Agnes Lovise Matre
Das Schweigen des Fjords
Kriminalroman
Aus dem Norwegischen von Maike Dörries und Günther Frauenlob
Knaur e-books
Agnes Lovise Matre wuchs in einem kleinen Dorf in Hardanger in Norwegen auf und lebt heute in Haugesund, einer Stadt an der norwegischen Westküste. Sie ist Lehrerin und Autorin. Ihre Romane handeln von den Abgründen, die im augenscheinlich so friedlichen Norwegen lauern. Das Schweigen des Fjords ist der erste Roman von ihr, der auf Deutsch erscheint.
Die norwegische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Skinnet bedrar« bei Gyldendal, Kopenhagen.
This translation has been published with the financial support of NORLA.
© 2019 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2017 Agnes Lovise Matre
© 2019 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Published by agreement with agentur literatur Gudrun Hebel, Germany
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Marie-Sophie Kasten
Covergestaltung: Cornelia Niere, München
Coverabbildung: 500Px Plus/Gettyimages
ISBN 978-3-426-45195-3
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Wir freuen uns auf Sie!
Für Nina
Wir wollen nichts sehen,
kehren allen Dreck unter den Teppich.
Wollen nicht wissen, was ein Schuh zu sehen bekommt,
Es geht uns gut, wir brauchen weder Gott noch Wunder.
Aber ein Tag in deinen Schuhen
wird uns in Stücke und die Dunkelheit reißen.
Dann helfen keine Pillen mehr.
Dann muss man kämpfen,
für das, woran man glaubt,
oder es hinnehmen,
eine andere Brille aufsetzen
und neu beginnen …
frei nach »I dine sko« von Blest
Text: Paul Hansen
Der leblose, unter einer grauen Plane am Boden des alten Holzbootes verborgene Körper fiel niemandem auf, er zog keine Aufmerksamkeit auf sich. Außer der Leiche waren noch zwei Menschen in dem Boot.
Der Schweiß stand auf ihrer Stirn, und die dunklen Flecken unter den Achseln konnten ohne Weiteres der brütenden Sonne zugeschrieben werden. Hitze löste genauso Schweiß aus wie Angst. Die Kombination aus beidem tat es in jedem Fall.
Der weiße Sandstrand vor dem Hardangerfjord-Hotel war voller johlender Badegäste. Auf dem großen Parkplatz zwischen Hotel und Friedhof drängten sich Touristenbusse. Die glatt geschliffenen Felsen in Richtung Norheimsund waren von Sonnenanbetern auf Badetüchern und Luftmatratzen belagert.
Die beiden Gestalten in dem Boot hatten für all das kein Auge, sie tuckerten ruhig übers Wasser, wie man es an einem warmen Sommertag in Hardanger gerne tat. Am Strand von Lundanes folgte ihnen ein Mann mit dem Blick. Er saß in der Hocke und tätschelte einen ausgewachsenen Schäferhund, der gerade ein abkühlendes Bad im Fjord genommen hatte.
Auch einige Touristen waren auf dem Wasser unterwegs, häufig zu zweit oder zu dritt. Den Deutschen müsste man eigentlich erst einen Kurs geben, wie man sich auf norwegischen Fjorden bewegte, dachte einer der beiden in dem Holzboot. Segelboote glitten ruhig im Sonntagsmodus vorbei.
Die alten hölzernen Kajütboote sahen sich sehr ähnlich. Man musste schon ein echter Bootskenner sein, um eins vom anderen zu unterscheiden. Zum Angeln taugte das Wetter nicht, dazu war es zu warm und zu still. Trotzdem hatten sie am Heck die Rute mit der Multirolle ausgelegt, während sie im Schleppangeltempo übers Wasser tuckerten.
Das Boot hielt Kurs auf Kvamsøy, einer kleinen Insel zwischen Øystese und der Gemeinde Herand auf der gegenüberliegenden Fjordseite. Ein natürliches Ziel an einem Sommertag.
Die beiden Gestalten in dem Holzboot vermieden jeden Augenkontakt und starrten verkrampft aneinander vorbei.
Die Schnur ruckte, die Rute bog sich. Etwas hatte angebissen.
»Machst du?«
Die Frage der im Bug sitzenden Person kam im Kommandoton. Der Motor drosselte die Drehzahl, das Boot dümpelte langsam vorwärts. Am Haken zappelte eine glänzende, fette Makrele. Nach zwei energischen Schlägen mit dem schweren Schaft des Fahrtenmessers landete sie in einer der Isoporkisten, die neben der Leiche lagen. Man sah ein paar weiße Zehen, als die Plane kurz gelüftet wurde.
Der Hardangerfjord ist 183 Kilometer lang und an der tiefsten Stelle über 850 Meter tief. Das Boot hielt auch hinter Kvamsøy den gleichen Kurs.
Als schließlich der Motor ausgestellt wurde, sahen sich die beiden schnell um, nickten kurz und hievten die Leiche über die Bordwand. Ihr Aufklatschen brachte das Boot zum Schwanken. Eine der beiden Personen sah dem Körper auf dem Weg in die Tiefe hinterher, bis die Dunkelheit ihn verschluckte. Die andere ließ den Blick in die entgegengesetzte Richtung schweifen, als ginge sie das Ganze nichts an. Eine Bagatelle. Ein notwendiges Übel.
Der Motor hustete ein paarmal, ehe er wieder ansprang. Das Boot nahm Kurs zurück auf das Festland. Der Geruch von Diesel mischte sich mit dem vom Salzwasser. Über ihnen kreischten die Möwen, als sie auf dem Heimweg noch zwei weitere Makrelen aus dem Wasser holten.
Der Folgefonnagletscher schimmerte wie Katzensilber zwischen den grauen Bergen. Der Fjord lag ausdruckslos und abwartend da. Polizeichef Bengt Alvsaker pflückte einen unreifen Apfel von dem Zweig eines alten, bärtigen Baumes und warf ihn mit aller Kraft ins Wasser. Dann drehte er sich demonstrativ um, ging zu seinem Rennrad und verpasste dem Pedal einen unmotivierten Tritt. Seine Gefühle wechselten so jäh wie das Herbstwetter im Vestland. Anstelle von freudiger Erwartung empfand er nur Beklemmung, außerdem hatte er ein erdrückend schlechtes Gewissen.
Das ockergelbe Haus mit den frischen Grassoden auf dem Dach lag in Skipadalen, ziemlich exakt zwischen den Ortschaften Norheimsund und Øystese, direkt am Wasser. Bengt Alvsaker war hier aufgewachsen. Er hatte die Gegend aber verlassen, kaum dass er alt genug gewesen war. Die Erinnerungen an dieses Haus waren nicht gut, er war an diesem Ort bedeutungsloser gewesen als die Farbkleckse auf der Palette seines Vaters. Zurückgekehrt an den Fjord, in die Berge und in dieses Haus war er erst wieder, nachdem sein Vater vor elf Jahren gestorben war.
