dieser Erzählung entsprechen der farbigen Beschreibung, die Nabokov in seinen Memoiren von Wyra, Roshdestweno und deren Umgebung gegeben hat, dass der Leser Mühe hat, die Familie Koslow, die hier den Namenstag ihres ältesten Sohns Wladimir feiert, nicht ohne weiteres mit der Familie Nabokov gleichzusetzen. Sogar der Hauslehrer Jelenskij und die Gouvernante ‹Mademoiselle› kommen vor, die Laterna-magica-Vorführung und der Pavillon mit den Buntglasfenstern. Wenn der Besuch von einem Gut in etwa zehn Werst Entfernung kommt und sein Ziel gleich hinter Woskressensk liegt, dann muss die Namenstagsfeier auf dem Pendant des Nabokov’schen Anwesens Wyra stattfinden, und das Gut, von dem der Besuch nach Wyra kommt, muss das Pendant zu Drushnoselje sein, dem Landsitz der Fürsten Sayn-Wittgenstein. In diesem Fall beschriebe die Geschichte also nicht in leicht getarnter Form den Besuch des jungen Vladimir Nabokov auf dem Gut von Verwandten, sondern der gekränkte ‹Peter› der Geschichte wäre einer seiner Cousins, Fürst Pjotr Sayn-Wittgenstein aus Drushnoselje, 1902 geboren, drei Jahre jünger als Vladimir Nabokov.
Isba: ein einfaches russisches Bauernhaus aus Holz.
Caran d’Ache: Künstlername des moskaubürtigen französischen Karikaturisten Emmanuel Poiré (1818–1909). Der Name ist eine französische Umschrift des russ. Wortes karandasch, Bleistift (frz. ache allein heißt Sellerie). Ihm zu Ehren nannte eine 1924 gegründete Genfer Manufaktur für Bleistifte und anderes Schreibgerät sich Caran d’Ache.
Zitat aus Puschkins berühmtem Gedicht Und ob ich einsame Straßen entlangschlendere … aus dem Jahr 1829. Die ganze zitierte Strophe lautet: «Und wo wird mir das Schicksal den Tod schicken? / in der Schlacht, auf der Wanderschaft, in den Wellen? / Oder wird das benachbarte Tal / meine erkaltete Asche aufnehmen?» (Deutsch von Rudolf Pollach)
Serafim hat zufällig in dem Inzestroman Bruder und Schwester (1929) des «linken» Leonhard Frank gelesen.
Russ. mimo, tschitatel!, wörtlich «geh weiter, Leser!», ist ein Zitat aus Turgenjews Roman Rauch (1867), Kapitel 19, bedeutet aber laut Nabokov dort nicht eigentlich «falsch», sondern etwa «halte dich nicht bei diesen schmuddeligen Einzelheiten auf» (siehe Brian Boyd, Ada online, 43.33).
Die Konstitutionell-Demokratische Partei, nach ihren Anfangsbuchstaben KD volkstümlich auch ‹Kadetten› genannt, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine der stärksten demokratischen Parteien in Russland. Gründer und Parteivorsitzender war der Historiker Pawel Miljukow, Mitbegründer Nabokovs Vater W.D. Nabokoff.
Das Gebet einer Jungfrau ist ein Ohrwurm aus dem Jahr 1856, ein Salonstück für Klavier der polnischen Komponistin Tekla Baądarzewska-Baranowska, von manchen für den Inbegriff des Kitsches gehalten. Kreutzer-Sonate wird gemeinhin die Sonate Nr. 9 A-Dur für Pianoforte und Violine von Ludwig van Beethoven aus dem Jahr 1802 genannt. Beethoven hatte sie dem französischen Pianisten Rodolphe Kreutzer gewidmet, der sie für unspielbar schwierig gehalten haben soll.
Historischer deutscher Name der Kleinstadt Narva-Jõesuu am Finnischen Meerbusen im äußersten Nordosten Estlands.
Lat. pudor agrestis, «bäurisches Schamgefühl».
