Roger Willemsen
Der Knacks
Essay/s
FISCHER E-Books
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller ›Der Knacks‹, ›Die Enden der Welt‹, ›Momentum‹ und ›Das Hohe Haus‹. Über sein umfangreiches Werk gibt Auskunft der Band ›Der leidenschaftliche Zeitgenosse‹, herausgegeben von Insa Wilke.
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Roger Willemsen erkennt den »Knacks« in der Landschaft und unseren Städten, in Armut und Obdachlosigkeit, im 11. September und dem Lager von Guantánamo. Der Knacks ist in der Welt, aber der Knacks ist auch in uns - in unserem Scheitern so sehr wie in unseren vermeintlichen Siegen.
Ausgehend von der sehr persönlichen Erinnerung an den Tod seines Vaters, diagnostiziert Willemsen den Knacks, mit dem wir die Kindheit verlassen, und den, den uns die Liebe zufügt. Der Knacks ereilt Helden und Verlierer, Paare und Einzelgänger, der Knacks ereilt uns, beim Gang durch die Zeit: Wann wurde man nicht, was man hätte sein können? Wie sollten wir all das kennen, was wir haben, bevor wir es verlieren? Sind wir überhaupt noch anwesend in unserem Leben, und warum sitzt selbst im Glück der Knacks?
So betrachtet ist der Knacks weniger der harte Bruch im Leben als der unmerkliche Übergang. Immer und überall geht er vonstatten, in uns und um uns herum: eine Farbveränderung ins Dunkle, ein Abfallen der Temperatur, ein Wechsel von Dur zu Moll. Es kann der Einzug der Enttäuschung sein oder des Alters, der Moment, in dem etwas an sein Ende gelangt und sich am Horizont zum ersten Mal der Tod zeigt. Nicht wie ein Sprung markiert dieser Knacks sein Objekt, sondern wie die Risse in der Oberfläche eines alten Bilds.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Nan Goldin, »Anthony by the Sea, Brighton, England, 1979«.
Courtesy of the Artist
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400084-8
Auch die Zeit ist ein Maler.
Francisco de Goya
Alle wurzeln im Märchen: Ich war einmal. Eine Reihe von Wegmarken später, und alles steht fest und muss nicht mehr erzählt werden: »und wenn sie nicht gestorben sind … « Wie jemand wurde, das erklärt er anhand von Ernstfällen – als sei ein Individuum erklärbar aus der Summe seiner Narben.
Doch dann ist da noch eine andere Biographie: »Irgendetwas« hat sich gewandelt, sagt man, »irgendwann« war es da, »irgendwie« von innen heraus, gelöst vom isolierten Anlass, nicht logisch und auch nicht im Gegenteil psychologisch. Man blickt zurück und weiß nicht recht, was es war und wann es geschah und woraus genau es bestand und wohin es führte, aber man sagt: Nie mehr fühlte ich wie damals … , es sollte nicht mehr sein wie früher … , ich war nicht mehr derselbe … Ja, der Mann erkennt sich im Jungen kaum, die Frau nicht mehr im Mädchen, und bei genauerer Betrachtung lösen sich selbst die festen Daten eines Lebens in lauter stille Übergänge und sich langsam anbahnende Prozesse auf: die Scheidung, die Arbeitslosigkeit, die Krankheit, die Pflegebedürftigkeit der Eltern. Gelebt wird nicht im Ereignis, sondern im Prozess. Wenn aber die Ernstfälle Narben sind, so sind die Veränderungen von innen der Falte vergleichbar.
Alles dunkelt nach oder bleicht aus, alles bricht und vergeht, alles ändert Farbe und Aroma, und nur im Spott nennt man die Welt eine »heile Welt«, wohl wissend: Auch sie hat ihren Knacks. Der Knacks: Im Sog der Verluste ist er der Sog.
Mein Vater starb letzten August. Das ist jetzt bald vierzig Jahre her.