Es war auch ziemlich exakt elf Jahre her, dass er Katrine am Telefon hart und unversöhnlich angeschrien und ihr vorgeworfen hatte, ihn hintergangen zu haben. Dass sie mit Berechnung schwanger geworden war, um ihn zu zwingen, in Oslo zu bleiben. Sie hatte es nicht für nötig gehalten, ihn anzurufen, als sie das Ganze noch rückgängig hätte machen können. Erst als sie eigentlich schon getrennt waren und der Umzugswagen fertig beladen in der Auffahrt in Ammerud gestanden hatte, hatte sie Bengt am Telefon erzählt, dass er Papa werden würde. Er hatte den Hörer auf die Gabel geworfen und sich ihren unzähligen Versöhnungsversuchen verweigert.
Für einen Augenblick sah er sich selbst aus ihrer Perspektive, wie sie ihn damals gesehen haben musste. Ein junger, selbstverliebter Drecksack, der sich aus dem Staub machte, sobald es ernst wurde. Einer dieser Typen, über die im Internet gechattet wurde. Ein verantwortungsloser Egoist, der nicht für sein Kind einstehen wollte. Seine Vaterschaft reduzierte sich auf die monatliche Abbuchung von seinem Gehaltskonto.
Bengt nahm das Rad vom Stativ und rollte es durch die Garage. Seit drei Jahren schickte Thomas ihm kleine Geschenke zum Geburtstag und zu Weihnachten. In dieser Woche hatte Bengt den Karton, in dem er all die Sachen gesammelt hatte, vom Kriechboden geholt. Weihnachtswichtel und Osterküken hatte er liegen lassen, den Rest aber im Wohnzimmer verteilt. Am Kühlschrank hing jetzt ein selbst gemaltes Bild von einem Jungen und einem Mann in Polizeiuniform. Bengt hatte im Stillen damit gerechnet, trotzdem war er in das reinste Gefühlschaos gestürzt, als Katrine ihn vor ein paar Monaten angerufen und ihm mitgeteilt hatte, dass ihr Sohn darauf bestand, seinen Vater kennenzulernen.
Der Junge lebte sein Leben in Oslo, zusammen mit seiner Mutter, einem wohlhabenden Stiefvater und kleinen Geschwistern. Bengt führte sein Leben hier am Hardangerfjord. Er fürchtete, dass der Besuch für beide ein unangenehmes Erlebnis werden könnte, dass der Zug für eine gemeinsame Zukunft längst abgefahren war. Andererseits musste er es weningstens versuchen. Auf seine rationelle Art hatte er es irgendwann geschafft, die Emotionen in den Griff zu bekommen und die Sache praktisch anzugehen. Thomas sollte eine Woche bei ihm verbringen, während Katrine mit ihrem Ehemann Urlaub in Frankreich machte. Bengt hatte sich zwei Wochen Urlaub genommen. Die erste Woche war bereits vorbei. Er hatte sie genutzt, um den Besuch vorzubereiten.
Das Schlafzimmer im ersten Stock roch noch nach frischer Farbe. Einem Impuls folgend, hatte er es zuerst hellblau streichen wollen, dann war ihm klar geworden, dass sein Sohn kein Baby war und er wirklich keinen Schimmer hatte, was für Interessen oder was für einen Geschmack der Junge hatte. Irgendwann war er zu IKEA in Bergen gefahren und hatte sich eine freundliche Verkäuferin gekrallt, die ihm Möbel vorgeschlagen und Farbtipps gegeben hatte, die in das Schlafzimmer eines Elfjährigen passen könnten. Vormittags war er im Supermarkt gewesen und hatte Lebensmittel eingekauft. Honni-Korn, Nugatti und dies und das.
Montagabend, in nicht einmal zwei Tagen, würde Thomas kommen, um zum ersten Mal seinen Vater zu treffen.
Ina und Anders Gulliksens Stimmen rissen ihn aus seinen Gedanken. Der sechs Jahre alte Junge und seine zwölf Jahre alte Schwester wohnten im Nachbarhaus. Sie riefen nach der Katze. Ina war sozusagen Miteigentümerin von Bengt Alvsakers pelziger und einziger Mitbewohnerin. Dankbar für die Ablenkung ging er ihnen entgegen. Der Fuß der Ufermauer lag im Wasser und war nur bei Ebbe zu sehen. Bei Flut war sie trockenen Fußes nicht zu umrunden. Die beiden Kinder spritzten sich lachend nass.
»Na, macht ihr einen Ausflug?« Bengt schnappte nach Anders’ Arm, als der Junge über den Rasen galoppierte. »Bist du gar nicht im Kindergarten?«
Die wilden, pechschwarzen Locken tanzten unter Anders’ Kappe.
»Nein, heute ist doch Samstag, und Sommerferien«, antwortete er. »Außerdem gehe ich nicht mehr in den Kindergarten. Ich bin doch Schulanfänger.«
»Du kommst in die Schule?« Bengt hob den Jungen hoch und drehte sich mit ihm im Kreis, ehe sie zusammen ins Gras purzelten. »Du bist doch noch ein Baby.«
Anders schob sich von Bengt weg, sah ihn überlegen an und lachte.
»Doch, ich komme in die Schule. Ganz bald. Weißt du das etwa nicht?«
»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Bengt setzte eine überraschte Miene auf. »Du bist doch höchstens, lass mich nachrechnen …« Er zählte an den Fingern ab. »Drei Jahre?«
Anders drohte ihm mit der geballten Faust, ehe er seinen großen Zeh umfasste und das Bein wie ein Balletttänzer zu strecken versuchte.
»Papa hat gesagt, dass Mama tot ist«, sagte er ernst.
Ina, die sich neben Bengt ins Gras gesetzt hatte, drehte sich zu Bengt um.
»Hör nicht auf ihn«, flüsterte sie. »Er erzählt nur Quatsch.«
»Neeeiiiin, ich erzähl keinen Quatsch. Sie ist im Himmel«, protestierte Anders und schaute nach oben.
Bengt zeigte an den Himmel.
»Wisst ihr, dass das gute Wetter noch länger anhält, wenn der Kondensstreifen hinter einem Flugzeug sich schnell wieder auflöst?«
»Woher weißt du so viele Sachen?«, fragte Ina.
»Weil ich viel lese«, sagte Bengt und wuschelte Anders durch die Locken.
Der Junge lief zu einer einigermaßen ebenen Fläche auf dem Rasen und versuchte mit mäßigem Erfolg, Rad zu schlagen. Bengt hob einen Ball auf, der vor dem Apfelbaum lag, jonglierte ihn einen Moment auf dem Knie, ehe er mit einem flachen Schuss zwischen zwei Kirschbäume zielte, deren Zweige schwer von reifen Früchten nach unten hingen.
