Schabowskis Irrtum
Das Drama des 9. November
Am Morgen danach sind die Führungsspitzen von Staat und Partei zum gemeinsamen Frühstück verabredet. Sie treffen sich in einem Nebenraum des großen Versammlungssaals, wo gleich der dritte und letzte Beratungstag des obersten Parteigremiums beginnen soll. Aber nach kämpferischen Debatten steht heute niemand der Sinn, vielmehr wirken die Genossen ernüchtert, niedergeschlagen, ratlos. In einer solchen Verfassung hat man die älteren Herren vom SED-Politbüro, denen ihre Allmacht über die Geschicke des Landes und seiner sechzehn Millionen Bürger über die Jahrzehnte ganz selbstverständlich geworden ist, noch nicht gesehen. Verdrießlich rühren sie in ihren Kaffeetassen, tauschen verstohlen Blicke aus, keiner will das Wort ergreifen. Was ist geschehen, dass aus den kommunistischen Pharaonen über Nacht Nebendarsteller der Geschichte geworden sind? Wer hat ihnen so dreist das Heft aus der Hand gewunden, dass sie dem Lauf der Ereignisse wie einem verpassten Zug hinterherblicken müssen?
«Wer hat uns das bloß eingebrockt?» Es ist der Genosse Generalsekretär Egon Krenz, der schließlich diese Frage in das Schweigen hinein murmelt. Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, sekundiert, indem er bedenklich den Kopf hin- und herwiegt.
Politbüro-Mitglied Günter Schabowski ahnt, dass nur er gemeint sein kann und alle unsichtbaren Finger jetzt auf ihn zeigen. Schließlich hat er am vergangenen Abend vor der versammelten Weltpresse und live im Fernsehen jene verhängnisvollen Sätze gesprochen, die das ohnehin unruhige Land noch tiefer ins Chaos gestürzt haben. Aber im Grunde war es nicht Schabowski, der am 9. November die Mauer zum Einsturz brachte. Wer die dramatischen Ereignisse dieser Nacht bis zu ihrem Anfang zurückverfolgt, kommt zu einem wenig spektakulären Verursacher: einem schlichten Zettel, der Schabowski im Verlauf des Tages in die Hand gedrückt wurde.
Nicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte beeinflusste ein Stück Papier den Gang der Ereignisse in unvorhergesehener Weise. Im Juli 1870 weilte der preußische König Wilhelm I. zu seiner alljährlichen Sommerkur in Bad Ems. Die außenpolitische Lage war angespannt, denn die Franzosen forderten lautstark eine Garantieerklärung vom deutschen Monarchen, dass er niemals einen Hohenzollern auf Spaniens Thron schicken würde. Eines Morgens sah sich Wilhelm auf seinem Frührundgang vom französischen Botschafter abgefangen und auf der Kurpromenade mit Forderungen nach einem Thronverzicht bedrängt. Seine Majestät wies das Ansinnen des Diplomaten ab und ließ einen ausführlichen telegraphischen Bericht über diese Begegnung an den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck in Berlin kabeln. Ihm überließ es der König, die Presse «in geeigneter Form zu unterrichten». Bismarck kürzte den Text des Telegramms und formulierte ihn um, und als die «Emser Depesche» kurz darauf in der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» veröffentlicht wurde, eskalierte die Situation: Die französische Regierung sah sich bloßgestellt, eine Woche später erklärte sie Preußen den Krieg.
