Pankaj Mishra
Begegnungen mit China und seinen Nachbarn
Malaysia – Hongkong – Indonesien – Taiwan – Mongolei – Tibet – Japan – Indien
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
FISCHER E-Books
Pankaj Mishra, geboren 1969 in Nordindien, schreibt seit über zehn Jahren regelmäßig für die »New York Review of Books«, den »New Yorker« und den »Guardian« über den indischen Subkontinent, über Afghanistan und China. Er gehört zu den großen Intellektuellen des modernen Asien und hat zahlreiche Essays in »Lettre International« und »Cicero« veröffentlicht; auf Deutsch sind darüber hinaus der Roman ›Benares oder Eine Erziehung des Herzens‹ und der Essayband ›Lockruf des Westens. Modernes Indien‹ erschienen. Pankaj Mishra war u.a. Gastprofessor am Wellesley College und am University College London. Für sein Buch ›Aus den Ruinen des Empires‹, das 2013 bei S.Fischer erschien, erhielt er 2014 den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Er lebt abwechselnd in London und in Mashobra, einem Dorf am Rande des Himalaya.
»Ein globaler Intellektueller.«
Johan Schloemann, Süddeutsche Zeitung
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Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Simone Andjelkovic
Coverabbildung: Nina Subin
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
›A Great Clamour. Encounters with China and Its Neighbours‹
im Verlag Hamish Hamilton, Penguin Group, New Delhi
© Pankaj Mishra, 2013
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
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ISBN 978-3-10-403329-7
Für MNM
Eines Nachmittags im Sommer 1992 unterhielt ich mich mit meinem Vermieter und fragte ihn, was hinter den schneebedeckten Gipfeln lag, die ich von meiner Veranda aus sehen konnte. »Tibbat«, antwortete Mr Sharma und betonte das Wort dabei auf nordindische Weise. Ich war erstaunt. War Tibet wirklich so nah? Ich war erst kürzlich in dieses kleine Dorf im Bundesstaat Himachal Pradesh gezogen, um herauszufinden, ob ich zum Schriftsteller taugte. Die physische Isolation schien mein Gefühl der Unzulänglichkeit nur noch zu verstärken. In meiner Vorstellung erschien mir dieses riesige, von Lhasa bis Hokkaido und Surabaya reichende Gebiet, ein schon damals von Politik und Wirtschaft Chinas geprägtes Asien, plötzlich wie eine beklemmende Leerstelle – ein weiterer Beweis für meine Unwissenheit im Blick auf die Welt.
Mr Sharma, ein Sanskritwissenschaftler, teilte diese Schwäche nicht. Er sprach von Tibet ganz selbstverständlich als von einer jener Kreuzungen innerhalb eines weitreichenden indischen Kulturraums, über welche indische Religionen und Philosophien durch den gesamten asiatischen Kontinent gereist und tief in den pazifischen Raum eingedrungen waren. Ich beneidete ihn um dieses Tibbat, das zu seinem privaten Asienbild gehörte, einem Bild, das auch das Bild der übrigen Welt klarer gefasst haben dürfte, ihm den Schmerz der Verständnislosigkeit nahm und ihn in der Erde verwurzelte.
Ich hatte kein solches Tibbat. Mein Asien musste erst noch mit bestimmten Kulturen, Geschichten und Völkern gefüllt werden. Ich hatte die Romane von Lu Xun und ein paar Aufsätze von Mao Zedong gelesen, wusste aber sonst kaum etwas über China, außer dass es Indien 1962 betrogen und Jawaharlal Nehrus Tod beschleunigt hatte und dass man dem Land deshalb nicht trauen durfte. Ich wusste von der nuklearen Einäscherung Hiroshimas und Nagasakis, aber Japan wurde für mich fast vollständig verkörpert von Akio Morita, dem Hersteller des Walkman und des mit einem hellen Holzgehäuse daherkommenden Sony Trinitron Farbfernsehers (die im immer noch recht armen Indien der frühen 1990er Jahre heißbegehrt waren). In meinem Denken belebten keinerlei politische oder intellektuelle Bewegungen den Osten oder Asien, wie dies für Indien und den Westen galt.
