Alec Martens
Thriller
Knaur eBooks
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Login / shutterstock.com
ISBN 978-3-426-46235-5
Jimin Holland kämpft jetzt für die große Sache, und es fühlt sich gut an, verdammt gut sogar. Für etwas, das größer ist als sie, unendlich viel größer als wir alle: Justice, Gerechtigkeit.
Der Name steht für beides: für den großen Plan und vor allem für die geniale Führung, die ihn ersonnen und die Besten dafür gewonnen hat. Tausende hochspezialisierter Fachkräfte, und jede von ihnen kämpft an ihrem Platz. Für Justice, die »Morgenröte einer besseren Welt«.
So umschrieb es Jeannie, die Tutorin, die Jimin im letzten Jahr rekrutiert hat, und seit damals ist nichts mehr, wie es vorher war. Seitdem kämpft Jimin wie alle bei Justice für die kommende, gerechte Welt. Und gegen menschlichen Müll wie die Indonesierin, die vor ihr in der Küche ihres Penthouse-Apartments in Ost-Jakarta kniet, nackt.
Dr. Shinta Suganda, Anfang vierzig, nur drei, vier Jahre älter als Jimin. Mikrobiologin bei Raya Pharmalab, vor allem aber: Verräterin.
»Wer ist Sida?« Jimin drückt ihr die Mündung der Makarow ins volle schwarze Haar.
»Ich weiß es nicht. Oh Gott, ich weiß es doch nicht!«
So geht das jetzt zum dritten Mal hin und her, und allmählich hat Jimin die Schnauze voll.
»Bring sie zum Sprechen, dann zum Schweigen.« Genau so hat Phil es ihr aufgetragen, der Mann, von dem sie alle Aufträge bekommt. In dem kleinen Hafen in Ost-Java verplombte Container abholen, die angeblich zu Ballen gepresste Heilkräuter enthalten, und bei Raya abliefern. Zerlumpte Kids im Hafenslum einsammeln, angeblich für ein »Gesundheits- und Bildungsprogramm«, und in der Klinik-Einheit von Raya abliefern. Jimins ganzes Leben dreht sich seit ein paar Monaten um das Pharmalabor, von dem sie zuvor noch nie gehört hatte. So wie sie vorher noch nie in Indonesien war und seit letztem Herbst praktisch hier in Jakarta lebt. Doch obwohl sie fünf Sprachen mehr oder weniger fließend spricht, machen ihr die Eigenheiten der indonesischen Grammatik manchmal noch zu schaffen.
»Wer steckt hinter dem Account sida@belanet.org?«
»Bela-was?«, jammert Suganda. »Nie gehört, ich schwör’s!«
Mit der Verräterschlampe redet Jimin sowieso nur englisch. Anscheinend hat Suganda in den USA studiert, dem näselnden Ostküsten-Tonfall nach, der Jimin früher zur Weißglut gebracht hätte. Im weißen Amerika war sie immer »die kleine Asiatin«, auf die alle herabsahen. Dabei bringt sie achtzig Kilo auf die Waage, fast nur Knochen und Muskeln, verteilt auf eins achtzig Körpergröße und verpackt in schwarzes Leder.
Jimin ist halb südkoreanisch, halb texanisch und hat einen US-amerikanischen Pass. Die wuchtige Statur hat sie von ihrem Vater, Ex-Streifenbulle in Austin, von der koreanischen Mutter die schmalen Augen und die rekordverdächtig platte Nase. Ein Makel, für den sie ihre ganze Kindheit hindurch verspottet und gemobbt wurde. Bis sie mit Kraft- und Straßenkampftraining anfing und lernte, jedem, der ihr krummkam, die Nase zu plätten. Doch an ihrem Neid und Kummer änderte das wenig. Über dieses zerfressende Gefühl, nirgendwo richtig hinzugehören, immer und überall der abstoßende Außenseiter zu sein, ist sie erst hinweg, seit sie zu Justice gehört.
Seitdem fühlt sie sich schon im Voraus ein bisschen so, wie sie alle sein werden, wenn sich der große Plan erst erfüllt hat: »makellos rein und unfassbar reich«. Dass Leute wie sie endlich mal ganz nach oben kommen, ist seit Ewigkeiten fällig und dermaßen gerecht, dass Jimin das Heulen kriegt, wann immer sie daran denkt. Glückstränen, Triumphtränen, ganz klar.
Wie könnte sie bezweifeln, dass es genau so kommen wird? Für ihren Job bei Justice bekommt sie unfassbare fünf Millionen US-Dollar. Zunächst ein Handgeld von zwanzig Riesen pro Monat, den riesengroßen Rest dann, wenn der Job erledigt ist. Also in ein paar Wochen.
Falls sie es nicht vermurkst. Ein Fehler, und sie ist raus, das hat ihr Phil immer wieder eingetrichtert. Aber das hier ist die Chance ihres Lebens. Die wird Jimin nicht vermasseln. Garantiert nicht.
Wichtiger als die Kohle ist sowieso die Community. Seit sie bei Justice ist, hat ihr Leben einen Sinn. Endlich weiß sie, warum sie auf der Welt ist. Auf diesem verfickten Dreckslochplaneten, hätte sie früher gedacht, aber das war falsch. Sie gehört zu den Auserwählten. Alle anderen, die nicht für Justice kämpfen, werden tot sein oder menschlicher Müll.
So wie Suganda, die den Kopf zurückgelegt hat und flehend zu ihr aufsieht.
»Hände hoch, hab ich gesagt!«
Suganda hebt die angewinkelten Arme höher.
Kleine, feste Brüste, registriert Jimin, makellose, karamellbraune Haut. Scharfe Bitch, hätte sie in ihrem früheren Leben gedacht. Und das hübsche Gesicht mit dem Stahlgriff ihrer Makarow zurechtgehämmert, bis die großen, dunklen Augen, der herzförmige Mund, die edel geformte Nase zu einem blutigen Brei verschwommen wären.
Aber das ist vorbei. Der Neid, die Bitterkeit, die Einsamkeit – alles vorbei.