»Ich kann mich ins Tor stellen wie beim letzten Mal«, sagte Anders und rannte über den Rasen, um den Ball zu fangen.
»Habt ihr eigentlich die Katze gesehen?«, fragte Bengt, als Anders den Ball zu ihm zurückkickte.
Er hielt den Ball mit den Fußspitzen in der Luft, ehe er ihn in einem Bogen zu Anders schoss, der sich mit gebeugten Knien und vor sich ausgestreckten Armen aufgebaut hatte.
»Entweder ist sie gerade auf Mäusefang, oder sie liegt in dem Bett, das ich ihr im Bootshaus zurechtgemacht hab«, antwortete Ina. »Ich schau mal nach. Hast du das Bett schon gesehen?«
»Mmh … Sieht gemütlich aus«, sagte Bengt, der sich nicht erinnern konnte, wann er das letzte Mal im Bootshaus gewesen war. Im Augenwinkel sah er, wie Anders sich zur Seite warf, um den Ball zu fangen.
»Yes!«, rief er. »Hab ihn!«
Bengts Bootshaus war alt und morsch, es hatte schon zwischen den Fjordsteinen gestanden, als sein Vater damals das Grundstück gekauft hatte. Die Holzverkleidung hatte sich gelöst und lag wie ein grauer Faltenrock über der Steinmauer.
Bengt fing Anders’ Ball und blieb mit ihm in den Händen stehen, als er Ina auf halber Strecke zum Bootshaus anhalten, wenden und zurücklaufen sah.
»Wir müssen nach Hause, Anders. Papa ist gekommen. Ich hab sein Auto gehört. Er hat heute Gäste. Ich soll ihm helfen.«
Ehe Bengt noch etwas sagen konnte, rannten die beiden Kinder über die Rasenfläche davon. Ina vorneweg, Anders in festem Klammergriff ums Handgelenk gepackt. Der Junge sah aus wie eine willenlose Schlenkerpuppe.
Ein paar Stunden später war das Fest im Nachbarhaus in vollem Gang. Das laute Gegröle ließ darauf schließen, dass es keine Kinderparty war. Bengt holte Schubkarre und Gartengeräte und begann halbherzig, das Erdbeerbeet zu beackern, während seine Gedanken um Ina und Anders kreisten.
Bengt Alvsakers Kontakt zum Vater der Kinder, wie auch zu den übrigen Nachbarn, beschränkte sich auf ein kurzes Nicken, wenn man sich auf der Straße begegnete. Die Häuser standen nur fünfzig Meter voneinander entfernt, wurden aber durch dichtes Gestrüpp getrennt. Ina und Anders hielt das nicht ab. Für sie gab es so wenige Grenzen wie für die Rentiere in der Finnmarksvidda, sie hatten sich einen eigenen Durchgang durch das Dickicht geschaffen. Und wenn die Wassertemperatur es zuließ, wateten sie über den Strandstreifen auf das Grundstück des Polizeibeamten.
Bengt Alvsaker betrachtete sich selbst nicht als einsamen Menschen. Er war fünfunddreißig Jahre alt und hatte nicht sehr viele wirklich enge Freunde, die meisten Bekannten von früher hatten sich mit Frau und Kindern zur Ruhe gesetzt. Inzwischen begegnete man sich höchstens mal bei irgendwelchen Veranstaltungen in der Stadt. Am regelmäßigsten traf er sich mit William Kjosås, oder Esso-William, wie er im Ort genannt wurde. William war der Inhaber der Tankstelle von Øystese, er hatte keine Kinder, war unkompliziert, und man brauchte nur an der Esso-Tankstelle vorbeischauen, wenn man ihn treffen wollte. Auch ansonsten standen die Türen seines für einen Junggesellen viel zu großen Hauses immer offen.
Bengt zog die Gartenhandschuhe aus, ließ die Schubkarre draußen stehen und sperrte das Nachbarfest aus. Als er den Fernseher einschaltete, stellte er fest, dass er die erste Etappe der Tour de France verpasst hatte, für Radenthusiasten wie ihn der absolute Höhepunkt des Sommers. Norwegens Hoffnungsträger waren beide gute Zeitfahrer, was sie, wie ein kurzer Blick auf die Resultate zeigte, nicht eingelöst hatten.
Bengt fuhr mit den Fingern über die Buchrücken in den Regalen, die eine ganze Wand im Wohnzimmer einnahmen, und zog das Buch heraus, das sein Sohn ihm zum letzten Weihnachtsfest geschickt hatte. Manche Geschenke sind wie eine Mahnung, hatte Bengt gedacht, als Katrine ihm in einer SMS mitgeteilt hatte, dass sein Sohn die Geschenke von seinem Taschengeld kaufte.
Hart und lang – vom Couchpotato zum Ironman. Offenbar hatte Thomas gründlich recherchiert. Bengt hatte seit dem ersten, 2012 von Haugesund arrangierten Ironman 70.3 mit dem Gedanken gespielt, an einem solchen Triathlon teilzunehmen. Aber das Buch war im Regal stehen geblieben. Er selbst hatte in Ermangelung einer Geschenkidee Geld auf Thomas’ Konto überwiesen und sich damit entschuldigt, dass er nicht wüsste, was ihn interessierte. Auf dem letzten Bild, das er von dem Jungen gesehen hatte, war er dreiundfünfzig Zentimeter lang und in eine hellblaue Krankenhausdecke gehüllt gewesen.
Die Musik und das Lachen auf der Veranda waren wie Schläge in Inas Magen, als sie im Waschraum die Schmutzwäsche sortierte. Einige Wäschestücke versteckte sie im Schrank hinter ein paar Körben, damit ihr Vater sie nicht fand. Dann lief sie auf den Flur und überprüfte den Garderobenschrank. Linker Hand war ein schmales Schlupfloch, gerade groß genug, dass Anders oder sie hineinkriechen und sich darin verstecken konnten. Wenn sie sich ganz klein machten, sogar gleichzeitig.
Sie kontrollierte den Stapel sauberer Bettwäsche, nahm einen Bett- und Kissenbezug und ein Laken heraus und ging damit in Anders’ Zimmer. Ihr Magen knurrte. Sie und Anders hatten seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Ihr Vater hatte den ganzen Tag stark getrunken. Anders saß auf dem Boden und spielte mit Lego. Der beißende Geruch von Urin stieg ihr in die Nase, als sie seine Bettdecke zur Seite schlug. In der Mitte des Lakens prangte ein gelber, eingetrockneter Fleck. Wie immer. Mit routinierten Handgriffen wechselte sie das Bettzeug.
»So, jetzt kannst du dich hinlegen«, sagte sie, als sie fertig war. »Komm, ich geh mit dir ins Bad.«
»Aber ich hab Hunger. Ich hab nichts mehr …«
Er brach den Satz ab, als er dem Blick seiner Schwester begegnete, und folgte ihr widerspruchslos.