In unserer eng vernetzten Welt ist es heute leicht, über quasi-orientalistische Konzepte wie den »Osten« und »Asien« zu spotten. Beide betraten die Bühne gemeinsam mit ihrer dominanten Zwillingsschwester, der Idee Europas. Als Bezeichnung für das barbarische oder unterlegene »Andere« sollten sie ursprünglich das westliche Selbstbewusstsein stärken. Im späten 19. Jahrhundert jedoch nahmen diverse chinesische, japanische und indische Denker den »Osten« und »Asien« in ihre eigenen Dienste und füllten diese Kategorien mit besonderen Werten und Eigenschaften wie der Achtung vor der Natur, Gemeinschaftsorientierung, schlichter Genügsamkeit und spiritueller Transzendenz. Diese angeblich asiatische Tradition des Antimaterialismus stellten sie dann den modernen westlichen Ideologien des Individualismus, der Eroberung und des Wirtschaftswachstums gegenüber. Die Idee Asiens wurde zum Ausdruck einer kulturellen Verteidigungshaltung gegen den arroganten Westen, der ein Monopol auf Zivilisation für sich beanspruchte und solche Völker für unterlegen hielt, denen die offenkundigen Zeichen der westlichen Zivilisation fehlten: Nationalstaat, industrieller Kapitalismus und mechanistische Wissenschaft.
Eine geopolitische Dimension erlangte die vorgeschlagene kulturelle Einheit Asiens während der frühen postkolonialen Kämpfe für nationalen Wohlstand und nationale Macht – ein Vorhaben, bei dem indische, chinesische und indonesische Führer selbstbewusst Solidarität untereinander beschworen. So kam es, dass die gemeinsame Erfahrung der Unterjochung und rassischen Demütigung und die Forderung nach Freiheit und Würde, die einst Rabindranath Tagore mit Liang Qichao und Okakura Tenshin verbunden hatten, nun auch Jawaharlal Nehru mit Mao Zedong und Sukarno verband. Und Künstler wie Satyajit Ray und Akira Kurosawa, die sich mit den großen Umbrüchen und Traumata ihrer Gesellschaften befassten, teilten einen besorgten Humanismus.
Solche imaginierten Gemeinschaften sind heute im In- und Ausland nur noch bruchstückhaft vorhanden; an ihre Stelle sind pragmatische Wirtschaftsvereinigungen wie ASEAN und grenzüberschreitende Netzwerke in Produktion, Handel und Bankwesen getreten. Autoritäre Führer beschwören immer noch »asiatische Werte« und stellen die von Konfuzius geforderte Harmonie in der Gemeinschaft gegen den offensichtlich amoralischen und spalterischen Individualismus des Westens. Das ist jedoch kaum mehr als ein rhetorischer Deckmantel für Regime, die harmonische Beziehungen zu lokalen Plutokraten pflegen, aber der Mehrheit politische Rechte verweigern.
Die Idee Asiens hat heute eine andere Kohärenz. Was als geographisch disparate Erfahrungen erscheint – von ländlichen Migranten in Jakarta, Fabrikarbeitern in Manesar, Stammesangehörigen in Chhattisgarh, Nomaden in Tibet und Kunden der Gated Communities von Hermès und Jimmy Choo in Hangzhou und Gurgaon –, ist die verspätete Ankunft des Kapitalismus. Die großen Veränderungen, welche im 19. Jahrhundert Europa erschütterten, lassen sich heute in ganz Asien beobachten: die Verwandlung des Lebens und des Bodens in Waren, deren Bewertung durch die Mechanismen von Angebot und Nachfrage, der Zerfall der Gemeinschaften zu Aggregaten aus Individuen auf der Suche nach sich selbst, das Streben nach persönlichem Reichtum und Status, die Verzweiflung und Angst der Verlierer sowie der erbitterte Widerstand und die hektischen Improvisationen der Zurückgebliebenen und Zurückgestoßenen.