»Mach, was nötig ist, bis du die Antworten hast.« Jimin hat Phil nie gesehen, sie kennt nur seine eindringliche Telefonstimme und das Gerücht, das ihn umgibt wie ein Mantel aus Licht: Angeblich gehört er zum inneren Zirkel von Justice.
Biologen, Pharmakologen, Mediziner, IT-Experten, Security-Spezialisten, Ingenieure, Militärs und Polizeioffiziere engagieren sich bereits im großen, streng geheimen Kampf. Und Fachkräfte wie Jimin, die noch vor wenigen Monaten eine einfache Auftragsmörderin war. Ausknipserin, Kopflocherin, wie auch immer. Gut gebucht und okay bezahlt, aber total entfremdet und frustriert. Ständig unterwegs, um auf Kommando jeden wegzuräumen, der den Mächtigen dieser Welt im Weg war. Ob Konkurrenten, Schuldner, Dissidenten, vor Jimins Makarow waren sie alle gleich. Gleich tot. So wie es Jimin gleich war, warum und von wem sie zum Tode verurteilt worden waren. Zwei Schüsse in die Stirn, der Nächste.
»Wem gehört der Account sida@belanet.org? Mach das Maul auf, Schlampe. Wir wissen, dass du an diese Sida eine Mail geschickt hast. Obwohl du anschließend deine digitalen Spuren verwischt hast. Nur leider nicht gut genug.«
Sugandas Augen sind weit aufgerissen, sie atmet stoßweise. Aber ihr Mund ist noch immer zusammengepresst.
Nicht mehr lange, Fotze, denkt Jimin. Sie würde ihr die Zunge schon noch lockern. Auch wenn Phil ihr untersagt hatte, »sichtbare Gewalt« anzuwenden.
Schon dass sie Suganda gezwungen hat, sich nackt auszuziehen, hätte Phil möglicherweise missfallen. Aber auf diesem Gebiet ist nun mal sie die Expertin.
Jimin geht um die Kniende herum, kauert sich vor ihr hin. »Wir haben deine Eltern, Bitch«, teilt sie Suganda mit. Die vollen, geschwungenen Lippen öffnen sich wie erwartet, und Jimin rammt ihr den Lauf ihrer Waffe in den Rachen. »Entweder du kooperierst, oder deine Alten landen im Abfall, kapiert?«
Suganda röchelt und nickt. Jimin reißt die Makarow ruckartig zurück. Zähne splittern, Blut quillt aus dem nicht mehr ganz so hübschen Mund. Sie dreht die Waffe um und schlägt Suganda mit dem Stahlgriff auf die Stirn.
Volltreffer, exakt auf den Schönheitsfleck. Suganda kippt schreiend nach hinten, und Jimin hockt sich ihr rittlings auf die Brust. Sie spürt, wie sich der Brustkorb der Verräterin mühsam unter ihrem muskulösen Hintern hebt und senkt.
Die Biologin ist jetzt in Schockstarre. Sie versucht nicht mal, Jimin irgendwie von sich herunterzubekommen. Durch Zappeln, Strampeln, Kratzen, nichts davon. Sie liegt nur da, atmet keuchend und starrt Jimin an.
»Der Small Talk ist vorbei.« Jimin zippt ihre Bikerjacke auf, zieht ihr Smartphone heraus, klickt die Foto-App auf. »Erkennst du deine alten Herrschaften?«
Suganda starrt wie hypnotisiert auf das Display. Dabei muss sie doch schon öfter mal gesehen haben, wie Daddy und Mommy nebeneinander auf ihren bequemen Lehnstühlen sitzen. Na gut, vielleicht nicht ganz wie auf diesem Foto, das Jaresh, Jimins Teampartner, vor einer halben Stunde mit Selbstauslöser geknipst und ihr geschickt hat.
Links der herzkranke Dad, der sich die Hosen vollgepisst hat, rechts die demente Mom. Beide mit geschlossenen Augen, zur Seite gekippten Köpfen, offenbar bewusstlos. Beide mit einer Pistole an der Schläfe, die der mittig hinter den Lehnstühlen stehende Jaresh in den Händen hält. Mit seinen eins fünfundachtzig, den breiten Schultern, den stoppelkurzen schwarzen Haaren unter der echten Ray-Ban und dem falschen Vollbart sieht er ziemlich imposant aus.
Irgendwas zwischen Terrorist und Wildwest-Goldgräber, denkt Jimin, während Suganda krampfhaft zu schluchzen beginnt.
Sie verstaut ihr Handy wieder in der Jacke, holt stattdessen die Halbliterflasche Wodka heraus. »Gar nicht so einfach, so was hier bei euch zu kaufen«, teilt sie Suganda mit.
Sie schraubt die Flasche auf, schiebt sie ihr zwischen die Zähne und füllt den Fusel zügig in das Zielobjekt um. »Wer ist Sida?« Sie zieht die leere Flasche zurück, lehnt sich nach hinten und rammt den klobigen Flaschenhals in Sugandas Schritt. »Was hast du an den Account sida@belanet.org geschickt?«
Suganda zuckt am ganzen Körper. Sie würgt und keucht, ihr Gesicht ist schweißnass und blutbespritzt. Anscheinend ist sie kurz vor einer Panikattacke. Aber sie will immer noch nicht reden.
»Also gut.« Jimin seufzt. »Das hier wollte ich dir eigentlich ersparen.«
Sie zieht erneut ihr Smartphone aus der Jacke und hält ihr das zweite Foto vor die Nase. Es zeigt Mrs und Mr Suganda senior auf ihrem Ehebett liegend, beide von der Taille abwärts nackt. Jaresh kniet am Fußende zwischen ihnen, den Hals nach hinten verdreht, und grinst in die Kamera. Die Makarows in seinen Händen stecken alarmierend tief im grauen Schamhaargekräusel von Mom und Dad.
»Gib mir Antworten, dann wird alles wieder gut.«
Suganda schluckt und nickt.
Jetzt ist sie so weit.