Der Nachfolger Wilhelms I. auf dem Thron, Kaiser Wilhelm II., wusste nach einigen Jahren des Regierens immerhin um die Sprengkraft seiner oft undiplomatischen Wortwahl. Daher hatte er es sich angewöhnt, seine Äußerungen gegenüber der Presse von seiner Regierung vorab autorisieren zu lassen. Bei einem England-Urlaub im Herbst 1908 führte der Kaiser mehrere Gespräche mit einem britischen Oberst, der diese in Interviewform zusammenfasste und dem «Daily Telegraph» zur Veröffentlichung anbot. Von dort aus ging das Manuskript mit der Bitte um Freigabe an die kaiserlichen Büros nach Berlin. Der dafür zuständige Reichskanzler von Bülow weilte allerdings gerade in der Sommerfrische auf Norderney, und die Abschrift landete auf dem Schreibtisch eines untergeordneten Beamten des Auswärtigen Amtes, der sie autorisierte. Die Veröffentlichung des Interviews mitsamt allen diplomatischen Zweideutigkeiten im «Daily Telegraph» löste im In- und Ausland einen Sturm der Entrüstung aus. Der Reichstag in Berlin stritt heftig, Reichskanzler von Bülow bot seinen Rücktritt an, Kaiser Wilhelm II. erwog die Abdankung vom Thron.
Einem anderen Stück Papier blieb eine solch durchschlagende Wirkung unglücklicherweise versagt. Das zweiseitige Fernschreiben mit detaillierten Anweisungen zum Staatsstreich wurde am Nachmittag des 20. Juli 1944 im Berliner Bendlerblock, dem Hauptquartier der Verschwörer um Oberst Graf von Stauffenberg, auf den Weg gebracht. Doch die Übermittlung an die Wehrkreiskommandos der Wehrmacht zog sich quälend in die Länge. Auf einem Geheimschreiber dauerte ein einzelner Absetzvorgang enervierende fünfzehn Minuten, und nur vier Schreibkräfte waren befugt, «Geheime Kommandosachen» zu bearbeiten. Der Papierstau im Bendlerblock hatte die fatale Folge, dass das Fernschreiben mit den Befehlen zur «Operation Walküre» in manchen Wehrkreiskommandos erst drei Stunden später und damit nach Dienstschluss anlangte. Wichtige Zeit war verstrichen, in der die überrumpelte NS-Führung sich sammeln und zum Gegenschlag ausholen konnte. Der Plan, Hitler zu töten und sein Regime zu stürzen, wurde kurz darauf blutig vereitelt.
Absprachefehler, verkürzte Wiedergabe, übergangene Instanzen, schlechtes Timing und der Lawineneffekt der Veröffentlichung – nichts davon fehlt, als am 9. November 1989 ein Zettel seinen Weg in die Weltgeschichte antritt. In seiner äußeren Gestalt gleicht er den Millionen Papieren, die der Geheimdienst am laufenden Band produzierte in dem vergeblichen Versuch, die Erosion der Deutschen Demokratischen Republik aufzuhalten. Fünf Blätter aus industrieller Papierproduktion: dünn und stark säurehaltig, von brüchiger Konsistenz, unweigerlich der raschen Vergilbung und Versprödung, schließlich dem Zerfall anheimgegeben. Die schnörkellose, schnell verschießende Schrifttype ist die einer Robotron-Büroschreibmaschine aus volkseigener Produktion. Fehlerlos und routiniert setzt eine Schreibkraft des DDR-Innenministeriums in behördenüblichem Duktus am Morgen des 9. November 1989 jene Worte aufs Papier, die ohne Kenntnis der Umstände bis heute niemand den Atem verschlagen würden.
Doch in jenen Novembertagen ist das alte Betonregime ins Rutschen geraten. Die Machthaber sehen nicht weniger als die Bürger ungläubig die unverrückbaren Wahrheiten der vergangenen Jahrzehnte entwertet. An ihre Stelle sind aber noch keine neuen Gewissheiten getreten, die das Wichtige vom Unwichtigen, das Echte vom Falschen zu unterscheiden helfen. Von Tag zu Tag scheint die Situation offener, eine übernervöse, fiebrige Spannung breitet sich aus, die die Menschen begeistert und eine große Entscheidung herbeisehnen lässt. In dieser Stimmung kann jedes noch so kleine Ereignis, jede Begegnung, jedes unbedachte Wort plötzlich ungeahnte Bedeutung gewinnen. So wie an jenem Novemberabend Schabowskis unscheinbarer Zettel.