Die provisorische, über alle Grenzen der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der Geographie, der Schicht und der Nationalität hinwegreichende Gemeinsamkeit liegt in der Erfahrung einer oft bitter paradoxen Moderne: des Versprechens der Selbstveränderung und des Wachstums, das häufig verwirklicht wird durch die Zerstörung vertrauter Orientierungspunkte; einer Atmosphäre der Erregung und des Widerspruchs, in der mit der Erneuerung unvermeidlich der Verrat an alten Bindungen und deren Zerfall einhergehen.
Nachdem mir die Nähe Tibbats klargeworden war, brauchte ich noch viele Jahre, um allgemein bekannte Verwerfungen, Gefahren und Chancen in diesem neuen Asien zu erkennen – die gewaltigen kollektiven und individuellen Anstrengungen, die Gewalt, das Leid, die Frustration, die Verzweiflung und den Optimismus. Meine intellektuelle Blindheit hatte viel mit meinem ausgeprägten Wunsch zu tun, ein englischsprachiger Schriftsteller zu sein. In einer anglophonen Kultur geboren zu sein hieß nicht nur, den Westen reflexhaft ins Zentrum zu stellen und den westlichen Literaturen und Philosophien die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Es bedeutete auch die Unterstellung, dass die Institutionen (parlamentarische Demokratie, Nationalstaat), die philosophischen Prinzipien (Säkularismus, Liberalismus), die ökonomischen Ideologien (Sozialismus, gefolgt von Marktkapitalismus) und die ästhetischen Formen (der Roman), die in den langen Jahrzehnten der britischen Herrschaft eingeführt oder übernommen worden waren, zur natürlichen und außerdem auch überlegenen Ordnung der Dinge gehörten.
Dies alles werde, so nahm man einfach an, irrationaler Religion ein Ende setzten, das Regieren verbessern, die private Freiheit ausdehnen, unsere moralische Vorstellungskraft erweitern und vielen hundert Millionen unserer weniger privilegierten Landsleute Wohlstand und Zufriedenheit bringen. Das einst vom Sozialismus versprochene Wohlergehen der Nation wurde in den letzten Jahrzehnten mit einer Reihe anderer, aus dem angloamerikanischen Raum importierter Ideen assoziiert: mit Privatisierung, Deregulierung und einem schlanken Staat.
Nur wenige Menschen dürften heute behaupten, die Ereignisse hätten diese Annahmen bestätigt. Der indische Nationalstaat, der mit seiner Gründung einer überwältigend armen und vielfältigen Bevölkerung das Wahlrecht gab, ist eines der weltweit kühnsten Experimente in Demokratie und politischem Pluralismus. Er darf einige Erfolge für sich beanspruchen, insbesondere die Politisierung von lange Zeit unterprivilegierten Menschen. Doch dieser Fortschritt ist keineswegs stetig und irreversibel; er ist begleitet von großen Verlusten und gekennzeichnet durch Stagnation an mancherlei Punkten; und er bringt mächtige Gegenkräfte hervor. Es fällt leichter, die allgemeine Krise zur Kenntnis zu nehmen: Aufstände ethnischer und religiöser Minderheiten in Grenzstaaten, zu denen inzwischen auch militantere Rebellionen der Enteigneten in zentralindischen Staaten hinzukommen; eine im Zeitlupentempo ablaufende landwirtschaftliche Katastrophe, die ihren Ausdruck im Selbstmord von Hunderttausenden Bauern findet; eine rasch wachsende städtische Bevölkerung, die unmenschlichen Lebensbedingungen ausgesetzt ist; und schließlich eine auf Spaltung ausgerichtete Politik, gelenkt von Männern, die sich ohne jede Reue einer maßlosen Korruption schuldig machen – all das scheint weiter von Liberalismus und Säkularismus entfernt zu sein denn je.