Seltsam, denkt Jimin, wie bereitwillig Zielobjekte sogar offenkundige Lügen glauben, wenn ein bestimmter Punkt überschritten ist. Wenn sie alles tun würden, um ihr beschissenes kleines Leben zu retten. Und nicht kapieren, dass es eben deshalb vorbei ist.
Suganda wimmert und japst ihre Beichte aus sich heraus. Jimin braucht kaum noch mit der Flasche nachzuhelfen. Auftragsgemäß nimmt sie das Gewinsel mit dem Smartphone auf. Was Suganda alles geleakt hat. Wie schockiert sie war, als sie kapierte, was in der geheimen Laborabteilung bei Raya angeblich abging. Wie sehr sie ihre Eltern liebt und bla, bla. Nur mit dem Klarnamen von Sida hält sie immer noch hinterm Berg.
»Okay, auch das hätte ich uns beiden lieber erspart.«
Ein halbherziger Schlag mit der Makarow genügt, um Sugandas keck geformte Nase zu zertrümmern. Und da endlich schnauft sie auch den Namen aus sich heraus.
Jimin speichert die Audiodatei ab. »Warum hast du das gemacht, du blöde Fotze? Warum hast du die Daten weitergegeben? Das war top secret, verfickt noch mal!«
Suganda gibt ihr keine Antwort, und Jimin will auch gar nichts mehr hören. Nicht von der da. Angeblich haben sie und die anderen Wissenschaftler, die bei Raya an dem Geheimprojekt arbeiten, schon mehrfach Justice persönlich getroffen. Trotzdem hat nichts, was die Verräterin noch sagen könnte, für Jimin irgendeinen Wert.
Auch wenn sie so viele Fragen hat, die ihr niemand beantworten kann. Wie sieht Justice aus? Ist sie eine Frau (wovon Jimin überzeugt ist) oder ein Mann (wie zum Beispiel Jaresh glaubt)? Andere meinen, Justice wäre eine Gruppe von Leuten, ein oberster Führungszirkel. Einmal hat Jimin sogar erzählen gehört, Justice wäre ein Supercomputer. Das ist natürlich Bullshit.
Von Gerechtigkeit können nur Menschen träumen. Um eine gerechte Welt einzurichten, brauchst du Mumm und Moral. Justice muss eine Frau sein.
Einmal ihre Ausstrahlung wie Sonnenstrahlen auf sich spüren – für Jimin würde ein Traum in Erfüllung gehen. Und das hat Suganda einfach so weggeschmissen? Sie war schon auf dem Weg in die gerechte Welt. Ihr neues, besseres Leben hatte schon begonnen, doch dann hat sie es weggeworfen wie Dreck.
Die Wut kocht in Jimin hoch. Wieder greift sie sich ihre Pistole und haut den Griff auf Sugandas Stirn, diesmal mit voller Wucht.
Die Bitch röchelt, ihr Kopf kippt weg, die Augen weiß verdreht.
Eigentlich schade, denkt Jimin. Die Wissenschaftlerin hätte ihr sagen können, worum es bei dem geheimen Laborprojekt geht, so ganz konkret. Die einen meinen, dass es sich um ein revolutionäres Medikament handelt, das Bewusstsein und Intelligenz explosionsartig steigert. Die Mächtigen der jetzigen Welt versuchen verzweifelt, die Entwicklung dieser genverändernden Superdroge zu verhindern, aber Justice hat trotzdem einen Weg gefunden. Andere wiederum reden von einem ultimativen Virus, das Justice in dem Geheimlabor züchten lässt, damit niemand übrig bleibt außer den Gerechten. Nach dieser Version soll jeder, der für Justice kämpft, durch einen Impfstoff immunisiert werden, der gleichfalls bei Raya entwickelt wird.
Sooft Jimin darüber nachdenkt, sie kann sich nicht entscheiden, welche der beiden Versionen sie für wahrscheinlicher hält. Und welche ihr besser gefällt.
Vielleicht geht es auch um etwas ganz anderes. Nur Justice kennt den Weg in die neue Welt, in der Reichtum und Glück gerecht verteilt sein werden. An die Auserwählten, die alle anderen hinter sich lassen.
Jimin wird ihren Beitrag leisten, was immer von ihr verlangt wird. Folter, Feuer, Blutvergießen, sie ist zu allem bereit. Sie wird nicht zurückbleiben, so viel steht fest. Sie wird in der gerechten neuen Welt leben, makellos rein und unfassbar reich.
Im Gegensatz zu Suganda.
Jimin rappelt sich auf, geht zum Küchentisch und greift sich die finale Kleidung, die sie für das Zielobjekt ausgewählt hat. Die Schlampe hat ein ganzes Zimmer voller Designerklamotten, aber Jimin hat beschlossen, dass sie ihre letzte Reise in einem schlichten, blassblauen Leinennachthemd antreten wird. Schließlich ist es schon tief in der Nacht. Vermutlich wollte sie sich gerade ins Bett legen, als sie aus irgendeinem Grund beschloss, das Küchenfenster zu öffnen und sich weit hinauszubeugen.
Zu weit. Zumal bei ihrem Trunkenheitsgrad. Oder hatte sie vor, ihrem Leben ein Ende zu machen? Der alkoholisierte Geist kann auf seltsame Ideen kommen.
Jimin achtet darauf, sich selbst und das Nachthemd nicht mit Sugandas Blut zu besudeln, als sie der weiterhin Bewusstlosen das Kleidungsstück überzieht. Die Schnapsflasche steckt so fest in der Schlampe drin, dass sie erst herausfällt, als Jimin sie aufgerichtet hat und zum Fenster schleift. An das Klirren, mit dem die Flasche auf dem Steinboden zerschellt, werden sich die Nachbarn bestimmt erinnern, wenn sie von Polizisten befragt werden.
Das Deckenlicht hat Jimin vorher ausgeschaltet, das Fenster weit geöffnet. Fünfter Stock, das sind locker dreizehn, vierzehn Meter bis zum gepflasterten Hinterhof. An sichtbarer Gewalt in Sugandas Gesicht wird es nicht mangeln, aber so ein Sturzflug hinterlässt eben Spuren.