Der Tag war so heiß, dass die Vögel unter den Blättern blieben und alles ringsum sich verlangsamte. Wir dachten an die Hitze des Krankenzimmers, des Krankenbetts, in dem der inzwischen zu einem dünnen Herrn zusammengeschmolzene Mann seinen Tod erwartete. Dass es Regen geben solle, war das Thema auf den Fluren. Erst für den Abend wurde er erwartet, als er endlich fiel, war er der erste Regen, den mein Vater nicht mehr erleben sollte.
In München nahmen an diesem Tag ein paar Männer die Kunden und Angestellten einer Bank als Geiseln und verlangten 500 000 Mark. Die Eilmeldungen im Radio überschlugen sich, dauernd gab es »neue Entwicklungen«, das Land blickte nach München. Wir nicht.
Mittags aß ich bei einem Freund, folgte aber dem Tisch gespräch nicht, bis ein Erwachsener eine längere Geschichte abschloss mit dem Seufzer:
»Unsere Familie wurde geboren, Gräber zu füllen.«
In die Pause, die folgte, schepperte das Gelächter, erst langsam, dann selbstbewusst. Man traute sich, die drastische Formulierung mit Ironie zu beantworten. Ein Aperçu war geboren. In die Pause, die diesem folgte, sagte ein anderer:
»So gesehen, dauert der Tod ein Leben lang.«
Die beiden Sätze standen unverbunden nebeneinander, und aus der Pause, die dann folgte, erhob sich kein Gelächter mehr.
Komische Art, sich zu unterhalten, war alles, was ich dachte.
In den Wochen davor war meine Mutter täglich ins Krankenhaus gefahren, einen Krebsbunker mit massiven Strahlungsapparaten, Kobalt Kabinen, dreißigjährigen Untoten auf den Fluren und diesem einen, nie mehr aufzulösenden Geruch. Nicht Kampfer, nicht Melisse roch so, unnatürlich, chemisch, strahlend roch es.
Die Gesichter der Patienten hatten etwas Unheilbares, sie trugen den Ausdruck offener Wunden im Gesicht und irrten herum auf der Suche nach einer Wunde, mit der sie hätten reden können. Wir Kinder hatten in diesem Augenblick das Leben vor uns, im Doppelsinn. »So ist das Leben« oder »Das Leben kann grausam sein«, sagten die Erwachsenen, das waren auch in Kinderohren keine besonders tiefsinnigen Sätze. Aber dass es immer ums Ganze ging, ängstigte uns, und so wurden zu unserem Schutz nur drei Krebsbunker Besuche pro Woche angesetzt.
Im Radio hörten wir das Wort »Geiseldrama« zum ersten Mal, und wir erfuhren auch noch, dass inzwischen zwei Menschen zu Tode gekommen waren. Eines der Opfer, eine schüchterne Bankangestellte, vielleicht auch erst eine Auszubildende, wirkte auf dem Porträtfoto in der Zeitung, als habe sie mit dem Gesicht, das zu ihrem Tod passte, schon länger gelebt.
Mein Vater lag im Sterben. Irgendjemand sagte, er habe jetzt seinen Geschmackssinn eingebüßt. Der sollte nicht wieder kehren. So war also der Tod über seinen Geschmackssinn in sein Leben gekommen.
Mein Vater lag im Sterben, ich dachte, dass selbst das an einem heißen Tag mühevoller ist, und ging in den Garten. Ganz hinten, wo ich mit zwölf Jahren versucht hatte, einen Zipfel Erde selbst zu bebauen, um es mit dreizehn wieder aufzugeben, irrte bei der Himbeerhecke ein weißes Huhn durch das hohe Gras, flatterte vom Boden auf, kam nicht über den Zaun, scheute die dornige Hecke und wusste nicht ein noch aus.