Eine zunehmend amerikanisierte indische Elite sucht weiterhin Bestätigung und Unterstützung bei ihren westlichen Pendants. Aber die alten Herren der Welt, die mit diversen Wirtschaftskrisen, wachsender Ungleichheit und politischer Unzufriedenheit kämpfen, haben ihr Modell universellen Fortschritts aus den Augen verloren und glauben nicht mehr so recht an die Möglichkeit, ihre geschätzten Werte zu exportieren. Die Staaten Europas und Amerikas leben – oder überleben – inzwischen wie alle anderen von einem Tag zum nächsten, sind zwar mit ihrem Militär und ihren Überwachungstechniken auf finstere Weise allwissend, aber nicht länger eine lebendige Quelle rettender moralischer und politischer Ideen. Selbst die analytische Anleitung, die Europas alte intellektuelle und philosophische Tradition bot, erscheint immer weniger verlässlich in einer Zeit verwirrend heterogener politischer und kultureller Formen.
Die Fixierung Indiens auf den Westen, die radikale chinesische und japanische Denker im frühen 20. Jahrhundert mit entsetzter Faszination und schlimmen Vorahnungen betrachteten, erscheint in diesem Zusammenhang noch lähmender als früher. Nicht nur Indien kämpft gegen die verschärften Konflikte zwischen den Forderungen der politisierten Massen und den Imperativen des transnationalen Kapitalismus. Aber wir wissen außerhalb der wissenschaftlichen Welt zu wenig über politische und soziale Experimente in anderen asiatischen Gesellschaften: worin sie bestehen, wie sie sich entwickeln und wohin sie am Ende führen mögen (eine euphemistische Meinungsmache hinsichtlich der Möglichkeiten, China »einzudämmen« oder mit ihm »gleichzuziehen«, ist hier kein Ersatz). Noch weniger wissen wir darüber, wie die speziellen Herausforderungen und Dilemmata Chinas und seiner Nachbarländer ihren Niederschlag in Regierungsformen, Technologien, Religionen und Kunst gefunden haben.
Außerdem ist es nicht immer einfach, über den durch die eigene Erziehung und Tätigkeit bestimmten Horizont hinauszublicken. Ende 1995 führte mich meine erste Auslandsreise nach Indonesien. Ich hatte gerade ein Buch über die Ankunft der neokapitalistischen Moderne in den Kleinstädten Indiens veröffentlicht. Einige der durch diese Prozesse lautstark entfesselten politischen und kulturellen Energien, die Indien radikal veränderten, fanden sich auch in Indonesien, das sich schon sehr viel früher dem Projekt der Schaffung privaten Wohlstands zugewandt hatte. Aber es waren die aus dem 9. Jahrhundert stammenden Tempel von Prambanan und die Stupas von Borobudur, die den Schock des Wiedererkennens auslösten. Und Bali, das Nehru denkwürdig und mit untypisch präzisem Gefühlsüberschwang den »Morgen der Welt« genannt hat, ließ mich weniger ratlos hinsichtlich der Sanskrit-Kosmopolis zurück, von der Mr Sharma gesprochen hatte.
Tatsächlich schien das erst spät von den Holländern eroberte und nur fleckenweise modernisierte Bali auf bezaubernde Weise zur alten Hindu-Welt mit ihren Familienschreinen, ihrer Gamelan-Musik, ihren moosbewachsenen Statuen, Schattenspielen und Reisfeldern zu gehören. Ich wusste nicht, dass die verehrte »antike« Kultur der Insel in weiten Teilen neueren Ursprungs war. Ganz unerwartet für mich, gab es in der nordbalinesischen Stadt Singaraja ein arabisches Viertel, das von alten spirituellen – und solide materialistischen – Verbindungen der Insel zur übrigen Welt zeugte. Aber ich verharrte in einem touristischen Stupor. Java mit seinen glatten Mautstraßen und seinen Wolkenkratzern löste bloßes Staunen aus, weckte aber keine Neugier.