Um null Uhr dreiundzwanzig lehnt Suganda im offenen Fenster, allerdings nur kurz. Sie klappt nach vorn zusammen und hängt wie ein Lumpensack über der Brüstung. Jimin, die hinter ihr am Boden kauert, hält sie an den Unterschenkeln fest.
Sachte nur, um keine verräterischen Griffspuren zu hinterlassen. Und doch fest genug, damit das Zielobjekt nicht einfach kopfüber an der Hauswand hinunterrutscht.
Suganda hat ihr neues Leben weggeworfen, als wäre es Müll. Also ist es nur gerecht, beschließt Jimin, dass sie wie Abfall aus dem Fenster fliegt.
Sie stemmt ihre Hände unter Sugandas Hintern und stößt sie im hohen Bogen hinaus. Die Wissenschaftlerin wiegt nicht viel mehr als Jimins früherer Hund, ein Deutscher Boxer namens Herman. Jimin hat den bulligen Rüden vergöttert, bis ihr klar wurde, wie ähnlich er ihr sah, nicht nur der platten Nase wegen. Da erschoss sie ihn, zwei Kugeln in die Stirn. Aber das war in ihrem früheren Leben.
Sugandas Körper schlägt im Hinterhof auf, und Jimin verlässt das Penthouse auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen ist. Die Dachterrassentür, die sie vorhin mit dem Elektrodietrich geöffnet hat, zieht sie hinter sich wieder zu. Dann ab über die Dächer und drei Blocks weiter westlich die Feuerleiter hinunter, die in einem Areal voller Sperrmüll und Abfalltonnen endet.
Sie zieht die Kawasaki hinter einem Stapel ausrangierter Holzpaletten hervor. Gerade als sie an dem noblen Apartmenthaus vorbeifährt, geht im Erdgeschoss in mehreren Fenstern Licht an. Aus einiger Entfernung kommt bereits ein Polizeiwagen herbeigejault, und Jimin wird unvermittelt klar, dass der Name, den Suganda schließlich doch noch preisgegeben hat, eindeutig deutsch klingt.
Damit kennt sie sich aus. Ihr texanischer Vater hat deutsche Wurzeln, und sie selbst hatte in ihrem früheren Leben etliche Jobs in Germany. Zweimal in München, einmal in Frankfurt, zuletzt in Berlin.
Na logisch, denkt Jimin, als sie auf die Stadtautobahn einbiegt und die schwere Maschine beschleunigt. Raya Pharmalab wurde im letzten Herbst von einem deutschen Pharmaunternehmen gekauft. Die Frau, an die Suganda die geheimen Informationen durchgestochen hat, muss eine der Führungsfiguren aus Deutschland sein, die sich seitdem bei Raya breitgemacht haben.
Jimin hat noch genau im Ohr, wie Suganda den Namen artikuliert hat. Mühsam, weil er für asiatische Sprechwerkzeuge schwer auszusprechen ist. Und mit einem bedauernden Unterton.
»Lotte Gerlach.«
Nacht zu Donnerstag,
4. April 2019
Um kurz vor Mitternacht verabschiedet sich Lotte Gerlach von ihrem Mann. Sie hat ein ungutes Vorgefühl, und wie so oft beschließt sie, darüber hinwegzugehen.
Eine nächtliche Spritztour steht ihr bevor, wie sie das im Grunde liebt. Etwas überraschend anberaumt, aber kein Grund, sich graue Haare wachsen zu lassen. In Gedanken sagt es sich Lotte immer wieder vor.
Lächelnd beugt sie sich zu Paul hinab, der im Erkersessel über einem Album voll gelbstichiger Fotografien brütet. Er will sämtliche Details der Lilienthal-Villa, die sie vor einem Jahr gekauft haben, »kompromisslos rekonstruieren«. Das versichert er bei jeder Gelegenheit, und Lotte zweifelt nicht daran, dass er es durchziehen wird. Paul ist ein erstklassiger Kunsthistoriker und ein gewissenhafter Mann. Ihr selbst ist nicht so wichtig, ob wirklich alle Schnörkel, Zinnen und Bleiglasfenster, die das Altbaujuwel einst geziert haben, wieder an Ort und Stelle gelangen, aber mit dem Erwerb der schmucken kleinen Villa im Ritterburgenstil hat sich auch ihr eigener Traum erfüllt.
Und vielleicht mehr noch der Traum ihres Vaters.
Paul klappt das Album zu und steht auf. »Fahr vorsichtig, hörst du?«, sagt er in besorgtem Tonfall.
Lotte ist seit zwölf Jahren mit ihm zusammen, seit neun verheiratet und immer noch in ihn verknallt. »Na klar«, gibt sie zurück und küsst ihn zärtlich auf den Mund.
Er trägt ein übergroßes brombeerfarbenes T-Shirt, unter dem die Boxershorts fast verschwinden, und seine rehbraunen Locken sind schon wieder schulterlang. Sie hat sich für den streng geschnittenen, mitternachtsblauen Chanel-Hosenanzug entschieden, passend zu ihrem nächtlichen Roadtrip, und sie genießt den Kontrast zu Pauls zwanglosem, fast schon intimen Outfit.
Paul ist kaum größer als sie und zwei Jahre jünger, gerade mal siebenunddreißig. Vor allem ist er viel zurückhaltender und vorsichtiger. Als sie sich vorletztes Jahr für das schneeweiße 350er SLK Sportcabrio als Dienstwagen entschied, fiel er fast in Ohnmacht. Er selbst fährt eine betagte A-Klasse; das sagt eigentlich alles über die Glamour- und Risikotypen, die sie verkörpern.
Er will sie an sich ziehen, aber Lotte schlängelt sich aus seiner Umarmung. »Ich muss los. Gib Dion einen Kuss von mir.« Ihr kleiner Junge, gerade fünf geworden, der ihr Glück perfekt macht.
Denn das hier ist kein Albtraum, schärft sich Lotte ein, sondern immer noch mein unfassbar glückliches Leben.