Die Wunde auf der Lippe deutet auf Herpes oder Syphilis hin. «Kostjas» drohende Schlussgedanken machen es wahrscheinlicher, dass er sich vor nicht allzu langer Zeit selber mit Syphilis infiziert und diese jetzt weitergegeben hatte.
ICH ZOG GEDANKENVERLOREN mit der Feder den zitternden runden Schatten des Tintenfasses nach. In einem fernen Zimmer schlug die Uhr, und mir Träumer wollte es scheinen, als klopfe wer an die Tür – erst leise, dann immer lauter; er klopfte zwölfmal hintereinander und verharrte erwartungsvoll.
«Ja, ich bin da, treten Sie ein …»
Die Türklinke knarrte schüchtern, die Flamme der tränenden Kerze neigte sich, und seitwärts tauchte er aus dem Rechteck der Finsternis – grau, gebeugt, besät mit dem Blütenstaub einer frostigen Sternennacht.
Ich kannte sein Gesicht – oh, ich kannte es lange!
Das rechte Auge lag noch im Schatten, das linke sah scheu mich an, länglich und rauchgrün, und rot die Pupille, ein rostiger Tupfer … Dies moosgrüne Haarbüschel an der Schläfe, die blässlich silbrige, kaum sichtbare Braue, und erst das lächerliche Fältchen am schnurrbartlosen Mund – wie rüttelte, wie wühlte das alles mein Gedächtnis auf!
Ich erhob mich – er schritt näher.
Das dünne Mäntelchen war nicht nach rechts geknöpft, sondern auf Frauenart; in der Hand hielt er die Mütze – nein, ein dunkles, ungefüges Bündel, eine Mütze hatte er überhaupt keine …
Ja natürlich, ich kannte ihn, hatte ihn wohl gar geliebt – nur fiel mir einfach nicht ein, wo und wann wir uns begegnet waren, dabei waren wir uns sicher oft begegnet, sonst hätten sich diese preiselbeerroten Lippen mir nicht so fest eingeprägt, die spitzen Ohren, der spaßige Adamsapfel …
Unter Willkommensgemurmel drückte ich seine leichte, kalte Hand, griff ich zur Lehne des altersschwachen Sessels. Er ließ sich nieder wie eine Krähe auf einen Baumstumpf und fing überstürzt an zu sprechen.
«Grausig, draußen auf den Straßen. Darum komm ich auch rein. Komm dich besuchen. Erkennst mich? Haben wir zwei doch so manchen lieben Tag herumgetollt, uns im Wald getummelt … Dort – in der Heimat … Das hast du doch nicht vergessen?»
Seine Stimme blendete mich förmlich, mir flimmerte es vor den Augen, schwindelte der Kopf; ich entsann mich des Glücks – vibrierenden, maßlosen, unwiederbringlichen Glücks …
Nein, unmöglich! Ich bin allein. Alles nur ein bizarres Hirngespinst! Doch neben mir saß tatsächlich jemand – knochig, linkisch, an den Füßen deutsche Stiefelchen, und seine Stimme tönte, rauschte, golden, saftig grün, vertraut, und was er sagte, war so schlicht, wie die Leute reden …
«Siehst du, du entsinnst dich noch … Ja, ich bin’s, der Waldgeist von früher, der neckische Schalk. Auch ich habe flüchten müssen …»
Er seufzte tief, und erneut war mir, als sähe ich ziehende Wolken, hoch wogendes Laub, Birkenrinde, schimmernd wie Schaumspritzer, und über allem ein ewiges, wonniges Tosen … Er neigte sich zu mir, schaute mir sanft in die Augen.
«Weißt du noch, unser Wald, die schwarzen Tannen, weißen Birken? Alles haben sie abgeholzt … Ein solches Leid, unerträglich, vor meinen Augen krachten, stürzten die Birken – doch wie sollte ich helfen? In den Sumpf haben sie mich gescheucht, geheult hab ich, geplärrt, wie die Rohrdommel geröhrt – und dann Hals über Kopf in den nächsten Forst.
