Michele Weber Hurwitz
Wie ich die Welt in 65 Tagen besser machte
Aus dem Amerikanischen
von Angelika Eisold Viebig
FISCHER E-Books
Michele Weber Hurwitz hat Journalismus studiert und viele Jobs ausprobiert, bevor sie sich ihren Kindheitstraum erfüllte und Autorin wurde. Sie glaubt, dass wir die Welt verändern können, wenn wir uns jeden Tag fünf Minuten Zeit nehmen, um etwas Gutes für jemand anderen zu tun.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.fischerverlage.de
Ein Mädchen. Ein Plan. 65 Tage, um die Welt zu verändern
Ninas Eltern arbeiten nur noch, ihr großer Bruder hat nie Zeit, und ihre beste Freundin hat plötzlich nur noch Klamotten, Make-up und Jungs im Kopf. Höchste Zeit, etwas an ihrem Leben zu ändern, findet Nina. Schluss mit Selbstmitleid! Für den Rest der Sommerferien wird sie jeden Tag heimlich eine gute Tat vollbringen und damit ein für allemal klären: Können kleine Dinge Großes bewirken?
(Ja, sie können.)
Ein herzerwärmendes und urkomisches Mädchenbuch für alle, die das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen sehen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel ›The Summer I Saved the World … in 65 Days‹ bei Wendy Lamb Books, an imprint of Random House Children's Books, a division of Random House, Inc., New York, USA
Copyright © 2014 by Michele Weber Hurwitz
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Covergestaltung: Suse Kopp, Hamburg
Coverabbildung: Getty Images
Lektorat: Natalie Tornai
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0048-8
Den guten Taten, klein und bemerkenswert.
Auf sie kommt es an.
Mit Mrs Chung fing es an.
Und mit Blumen.
Mit Ringelblumen.
Meine Großmutter glaubte an die Einfachen Wahrheiten des Lebens – wie sie es nannte. Eine ihrer liebsten Wahrheiten lautete: Dinge passieren genau dann, wenn sie passieren sollen, und je früher man das begreift, desto zufriedener ist man. Die meisten Leute, behauptete sie stets, verstehen das jedoch nicht, selbst wenn es so offensichtlich ist, dass es ihnen fast schon ins Gesicht springt.
Heute, am ersten Tag der Sommerferien, liege ich in unserem Garten in der Hängematte. Ich höre Musik und versuche herauszufinden, warum mein Handy spinnt. Währenddessen trocknen meine frisch lackierten Zehennägel, und meine Haut wird von der Sonne gebräunt. Ist es denn wirklich Bestimmung, dass ich dabei Mrs Chung auf ihren Krücken umherhumpeln sehe? Ist das eines der Dinge, die »genau dann« passieren?
Mrs Chung wohnt hier schon ebenso lange wie wir – neun Jahre – und hat vorher bereits hier gewohnt. Es gab auch einen Mr Chung und zwei Kinder. Aber Mr Chung ist gestorben, und als die Kinder erwachsen waren, sind sie weggezogen. Also wohnt Mrs Chung ganz allein in diesem großen Haus. In ihren Bäumen hängen das ganze Jahr über Lichterketten, aber sie leuchten nie, nicht einmal im Dezember. Irgendwie traurig, diese Lichterketten, die einfach nur in den Bäumen hängen, als wäre niemand da, für den es sich lohnt, sie anzumachen.
Mrs Chung stützt sich auf ihren Krücken ab und blickt auf die beiden großen Plastikdinger mit Blumenpflänzchen in ihrem Vorgarten. Ihr faltiges Gesicht erinnert an eine Zeichnung auf einem Papierfächer – enttäuscht zusammengeschoben. Sie murmelt vor sich hin, schüttelt den Kopf und deutet mit einer Krücke dorthin, wo sie im Frühling immer ihre Blumen pflanzt – um die ordentlich geschnittenen immergrünen Büsche herum.
Zweierlei kann man von mir sicher nicht behaupten: dass ich ein Genie bin oder etwa zu denen gehöre, die immer sofort jedem helfen. Ersteres könnte ich mir natürlich wünschen, aber das würde auch nichts nützen, und das zweite, tja, ich bewundere solche Menschen wirklich. Es ist nur so, dass ich mich normalerweise nicht freiwillig für irgendetwas melde. Ich glaube, so geht es vielen. Sie warten einfach darauf, dass sich jemand darum kümmert.