Noch vor wenigen Jahren war für sie unvorstellbar, dass sie jemals auf einer solchen goldenen Insel leben würde. In einem Anwesen wie diesem, in Lichterfelde gelegen, der ehemaligen Villenkolonie im Südwesten Berlins. Doch nachdem sie den atemberaubend dotierten Job bei ClarTop bekommen hatte, war Geld plötzlich kein Problem mehr. Ihr Leben auf einmal ein Strom aus aufregenden Begegnungen, internationalen Kongressen, Fünfsternehotels und Businessclass-Flügen.
Nur die beunruhigenden Vorahnungen ist sie seitdem nicht mehr losgeworden. Im Gegenteil, sie wurden immer drückender. Aber davon lässt sich Lotte nicht beirren, schließlich hat sie seit Langem gelernt, mit einem unguten Grundgefühl zu leben. Eigentlich schon, seit sie ein kleines Mädchen von sieben, acht Jahren war und ihr Vater anfing, ihr Geschichten aus der unheimlichen Welt der Bakterien, Viren und Protozoen zu erzählen. Und von den Schlachten, die heroische Forscher und Ärzte gegen die feindlichen Stämme führten.
Unten in der Eingangshalle nimmt Lotte die Seitentür, die direkt ins Nebengebäude führt. Ursprünglich zum Verstauen von frostempfindlichen Kübelpflanzen gedacht, wurde der Anbau der Villa schon zu Kaisers Zeiten als Garage zweckentfremdet. Sehr zum Ärger von Baumeister Gustav Lilienthal, dem Bruder des legendären Flugpioniers Otto – und zum Missfallen von Paul, der die Garage am liebsten zur Orangerie rückverwandelt hätte.
Doch damit biss er bei Lotte auf Granit.
Mit der Fernbedienung öffnet sie Garagen- und Hoftor, steigt in ihr Cabrio und stößt rückwärts hinaus. Sie hat kein Übernachtungsgepäck dabei, nur die Unterlagen für das Treffen mit dem High Potential, der heiß umworbenen Nachwuchskraft, die sie auf Geheiß ihres Vorstands morgen früh in München interviewen soll. Und am besten sofort rekrutieren, den Arbeitsvertrag unterschreiben lassen, den sie fix und fertig in der Tasche hat.
Dass sie kurzfristig irgendwo hinreisen muss, im In- oder Ausland, meist mit Flugzeug oder ICE, ist für Lotte nichts Ungewöhnliches. Mit Medienvertretern sprechen, pharmakritische Aktivistinnen umgarnen, Führungskräfte und hochkarätige Talente einstellen oder notfalls feuern – das und einiges mehr gehört zu ihrer Stellenbeschreibung.
Schließlich ist sie leitende Managerin für PR und HR, Public Relations und Human Resources, in einem boomenden Pharmaunternehmen, dessen Strukturen größtenteils noch aus der Start-up-Phase stammen. Dabei nähert sich ClarTop mit Raketengeschwindigkeit der Milliarden-Umsatzgrenze und beschäftigt mittlerweile fast dreitausend Mitarbeiter an zwei Standorten.
Einer davon ist ihr Stammsitz in Berlin-Adlershof, der andere das Labor in der indonesischen Hauptstadt Jakarta, das sie im letzten Jahr übernommen haben. Raya Pharmalab, eine der weltweit führenden Einrichtungen für die Entwicklung innovativer Impfstoffe und Medikamente.
Der Abend ist still und kühl. Auf der Straße wartet Lotte mit laufendem Motor, bis sich die Tore wieder geschlossen haben. Dabei späht sie mehrfach in Rück- und Seitenspiegel, aber so verstohlen, als wollte sie nicht einmal von sich selbst ertappt werden. Wie sie nach dem »Killer« Ausschau hält, der die Mikrobiologin Dr. Suganda vor drei Tagen aus dem Fenster ihres Penthouse-Apartments in Jakarta gestoßen haben muss.
Fünfter Stock, die Wissenschaftlerin war sofort tot, als sie auf der Straße aufschlug. Laut Polizei ein »häuslicher Unglücksfall ohne Fremdverschulden, möglicherweise auch Suizid«. Doch als Lotte die Nachricht bekam, war ihr erster Gedanke, dass Shinta Suganda zum Schweigen gebracht worden war.
Die Forscherin hatte ihr Informationen zugespielt, die niemals hätten weitergegeben werden dürfen. Dafür musste sie mit dem Tod büßen, jedenfalls höchstwahrscheinlich. Seitdem fühlt sich auch Lotte verfolgt. Mal mehr, mal weniger. Andauernd schaut sie sich um, glaubt Schemen im Schatten, Blicke auf ihrem Rücken zu spüren, und dann wieder kommt sie sich paranoid vor. Aber wieso paranoid? Sieben Menschen sind gestorben, mindestens. Unter dubiosen bis grässlichen Umständen. Zumindest laut Dr. Shinta Suganda, ehe sie sich als Nummer acht in die Todesliste einreihte.
Warum hat die Chefin mich auf diesen Nacht-und-Nebel-Trip geschickt? Das fragt Lotte sich fast unablässig, seit Dr. Toppert sie vor gerade mal anderthalb Stunden angerufen hat. Ein auch für ihre Verhältnisse ungewöhnlich kurzfristiger Auftrag.
»Am besten nehmen Sie das Auto, Lotte, dann sind wir flexibler. Nur für alle Fälle«, schob Toppert hinterher, und Lotte fragte nicht nach. Sie liebt es, mit dem SLK über nächtliche Autobahnen zu brausen. Es verleiht ihr ein Gefühl, als wäre alles möglich, als gäbe es keine Grenzen, weder im Raum noch in der Zeit. So sah sie es auch bis vor ein paar Tagen. Bis die indonesische Mikrobiologin ihr die Dokumentation der geheimen Versuchsreihe schickte und Lottes älteste Albträume mit einem Schlag wahr zu werden schienen.