Indonesien wurde damals von Suharto geführt, einem wirtschaftsfreundlichen Despoten mit standhaften amerikanischen und europäischen Verbündeten. Sein auf Vetternwirtschaft basierender Kapitalismus hatte eine kleine, aber loyale Mittelschicht und willfährige Medien entstehen lassen. Kündigte diese Achse bereits den Reiz eines autoritären Kapitalismus in unserer Zeit an? Erlaubte sie – durch die Zeitalter Deng Xiaopings in China und Thaksin Shinawatras in Thailand hindurch – bereits einen Blick in das Zeitalter Narendra Modis? Meine in ostasiatischer Geschichte und den langweiligen, aber aufschlussreichen Fakten der politischen Ökonomie ungeschulten Augen konnten nicht viel erkennen. Es bedurfte einiger Erfahrung und vieler Neuausrichtungen der Perspektive, bevor ich 2011 mit einem Schreibauftrag nach Indonesien zurückkehren konnte.
In dieser langen Zwischenzeit verdankte sich meine persönliche Entdeckung Asiens einer Reihe von Zufällen. Viele meiner intellektuellen Reisen führten mich nach China. Bei den Vorarbeiten zu einem Buch über den Buddha erfuhr ich von der Weitergabe seiner Ideen über Kashmir und Tibet nach Ostasien, wo sie sich mit dortigen Glaubenssystemen und ethischen Philosophien wie dem Konfuzianismus und dem Daoismus vermischten. Auf diesem indirekten Weg begann ich langsam zu verstehen, dass China gleichsam das Griechenland Asiens gewesen war und seine konfuzianischen Kulturen an die koreanischen, japanischen und vietnamesischen Nachbarn weitergegeben hatte. Die chinesischen Reiche bildeten das Zentrum eines Handelsnetzes und eines diplomatischen Netzwerks, welche beide von Nepal bis Java, von der Amur-Region an der Grenze von Russland und China bis Burma reichten. Chinas Wirtschaft war von zentraler Bedeutung für die Region. Im Ausland lebende chinesische Kaufleute und Händler sollten später zu wichtigen Spielern in der Wirtschaft Südostasiens werden.
Diese Geschichte machte deutlich, wie China, das in unserer Zeit aus Jahrzehnten wirtschaftlicher Autarkie hervortrat, rasch die Vormachtstellung in Asien erlangen, Taiwan in den Schatten stellen, Hongkong wiederbeleben, der Mongolei zu Reichtum verhelfen und ein ängstliches Japan zu einem atavistischen Nationalismus zwingen konnte. Auf meinen Reisen nach Malaysia und Indonesien wurde mir klarer, warum die dort lebenden Chinesen trotz institutionalisierter Diskriminierung und Vernachlässigung zur größten Wirtschaftsmacht Südostasiens aufsteigen konnten. Mit der Zeit wurde mir klar: Wer das heutige Asien als Ganzes verstehen will, muss zunächst China verstehen – heute mehr denn je. Und dorthin begann nun mein Kompass zu zeigen.
Ab 2004 begann ich regelmäßig nach China zu reisen. Natürlich verleiht persönliche Erfahrung keinen besonderen Zugang zur Realität, auch wenn sie zwei überschätzten Figuren der bürgerlichen westlichen Kultur Autorität und Glanz verleiht: dem Auslandskorrespondenten und dem Reiseschriftsteller. Man muss immer noch lernen, zu sehen und die richtigen Vermittler zu finden. Es waren chinesische Schriftsteller und Denker, die mir die gegenwärtig dort stattfindenden großen Veränderungen vor Augen führten. Sie zeigten mir, dass der Fortschritt auch dort in Sprüngen und Schüben erfolgt, neue Turbulenzen auslöst und oft mehr Opfer als Nutznießer hat.