Es gehört nicht viel dazu, zu begreifen, dass Mrs Chung die Blumen mit ihrem Gipsbein nicht einpflanzen kann. Ich beobachte sie, während ich in meiner Hängematte langsam im Wind schaukle. Da fällt mir ein, wie Mr Chung immer den Gehsteig geschippt hat, wenn es stark geschneit hat. Er hat immer noch das ganze Stück von seiner Einfahrt bis zu unserer geschippt, auch wenn wir unseren Teil selbst hätten freischieben müssen. Irgendwie haben wir es nie geschafft. Dad hat lange gearbeitet, mein Bruder war zu faul, und Mom konnte die Kälte nicht ertragen. Und ich? Ich habe wohl immer gedacht, jemand anders würde es schon irgendwann machen; außerdem hatte ich tonnenweise Hausaufgaben. Oder irgendeine andere Entschuldigung, die mir wichtig vorkam.
Mrs Chung humpelt jetzt in ihre Garage und zieht einen Stuhl heraus zu den Blumenkistchen. Sie setzt sich, tupft sich die Stirn mit einem Taschentuch ab und beugt sich dann vor, um eines der Pflänzchen herauszunehmen. Sie hält es eine Weile in der Hand. Dann stemmt sie sich mit den Krücken hoch, stellt die Pflanze vorsichtig auf den Stuhl und geht ins Haus.
Aus irgendeinem Grund fällt mir etwas ein, was uns Mr Pontello an unserem letzten Tag in der achten Klasse in Geschichte erzählt hat. Alle haben total geschwitzt und waren superungeduldig. Jeder wartete nur darauf, sich vom Sitz schälen und dieses Klassenzimmer für immer verlassen zu können.
Er sagte: »Oft sind es die ganz alltäglichen Dinge, die wie nebenher und völlig unbemerkt passieren und doch etwas verändern. In eurer künftigen Highschool-Karriere wird es gar nicht nötig sein, besonders aufzufallen und bemerkt zu werden – worauf es jedoch ankommt, ist, bemerkenswert zu sein.«
Ich glaube, ich war die Einzige, die ihm zugehört hat.
Thomas, der Kleine von nebenan, kommt aus der Garage und fängt an zu hüpfen. Von seinem Rasen bis zu meinem und dann hinüber zu Mrs Chungs Einfahrt.
Er dreht sich zu mir und ruft: »Nina! Ich kann richtig gut hüpfen!«
»Toll!«
»Man muss aber immer die Beine wechseln«, erklärt er, außer Atem, aber strahlend. »Damit das eine Bein nicht zu müde wird.«
Ich probiere vorsichtig am Rand eines Zehennagels, ob er trocken ist, als Thomas zu Mrs Chungs Blumentabletts hinüberhüpft. Er hält an und blickt dann zu mir. »Warum stehen die Blumen da?«
Ich zucke mit den Schultern.
Er starrt sie an. »Wie sollen sie denn wachsen, wenn sie nicht in der Erde sind?« Er hüpft weiter zum Stuhl und hält das welkende Pflänzchen hoch. »Arme Blume.«
Thomas stellt die Pflanze wieder ab und hüpft den ganzen Weg zurück zu seinem Haus. Ziemlich gut für einen Fünfjährigen.
Zwei Vögel sitzen auf der gepolsterten Gartenbank, die auf unserer Veranda steht. Ich beobachte ihre ruckartigen Kopfbewegungen. Es ist, als sprächen sie in ihrer geheimen Vogelsprache miteinander. Nur zu, denke ich. Genießt eure Zweisamkeit. Wann wird diese Gartenbank denn sonst schon genutzt?
Wetterfestes Weidengeflecht mit dunkelgrünen Kissen. Mom hat diese Sitzgruppe vor ein paar Jahren aus einem Katalog bestellt. Sie sagte immer: »Das ist wetterfest, das bleicht nicht aus und geht nicht kaputt. Das wird ewig halten. Ewig!« Sie stellte alles genauso auf wie im Katalog, einschließlich der Vase mit riesigen weißen Blumen auf dem wetterfesten Tisch aus Weidengeflecht und Glas.