Ich ergriff also das Huhn mit beiden Händen, legte es, beschirmt von den Armen, an meine Brust und machte mich auf den Weg zu den umliegenden Bauernhöfen, den Besitzer des Tiers ausfindig zu machen. Das Huhn war ganz ruhig geworden, aber ich spürte den zerbrechlichen Brustkorb, die Wärme seines Blutes, das Schaudern, das über die Federn lief, ehe sie sich abrupt aufplusterten, und da alle Bauern über dem schneeweißen Tier die Köpfe schüttelten, lief ich weiter, bis hinab ins Unterdorf, und auf einer anderen Straße wieder aufwärts, bis ich auf halber Höhe an einen Hof kam, wo mir die Bäuerin freudestrahlend das Tor öffnete und das Huhn mit einem Schwall von Koseworten bedachte. Ich nahm es in beide Hände, legte es an den Busen der Bäuerin und ging heim.
In der Garderobe stand meine Mutter und sagte: »Der Vater ist tot.«
Es klang wie der Vater aller. Vater unser.
Dieser Moment hatte ein langes Leben.
Wir Kinder erschraken nicht, sondern gingen ins Zimmer, wo die vorsorglich angeschaffte Trauerkleidung schon bereit lag wie die Schwimmweste für den Schiffsreisenden. Meine Schwester erhielt einen schwarzen Faltenrock mit schwarzer Bluse und sah aus wie eine Pfarrhelferin. Wir Jungen bekamen schwarze Banilon Pullover mit Rollkragen, zu heiß, aber wer erwartet den Tod schon im Hochsommer? Wir fühlten uns gezeichnet von diesen Kleidern, entstellt.
Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht jung, wollte es aber später werden. Etwas veränderte, etwas verschob sich, nicht gleich, sondern im Lauf der nächsten Monate, etwas, das einen Namen suchte und nicht »Erwachsenwerden« heißen wollte und nicht »Halbwaise«. Es gab überhaupt keinen Namen für dieses langsame Hinübergleiten von einem Zustand in einen anderen. Ich meine nicht die Trauer, die abverlangte, ritualisierte Trauer, die eher Ironie herausforderte oder belastend wirkte, weil wir nicht auf Partys gehen durften, jetzt, da wir sie nach zwei Jahren an der Seite eines Sterbenden vielleicht am ehesten gebraucht hätten. Ich meine ein Abfallen der Lebens temperatur, ein erstes Verschießen der Farben. Etwas wie Appetitlosigkeit machte sich breit. An ihrem Anfang stand kein Schock und kein Trauma, es gab kaum mehr als einen Anlass – was folgte, war der Knacks.
Ich wollte einfach ein Kind sein, auf dem Land leben, mit dem Pferdewagen des Bauern zum Holzmachen in den Wald fahren. Ich wollte dem Schmied beim Beschlagen der Pferde zusehen, den Betrunkenen vom Bürgersteig vor dem Gast haus aus zuhören, und ich wollte ein weißes Huhn im Arm halten, es von Hof zu Hof tragen. Die Luft sollte frisch, nach Land duftend und appetitanregend sein, der Rittersporn sollte blühen.
Es wäre leicht zu sagen: An jenem Tag ging die Kindheit zu Ende. Aber nein, diese Kindheit hatte einen langen Bremsweg. Eher war meine Begegnung mit dem weißen Huhn ein katalysatorisches Ereignis: Wie bei einem chemischen Experiment kam hier etwas hinzu, das in die Reaktion der Stoffe nicht eintrat und diese trotzdem freisetzte. Dieses Dritte verbrauchte sich nicht. Das weiße Huhn wird immer dieses Huhn bleiben, aber der Tod meines Vaters wäre ein anderer gewesen, hätte ich nicht an jenem Tag das warme Lebewesen zwischen meinen Händen gefühlt, hätte ich nicht diese Seele heimgetragen.
Da mein Vater mitten in den Sommerferien gestorben war, sprach sich nach Schulbeginn die Nachricht erst langsam herum. Auf dem Lehrplan des Biologieunterrichts stand »der Mensch«. Das kam mir entgegen, dachte ich doch dauernd in Komplexen wie »das Leben«, »das Schicksal« oder eben »der Mensch«. Aber gleich in der ersten Stunde wurde ins Klassen zimmer ein Skelett gerollt, das unmenschlich wirkte. Ich sehe noch, wie es auf seinen Rädern vor der gefürchteten Lehrerin in der Tür des Klassenraums erschien, als ein Mitschüler zu mir herüberrief: »Schau mal, Roger, dein Vater kommt zur Elternsprechstunde!« Ich drehte mich nicht um, konnte aber hören, wie sie ihn prügelten, ihm die Schnauze stopfen wollten, dem Ahnungslosen, der erst am Vortag aus den Ferien heimgekehrt und nicht verständigt worden war, und da tat er mir so leid, wie ich mir selbst leidtat.