Mein frühes Wissen über China stammte weitgehend aus Arbeiten westlicher Kalter Krieger und liberaler Internationalisten, die dem autoritären China reflexhaft das »demokratische« Indien entgegenstellten. So brauchte ich eine Weile, um zu erkennen, dass der ideologische Dualismus, der amerikanischen Denkfabriken half, solvent zu bleiben – freie versus unfreie Welt, Anhänger des totalitären Kommunismus versus buddhistische Tibeter –, nahezu nutzlos war, wenn es darum ging, zum Beispiel die in raschem Wandel begriffene Lage in Tibet zu verstehen.
In Tibet gibt es heute mehr religiöse Freiheit als zu irgendeiner Zeit nach der Kulturrevolution. Auch ist das Wachstum des Bruttosozialprodukts dort höher als in anderen Provinzen Chinas. Dennoch hat die wirtschaftliche Entwicklung nicht zu politischer Passivität geführt (wie andernorts in China). Einer der Gründe liegt in der Tatsache, dass die neue Ökonomie mit ihrer deutlichen Bevorzugung von städtischen gegenüber ländlichen Regionen uralte bäuerliche und nomadische Lebensweisen zu vernichten droht. Nachdem der moderne Kapitalismus überall Einzug gehalten hat, führt die »Rationalisierung« des alltäglichen Lebens auch zu einer beschleunigten »Entwicklung der Unterentwicklung« – zur Entstehung moderner Armut und Ungleichheit. Außerdem zeigt sich, dass es den Tibetern wie anderen vornehmlich ländlichen ethnischen Minderheiten am Temperament oder an der Übung fehlt, die für einen leidenschaftlichen Glauben an die Utopie der Moderne erforderlich sind, wie das postmaoistische China sie verspricht – einen am Konsum ausgerichteten Lebensstil in städtischen Zentren. Da die Tibeter zu einem umfassenden Umbau ihres öffentlichen und privaten Lebens gezwungen werden, sind sie auch zu einer unbeugsameren Verteidigung ihrer kulturellen und religiösen Identität gezwungen – eine verbreitete Erscheinung in asiatischen Ländern, die im 19. Jahrhundert Modernisierungsbewegungen nach westlichem Vorbild ausgesetzt waren.
Mobiles Kapital, multinationale Konzerne und digitale Kommunikation, welche in ihrem Zusammenspiel die transnationalen Netzwerke der Eliten hervorbringen, tragen gleichfalls zur Neuausrichtung »mittelalterlicher« und anderer scheinbar anachronistischer Identitäten bei. Tatsächlich sind die vertieften und sich wechselseitig verstärkenden Verbindungen zwischen kosmopolitischem Globalismus und den quasi-provinziellen Meutereien ethnischer und religiöser Minderheiten zutiefst charakteristisch für unsere Zeit.
Dasselbe galt für die Ambivalenzen und Widersprüche der Moderne, die opportune Gegensätze zwischen Demokratie und Autoritarismus auflösten. Die Tibeter, so wurde mir klar, teilen ihre Misere mit Bauern und Stammesangehörigen in Indien, die zwar in der größten Demokratie der Welt leben, aber mit einer mörderischen Achse aus Politikern, Geschäftsleuten und Militärs zu kämpfen haben.
Die folgenden Seiten beschreiben einen komprimierten Prozess der Selbstbildung, insbesondere in China, verwirklicht durch reale Reisen, aber auch durch geistige Ausflüge in Politik, Geschichte und Literatur. Ich besaß keinen institutionellen Kompass, und meine frühen, zufällig gewählten Reiseführer waren groß an Zahl, vielfältig und meist erratisch. China und seine Nachbarländer beherbergten und beherbergen zahlreiche Träumer, von dem Kulturgegner Walter Spies bis hin zu den heutigen Easy-Ridern im Rising-Asia-Zug: Sie beschreiben vornehmlich ihre eigenen Phantasien von persönlicher Macht und sozialem Status, ihren Wunsch, sich der scheinbar universalisierenden und homogenisierenden westlichen Geschichte anzuschließen oder daraus auszutreten.