Brutschränke voller Glasbehälter, in denen es apokalyptisch wimmelt … Mit einem Klick werden Schranktüren entriegelt, Ampullen fallen heraus, zerschellen auf dem Boden, und dann … »Stell dir nur vor, was das für ein Desaster wäre!« Die sanfte Stimme ihres Vaters, Märchenerzählertonfall, in ihrem Kopf. Wie seit dreißig Jahren. »Zum Glück ist alles doppelt und dreifach gesichert. Wenn aber doch mal was schiefgehen würde …« Die Luft um Lottes Kopf herum verdunkelte sich, fast undurchsichtig vor flirrendem Ungeziefer …
In den Bildern, die Papas Geschichten in ihr hervorriefen, waren die Viren, Sporen, Protozoen immer winzig klein, doch gerade so für das bloße Auge sichtbar. Bis heute sieht sie die so in Träumen und unbewachten Momenten: als stäubchenkleine Ungeheuer, kugelförmig oder mit Stacheln ausgestattet, die unbeirrbar in sie eindringen, durch Mund, Nase, Augen, jede noch so winzige Öffnung ihres Körpers.
Schluss mit dem Spuk … Lotte wischt sich über die Augen. Das Garagentor hat sich geschlossen, das Tor zur Zufahrt auch. Vom Gartentürchen daneben führt die Attrappe einer Zugbrücke zu ihrer Haustür. Rostige Ketten inklusive, die Paul letztes Jahr bei einem Trödler gekauft hat.
Tudor-Revival-Stil. Lotte war sofort fasziniert von dem bizarren Bauwerk mit Ritterburgoptik, es sprach ganz klar die Paranoikerin in ihr an. Apropos … Was weiß die Chefin von den Machenschaften in ihrer asiatischen Niederlassung? Hat sie mitbekommen, was Suganda ihrer PR-Managerin an Materialien durchgestochen hat? Soll Lotte deshalb auch zum Schweigen gebracht werden, in dunkler Nacht irgendwo zwischen Berlin und München?
Zum Beispiel durch einen Fake-Unfall mit Fahrerflucht, denkt Lotte und sieht schon den Truck vor sich, der in einem unbelebten Autobahnabschnitt plötzlich in ihrem Rückspiegel auftauchen wird.
Aber das glaubt sie doch nicht im Ernst?
Nein, natürlich nicht. Zumindest will sie nicht glauben, dass irgendwer bei ClarTop hinter den grässlichen Vorfällen in Jakarta steckt. Schon gar nicht Clara Toppert.
Und doch ist da diese Stimme tief in ihr, die immer lauter wimmert: Lotte, fahr nicht!
Warum nicht? Weil das Interview in München vorgeschoben ist, eine Falle, um auch sie umzubringen? Blödsinn.
Nie wird Lotte vergessen, wie ernst und leidenschaftlich sie in der Firma über ethische Grundsatzfragen diskutiert haben, bis endlich der komplette Vorstand mit den »Sieben ethischen Prinzipien« einverstanden war, die Lotte für die Imagekampagne des Unternehmens formuliert hat. Die Vision der Gründer ist »eine Erde ohne unheilbare Krankheiten, befreit von vermeidbarem Leiden und vorzeitigem Tod«. Die Mission von ClarTop besteht entsprechend darin, »alle verfügbaren Ressourcen für die Entwicklung von Heilmitteln und Impfstoffen einzusetzen, die dazu beitragen können, dass Menschheitsgeißeln wie Krebs, Aids, SARS, Ebola schnellstmöglich besiegt werden«.
Diesen edlen Zielen haben Clara Toppert und die anderen Gründer ihr Leben gewidmet. Wie könnten sie da gleichzeitig zynische Züchtungen vorantreiben, die allem Anschein nach nur einen Zweck haben: möglichst effizient Menschen zu töten?
Ausgeschlossen, sagt sich Lotte. Sie kennt Toppert mehr als nur ein bisschen, während Dutzender gemeinsamer Abende an Hotelbars rund um den Globus sind sie sich nähergekommen. Und die promovierte Biologin gehört nicht zu den Zeitgenossen, die mit ihrer Meinung hinterm Berg halten.
Toppert brennt für ClarTop, für ihre Mission, da ist sich Lotte sicher. Sie hat viele Jahre in renommierten Laboren in Europa und den USA an mikrobiologischen Projekten gearbeitet, ehe sie sich mit Ende vierzig entschloss, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. »Aus Frustration, verstehen Sie, Lotte«, ereiferte sie sich einmal, »weil die Pharmakonzerne genauso wie die Weltgesundheitsorganisation immer nur den kurzfristigen Trends hinterherhecheln.
Nehmen Sie Ebola, Dengue, SARS oder was auch immer: Wenn irgendwo eine Epidemie ausbricht, werden zig Millionen in Projekte zur Erforschung des Ausbruchsgeschehens gepumpt. Aber kaum ist die Seuche abgeklungen, trocknen diese Fördertöpfe wieder aus. Die Suche nach Impfstoffen wird abgebrochen, die Erprobung von Medikamenten eingestellt. Dabei wissen alle Beteiligten ganz genau, dass die nächste Virusepidemie immer schon vor der Tür steht.«
Lotte erinnert sich an den fragenden, irgendwie spöttischen Blick, den die Chefin ihr an dieser Stelle zuwarf. Wahrscheinlich war sie ein wenig erschauert, wie so oft, wenn das Gespräch auf das verheerende Wirken von Viren und sonstigen Erregern kam. Erreger! Schon das Wort macht ihr eine Gänsehaut. Dagegen erweckt die stämmige Vorständin mit der silberfarbenen Kurzhaarfrisur und der überraschend dunklen Stimme jederzeit den Eindruck, dass sie zur Not auch mit bloßen Fäusten gegen tödliche Virenstämme in die Schlacht ziehen würde.