»Ich schaue mal nach, was ich für uns besorgen kann, aber jetzt noch nicht.«
Sie schlichen über den Flur. Vor der Kellertür lagen Schuhe und Jacken durcheinander auf einem Haufen, als wäre das Haus voller Kinder. Die Haustür der Familie Gulliksen war immer abgeschlossen.
»Pssst! Wir müssen leise sein«, sagte sie.
Anders machte brav den Mund auf. Ina putzte seine Zähne und zog ihm einen sauberen Schlafanzug an, den sie in dem Schrank unter dem Waschbecken fand.
»Wo ist der, den du heute Nacht anhattest?«, fragte sie sanft.
Anders beantwortete ihre Frage nicht, zog stattdessen die Schultern hoch.
»Du weißt doch, dass er gewaschen werden muss. Wenn Papa ihn findet …«
Ina hasste es, ihrem kleinen Bruder zu drohen, aber er war so impulsiv und sah die Falle immer erst, wenn sie zuschnappte. Anders griff nach ihrer Hand und zog Ina hinter sich her ins Schlafzimmer. Er öffnete den Schrank und zog den Schlafanzug hinter einem Stapel sauberer Sachen hervor. Ina nahm ihn, als es an der Kellertür klingelte. Rasch deckte sie Anders zu. Sie saßen reglos da und warteten darauf, dass jemand die Treppe runtergelaufen käme, um aufzumachen, aber nichts passierte. Die Musik über ihnen vibrierte rhythmisch in der Balkenkonstruktion zwischen den Etagen. Ganz leise begann sie, das Gutenachtlied für ihren Bruder zu singen, das ihre Mutter immer gesungen hatte.
Schlaf ein in himmlischer Ruh,
herzallerliebstes Kindlein, du …
»Darf ich bei dir schlafen?« Anders drückte ganz fest ihre Hand.
Ina schüttelte entschieden den Kopf.
»Nein. Nicht, solange du ins Bett pinkelst.«
Sie sang weiter und fragte sich, was in dieser Nacht wohl noch alles geschehen würde. Sie passte den Rhythmus ihres Liedes an das Trampeln über ihren Köpfen an.
Und wenn im Traum du gelacht,
ein Engel über dich wacht …
Ina war gerade aufgestanden, als die Klingel erneut schellte. Anders reagierte nicht. Einen Augenblick stand sie mit der Hand auf der Türklinke da, dann schlüpfte sie auf den Flur und schloss die Tür leise hinter sich. Als sie sich umdrehte, stieß sie mit einem Mann in blauer Hose, weißem Hemd und Schlips zusammen. Er hielt eine große Tasche von Alpino Pizza in Norheimsund in der Hand. Ihr leerer Magen zog sich bei dem leckeren Duft zusammen, aber sie wusste, dass die Pizza nicht für sie bestimmt war. Sie hatte den Taxifahrer schon oft gesehen. Manchmal, wenn ihr Vater nach der Arbeit noch in eine Kneipe ging, schickte er den Taxifahrer mit dem Abendessen zu Ina und Anders nach Hause. Oder das Taxi wartete bereits in der Einfahrt, wenn sie von der Schule kamen, mit Pizza oder Hamburger von der Esso-Tankstelle. Ina war das peinlich, sie wollte nicht, dass jemand sah, wie er das Essen für sie brachte. Jetzt erkannte der Taxifahrer sie wieder und warf ihr ein Lächeln zu. Ina grüßte höflich und zog das kurze Nachthemd nach unten.
»Hast du etwa so viele Pizzen bestellt?«
Er hatte dickes Haar und freundliche Augen. Unter seiner Oberlippe wölbte sich eine Portion Snus.
»Die sind für die da oben. Gehen Sie einfach hoch.« Ina schob sich an ihm vorbei in ihr Zimmer. Da stand er plötzlich in der Tür. Sie drückte sich an die Wand und schlang die Arme um die angezogenen Knie. Der Taxifahrer lächelte sie wehmütig an. Fast, als wäre er traurig, dachte Ina. Dann legte er wortlos einen Pizzakarton auf ihren Schreibtisch, drehte sich um und schloss die Tür hinter sich. Gleich darauf hörte sie Jubel von der Veranda, als die Pizza geliefert wurde.
Sie wartete in ihrem Zimmer, bis sie draußen das Taxi abfahren hörte. Dann lief sie mit der Pizza zu Anders, und gemeinsam schlangen sie sie hastig hinunter. Den Karton versteckten sie unter dem Bett. Sie konnte erst schlafen gehen, wenn Anders’ schmutziges Bettzeug gewaschen war. Sie schaute durch das Bullauge in die Maschine. Das Wasser war noch ganz schaumig. Schnell stellte sie das Programm auf Spülen vor, lief in ihr Zimmer und schloss die Tür. Exakt vierzehn Minuten später nahm sie die nassen Kleider aus der Trommel und steckte das Bettzeug hinein. Sie hatte gerade das Bullauge zugemacht, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. Hinter ihr stand ihr Vater und sah sie an.
»Zieh dich an und komm hoch«, sagte er mit belegter Stimme.
»Ich muss noch die Wäsche aufhängen. Der Trockner ist voll.«
»Quatsch, das kann warten.« Er riss ihr den Haufen Wäsche aus der Hand und warf ihn auf den Boden. »Darum kannst du dich später kümmern.«
Sie wich seinem Blick aus.
»Ich hab aber keine Lust«, antwortete sie trotziger, als sie vorgehabt hatte. »Ich bin müde und will jetzt schlafen.«
»Schlafen? Quatsch! Das Wetter ist so schön.«
Er schien kurz nachzudenken, ehe er auf den Trick zurückgriff, der fast immer funktionierte. Er kniff Ina fest an der Innenseite des Oberarms und drehte die Hautfalte herum.
»Du kriegst auch Pizza.«
Ina war satt, aber das konnte sie ihm natürlich nicht sagen, wollte sie nicht entlarvt werden.
»Ich muss mir erst was anziehen.« Sie lief in ihr Zimmer.
Ihr Vater hatte sie noch nie aufgefordert, bei einem seiner Feste dabei zu sein. Sie zog eilig ihre Shorts und das T-Shirt über, das sie früher am Abend ordentlich zusammengefaltet auf den Stuhl gelegt hatte, und rieb sich den Arm. Als sie den blauen Fleck sah, zog sie statt des T-Shirts eine langärmelige Bluse an. Ihr Vater saß auf der Treppe und wartete. Er strich ihr über den Rücken, als sie ins Wohnzimmer hochgingen. Als Ina und ihr Vater eintraten, schaute die Frau, die auf dem Sofa saß, auf.