Am Tag, als die Möbel geliefert wurden, bereitete Mom einen Krug Limonade zu, weil der auch auf dem Katalogbild war, und wir saßen zusammen auf der Veranda – Mom und Dad und Matt und ich. Mom goss die Limonade in schicke Gläser und steckte auf jeden Glasrand eine Erdbeere. Dad sprach einen lustigen Trinkspruch auf die neuen Möbel aus. Matt und ich stießen miteinander an, und jeder nahm einen großen Schluck. Doch die Limonade war so sauer, dass wir beide einen Hustenanfall bekamen. Matt ging hinein, holte die Zuckerdose und schüttete Zucker in den Krug. Mit einem langen Holzlöffel rührte er gleichzeitig um. Dad sagte: »Langsam, Matthew«, da fiel die Dose auch schon in den Krug, und das ganze Ding kippte um. Matt und ich starrten Mom an. Wie würde sie reagieren? Würde sie schimpfen? Schließlich hatte Matt das perfekte Katalogbild ruiniert. Doch Dad begann zu lachen und sagte: »Das nennt man dann wohl Zucker-Schock«, und Matt trank ein ganzes Glas davon, nachdem ich gesagt hatte, er würde sich nicht trauen.
Mit der langen Efeuranke, die sich um eine der Armlehnen schlingt, und einer riesigen Spinnwebe darunter wirkt die Gartenbank inzwischen fast unheimlich, wie ein Teil des Gartens. Als ein vertrocknetes Blatt von einem Baum segelt und neben den Vögeln landet, flattern sie davon. Leere Kissen bleiben zurück. Was für ein trauriger Anblick.
Ich selbst hatte das letzte Mal mit Großmutter darauf gesessen. Nur sie und ich in der Stille unseres Gartens. Wir hielten uns an den Händen. Ihre weiß und zerbrechlich, mit blauen, hervortretenden Venen, und ich versuche, mich daran zu erinnern, wie genau sie ausgesehen hat. Sie war schon eine Weile krank gewesen. Ihr Herz machte Probleme, und ich wusste, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte.
Mittlerweile ist es fast ein Jahr her, seit sie gestorben ist. Manchmal vermisse ich sie so furchtbar – und ich will nicht darüber nachdenken, wie meine Familie sich seither verändert hat –, dass ich nicht weiß, was ich tun soll oder wie ich es schaffen soll, dass es nicht so weh tut. Ich habe es mit Joggen versucht und die Musik dabei richtig aufgedreht, aber das hilft auch nur für kurze Zeit.
Manchmal breitet sich der dumpfe Schmerz überall in meiner Brust aus, und es fühlt sich so an, als ob er sich für immer dort festsetzen wollte.
Der warme Wind fährt jetzt durch mein Haar, streicht erst über meinen Nacken und dann übers Gras wie eine elektrische Strömung.
Und da sehe ich auf einmal alles genau vor mir. Alles fügt sich zusammen. Es ist so etwas wie mein Stichwort, könnte man wohl auch sagen. Großmutters Einfache Wahrheit des Lebens und die leere Gartenbank, dazu Mrs Chungs verlassener Garten. Dann die Frage, die Thomas mir gestellt hat, und Mr Pontellos Rat. Selbst das Schneeräumen von Mr Chung in den früheren Wintern gehört dazu.
Steh auf. Tu etwas. Sofort.
Ich gehe hinüber zu Mrs Chungs Haus und spähe durchs Fenster. Sie hat sich erschöpft aufs Sofa gelegt, der dicke weiße Gips umschließt ihr Bein. Wie sie es überhaupt gebrochen hat? Keine Ahnung.
Ich hole eine kleine Gartenschaufel aus unserer Garage, dann ziehe ich das erste Pflanzenkistchen zu Mrs Chungs immergrünen Büschen. In jedem Frühjahr pflanzt sie ihre Ringelblumen in großen Farbbögen – außen dunkelrot, den nächsten Bogen orange, dann golden, und zum Schluss kommt das Hellgelb. Wie ein Sonnenuntergang.
Während ich das erste Loch grabe, krieg ich ein wenig Panik, dass sie vielleicht aus dem Haus kommt und sauer ist oder so. Ihr wisst schon – Erwachsene denken ja meistens gleich, dass man etwas falsch gemacht hat.