Dort war mir so weh zumut, das Schluchzen nahm kein Ende … Gerade wollte ich mich eingewöhnen – schwupp! war der Forst weg, nur noch graue Asche. Musste ich also wieder auf Wanderschaft. Hab mir ein schönes Wäldchen gesucht, ein dichtes, dunkles, frisches – aber irgendwas war nicht geheuer … Oft hab ich gespielt vom Abendrot zum Morgenrot, grimmig gepfiffen, in die Hände geklatscht, Leute erschreckt … Weißt ja selbst: In meinem Dickicht hast du dich einst verirrt, du und ein weißes Kleidchen, und ich hab die Pfade zu Knoten geschlungen, die Baumstämme Karussell fahren lassen, hab durchs Laubwerk geirrlichtert – die ganze Nacht dich gefoppt. Aber war ja alles nur Spaß, zu Unrecht haben die Leute mich angeschwärzt … Nun jedoch wurde ich zahm, es war keine fröhliche neue Heimstatt. Tag und Nacht ringsum ein Knacken. Erst denk ich, einer von den Unsern, ein Bruder Waldgeist treibt sein Wesen, hab gerufen, gelauscht. Das knackt sich eins und rattert – nein, unsre Art ist das nicht. Eines Abends komme ich auf eine Lichtung gesprungen, seh, da liegen Menschen – auf dem Rücken, auf dem Bauch. Oho, denk ich, die weck ich auf, denen mach ich Beine. Also, die Zweige geschüttelt, mit Zapfen geschmissen, geraschelt, geblökt … Eine volle Stunde hab ich mich abgeplagt – alles umsonst. Und wie ich näher hinseh, steh ich starr vor Schreck. Beim einen hängt der Kopf nur noch an einem roten Fädchen, beim nächsten ist der Bauch ein Haufen dicker Würmer … Das ging über meine Kraft. Mit Gebrüll bin ich auf und davon …
Lang hab ich die Wälder durchstreift, da und dort, doch nirgends war’s ein Leben. Mal Stille, alles ausgestorben, todlangweilig, dann wieder solch ein Grauen, ich denk lieber nicht dran zurück. Schließlich hab ich mich aufgerafft, mich in ein Bäuerlein verwandelt, einen Vagabunden mit Schnappsack, und bin fort für immer: Leb wohl, altes Russland! Mein Bruder, der Wassergeist, kam mir da zu Hilfe. Hat sich auch in Sicherheit gebracht, der arme Tropf. Nicht genug wundern konnte er sich: Was für Zeiten, sagt er, ein Elend! Schon wahr. Obwohl, er hat einiges ausgeheckt früher, Menschen angelockt, arg gastfrei war er, doch wie hat er sie dafür gehätschelt, liebkost auf seinem güldenen Grund, mit was für Liedern eingelullt! Heutzutag, sagt er, kommen bloß noch Leichen geschwommen, schockweis, massenweis, und das Wasser im Fluss – wie flüssiges Erz, dick, warm und klebrig, den Atem verschlägt’s einem … Er hat mich dann mitgenommen. Nun kümmert er in einem fernen Meer dahin, mich hat er unterwegs an einem neblichten Ufer abgesetzt: Geh, Bruder, such dir ein Strauchwerk. Nichts hab ich gefunden, und so kam ich hierher in diese fremde, schreckliche, steinerne Stadt. Siehst du, ich bin nun ein Mensch worden – steife Kragen, Stiefelchen, alles, was dazugehört, sogar zu reden wie sie hab ich gelernt …»
Er verstummte. Seine Augen glänzten wie feuchte Blätter, die Arme hielt er verschränkt, und im schwankenden Widerschein der zerschmolzenen Kerze glimmerten aufs seltsamste die fahlen, nach links gekämmten Haare.