»Ist das deine Tochter, Kjartan? Wie süß.«
Die Frau stand auf und kam auf sie zu. Das braune Haar reichte ihr über den halben Rücken. Sie sah viel jünger aus als der Vater. Ina fühlte sich begutachtet wie ein Kleidungsstück in einem Schaufenster.
»Hallo, ich bin …« Die Frau sah den Vater an, der kurz nickte. »Also, ich bin die Freundin von deinem Papa.«
Ina sagte nichts, reichte der Frau aber wohlerzogen die Hand, ehe sie sich in den Hintergrund zurückzog. Ihr Vater hatte dauernd neue Freundinnen, seine Bekanntschaften hielten selten länger als ein paar Wochen. Trotzdem brachte er alle mit nach Hause und stellte sie Ina und Anders vor. Für Ina bedeutete jede neue Freundin eine dringend nötige Verschnaufpause in der Trinkerei ihres Vaters. In den ersten Tagen einer neuen Beziehung riss er sich zusammen. Dann fuhren sie raus auf den Fjord zum Angeln wie in der Anfangszeit, als sie nach Øystese gezogen waren. Ina wusste genau, wann es an der Zeit war, sich von den Familienabenden mit Kartenspiel und Fernsehen zurückzuziehen. Nach ein paar Tagen hielt ihr Vater es dann nicht mehr aus. Zuerst trank er noch gemeinsam mit der Freundin, aber sobald die Frauen merkten, dass er die ganze Zeit trank, verschwanden sie, eine nach der anderen, während Ina und Anders mit wechselndem Erfolg versuchten, sich unsichtbar zu machen.
»Magst du einen Sprudel?«, fragte ihr Vater.
»Ich bin schrecklich müde, am liebsten würde ich mich hinlegen«, antwortete Ina.
Er schien gar nicht zuzuhören, setzte sich neben die Frau aufs Sofa und zog Ina auf seinen Schoß. Sein Alkoholatem mischte sich mit dem Duft ihres süßlichen Parfums. Ina wurde schlecht, erst recht, als ihr Vater eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch nahm, den Kopf leicht von Ina wegdrehte, und sie anzündete, um ihr im nächsten Moment den Rauch direkt ins Gesicht zu blasen.
»Was machst du da?«
Die Frau schnappte ihm die Zigarette aus der Hand und drückte sie im Aschenbecher aus. Ina merkte, wie der Körper ihres Vaters sich anspannte, ehe er sie küsste, als wäre sie seine Freundin. Dann schubste er Ina auf einen anderen Sessel.
Ina suchte sich eine einsame Ecke auf der Terrasse, zog die Knie an den Körper und machte sich so klein, wie sie nur konnte. Überall waren Menschen, mehr Männer als Frauen. Einige wenige erkannte sie wieder. Auf dem Tisch standen Flaschen in allen möglichen Größen und Formen. Etwas entfernt in einer anderen Ecke der Terrasse saßen zwei Männer mit Motorradjacken, auf deren Rücken Hardanger MC-Klub stand. Einer hatte eine Tätowierung, die sich aus dem Shirt-Ausschnitt über seinen Hals wand. Das lange Haar verdeckte den größten Teil seines Gesichts. Der andere trug eine Sonnenbrille und hatte einen glatt rasierten Schädel. Beide schauten zu ihr rüber, ohne eine Miene zu verziehen. Einen anderen, jüngeren Mann erkannte Ina wieder. Er trug eine Jeansjacke, auf der ebenfalls das Klub-Logo auf dem Rücken prangte, und hieß Joar Børven.
Kurz nachdem sie nach Skipadalen gezogen waren, hatte Joar neben ihr angehalten, als sie den Einkauf nach Hause getragen hatte. Er hatte ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren, und obwohl ihr Vater ihr verboten hatte, bei Fremden ins Auto zu steigen, hatte sie eingewilligt. Die Henkel der Plastiktüten hatten sich so gemein in ihre Handflächen geschnitten, ihre Arme taten ihr weh, und der Vater hatte schon zweimal angerufen und gemeckert, dass sie so lange brauchte. Sie erinnerte sich noch genau an das Gefühl seiner klammen Hände auf ihren nackten Oberschenkeln.
Ina stand auf. Überall auf dem Rasen lagen, saßen und standen Leute herum. In einer Gruppe drüben bei den Stachelbeerbüschen spielte ein Mann Gitarre. Sie drehte sich um und begegnete Joar Børvens Blick, der grinsend auf den Stuhl neben sich klopfte. Ina senkte den Blick und zog sich so unauffällig wie nur möglich ins Wohnzimmer zurück, wobei sie innig betete, dass Joar ihr nicht folgte. Drinnen wäre sie fast von einem Mann umgerannt worden, der sie auf dem Weg zur Toilette überholte. Sie lief schnell die Treppe runter und in ihr Zimmer. Die Wäsche musste warten. Am liebsten hätte sie die Tür abgeschlossen, aber das traute sie sich nicht, für den Fall, dass Anders sie brauchte.
Ina zog das Rollo herunter. Das Zimmer lag jetzt im Dunkeln. Nur ein schmaler Lichtstreifen mogelte sich über die Türschwelle. Sie lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Mit einem Mal hörte sie ein Knarren auf der Kellertreppe und zuckte zusammen. Schritte näherten sich. Das Geräusch verstummte vor ihrer Tür, und sie glaubte, Schatten in dem Lichtstreifen zu erkennen, der unten durch den Türspalt fiel. Ganz langsam glitt die Tür auf. Ina kniff die Augen zu, ehe sie sehen konnte, wer dort war. Sie zog sich die Decke über den Kopf und erstarrte, als sie die Hand spürte, die sich unter die Decke schob, über ihren Oberschenkel strich und weiter nach oben unter die Unterhose wanderte. Der Atem des Mannes wurde lauter. Dann zog er sich genauso still zurück, wie er aufgetaucht war. Ina wollte nicht wissen, welcher Freund ihres Vaters diesmal zu ihr gekommen war. Sie stieg aus dem Bett. Stand eine Weile auf zitternden Beinen davor, ehe sie in Anders’ Zimmer ging und ihn weckte.
»Du darfst doch bei mir schlafen«, flüsterte sie.
Sie hob ihn mit einem festen Griff unter den Achseln und den Kniekehlen hoch und trug ihn in ihr Zimmer. Bald war er so schwer, dass sie ihn nicht mehr tragen konnte.
Irgendwann in der Nacht wurde sie wach, weil Anders’ Haare sie im Gesicht kitzelten. Er hatte sich dicht an sie gedrückt und seine kleine Hand in ihre geschoben. Ina streichelte seine Wange, drehte sich um und legte die Arme um ihn. Sie lauschte. Alles war still. Sie schaute auf die Zahlen auf dem digitalen Wecker. 05:50. Die Vögel waren schon wach und krakeelten vor dem Fenster.