Keine Ahnung, was ich sagen soll, wenn sie rauskommt, also nehme ich die Pflanze vom Stuhl und konzentriere mich darauf, sie in die Erde zu setzen. Dann noch eine und noch eine. Und plötzlich habe ich eine Reihe.
Ich stehe auf und spähe wieder durchs Fenster. Mrs Chung ist eingeschlafen, also mache ich einfach weiter.
Keiner ist in der Nähe. Mom und Dad – bei der Arbeit. Matt – BWMA, soll heißen: Bruder wieder mal abwesend. Freunde – kompliziert.
Es gibt nur mich und die Blumen.
Eine Stunde später habe ich dunkle Erdränder unter den Fingernägeln und auf den Knien kreuz und quer Grasabdrücke, außerdem sind mein Rücken und Hals ziemlich steif. Als ich die Blumen mit unserem Gartenschlauch gieße, tropft Mrs Chungs strahlender Ringelblumensonnenuntergang genau so, wie sie sich das vorgestellt hat.
Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich nicht darauf gewartet, dass jemand anders etwas tut.
Und das ist der Anfang von allem.
Jorie kann ich es nicht erzählen. Sie würde es nicht verstehen.
Wir wissen beide, dass wir nur deshalb Freundinnen wurden, weil wir Nachbarn sind. Sie wohnt auf der anderen Seite von Mrs Chung. Aber wenn man uns ansieht – sie mit dem neuesten, coolsten Handy in einer Tasche ihrer hautengen Jeans und Lipgloss und Mascara in der anderen, und mich, die wieder mal dringend eine Überarbeitung bräuchte –, dann fragt man sich, wie diese Freundschaft überhaupt so lange gehalten hat. In der ersten Klasse, als Jorie hierher in diese Straße – eine Sackgasse – zog, haben unsere Eltern uns zum Spielen zusammengesteckt, und wir haben all das gemacht, was Erstklässler eben so machen. Damals war das ausreichend.
Aber jetzt? Jorie und ich haben uns verändert, irgendwie befinden wir uns in so einer Zwischenphase. Wie zum Beispiel in einer Pause zwischen dem ersten und dem zweiten Akt eines Theaterstücks. Keine Ahnung, wie das ausgehen wird.
Es ist Samstagnachmittag, und ich bin bei Jorie in ihrem Zimmer. Wie üblich macht sie zwanzig Sachen gleichzeitig: Sie wechselt zwischen fünf offenen Fenstern in ihrem Laptop hin und her, analysiert die Ratschläge in drei Beauty-Magazinen, tippt in ihr Handy, sucht neue Musik und redet ununterbrochen. So viel kann ich sagen: Ihr zuzusehen macht immer Spaß.
Ich liege auf ihrem Bett und suche nach dem richtigen Kuschelkissen, auf das ich meinen schmerzenden Nacken legen kann. Es gibt ungefähr ein Dutzend davon in allen Neonfarben, aus denen ich wählen kann.
Jorie lässt ihre Kaugummiblase mit einem Knall zerplatzen, macht eine neue und blättert die nächste Seite um. »Hey, hast du Mrs Chung vorhin gesehen?«
Ich setze mich auf. »Nein. Was ist mit ihr?«
»Sie lief total aufgeregt auf ihren Krücken den Gehsteig entlang, war völlig durcheinander und redete mit sich selbst.« Jorie sieht mich an. »Warte mal. Ich kann mir nie merken, ist sie nun aus China oder Korea?«
»Korea.«
»Ja, genau. Also, jedenfalls ging mein Dad dann zu ihr und hat mit ihr geredet. Stell dir vor, jemand ist in ihren Garten und hat ihre Blumen eingepflanzt.«
»Echt? War sie … sauer? Ich meine, was hat dein Dad gesagt?«
»Er sagte, sie sei total verwirrt gewesen, aber auch irgendwie beschwingt. Wegen dieser Blumen! Das ist doch echt verrückt, oder? Ich meine, wer geht denn los und pflanzt die Blumen von jemand anders ein?«
»Also hat sie sich gefreut?« Ein merkwürdiges Gefühl breitet sich in meiner Brust aus, als ob plötzlich ein Strom ganz dünne Luft durch meine Lunge schießt.