Die helle Stimme ertönte von neuem: «Ich weiß, auch dir ist weh zumut, deine Wehmut aber – gegen meine unbändige, stürmische ist sie nichts als das gleichmäßige Atemholen eines Schlafenden. Bedenk doch: Aus unserm Stamm ist keiner mehr in Russland. Die einen stiegen auf als Nebelschwaden, die andern sind verstreut über die ganze Welt. Die heimischen Flüsse sind voll Trübsal, keines Necks schalkhafte Hand verspritzt Mondenflitter, verwaist, verstummt sind die Glockenblumen, die noch nicht abgemähten, vordem des leichten Flurgeists, meines Nebenbuhlers, blaues Glockenspiel. Der struppige, gutmütige Hausgeist hat weinend dein entehrtes, besudeltes Haus verlassen, und es verdorren die Haine, die lieblich lichten, zauberisch düsteren Haine …
Doch wir, Russland, sind dein Schöpfergeist, deine unfassliche Schönheit, Zauber aus Jahrhunderten … Und sind nun alle fort, sind fort, vertrieben von dem wahnsinnigen Landmesser.
Freund, ich sterbe bald, sag mir etwas, sag, dass du mich liebst, das heimatlose Gespenst, rück näher, gib mir deine Hand …»
Zischend verlosch die Kerze. Kalte Finger berührten die meinen, das traurige, vertraute Lachen klang auf und erstarb.
Als ich das Licht anzündete, saß niemand mehr im Sessel … niemand … Doch im Zimmer roch es wundervoll zart nach Birkenrinde, nach feuchtem Moos …
VON EINEM INSPIRIERTEN TRAUMWIND aus der Nacht des Tales getragen, stand ich unter einem klaren Himmel aus reinem Gold am Rand einer Straße in einem außerordentlich bergigen Land. Ohne hinzusehen, ahnte ich den Glanz, die Ecken und Facetten eines ungeheuren Klippenmosaiks, blendende Abgründe und das spiegelgleiche Glitzern einer großen Menge von Seen, die irgendwo unter, hinter mir lagen. Meine Seele war ergriffen von dem Gefühl eines himmlischen Irisierens, der Freiheit, der Erhabenheit: Ich wusste, ich war im Paradies. Dennoch erhob sich in dieser Erdenseele ein einziger Erdengedanke wie eine stechende Flamme – und wie eifersüchtig, wie finster schirmte ich ihn ab gegen die Aura der gewaltigen Schönheit um mich her. Dieser Gedanke, diese nackte Leidensflamme, war der Gedanke an meine irdische Heimat. Barfuß und ohne einen Pfennig erwartete ich am Rand dieser Bergstraße die gütigen, leuchtenden Himmelsbewohner, indes ein Wind wie das Vorgefühl eines Wunders in meinem Haar spielte, die Schluchten mit einem kristallenen Summen füllte und in der sagenhaften Seide der Bäume raschelte, die zwischen den Felsklippen entlang der Straße in Blüte standen. Hohes Gras leckte an den Baumstämmen empor wie die Zungen eines Feuers; große Blüten lösten sich geräuschlos von ihren glitzernden Zweigen, schwebten wie bis zum Rand mit Sonnenschein gefüllte fliegende Pokale durch die Luft und blähten ihre durchscheinenden konvexen Blätter. Ihr süßes, feuchtes Aroma erinnerte mich an die besten Dinge, die ich in meinem Leben erfahren hatte.
Plötzlich füllte sich die Straße, an der ich atemlos von all dem Schimmer stand, mit einem Sturm von Flügeln. Aus den blendenden Tiefen strömten die Engel herbei, die ich erwartete, und ihre zusammengelegten Flügel wiesen scharf nach oben. Ihr Schritt war ätherisch; sie waren wie farbige Wolken in Bewegung, und bis auf das verzückte Zittern ihrer strahlenden Wimpern waren ihre transparenten Gesichter unbewegt. Zwischen ihnen flogen türkisfarbene Vögel mit einem glücklichen Mädchenlachen, und mit ihnen des Wegs kamen mit federnden Sprüngen geschmeidige, orangefarbene, phantastisch schwarz getüpfelte Tiere. Die Wesen wanden sich durch die Luft und streckten lautlos ihre Seidenpfoten nach den fliegenden Blüten aus, während sie sich mit blitzenden Augen an mir vorbeidrängten.