Selbst intellektuell anspruchsvollere Reiseschriftsteller sind unfähig, ihre zufällig erworbenen Vorurteile hinter sich zu lassen. Ob nun im Blick auf Yoga, den Islam oder die Japaner – sowohl V.S. Naipaul als auch Arthur Koestler behaupteten mit wechselnder literarischer Kraft, dass der Westen am besten sei. Und Claude Lévi-Strauss, der solche naiven westlichen Vorstellungen selbstbewusst zurückwies, erschrak in Traurige Tropen vor dem angeblich Malthusianischen Schicksal Asiens, einer »Vision unserer eigenen Zukunft, die dort bereits Wirklichkeit geworden ist«, und erlag dann in seinen späteren Jahren einer simplen Japanophilie. Der im Blick auf Japan äußerst scharfsinnige Roland Barthes brachte im Blick auf China nur Banalitäten zustande. Rabindranath Tagore, Amitav Ghosh und Rahul Sankrityayan, die eine sehr schwache indische Tradition des Schreibens über Ost- und Südostasien wettmachen, sind da weitaus anregender. Nach Jahrzehnten der Beschränkungen und einer strammen Verbreitung abgestandener Klischees aus dem Kalten Krieg erlebt der ausländische Journalismus in China nun ein Goldenes Zeitalter. Donald Richie, Ian Buruma und Pico Iyer haben Japans »Andersartigkeit« geschickt entschlüsselt. Ost- und Südostasien sind auch die Region, in der Giganten der modernen Geisteswissenschaften wie Jonathan Spence, Benedict Anderson, Clifford Geertz und James C. Scott sich umgesehen haben. Dennoch taugen breite Übersichtsdarstellungen und grobkörnige Geschichten durch Außenstehende allenfalls zu einer ersten Orientierung.
Es bedarf anderer Anstrengungen, um das innere Leben einer Gesellschaft zu erspüren – dazu gehören Zufallsgespräche und Zufallslektüren wie auch strukturiertes Reisen. Wie sich zeigt, ist kaum etwas wichtiger, als bei den Debatten – und Streitigkeiten – über Politik und Kultur zuzuhören, die nicht für ausländische Ohren bestimmt sind. Die Schriften indonesischer Denker und Schriftsteller wie Soedjatmoko und Goenawan Mohamad, des Chinesen Wang Hui oder der Japaner Takeuchi Yoshimi und Karatani Kojin eröffneten Perspektiven, die sich in den Darstellungen von Ausländern nicht finden lassen. Und in der Literatur wie auch im Film Ostasiens erwarteten mich gleichfalls anregende Offenbarungen.
Im größten Teil meines Erwachsenenlebens bin ich darin ausgebildet worden, das eigene Ich und die Welt durch eine vornehmlich westliche und südasiatische Brille wahrzunehmen. Durch die Romane von Kenzaburō Ōe oder die Filme von Hou Hsiao-hsien entdeckte ich neue Zusammenhänge und Ähnlichkeiten. Die Erfahrung der Orientierungslosigkeit in der neuen Welt, die Japan machte, als es sich schon früh und mit mancherlei Verwirrung in der Zielsetzung modernisierte, gab vielen asiatischen Schriftstellern, Künstlern und Denkern das Muster vor. Mir wurde klar, dass die Verwirrungen und Dilemmata der entwurzelten jungen Männer und Frauen bei R.K. Narayan in Natsume Sosekis Romanen Sanshiro und Kokoro präziser vorweggenommen worden waren als in irgendeinem Text von Italo Svevo und Thomas Mann; dass Naruse Mikios Film Wenn eine Frau die Treppe hinaufsteigt die Dilemmata indischer Mittelschichtfrauen aus meinem Bekanntenkreis ebenso direkt ansprach wie Satyajit Rays Mahanagar; und dass Kalkutta mehr mit dem halbkolonialen Shanghai und Tokio der 1920er und 1930er Jahre gemeinsam hatte als mit Dublin.