Jorie legt den Kopf zur Seite und lächelt. »Ja, denke schon.«
Ich stehe auf und blicke aus dem Fenster. Von Jories Zimmer aus habe ich den perfekten Blick auf die Ringelblumen, die gerade dastehen und sich nach der Sonne recken. Und Mrs Chung war beschwingt, hatte Jorie gesagt. Was für ein tolles Wort. Beschwingt. Das Gegenteil von niedergeschlagen. Was sie definitiv vorher war.
»Nina!«, Jorie fuchtelt mit den Armen.
»Was?«
»Hallo? Ich rede gerade mit dir. Hast du mir überhaupt zugehört?«
Ich grinse sie an. »Aber klar.« Und es stimmt … mit einem Ohr jedenfalls.
Sie seufzt. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass du gar nicht da bist.«
»Aber ich bin doch da. Natürlich bin ich da.«
Jorie zieht einen langen Streifen Kaugummi aus ihrem Mund und wickelt ihn um ihren Finger. »Also, ich habe gesagt, dass meine Mom uns hinfahren kann, du weißt schon, am ersten Tag der Sommerkurse. Ich werde auf keinen Fall allein hinlaufen, wie so ein Loser.«
»Okay.«
Ich gehe zu ihrem Regal und entdecke den Bilderrahmen von ihrer Geburtstagsparty, damals vom siebten Geburtstag, der mit Strasssteinen, Glitzer und Plastiksternchen verziert ist. »Du hast ihn noch aufgehoben?«
Sie lacht. »Sieht ganz so aus. Ich weiß auch nicht, warum. Ich war damals ja so doof.«
»Nein, warst du gar nicht.«
Sie steht auf und nimmt den Rahmen in die Hand. »War ich doch. Sieh doch, ich konnte nicht mal richtig kleben.« Sie deutet auf die getrockneten Stellen, wo nichts mehr klebt, dann legt sie den Rahmen zurück ins Regal, mit der Vorderseite nach unten. »Egal, du weißt ja, dass das damals echt ein trauriger Geburtstag für mich war; wir müssen ihn nicht noch einmal durchkauen.«
»Aber eigentlich war es irgendwie auch ein toller Geburtstag. Erinner dich doch.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ach nee. Fang jetzt bloß nicht wieder mit deinem Qualität-über-Quantität-Fimmel an.«
Jorie hatte damals die ganze Klasse eingeladen, aber nur ich und zwei andere Mädchen waren gekommen. Jorie hatte nicht gewusst, dass zur gleichen Zeit noch eine Party stattfand. Und zwar bei einem der absolut beliebtesten Mädchen. Tja, man weiß ja, wie das funktioniert. Wir vier haben die Rahmen dekoriert, Pizza und Kuchen gegessen und T-Shirts lila und grün gebatikt. Ich fand es toll, aber Jorie weinte am Schluss, nachdem die anderen beiden Mädchen gegangen waren. Sie sagte ihrer Mutter, sie solle das T-Shirt und den restlichen Kuchen wegwerfen. Und außerdem wollte sie nie mehr im ganzen Leben einen Geburtstag feiern.
Jetzt betrachtet Jorie gerade aufmerksam die Seite einer Zeitschrift. »Wie findest du dieses Top und die Shorts für den ersten Tag im Sommerkurs?«
Ich nicke. »Süß.«
»Gefällt dir das gesmokte Top?«
»Klar. Das steht dir bestimmt super.«
Dieses Jahr hatte sie an ihrem dreizehnten Geburtstag fünfundzwanzig Freundinnen und Freunde eingeladen, also feierte sie erstens weiter ihren Geburtstag, und zweitens war das beliebte Mädchen, das ihren siebten Geburtstag ruiniert hatte, ebenfalls da, und Jorie bestand darauf, im Lokal neben ihr zu sitzen.