Flügel, Flügel, Flügel! Wie kann ich ihre Windungen und ihre Farben beschreiben? Sie waren ohne Maßen stark und weich – gelbbraun, violett, samtschwarz, mit feurigem Staub an den abgerundeten Enden ihrer gebogenen Federn. Wie steile Wolken standen sie gebieterisch über den leuchtenden Schultern des Engels; gelegentlich entfaltete einer in einer Art wunderbarer Verzückung, als könne er sein Glück nicht länger zurückhalten, plötzlich einen einzigen Augenblick lang seine geflügelte Schönheit, und es war, als bräche die Sonne hervor wie das Funkeln von Millionen Augen.
Sie schritten in Scharen an mir vorüber, den Blick himmelwärts gerichtet. Ihre Augen waren wie jubelnde Abgründe, und in diesen Augen sah ich die Synkope des Flugs. Sie kamen mit gleitenden Schritten, überschüttet mit Blumen. Die Blumen verloren im Flug ihren feuchten Schimmer; die glatten, strahlenden Tiere spielten, während sie wirbelten und kletterten; die Vögel tönten vor Glück, während sie hochstiegen und niedertauchten. Ich, ein geblendeter zitternder Bettler, stand am Rand der Straße, und in meiner Bettlerseele plapperte immer wieder der gleiche Gedanke: Rufe ihnen zu, ach, sag ihnen doch, dass es auf diesem herrlichsten von Gottes Sternen ein Land gibt – mein Land –, das in qualvoller Dunkelheit zugrunde geht. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mit der Hand nur einen zitternden Schimmer zu fassen bekäme, würde ich meinem Land eine solche Freude bringen, dass die Menschenseelen auf der Stelle erleuchtet wären und sich unter dem Plätschern und Knistern des wiedergeborenen Frühlings zum goldenen Donner wiedererwachter Tempel zu drehen begännen.
In dem Wunsch, den Engeln den Weg zu verlegen, streckte ich meine bebenden Hände aus, klammerte mich an die Säume ihrer hellen Messgewänder, an die sich wellenden, sengend heißen Ränder ihrer gebogenen Flügel, die mir wie daunenweiche Blumen durch die Hände schlüpften. Ich keuchte, ich stürzte hierhin und dorthin, ich bat sie, außer mir, um Nachsicht, aber die Engel schritten immer nur voran, ohne Notiz von mir zu nehmen, die scharfgeschnittenen Gesichter nach oben gewandt. In Scharen strömten sie zu einem himmlischen Fest, zu einem unerträglich herrlichen Versammlungsplatz, wo eine Gottheit wütete und atmete, an die ich nicht zu denken wagte. Ich sah feurige Spinngewebe, Spritzer, Muster auf riesigen karminroten, rostbraunen, lila Flügeln, und über mich zog in Wellen ein flaumiges Rascheln dahin. Die regenbogengekrönten Vögel pickten, die Blüten lösten sich von schimmernden Ästen und entschwebten. «Warte, hör mich zu Ende an», rief ich und versuchte, die dunstigen Beine eines Engels zu umarmen, aber die Füße glitten ungreifbar und unaufhaltsam durch meine ausgestreckten Hände, und im Vorbeirauschen versengten die Ränder der breiten Flügel nur meine Lippen. In der Ferne füllte sich eine goldene Lichtung zwischen üppigen, farbig leuchtenden Felsen mit dem aufziehenden Gewitter; die Engel entschwanden, das hohe, aufgeregte Gelächter der Vögel versiegte, die Blüten schwebten nicht mehr von den Bäumen; ich wurde schwach, ich verstummte …
Dann geschah ein Wunder. Einer der letzten Engel hielt inne, wandte sich um und kam langsam zu mir herüber. Ich sah seine ausgehöhlten, starrenden, diamantenen Augen unter den imposanten Bögen seiner Augenbrauen. Auf den Rippen seiner ausgebreiteten Flügel glänzte etwas, das wie Reif wirkte. Die Flügel selbst waren grau, ein unbeschreiblicher Grauton, und jede Feder endete in einer silbrigen Sichel. Sein Gesicht, der leicht lächelnde Umriss seiner Lippen und seine gerade klare Stirn, erinnerte mich an Züge, die ich auf Erden gesehen hatte. Es war, als verschmölzen die Rundungen, das Strahlen, der Zauber aller Gesichter, die ich geliebt hatte – die Züge der Menschen, die ich seit langem verloren hatte –, zu einem wunderbaren Antlitz. Als vereinten sich all die vertrauten Töne, die einzeln an mein Gehör drangen, zu einer einzigen vollkommenen Melodie.