Doch andererseits: Was war diese Szene schon mehr als ein konventioneller Verstoß, die Pietätlosigkeit eines Unwissenden? Sie spielte sich auf der Ebene der Formen ab, und was haben die schon mit der Trauer zu tun? Jeden Tag gab es hundert Situationen, die mich ebenso eindringlich an meinen Verlust erinnerten. Ein Klavier musste nur von Dur zu Moll wechseln, ein Mann mit einer Zeitung unter dem Arm die Straße überqueren, jemand musste in einer Geste verharren, eine Schaufensterpuppe imitierend. Es reichte der Pfiff des Schiedsrichters vom benachbarten Fußballplatz oder eine Wolke aus Terpentin und Leinöl, ein Blend aus Wildleder und Zigarette – die ganze Welt war kontaminiert mit Begriffen, Namen, Aromen, lauter Dingen, deren Trägermedium das Leben meines Vaters gewesen war und die nun frei durch die Welt flogen – eine väterliche Welt, aus der es kein Ausbrechen gab.
Ein einzelner Lebenstag – und jeder spülte uns weiter heraus aus der Zeit, die auch seine gewesen war – steckte voller Verletzungen wie jene unabsichtliche Bemerkung des Mitschülers. Der entschuldigte sich nach der Stunde unter Tränen. Um ihn zu trösten, sagte ich, dass es nicht so schlimm sei – was er, sagte er zu den anderen zurückkehrend, »doch irgendwie schlimm« fand.
Dem Jungen erscheint der Vater meist erwachsener als die Mutter. Die Welt des Heranwachsenden ist deshalb fast zwangsläufig väterlich. Ich wurde wie von einem Laufband in eine Sphäre geschoben, in der seine Abwesenheit thronte wie eine Person. Der Verlust ersetzte mir den Vater. Ich adoptierte diesen Mangel wie einen Menschen, und was immer mir fehlte, war dem imaginären Patronat des Verlusts unterstellt. So etwa.
Es geht nicht um den Verlust, um die Entbehrung, die sich fühlbar macht, verbleicht und verschwindet. Es geht nicht einmal um den Verlust, der bleibt. Er könnte den Resonanzboden der Erfahrungen voluminöser klingen, die Konturen schärfer erscheinen lassen. Der Knacks aber ist nicht ein Riss mit Diesseits und Jenseits, mit Vorher und Nachher, er ist unmerklich: er teilt nicht, er prägt. Er ist die Zone, in die die Erfahrung eintritt, wo sie verwittert und ihre Verneinung in sich aufnimmt. Etwas soll nicht mehr, etwas wird nicht mehr sein. Es wird sogar »nie mehr sein wie vorher«, aber nicht, weil ein Mensch fehlt, sondern weil sich ein Lebensgefühl geändert hat. Dazu braucht es nicht den Verlust, sondern das Verlieren.
Ich hatte das weiße Huhn heimgetragen, ein Hütejunge, den ländlichen Charakteren aus meinen Büchern verbunden, Einar Langerud, ein norwegischer Herumstreuner aus einem Roman von Marie Hamsun, war so. Der ging im Sommer mit den Herden über die Weiden, traf manchmal einen anderen Hütejungen, und wenn sie sich begrüßten, sagten sie: »Danke fürs letzte Mal.« Retrospektiv. Jetzt, da ich meinen Vater verloren hatte, begrüßte ich die Leute in unserer ländlichen Nachbarschaft mit diesen Worten und bildete mir ein, einen neuen Lebensraum, eine neue Gemeinschaft zu erschließen.
