Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, lebt als Schriftsteller und Verleger in Berlin. Er hat zahlreiche Romane und Sachbücher für erwachsene und junge Leser publiziert.
Die True-Crime-Thriller Zerschunden, Zersetzt und Zerbrochen zusammen mit Michael Tsokos waren allesamt Top-Ten-Bestseller auf der SPIEGEL-Liste.
Rattenflut ist der dritte Teil seiner mit Wolfswut und Drosselbrut gestarteten True-Crime-Reihe.
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Ein Projekt der AVA International GmbH
Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
Redaktion: Nina Hübner
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Kai Beercrafter / shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45675-0
[home]
Prolog
Die Tür geht auf, Daria nimmt es nur verschwommen wahr. Ein weißer Schemen wabert herein, ein Arzt, denkt sie, und die Lider fallen ihr wieder zu.
Jemand beugt sich über sie, Daria zwingt sich, die Augen zu öffnen, ein rundes Männergesicht schwebt über ihr wie ein käsiger Mond. »Alles gut«, murmelt der Mann. Er hat einen weißen Kittel an, doch irgendetwas an ihm ist gar nicht gut. Aber was?
Sie kann die Frage nicht festhalten, so wenig wie die Bettdecke, die er ihr mit einem Ruck wegzieht. »Nur eine kleine Untersuchung«, flüstert er.
Er hat eine Halbglatze mit zotteligem Haarkranz, und seine Nase ist zu lang. Außerdem gummiweich, als sie gegen Darias Wange stupst. Sie erschauert, so einen Arzt hat sie hier nie gesehen. Doch das muss nichts bedeuten. Seit sie in der Kinderklinik ist, kommt alle naselang jemand in ihr Zimmer, um sie zu untersuchen, zu füttern, ihren Tropf auszutauschen.
»Dari, Kleines, ich bin’s«, raunt er ihr ins Ohr. »Ich bin jetzt immer für dich da.« Während sie wieder wegdämmert, sickern die Worte ganz langsam in sie ein. Mein Papa, denkt sie, jetzt wird wirklich alles gut.
Als sie erneut zu sich kommt, liegt er bei ihr im Bett. Papa. Schlaftrunken schmiegt sich Daria an ihn. Ihr Leben lang hat sie auf ihn gewartet.
»Dari, Liebes, wie schön du bist.« Er schiebt ihr das Nachthemd hoch.
Sie verkrampft sich am ganzen Körper. Das ist nicht Papa, und ein Arzt ist er auch nicht. Sie will ihn wegdrücken, aber er ist schwer und hart wie ein Baum. Sie will schreien, da schnellt ein fetter Wurm in ihren Mund. Daria würgt und ringt um Luft. Der Wurm ist schleimig und schmeckt nach verdorbenem Fleisch. Seine Hand legt sich wie eine Zange um ihren Unterkiefer. Er gräbt die Zähne in ihre Lippen und schlürft ihr hervortröpfelndes Blut.
Mit der anderen Hand erkundet er ihren Körper, seine Finger sind rau und rücksichtslos. Er stößt ihr seine Zunge so tief in den Rachen, dass Daria vor Angst und Atemnot zu sterben glaubt.
+++
Klopfen an der Tür. Unwirsch hält er inne. Können die Idioten nicht lesen? Schließlich hat er draußen das Schild angebracht:
Patientenbefragung!
ZUTRITT VERBOTEN!
Was daran ist so schwer zu verstehen? Haben diese Kretins immer noch nicht kapiert, dass niemand stören darf, wenn er Patienten interviewt – zusammen mit dem Doktor oder auch, wie jetzt eben, allein?
Erneutes Klopfen, zaghaft wird die Klinke heruntergedrückt. Natürlich ohne Erfolg, er hat zusätzlich abgeschlossen, damit ihm keiner die Party ruiniert. Trotzdem ist es eine Sauerei, ihn hier zu stören. Gerade war er ein bisschen in Fahrt gekommen, jetzt ist er total abgetörnt.
Endlich hört das Klopfen und Klinkendrücken auf. Er wendet sich wieder dem Mädchen zu, leckt sich ihr Blut von den Lippen. »Wie süß du schmeckst, Kleines.« Ihr Körper ist noch so kindlich, als wäre sie nicht vierzehn, sondern höchstens elf.
+++
Daria spürt, dass sie gleich das Bewusstsein verliert. Alles geht in ihrem Kopf durcheinander. Ein Fremder kommt hier doch gar nicht rein. Also ist es doch mein Papa? Nein, bestimmt ein Arzt, aber was macht er mit mir? Seine Hände sind überall. Oder bildet sie sich das nur ein? Im nächsten Moment glaubt sie, es wäre Nikki, der junge Pfleger, der sie immer so liebevoll betreut. Aber sie ist so beduselt, sie kann nicht klar sehen, noch weniger klar denken.
Der Mann schiebt etwas in sie hinein. Daria will sich zusammenkrümmen, doch ihr Körper gehorcht nur noch ihm.
+++
Er steht neben ihrem Bett, und überall ist Blut. Okay, er hat die Zügel ziemlich schleifen lassen, wenn auch nur für ein paar Minuten. Höchstens für eine halbe Stunde oder so, und er bereut keinen Augenblick davon. Auch wenn er zugeben muss, dass er einen ziemlichen Schlamassel angerichtet hat.
Schlamassel, genau, denkt er und beruhigt sich wieder. Massaker wäre viel schlimmer, jedenfalls hier, mitten in Berlin.
Das Mädel ist nicht mehr vorzeigbar, da gibt es kein Vertun. Aber was soll’s, darum geht es ja letzten Endes, sagt er sich. Aus sich selbst hervorzuschießen wie ein Flaschengeist aus seinem Gefäß. Ein furchtbarer, grässlich mächtiger Geist.
Mit all den Bisswunden und Quetschungen sieht die Kleine ziemlich hinüber aus. Sie ist bestimmt nicht irgendwie tot oder auch nur schwer verletzt, aber er kriegt sie trotzdem nicht wieder so zurechtgemacht, dass der Schlamassel als Allergie oder was auch immer durchgehen würde. Die sieht wie von Ratten angefressen aus. Was soll’s, das biegt der Doktor schon hin.
Er bückt sich zu seiner Jeans, die er mit den restlichen Klamotten auf den Boden geworfen hat. Er fingert sein Smartphone aus der Hosentasche und ruft den Doktor an. Mein Laufbursche, so nennt er ihn immer, wenn er ihn ärgern will.
»Hallo?«, meldet sich der Laufbursche.
»Die Kleine – Daria, ja? Die wird jetzt mal zügig isoliert«, ordnet er an. »Auf Intensiv, oder was weiß ich. Wegen Rückfall, Lebensgefahr, blabla, da fällt dir schon was ein.« Er klemmt sich das Smartphone zwischen Schulter und Ohr, klaubt den Arztkittel – den Laufburschenkittel – auf und wischt das Blut von sich herunter. »Außerdem brauche ich Ersatz. Dass die Kleine so schnell schlappmacht, ist ganz klar gegen die Regeln.«
»Gegen die Regeln?« Der Doktor klingt entgeistert.
»Ihr braucht mich, also haltet die Abmachung ein.« Er knüllt den Kittel zusammen und lässt ihn neben dem Mädchen aufs Bett fallen. »Als Nächstes will ich einen Jungen. Nicht dich, Laufbursche, mach dir keine Hoffnungen, sondern einen knackfrischen Knabenarsch. Keinen Tag älter als vierzehn, kapiert?«
Er beendet das Gespräch, bevor der Laufbursche weitere dämliche Fragen stellen kann.