»Gerade die Coronaviren mutieren so schnell und häufig, dass sich an fünf Fingern abzählen lässt, wann auf SARS und MERS eine neue Variante folgen wird«, fuhr Toppert fort. »Und diesmal vielleicht eine, die sich nicht mehr in einem lokalen Ausbruchsgeschehen totläuft, sondern von Land zu Land, womöglich sogar von Erdteil zu Erdteil springt. Eine Pandemie! Verstehen Sie, Lotte: Wir könnten, ja, wir müssten längst über einen Basisimpfstoff verfügen, der auch künftigen Corona-Varianten sämtliche Stacheln ziehen würde. Aber einseitiges Shareholder-Value-Denken bei den Pharmakonzernen und kurzsichtiges Wiederwahlkalkül seitens der politischen Kaste verhindern ein ums andere Mal, dass diese lebenswichtigen Projekte zu Ende geführt werden.«
Erneut warf die Chefin ihr einen prüfenden Blick zu. Natürlich weiß sie, dass Lotte ihr Pharmaziestudium im zweiten Semester abgebrochen hat, um sich stattdessen auf PR und Kommunikation zu verlegen. Aber Lotte hat niemals eingestanden, was sie zu dem abrupten Richtungswechsel bewogen hat. Ein tiefes Unbehagen, das sie urplötzlich befallen konnte, wenn sie sich einem mikrobiologischen Labor näherte oder gar in entsprechenden Räumlichkeiten befand. Und das keineswegs nur, wenn es sich um ein Hochsicherheitslabor handelte, mit Ein- und Ausgangsschleusen, das man bloß im Vollschutzanzug mit externer Luftzufuhr und zwei bis drei Paar Handschuhen übereinander betreten darf.
Manchmal genügte schon der Anblick der Brutschränke voller Zellkulturen, untermalt vom Surren des Elektromotors, der die Viren im Cyrotank auf minus hundertsechzig Grad kühlt. Es löste eine Flut verstörender Bilder in Lottes Kopf aus, begleitet von Paniksymptomen wie Herzrasen, Schweißausbruch, unbezwinglichem Fluchtimpuls. Und der sanften, dabei fast manisch beharrlichen Stimme ihres Vaters, der auf seine Art die Katastrophe zu verarbeiten suchte.
Anfangs glaubte Lotte noch, ihre Laborphobie würde sich durch Gewöhnung geben, doch sie wurde im Gegenteil ärger. Schließlich musste sie sich eingestehen, dass sie an einer Art posttraumatischem Belastungssyndrom litt, mitgeschleppt seit frühen Kindheitstagen, als ihre Mutter aus scheinbar heiterem Himmel an Aids erkrankt war. Und nach einem schrecklichen Martyrium verstorben.
Jahrelang hatte Elisa Kastner das HI-Virus unbemerkt in sich getragen, bis ihr Immunsystem kollabiert und die damals noch tödliche Krankheit ausgebrochen war. Nie wird Lotte vergessen können, wie sich ihre Mama binnen weniger Monate von einer blühend schönen jungen Frau in ein graues, kraftloses Knochenweiblein verwandelte.
Von alledem weiß Toppert natürlich nichts, doch ihr fragender Blick in der abendlichen Hotelbar ließ erahnen, dass sie sich so ihre Gedanken machte. Über die mitreißende Begeisterung, mit der ihre PR-Führungskraft den heldenhaften Kampf gegen Viren, Sporen und Bakterien beschwören konnte. Und über den Unterton von Panik, den sie bei Lottes euphorischen Ansprachen und Pressebriefings wohl herausspürte.
Die suggestive Mischung aus lauter Euphorie und leiser Panik ist das Geheimnis von Lottes ungewöhnlich erfolgreicher PR-Arbeit. Diese Zusammenhänge sind ihr selbst lange schon klar, und seit jenem Zwiegespräch in der schummrigen Hotelbar nimmt sie an, dass auch Toppert sie zumindest erahnt. Eigentlich war es ein ziemlich einseitiger Dialog, zu dem sie selbst fast nur zustimmende Gesten und Floskeln beisteuerte. Ob es in einem Hotel in New York, London oder Mumbai war, könnte sie nicht mehr mit Sicherheit sagen, doch den fragenden, fast schon anmaßenden Blick der Chefin spürt sie noch immer auf ihrem Gesicht. Ein Blick, als wollte Toppert sagen: Dieser Mix aus Angst und Begeisterung – einfach ideal!
Wieso ideal?, fragt sich Lotte. Weil sie gerade deshalb so emsig mitgeholfen hat, die glanzvolle Fassade von ClarTop zu erschaffen: um nicht sehen zu müssen, was sich dahinter verbirgt?
Sie schüttelt den Kopf. Schluss jetzt damit. Sie hat noch nie auf diese ängstliche Stimme in ihrem Innern gehört, jedenfalls nicht, wenn es sich vermeiden ließ. Dadurch hat sie es so weit gebracht, also wird sie sich auch jetzt nicht von irgendwelchen flauen Vorgefühlen kirremachen lassen.
Die Straße ist dunkel und menschenleer. Leise rauschen die Alleebäume im Wind. Lotte stellt den Automatikwahlhebel auf Drive und fährt schwungvoll los.
Sie hatte geglaubt, dass sie sich im Auto sicherer fühlen würde als im ICE, aber das erwies sich als Irrtum. Im Zugabteil sitzt du wie auf dem Präsentierteller, schon richtig, aber auf der Autobahn ist die Lage noch viel weniger kontrollierbar.
Kaum war sie in Steglitz auf die A 115 aufgefahren, ging der Horror los. Überall nur noch potenzielle Verfolger. Zuerst der bullige Kawasaki-Fahrer, der zwanzig Minuten lang hinter ihr herfuhr, egal, ob sie mit achtzig dahinzockelte oder das Gaspedal plötzlich durchtrat. Dann in einer Baustelle auf einmal dieser schwarze SUV-Koloss mit getönten Scheiben, der so dicht auffuhr, als wollte er ihr zierliches Gefährt vor sich herschieben.