Vorsichtig kletterte sie über Anders aus dem Bett und ging auf den Flur. Als sie die Badezimmertür öffnete, hörte sie schlurfende Schritte über sich. Sie lief zurück, zog Anders aus dem Bett und hinter sich her ins Bad. Ein heftiges Poltern, gefolgt von lauten Flüchen, ließ sie zusammenzucken. Sie zog Anders näher an sich heran, schloss die Tür ab und kauerte sich auf den Boden. Anders drückte sich dicht an sie.
»Ina«, rief der Vater.
Sie antwortete nicht.
»Ina!«, rief er noch einmal, lauter.
Als auf dem Flur die schweren Schritte des Vaters zu hören waren, drückte Anders sich noch dichter an seine Schwester. Etwas fiel auf den Boden und zerbrach. Der Vater fluchte erneut und brüllte ihren Namen. Anders presste die Hände auf die Ohren und sah seine Schwester panisch an. Ina stand auf, aber er griff nach ihrer Hand und versuchte, sie mit weißen Fingern festzuhalten. Sie schüttelte seine Hand ab.
»Es wird nur schlimmer, wenn ich nicht rausgehe. Bleib hier sitzen und sei ganz still. Mach die Tür vorsichtig hinter mir zu.«
»Ich hab Angst«, wimmerte er.
»Ich weiß«, flüsterte sie.
Der Vater stützte sich mit einer Hand auf das Treppengeländer. Sein Gürtel war offen und die Hose auf die Hüfte runtergerutscht.
»Warum antwortest du nicht, wenn ich dich rufe«, sagte er und machte einen wackeligen Schritt auf sie zu.
Ina wich erschrocken nach hinten aus.
»Ich war auf dem Klo. Musste erst noch fertig machen.«
Ihr Vater musterte sie von oben nach unten.
»Ich musste erst noch fertig machen«, äffte er sie nach. »Bla, bla, jetzt komm schon.« Er winkte sie zu sich. »Ich brauche Hilfe.«
Er schlurfte vor ihr die Treppe hoch. Als sie ins Wohnzimmer kamen, sah sie, was dort so gepoltert hatte. Der weiße Glasschrank war umgekippt.
»Wie ist das denn passiert?«, rutschte es ihr heraus.
»Halt die Klappe, verdammt!«
Ihr Vater fuhr so schnell herum, dass sie sich nicht mehr rechtzeitig ducken konnte. Es pfiff in ihrem Ohr, als er ihr mit der flachen Hand ins Gesicht schlug.
»Das geht dich gar nichts an. Hilf mir lieber, verfluchtes Gör. Was glaubst du eigentlich, wer du bist?«
Es sah gefährlich danach aus, als würde er das Gleichgewicht verlieren, als er sich vorbeugte, um den Schrank hochzustemmen. Ina reagierte blitzschnell und stellte sich an die andere Seite, mobilisierte alle Kräfte und zwang sich, nicht an die Schmerzen im Ohr zu denken. Einen Augenblick glaubte sie, unter dem Schrank begraben zu werden, aber sie biss die Zähne zusammen und hielt durch. Die Regalfächer leerten sich klirrend über ihnen aus. Als der Schrank endlich wieder stand, schaute sie mit offenem Mund und herunterhängenden Armen auf das Schlachtfeld. Der Boden war übersät von zerbrochenen Gläsern und Flaschen mit eklig riechenden Flüssigkeiten. Der Vater fluchte.
»Räum das auf!«, kommandierte er.
Ina nickte, rührte sich aber nicht vom Fleck, bis ihr Vater in seinem Schlafzimmer verschwunden war. Um sieben Uhr war sie mit dem Putzen fertig. Nur die fehlenden Scheiben und die gähnende Leere des Schranks verrieten, was passiert war. Als die Sonne über den Bergrücken stieg, öffnete sie die Terrassentür. Auf dem Gartensofa lag ein umgekipptes Glas, und ein Kissen hatte einen großen, blutroten Fleck. Auf dem Boden lagen vergessene Jacken und Pullover und mehrere Fleecedecken. Tisch und Fliesen waren mit leeren Flaschen bedeckt. Aufgeweichte Zigarettenfilter schwammen in den Bierresten der Halblitergläser. Ina rieb sich die Augen. Ihre Finger waren schrumpelig wie nach einem langen Bad. Sie hatte keine Kraft mehr, weiterzumachen, wusste aber, dass sie das tun sollte. Ihr Vater schlief bestimmt wieder so lang wie an allen Sonntagen. Ina musste sich nur rechtzeitig den Wecker stellen, um den Rest aufzuräumen, bevor er aufstand.
Sie schlich nach unten in den Keller und ging ins Bad, um Anders zu erlösen. Aber er war nicht da. Dann sah sie in seinem Zimmer nach. Die Tür war zu, aber nicht abgeschlossen. Ganz vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, schob sie sie auf. Das Bett war leer.
»Anders!«, rief sie, so laut sie sich traute.
Keine Antwort. Ina richtete sich darauf ein, draußen nach ihm suchen zu müssen. Es wäre nicht das erste Mal, dass der Junge sich versteckte, wenn ihr Vater sich so benahm. Als sie die Kellertür aufmachte, hörte sie ein leises Geräusch. Sie schob den Kopf nach draußen, konnte aber nichts sehen, weil die Morgensonne in den Scheiben des Treibhauses auf der anderen Straßenseite reflektierte und sie blendete. Ein Schwarm Fliegen schwirrte über einer umgekippten Bierflasche auf der Steinplatte vor ihren Füßen.
Jetzt war das Geräusch deutlicher zu hören. Es kam nicht von draußen. Sie lächelte erleichtert. In der hinteren Flurecke, hinter den Körben in dem Schrank mit den Schiebetüren, lag Anders wie ein Embryo zusammengerollt, einen Stapel Bettbezüge als Kissen unter dem Kopf. Er hatte seinen Kuschelteddy an sich gedrückt und den Daumen tief in den Mund geschoben. In Inas Augenwinkeln brannten Tränen, aber sie zwang sich, an etwas anderes zu denken als an den Jungen vor sich. Ganz vorsichtig weckte sie ihn. Seine Augenlider zuckten, und er sah sie erschrocken an wie ein Monster aus einem seiner Albträume. Sie zog ihn auf die Beine und bugsierte ihn sanft in sein Zimmer. Ehe sie sich selber dicht an ihn schmiegte, platzierte sie den Teddy in seiner Armbeuge. Erst als sie merkte, dass er tief schlief, taumelte sie rüber in ihr eigenes Zimmer und vergaß, den Wecker zu stellen.