Jorie steht jetzt auf, greift nach meinen Händen und mustert meine Fingernägel. »Was ist denn hier los?« Sie lacht. »Setz dich. Deine Zehen sind okay, aber deine Finger! Du brauchst wirklich dringend eine Maniküre.«
Im Handumdrehen hat sie ihr Täschchen mit sämtlichen Nagelutensilien auf dem lila Zottelteppich ausgeschüttelt. Sie nimmt meine rechte Hand und beginnt zu feilen. »Du darfst deine Nägel wirklich nicht so verkommen lassen. Ich meine, das ist echt wichtig, verstehst du?«
Ich zucke zusammen, als sie ein Stück Haut erwischt.
»Tut mir leid.«
»Nicht so schlimm«, sage ich und rutsche seufzend auf meinem Platz hin und her. »Wer schön sein will, muss leiden, oder?«
»Genau. Halt still.« Konzentriert trägt Jorie den Unterlack auf, danach zwei Lagen helles Pink und schließlich bläst sie vorsichtig auf jeden einzelnen Nagel.
Ich betrachte ihre Nagellacksammlung. »Wieso nimmst du bei mir immer Pink?«
»Weil deine Nägel so kurz sind. Da darf man keinen dunklen nehmen. Außerdem …«, sie streckt die Hände mit ihren wunderschönen ovalen Nägeln aus, »bin ich rot. Du bist pink. So sind wir.«
Sie packt alles wieder in ihre Tasche zurück. »Du musst sie noch eine gute halbe Stunde trocknen lassen.«
»Ich weiß.« Ich stehe auf und trete wieder zum Fenster, während sie weiterredet. Ihre Stimme ist ein ständiges Summen, wie die Klimaanlage, die bei uns zu Hause von April bis Oktober, und die Heizung, die von November bis März läuft. Ich habe oft überlegt, ob die Fenster bei uns zu Hause in Wirklichkeit gar nicht zu öffnen und überhaupt nicht echt sind, sondern lediglich wie echte Fenster aussehen. Meine Eltern haben einen richtigen Tick, was Temperaturkontrolle betrifft. Eigentlich jegliche Art von Kontrolle. Was ein Grund dafür sein könnte, dass mein Bruder immer seine Kopfhörer auf und seine Zimmertür geschlossen hat, wenn er ausnahmsweise mal zu Hause ist.
Und genau in diesem Moment in Jories Zimmer habe ich diese Idee. Ich blicke hinaus auf unsere Straße, eine Sackgasse mit sieben Häusern – eigentlich acht, wenn man Jories Haus, in dem ich gerade stehe, mitzählt. In einem Halbrund führt die Straße sowohl hinein als auch wieder heraus. Alle Häuser sind mehr oder weniger im gleichen Stil gebaut, allerdings sind die Farben unterschiedlich. Braun, Weiß, Ocker und dann das Gleiche wieder von vorn. Selbst wenn wir hier im Norden von Illinois sind, fällt mir der Fruchtbare Halbmond ein, von dem wir in der Schule gehört haben. Die Wiege der Zivilisation. Ein Ort, an dem die Leute sich niederließen, in einer Gemeinschaft lebten und Nachbarschaft pflegten.
Von Jories Fenster aus sehe ich Dinge, die ich noch nie richtig wahrgenommen habe, obwohl sie jeden Tag da sind. Spielzeug, das über den ganzen Rasen der Cantalonis verstreut ist, weil die drei Jungs ständig herumtoben und Mrs Cantaloni wieder schwanger ist. Mr Dembrowskis aufgeräumtes Grundstück ist das ordentlichste überhaupt, aber er kommt nie aus seinem Haus heraus. Wohnt er denn noch dort? Lebt er überhaupt noch? Was, wenn er tot da drin liegt und niemand etwas davon ahnt? Und auf der anderen Seite Eli Bennetts Haus; sein kleiner Bruder, Thomas, rennt in einer Badehose und mit einem schwarzen Cape in ihrer Einfahrt herum, schwingt ein Plastikschwert in der Luft und bekämpft eingebildete Feinde.
Oder wehrt er vielleicht einen echten Feind ab, von dem er spürt, dass er in unserer stillen kleinen Nachbarschaft auf der Lauer liegt – einer Nachbarschaft aus Häusern, aber nicht aus Menschen.
Thomas verschwindet hinter einem Baum und springt gleich darauf mit gezücktem Schwert hervor. Was sieht er? Er stolpert zurück, greift sich an den Bauch und fällt zu Boden.