Diese Entdeckung neuer Symmetriebeziehungen half mir, die Vertrautheit mit dem Land aufzubrechen, in dem ich die meiste Zeit meines Lebens gelebt und über das ich das meiste geschrieben hatte. Wenn wir uns fremden Ländern aussetzen, bewirkt das eine Entfremdung vom Alltag; es relativiert, was wir an uns selbst für einzigartig halten – die politischen Prozesse, die kulturellen Normen. Dennoch war ich überrascht, wie dramatisch meine Reisen den Bezugsrahmen erweiterten, auf den sich mein Denken über Indien lange Zeit beschränkt hatte. Die folgenden Texte über einige entscheidende Phasen in der zeitgenössischen Geschichte Ostasiens sind vor allem ein Versuch, die Dinge bifokal zu sehen: eine Studie über China und seine Nachbarn, deren Ausgangs- und Endpunkt unvermeidlich Indien darstellt.
Deshalb enthält dieses Buch mehr ungewöhnliche Gegenüberstellungen und Kontraste als farbige Darstellungen und Aufzählungen exotischer Fakten. Zugleich bemüht es sich um eine sorgfältige Distanz zu dem instrumentellen Weltbild, das man bei außenpolitischen Fachleuten, Sicherheitsexperten und Finanzanalysten findet. Schließlich beschreibt es eine Welt, in der großartige unilineare Visionen – wonach Verbesserungen der Technologie, der Bildung, des Unternehmertums und der Produktivität uns alle zu einer Konvergenz mit Wohlstand und Stabilität westlichen Stils führen werden – immer fadenscheiniger wirken. Wahlen bedeuten noch keine funktionierende Demokratie oder gar politische Stabilität, freie Märkte haben nicht zu größerer Freiheit, bessere Bildungschancen und Kommunikationsmöglichkeiten nicht zu mehr Toleranz und Menschenrechten geführt. Stattdessen erleben wir politisches Chaos, gierige Unternehmen, eine Verschlechterung des Klimas, fremdenfeindlichen Nationalismus und Völkermord in großem Maßstab. Die angeblich universellen Gesetze des Fortschritts, wie sie in jüngster Zeit von aalglatten Davos-Leuten verbreitet werden, haben sich wieder einmal als Schein erwiesen.
Aber das Leben geht weiter, wie es immer weitergegangen ist, trotz der fehlgeleiteten Rationalität der Wissenschaft, der Märkte und des Staates – und das auf unerwartete Weise. Das zeigt sich auf unterschiedliche Art bei den Japanern mit ihrer »Post-Wachstums-Ökonomie«, bei den Tibetern mit ihrer Abwendung von der »Entwicklung« und ihrer erneuten Hinwendung zum Glauben an ihren wiedergeborenen spirituellen Führer und bei den Indonesiern mit ihrer Präferenz für eine Regierung »von unten nach oben«. Jeder Versuch, das neue Asien zu verstehen, muss solche tiefverwurzelten Unterschiede anerkennen, die unterhalb der oberflächlichen Einheit liegen, wie sie von Verfechtern des Nationalismus oder der Globalisierung behauptet wird. Über dem Zusammenstoß unmenschlicher Ideologien mit dem gewöhnlichen menschlichen Leben lauert das Phantom alternativer Geschichten, die nicht sind, aber sein könnten, und alternativer Lebens- und Denkweisen, die möglicherweise eine Zukunft haben. Das jedenfalls waren die Verlockungen des Ostens – die sagenhaft vielgestaltigen Arten des Menschseins und die Entschlossenheit vieler Menschen, sie zu bewahren –, als ich mich auf den Weg machte, um mein privates Tibbat zu finden.