Er trat zu mir heran. Er lächelte. Ich brachte es nicht fertig, ihn anzusehen. Aber als ich zu seinen Beinen hinspähte, bemerkte ich ein Netz blauer Adern und ein bleiches Muttermal auf seinen Füßen. Diese Adern, dieser kleine Fleck machten mir klar, dass er die Erde noch nicht ganz verlassen hatte, dass er meine Bitten vielleicht verstünde.
Dann hob ich an, den Kopf gesenkt und meine mit hellem Lehm beschmierten verbrannten Handflächen an meine halbgeblendeten Augen pressend, mein Leid noch einmal zu schildern. Ich wollte erklären, wie wunderbar meine Heimat war und wie schrecklich seine schwarze Synkope, aber ich fand die Worte nicht, die ich brauchte. Hastig und mich wiederholend plapperte ich über Bagatellen, über irgendein abgebranntes Haus, wo einst ein schräger Spiegel den sonnigen Glanz des Parketts reflektiert hatte. Ich plapperte über alte Bücher und alte Linden, über Nippes, über meine ersten Gedichte in einem kobaltblauen Schulheft, über einen grauen, von wilden Himbeeren überwachsenen Feldstein mitten in einem Feld voller Skabiosen und Gänseblümchen – aber das Wichtigste vermochte ich einfach nicht auszudrücken. Ich verhaspelte mich, hörte auf, begann von vorn, und in meiner hilflosen hastigen Rede sprach ich von Zimmern in einem kühlen und hallenden Landhaus, von Linden, von meiner ersten Liebe, von Hummeln, die auf den Skabiosen schliefen. Es kam mir vor, als würde ich jeden Augenblick – jeden Augenblick! – zum Wichtigsten kommen und das ganze Leid meiner Heimat darlegen. Aber aus irgendeinem Grund kamen mir nur winzige, alltägliche Dinge in den Sinn, die außerstande waren zu sprechen oder jene dicken, brennenden, schrecklichen Tränen zu weinen, von denen ich sprechen wollte und nicht konnte …
Ich verstummte, hob den Kopf. Der Engel lächelte ein stilles, aufmerksames Lächeln, sah mich unverwandt mit seinen länglichen Diamantaugen an. Ich hatte das Gefühl, er verstehe mich.
«Verzeih», rief ich und küsste demütig das Muttermal auf seinem hellen Fuß. «Verzeih, dass ich nur von trivialen Nebensachen sprechen kann. Du verstehst trotzdem, mein gutherziger, mein grauer Engel. Antworte mir, hilf mir, sag mir, was meine Heimat retten kann.»
Der Engel umfasste meine Schultern einen Augenblick lang mit seinen taubenartigen Flügeln, sprach ein einziges Wort, und in seiner Stimme erkannte ich alle jene geliebten, jene zum Schweigen gebrachten Stimmen. Das Wort, das er aussprach, war so wunderbar, dass ich seufzend die Augen schloss und meinen Kopf noch tiefer senkte. Der Duft des Wortes und seine Melodie breiteten sich durch mein Geäder aus, gingen in meinem Gehirn auf wie die Sonne; die zahllosen Höhlen in meinem Bewusstsein griffen sie auf und wiederholten sein leuchtendes paradiesisches Lied. Es füllte mich aus. Wie ein fester Knoten pochte es in meiner Schläfe, seine Feuchte bebte auf meinen Wimpern, sein süßer Frostschauer fächelte mein Haar, und himmlische Wärme schüttete es in mein Herz.
Ich rief es, ich schwelgte in jeder seiner Silben, ich hob ungestüm die Augen, die sich mit den strahlenden Regenbogen von Freudentränen füllten …
O Gott – grünlich glüht die Winterdämmerung im Fenster, und ich kann mich nicht erinnern, welches das Wort war, das ich rief.