Vielleicht ist es nicht etwas, was er sieht, sondern etwas, das er fühlt. Ich fühle es auch. Etwas Dunkles. Wir sind nicht die Einzigen hier mit unechten Fenstern.
Mir fallen Mrs Chungs Ringelblumen wieder ein und Mr Pontello, der uns gesagt hat, es wäre nicht wichtig, bemerkt zu werden, sondern bemerkenswert zu sein, und Großmutter, die sagte, dass Dinge genau dann passieren, wenn sie geschehen sollen.
Aber was, wenn – ja mal wirklich, was, wenn – man genau dabei eine Rolle spielen könnte? Wenn man das beeinflusst, was passieren soll?
Oder es vielleicht sogar verändert. Zum Guten.
Plötzlich bin ich von dieser verrückten Idee wie besessen.
»Jorie, ich muss los.« Ich glaube, sie hört mich gar nicht. Sie redet immer noch, sogar als ich bereits die Treppe hinuntergehe und die Haustür öffne.
»Warte!«, ruft sie mir dann nach. Sie steht oben an der Treppe und schlingt ihr Haar zu einem Knoten zusammen. »Geh noch nicht!«
»Ich muss noch etwas erledigen. Sofort. Das hatte ich vergessen. Danke, dass du meine Nägel lackiert hast.«
»Warte wenigstens einen Moment. Du brauchst den Schnelltrockner.« Jorie rast in ihr Zimmer und kommt dann mit einer kleinen Flasche die Treppe heruntergerannt. Sie packt meine Hände und besprüht die Nägel. »Es ist noch keine halbe Stunde.«
Ich lächle. »Klar. Danke noch mal.«
Sie macht mit dem Kaugummi eine riesige Blase, die auf ihrer Nase zerplatzt.
Ich lache, während sie mit den Händen ein Herz formt, den Kaugummi immer noch über dem ganzen Gesicht. Ich mache ein Herz zurück.
Jorie umarmt mich. »Du bist die Beste.«
»Du auch.«
Zu Hause in meinem bunt durcheinandergewürfelten Zimmer, das nach den Neonfarben von Jories Zimmer eine Wohltat für die Augen ist, blättere ich durch meinen Hausaufgabenkalender und zähle die verbleibenden Sommertage. Fünfundsechzig Tage bis zum neuen Schuljahr, bis zum ersten Tag an der Highschool.
Das Einzige, was ich bis dahin machen muss, ist ein Sommerkurs in Kunst und außerdem noch zwei Bücher für Englisch lesen. Jorie macht auch einen Sommerkurs, meine anderen Freundinnen aus der Schule, die Clique, in der ich letztes Jahr war, sind auf einer Abenteuerreise im Pazifischen Nordwesten. Ich hätte auch mitgekonnt, aber ich bin nicht unbedingt jemand, der abenteuerlustig Berge besteigt und ein raues Leben führt. Na ja, gut, die Wahrheit ist, sie haben mich auch nie richtig gefragt, ob ich mitkommen will. Und … irgendwie war ich, glaube ich, auch nie richtig in ihrer Clique. Wir haben halt öfter was zusammen unternommen, weil wir alle im Basketballteam sind.
Da wäre ich also. Wieder bei meiner Idee. Was, wenn ich in diesen fünfundsechzig Tagen jeden Tag eine gute Tat vollbringe, die total dazu bestimmt ist, vollbracht zu werden? Und zwar, weil ich meine, dass sie vollbracht werden soll.
Fünfundsechzig gute Taten, um die Welt besser zu machen.
Ich müsste ein paar Regeln aufstellen.
Regeln braucht man einfach immer.
Es müssten kleine Dinge sein, die man vielleicht gar nicht gleich bemerkt, die aber in ihrer Nebensächlichkeit und Unbemerktheit trotzdem beachtlich und bemerkenswert sind. Wie zum Beispiel das Pflanzen der Ringelblumen. Sie dürfen nicht viel kosten, denn ich habe gerade mal sieben Dollar im Geldbeutel. Und vor allem müssen sie geheim sein.
Niemand darf wissen, dass ich dahinterstecke.