Wenn sie beschleunigte, gab der Fahrer gleichfalls Gas. Als sie abbremste, fuhr er nicht etwa vorbei, sondern ließ die Lichthupe flashen, bis Lotte genervt wieder aufs Gaspedal trat. Hinter dem Steuer glaubte sie einen kräftigen jungen Mann auszumachen, mit kurz geschorenen Haaren und wildem Vollbart, dem es vielleicht einfach einen Kick versetzte, rotblonde Cabriofahrerinnen zu schikanieren. Für einen Auftragskiller verhielt er sich definitiv zu auffällig, aber das beruhigte Lotte kaum. Obwohl der Audi-SUV, kaum war die Baustelle vorbei, an ihr vorbeizog und nach Sekunden mit dem Horizont verschmolzen war.
Also hatte er sich in der Baustelle mit seiner fetten Q8-Karre nur nicht auf die verengte Überholspur getraut? Wahrscheinlich, sagte sich Lotte und entspannte sich ein wenig. Bis sie kurz danach auf der rechten Spur von zwei Lkws in die Zange genommen wird, während ein Konvoi gleichförmiger grauer Kleinbusse mit rumänischen Kennzeichen neben ihr die Überholspur blockiert.
Eine gefühlte Ewigkeit lang sitzt Lotte in der Falle. Sie behält den Lkw hinter ihr und den Truck vor ihr gleichermaßen im Auge und versucht, gleichmäßig zu atmen. Ihr Herz rast. Der Laster hinter ihr fährt so dicht auf, dass sie im Rückspiegel nur noch eine Wand aus rostigem Blech und stumpfem Chrom sieht. Wenn der Trucker will, kann er sie mit seinem Dreißigtonner überrollen, ohne sehr viel mehr als ein Rumpeln unter den Achsen zu spüren.
Genau, wie sie es vorausgesehen hat.
Der Schweiß läuft Lotte den Rücken herunter, ihre Fünfhundert-Euro-Bluse fühlt sich klatschnass an. Und dann biegen die beiden Lkws bei der Ausfahrt Niemegk von der Autobahn ab, und Lotte hat wieder freien Blick. Die Fahrbahn vor ihr und im Rückspiegel ist nahezu leer. Auch der Konvoi rumänischer Handwerkerbusse ist verschwunden, ohne dass sie mitbekommen hätte, wie das zugegangen ist.
»Du spinnst, Lotte«, teilt sie sich mit. »Reiß dich mal zusammen.«
Doch von der nächtlichen Autobahn hat sie genug. Bei der nächsten Gelegenheit biegt sie auf die Landstraße ab, überquert gegen ein Uhr bei Wittenberg die Elbe und folgt der B 2 in Richtung Leipzig. In dem spärlich besiedelten Heidegebiet sind die Straßen nahezu leer, sodass sich keine Verfolger unauffällig an sie heranpirschen können.
Doch es gibt sowieso keine Verfolger, stellt Lotte fest, nachdem sie die leere Landstraße im Rückspiegel immer wieder beäugt hat. Niemand interessiert sich hier für dich. Niemand weiß, dass du überhaupt hier bist.
Sie will es glauben, zumindest für den Augenblick. Sie schaltet das Radio ein und erwischt eine Nostalgiesendung, Pop-Hits aus den späten Achtzigern. Als Lotte ein Grundschulkind war, ihr Vater ein brennend ehrgeiziger Pharmaziestudent und ihre Mutter noch am Leben.
Aber daran will sie jetzt ganz bestimmt nicht denken. Sie wird irgendwo stoppen und sich einen Kaffee besorgen. Und sie wird sich die Geschehnisse der letzten Wochen und Monate durch den Kopf gehen lassen. Um endlich den Entschluss zu fassen, den sie schon viel zu lang vor sich herschiebt.
Soll sie vor ihrer Chefin vertrauensvoll alles ausbreiten, was sie von Suganda erfahren hat? Soll sie besser gleich zur Polizei gehen, weil der Vorstand von ClarTop vielleicht doch irgendwie mit drinhängt? Oder muss sie ganz im Gegenteil den Mund halten, alles vergessen, was sie gesehen und gehört hat, wenn sie nicht wie die mutige Mikrobiologin in Jakarta enden will?
Vergessen, vom Hals schaffen, denkt Lotte, vor allem den verdammten Stick vernichten, auf dem sie die Beweise gespeichert hat. Die Dokumentation der geheimen Testreihe, die Polizeiakten, Fotos, Sektionsberichte, Gedächtnisprotokolle, das grässliche Video … Weg damit, möglichst heute noch!
Aber wie könnte sie einfach für sich behalten, was aus all den Materialien mit schreiender Klarheit hervorgeht: dass ein hochaggressives Virus eine tödliche Epidemie auslösen wird, wenn nicht irgendwer den Drahtziehern rechtzeitig das Handwerk legt?
Warum gerade ich?, fragt sich Lotte dann wieder. Wieso soll gerade sie alles riskieren, was sie doch eben erst gewonnen hat: ihren Traumjob, ihr traumhaft glückliches Leben?
Kurz vor Leipzig fährt sie auf einen TOTAL-Autohof und holt sich in der Tankstelle einen großen Automatenkaffee im Pappbecher. Während sie auf dem schummrig beleuchteten Parkplatz neben ihrem Auto auf und ab geht, trinkt sie das bittere Gebräu in kleinen Schlucken. Dabei immer wieder erschauernd, vor Kälte oder Unbehagen, aber daran ist sie gewöhnt. Es hat nichts zu bedeuten, denkt Lotte, es gehört zu mir, wie ein Schatten, seit so vielen Jahren.
Der Nachthimmel ist schwarz, mit dichten Wolken bedeckt. Lotte nimmt ihn kaum wahr, so wie sie auch den stämmigen Kawasaki-Fahrer, der in einiger Entfernung von seiner Maschine steigt und mit wiegenden Schritten auf die Toilettenräume zuhält, nur am Rande registriert. In Gedanken ist sie in Jakarta, der turbulenten asiatischen Metropole, die ihr bei ihrem ersten Indonesientrip so hell, optimistisch, vor Vitalität übersprudelnd erschien.
Und die ihr jetzt, nur sieben Monate später, wie der apokalyptische Ort vorkommt, an dem das Tor zur Hölle aufspringen wird.
Wenn es nicht bereits begonnen hat, sich zu öffnen.