Das morgendliche Bad im Fjord war erfrischend. Danach suchte Bengt seine Fahrradhose und ein kurzärmeliges Trikot heraus. Pfeifend füllte er zwei Wasserflaschen. Wider Erwarten hatte er gut geschlafen. Ab dem kommenden Tag würde sein Tagesablauf ein anderer sein. Wie anders, würde er sehen. Unbehagen und Verantwortungsgefühl kämpften in seinen Gedanken miteinander. Das Unbehagen gewann. Bengt fühlte sich unwohl. Wie ein Krimineller, der die Polizei vor der Tür stehen hatte und wusste, dass das Spiel verloren war. Thomas Alvsaker. Der Name machte ihn nachdenklich. Katrine hatte dem Jungen seinen Nachnamen gegeben. Eine klare Ansage ihrerseits. Auf lange Sicht konnte er sich der Verantwortung nicht entziehen.
Bengt klickte die Schuhe in den Pedalen ein und schüttelte die unangenehmen Gedanken ab. Er startete langsam, ließ die Treibhäuser rechts liegen. Als er sich der Bushaltestelle in der Ewigkeitskurve näherte, sah er die unverkennbaren schwarzen Locken von Anders Gulliksen, der am Straßenrand entlangspazierte. Bengt fuhr schräg über die Straße, bis er neben dem Jungen war.
»Hallo, Anders. Schon auf?«, fragte er. »Darfst du so früh schon allein unterwegs sein?«
Anders antwortete nicht, er ging einfach weiter, den Blick starr auf den Asphalt gerichtet, als wäre Bengt ein Fremder, mit dem er nicht sprechen durfte. Der Schlafanzug hing locker an seinem schmächtigen Körper. Offenbar war der Junge gerade erst aufgestanden und in seine roten Crocs geschlüpft. Er wirkte wie ein Schlafwandler. Die ausgewaschene Pyjamahose reichte ihm knapp bis unter die Knie.
»Wohin willst du denn?«, fragte Bengt, stieg ab und schob sein Fahrrad neben dem Jungen her.
»Zu Selma«, antwortete Anders mürrisch und beschleunigte seine Schritte.
Bengt wunderte sich. Der Junge war doch sonst nicht so wortkarg, im Gegenteil.
»Ist alles in Ordnung?«
Bengt beugte sich hinunter und versuchte, Augenkontakt mit dem Jungen zu bekommen, aber Anders sah ihn nur kurz an und ging dann weiter.
»Ja«, antwortete er kurz.
Irgendetwas stimmte da nicht. Hatte er sich mit Ina gestritten? Die beiden kriegten sich mitunter ordentlich in die Wolle.
»Selma, ach so«, sagte Bengt. »Die muss inzwischen doch schon ziemlich alt sein, oder?«
»Sehr.« Anders blieb abrupt stehen. Erleichtert registrierte Bengt, dass der Junge lächelte. Seine großen braunen Augen blitzten auf. »Ihre Haare sind schon ganz grau«, sagte er lachend.
»Die waren schon grau, als ich noch klein war«, sagte Bengt, froh darüber, dass der Junge wieder normal reagierte. »Ich habe sie schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Geht es ihr gut?«
»Sie hat Erdbeeren im Garten«, sagte Anders, als wäre das die einzig richtige Antwort auf die Frage nach dem Glück.
»Tja, ich muss dann mal los.« Bengt rückte seinen Helm zurecht. »Ich will heute eine große Runde machen. Grüß Selma von mir. Und frag sie, ob sie sich noch an Bengt erinnert, der ihre Waffeln so geliebt hat.« Er setzte sich auf sein Fahrrad. »Und pass auf die Autos auf!«
»Du auch«, rief Anders und rannte hinter ihm her.
Seine viel zu großen Schuhe waren aber wohl hinderlich, denn als Bengt sich noch einmal umdrehte, war Anders stehen geblieben und sah zu dem öffentlichen Strand vor Vallandsholmen hinüber.
Bengt fuhr entspannt durch die Ewigkeitskurve. Selmas weißes, altes Haus weckte wohlige Kindheitserinnerungen. Er fragte sich, ob ihr Sohn, Johan, noch immer bei ihr wohnte. Er konnte sich nicht daran erinnern, ihn in letzter Zeit gesehen zu haben. Selmas Mann war schon seit Jahren tot, und Johan war immer anders als die anderen Kinder gewesen. Vermutlich aufgrund einer Art Autismus. Als Kind hatte Bengt sich darüber keine Gedanken gemacht. Johan war einfach Johan gewesen.
Er fuhr an der Polizeiwache von Norheimsund vorbei, schaltete rauf und kämpfte sich zum Steindalsfoss hoch. Im Winter wurden Teile des Wassers für die Wasserkraftnutzung abgeleitet, aber jetzt durfte sich der Wasserfall wieder frei entfalten. Die Steigung hinauf zum Kvamskogen meisterte Bengt langsam und gleichmäßig.
Ein paar Stunden später rastete er bei Omastrand auf einer Lichtung im Wald. Die Strecke von Strandebarm nach Hause war die schönste. Senkrechte Felswände und saftig grüne Wiesen auf der linken Seite und rechts der Hardangerfjord. Bengt füllte seine Wasserflaschen in einem Bach, setzte sich auf eine Bank und riss die Verpackung von einem Energieriegel auf, ehe er Hauptkommissarin Susanne Hauso anrief. Sie antwortete nach dem ersten Klingeln. Durch das Laubwerk einer riesigen Hängebirke sah er einen orangenen Frachter fjordeinwärts fahren. Das gleichmäßige Brummen des Motors hallte an den Felswänden wider.
»Ist heute was passiert?«, fragte Bengt.
»Nicht viel«, antwortete Susanne. »Esso-William hat vor einer Weile angerufen. Er hat heute Morgen um elf Uhr einen schlafenden Jugendlichen in einem Wagen hinter seiner Werkstatt überrascht. Der junge Mann soll ziemlich betrunken gewesen sein … Warte mal eben.«
Bengt hörte, dass sie durch ein paar Papiere blätterte. Er musste darüber lächeln, dass auch sie den Spitznamen seines Freundes nutzte.
»Irgendein Joar«, sagte Susanne.
»Joar Børven«, antwortete Bengt. »Wundert mich nicht. Ich wette, dass er selbst gefahren ist.«
»Børven, ja, stimmt mit den Papieren überein. Der Wagen hatte an der Stoßstange vorne links deutliche Schäden. Ich habe Peder damit beauftragt. Er ist im Haus, obwohl Sonntag ist. Er befragt den Jungen gerade.«
Bengt beendete das Gespräch, froh, dass der Sonntag auf der Wache so ruhig war, und spülte den Rest des Energieriegels mit etwas Wasser hinunter. Proteine und Kohlenhydrate hatte er jetzt genug intus, sodass er den Rest der Tour angehen konnte. Als er sich Vikøy näherte, warf er aus alter Gewohnheit einen Blick über den Fjord in Richtung Steinstøberget. Vor seinem inneren Auge sah er den Wagen von Iselin Melstveit, die dort vor einem Jahr in den Fjord gefahren war. Sie hatten sie nie gefunden. Bengt schüttelte den Gedanken ab. Er wollte den Rest des Sonntags genießen. Außerdem standen ihm noch genug Herausforderungen bevor.