Nina Ross. Dreizehn. Einen Meter sechzig groß. Mit Kontaktlinsen oder Brille, je nach Tag. Halblanges, glattes braunes Haar und Augen, deretwegen Matt mich immer Nüna-grüna genannt hat. Mit Grübchen rechts und links in den Wangen, die manche süß finden, aber eigentlich bin ich nicht süß und auch nicht hübsch. Am ehesten könnte man noch sagen, ich sehe interessant aus. Was total in Ordnung ist; ich habe überhaupt nichts gegen interessant.
Apropos Matt – eben höre ich ein Geräusch aus dem Zimmer meines Bruders und gehe durch den Flur. Seine Tür steht einen Spalt offen, also spähe ich hinein. Er hat Kopfhörer auf und trommelt mit den Fingern auf seinen Schreibtisch, die Augen geschlossen.
»Matt?«
Er hört mich nicht. Und wenn doch, ignoriert er mich.
Ich stehe noch einen Moment da und hoffe, dass er die Augen öffnet, dann kehre ich in mein Zimmer zurück.
Aus meinem Schrank hole ich ein Poster, das ich bei einem Projekt über Florida und die Everglades gemacht habe, und drehe es um. Ich zeichne einen breiten Halbkreis, dann ein Viereck für jedes Haus in unserer Sackgasse. Wenn man auf der Straße steht, mit dem Gesicht zu den Häusern, dann kommt am linken Ende das von Eli Bennett, dann unseres, danach Mrs Chungs, dann Jories. Neben Jorie wohnt Mr Dembrowski, dann kommen die Cantalonis und schließlich die Millmans. Das letzte Haus steht leer, ein Schild Zu verkaufen hängt daran. Die Dixons mussten letztes Jahr ausziehen, nachdem Mr Dixon seinen Job verloren hatte. Das Haus sieht irgendwie unheimlich aus, rundum Unkraut und hohes Gras mit kahlen Pusteblumenstängeln. Schiefe Rollos verstärken den Eindruck noch.
Ich blättere die leeren Seiten meines Kalenders um, dann fahre ich mit dem Finger auf dem Poster herum. Auf meiner Zeichnung sehen die Häuser aus, als wären sie einzelne kleine Vierecke, die im Raum umherschweben.
Wenn ich bisher etwas Gutes getan habe, dann immer, weil es mir jemand aufgetragen hat. »Vergesst nicht, Geld für die Spendenaktion mitzubringen.« »Spendet eure unbenutzten Schulsachen – legt sie einfach in die Kiste vor dem Lehrerzimmer.« »Kauft ein T-Shirt für einen wohltätigen Zweck.« »Gebt etwas in den Essenskorb zu Thanksgiving für eine bedürftige Familie.« Schnell und einfach.
Unsere Haustür fällt zu. Von meinem Fenster aus sehe ich Matt in seinen alten Jeep steigen und davonfahren.
Da ist ein dunkler Fleck auf der Straße, wo er geparkt hatte. Dad wird sauer sein und sagen: »Das ist bestimmt ausgetretenes Öl.« Mom blickt dann vielleicht von ihrem Laptop auf und sagt Matt, er solle es in Ordnung bringen. »Hatten wir nicht abgemacht, dass du verantwortungsvoller sein sollst, Matthew?« Sie würden über das Auto reden und dass mit dem Auto etwas nicht stimmen könnte. Matt würde schweigend und mit verschlossenem Gesicht dastehen und ich von der Treppe aus zuhören.
Wenn Großmutter hier wäre, würde sie mir nach einem Blick auf den Ölfleck zuzwinkern. Sie würde eine ihrer Einfachen Wahrheiten des Lebens zitieren, in der es darum geht, was jeder von uns zurücklässt und dass nichts ein Zufall ist. Ich würde es sofort verstehen und sagen, was mir dazu einfiele, und sie würde mich verstehen. Auch sofort.
Ich spreche das, was mir so einfällt, nicht mehr laut aus, denn es ist niemand mehr da, der es versteht. Ich habe es mit Jorie versucht, aber sie schaut mich nur verblüfft an. Mit den Mädels aus dem Basketballteam habe ich es nicht einmal versucht. Die würden manche Gedanken wahrscheinlich für verrückt halten. Mich für verrückt halten. Was, wenn ich durch die Schule und … na ja, durchs ganze Leben gehe, ohne dass es irgendjemanden gibt, der mich versteht und kennt?
Tu etwas!