Ina hatte verschlafen. Als sie die Terrassentür öffnete, hörte sie Stimmen aus dem kleinen Radio. Dann war ihr Vater schon aufgestanden. Sie sah sich wachsam um, konnte ihn aber nirgendwo sehen. War er wieder ins Bett gegangen? Die Terrasse war aufgeräumt, der Betonboden abgespritzt, der Schlauch wand sich wie eine Schlange über den Rasen. Nur die auf einem Stuhl vergessenen Kleider und der kaputte Glasschrank im Wohnzimmer erinnerten noch an das vergangene Fest.
Ina rieb sich den Schlaf aus den Augen und ließ dann den Blick auf dem kleinen Waldstück hinter dem Grundstück ruhen. Die Sonntagmorgen waren die besten. Da schlief ihr Vater lang und trank nicht. Irgendwie war es so, als spönne der Ruhetag ein Netz aus weißem Gold über alles Böse. Sie legte eine Hand über die Augen. Das Sonnenlicht glitzerte in den Birken und auf dem feuchten Rasen. Ganz oben bewegte sich ein Zweig. Ein Eichhörnchen stieß sich ab und landete im Nachbarbaum, ehe es über den Stamm nach unten huschte und im Wald verschwand.
Lautes Möwengeschrei zog ihre Aufmerksamkeit auf den Fjord. Sie ging über die Terrasse und beugte sich über das Geländer, um besser sehen zu können. Ein orangener Schmetterling nahm Kurs auf sie, und sie wedelte ihn mit der Hand weg. An ihrem Anleger lag ein braunes Ruderboot. Vier Möwen kreisten über dem Boot und kämpften um den besten Platz. Ein Oselver-Boot, dachte Ina. Bengt hatte ihr erklärt, dieser Bootstyp sei leicht an dem Loch für den Mast in der vorderen Ruderbank zu erkennen. Das Segel war gehisst, hing aber schlaff am Mast herunter. Ina beugte sich noch weiter über das Geländer, um besser sehen zu können.
In diesem Moment entdeckte sie ihren Vater. Er hockte auf allen vieren auf dem Rasen und grub in der Erde. Die Terrasse des Hauses stand auf einem massiven Mauerfundament. Von der Stelle, an der Ina stand, ging es tief hinunter. Drei Kisten mit pfirsichfarbenen Sommerpflanzen standen neben ihrem Vater. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Eigentlich war sie es, die sich um den Rasen und die Pflanzen kümmerte. Als ihr Vater Anstalten machte, aufzustehen, wich Ina einen Schritt zurück. Er machte einen Ausfallschritt zur Seite, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ein paar Sekunden lang stand er mit dem Rücken zu ihr, den Blick auf die Boote auf dem Fjord gerichtet. Dann zog er seine blaue Shorts hoch und steckte sich das T-Shirt unter den Hosenbund. Ina hielt abwartend die Luft an, wie in der Sekunde, bevor man eine Fliege klatschte. Der erste Blick in seine Augen, wenn er sie noch gar nicht richtig wahrnahm, verriet ihr, wie der Rest des Tages werden würde.
»Na du, auch endlich wach?«
Ina nickte und lauschte dem Klang seiner Stimme.
»Tja, das hier muss auch irgendwann gemacht werden, weißt du.« Er nickte in Richtung der Blumen. »Es ist nicht so einfach, alles zu erledigen, wenn man den halben Tag verschläft.« Er kam um die Terrasse herum. Die Furcht vom Vorabend kam zurück, sie ähnelte dem bangen Warten zwischen zwei Blitzen, während man unruhig die Sekunden zählte. »Dieser Sommer ist einfach zu warm.« Der Vater setzte sich auf einen der Gartenstühle. »Die Blumen sind verwelkt. Ich habe uns bei Gjermund Lundanes in der Gärtnerei ein paar neue besorgt. Hast du wirklich so lange geschlafen, Liebes?«
Liebes … Ina war nicht in der Lage zu antworten.
In Gedanken zählte sie die Stunden. Ihr Vater war um sechs Uhr morgens zu Bett gegangen. Nur wenige Stunden später musste er in der Gärtnerei gewesen sein. Ina wusste, dass Gjermund auch am Sonntag früh aufstand und in seiner Gärtnerei Pflanzen verkaufte. Aber wie war ihr Vater nur auf diese Idee gekommen? Das Jugendamt fürchtete er wohl kaum. Die hatten sich schon lange nicht mehr gemeldet, beim letzten Mal hatten sie noch in Bergen gewohnt. Ein Mann und eine Frau hatten irgendwann einfach vor der Tür gestanden, als ihre Mutter auf dem Sofa geschlafen und ihr Vater bei der Arbeit gewesen war. Ina hatte sie hereingelassen. Die Frau vom Jugendamt hatte gesagt, dass Erwachsene, die trinken, keine Kinder haben sollten.
Ina ging ein paar Schritte auf ihren Vater zu, stellte sich dicht hinter die Bank und sog die Luft ein. Auf dem Tisch stand eine halb volle Kaffeetasse.
»Setzt dich doch, Ina«, sagte er. Ina nahm auf der vorderen Kante des Gartenstuhls Platz. »Hierher. Er klopfte auf das Kissen neben sich. Sie faltete die Hände im Schoß. Ihre Knöchel waren weiß. Der Vater zog sie an sich heran. Sie roch den Schweiß unter seinen Achseln. »Du – was da letzte Nacht passiert ist, das tut mir leid.«
Jetzt war sie sich sicher. Er lallte.
»Macht doch nichts.« Ina rutschte unruhig hin und her.
»Ich kann mich nicht an alles erinnern, aber … es war wohl ein ziemliches Halligalli«, fuhr ihr Vater fort. »Als hätten wir Tag der offenen Tür gehabt.«
»Macht doch nichts«, wiederholte Ina und hätte ihn gern auf ein anderes Thema gebracht. Etwas Ungefährliches, das nicht alles wieder von vorn beginnen ließ.
Der Vater beugte sich vor und fischte eine Zigarette aus dem Päckchen, das auf dem Tisch lag. Dann trank er einen Schluck Kaffee. Sein Blick glitt an ihr vorbei und blieb auf einem roten Putzeimer hängen, der in einer Ecke stand.
»Tut mir leid, dass ich verschlafen habe. Ich war so müde. Eigentlich wollte ich draußen aufräumen«, sagte Ina.
Sie bereute ihre Worte sofort, aber ihr Vater zuckte nur mit den Schultern und stand auf.
»Ist schon okay, wie du siehst, habe ich es ja selbst geschafft«, sagte er, wobei seine Stimme mit einem Mal scharf klang. »Weckst du Anders? Er muss ja nicht den ganzen Tag verschlafen.«