Ich kam also heim, und mitten im Verlust sollte sich meine Rolle ändern. Wie alle Kinder in dieser Lage übernahm ich Teile der Aufgaben des Vaters. Vor allem das Verhältnis zu Mutter und Schwester sollte sich wandeln. Man sprach im Dorf davon, wir Kinder müssten nun »vorzeitig erwachsen« werden. Aber das ist es ja nicht. Man lebt diachron, so kindlich wie gereift, künstlich gereift, wie eine Frucht auf dem Transport.
Statt erwachsen zu werden, trat ich erst einmal in einen posthumen Zustand ein, der meinen Vater und nur diesen betraf. Später merkte ich irgendwann, dass auch ich selbst posthum mit mir lebte, indem ich einen Tod überlebte, der auch mein eigener war. Die symbolischen Ausdrücke dafür heißen »Verlust der Kindheit« oder sogar »Vertreibung aus dem Paradies«. Aber wem die Kindheit als Paradies erscheint, der kann sich meist nur nicht besser erinnern. Bloß weil sich die Anlässe des Kummers im Rückblick als kindlich erweisen, sind die Gefühle nicht nichtig gewesen, und wer kann schon eine ganze Welt so in seine Verzweiflung legen wie ein schreiendes Kind?
»Verlust der Kindheit«? Die Kindheit geht ja nicht verloren, jedenfalls nie ganz, sie zieht sich nur zurück und macht Platz. Vielleicht degradiert und verzwergt man sie, weil im Rückblick ihre Lasten noch gering, ihre Aufgaben leicht erscheinen. Aber für den inneren Menschen nimmt sie keinen untergeordneten Rang ein. Sie bricht sich Bahn, sie kehrt zurück, in neuen Mischungsverhältnissen. Es kann sein, dass nur der Humor das Exil des inneren Kindes bleibt oder das Begehren oder die Habsucht, die Tierliebe oder die Melancholie. Nichts ist je ganz vorbei, auch nicht die Kindheit.
Als mein Vater starb, war ich fünfzehn Jahre alt, sah mit meinen langen Haaren aus wie Janis Joplin und blieb gerade in der Schule hängen. Eine Freude kann ich ihm wohl kaum gewesen sein, und meine Aussichten waren noch schlechter.
Wenn ich an seinem Krankenbett saß, blickte ich den weißlackierten Rahmen an, die flache Matratze, die Vorrichtung zum Anheben des Kopfteils, den funktionalen Beistelltisch und dachte, dass dies ein Sterbebett sei. Wenn er schlief, sah ich mir die Zimmerdecke an und ahnte, dass dies sein letztes Bild werden könne. Oder die an der Wand befestigte Blumenvase mit dem Kreuz darüber oder der Fensterausschnitt mit Blick auf eine Häuserfront voll vom Leben der Gesunden.
In die Augen meines Vaters sehend, der in den letzten Monaten den Habitus eines stattlichen Patriarchen eingebüßt und den eines Unbehausten erworben hatte, konnte ich erkennen, dass seine Sorge vor allem dem eigenen Leben galt, dann dem Ensemble seiner Familie und darin auch mir, der ich da saß, ratlos, beunruhigt und voller Kummer. Die Krankheit hatte ihm die Decke weggezogen. Allein seine Schutzlosigkeit in der Schwäche besaß etwas Obszönes. Entblößt war er wider Willen, und hätte seine Kraft nur irgend ausgereicht, er hätte sich so wohl nicht sehen lassen: so wie er durch Zustände ging, alterte, sich wieder verjüngte, die Entwicklungsgeschichte auf den Kopf stellte, er verkappte und er entpuppte sich. Die Krankheit war zähflüssig, sie ließ ihn ertrinken, aber ihr Rhythmus beschleunigte sein Leben so lange, bis er kaum mehr den Kopf heben konnte.
Sprache hatte ich kaum. Immer war ein Dritter im Raum, sein Tod, der redete mit oder ließ uns nicht einmal zu Wort kommen. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir uns noch etwas hätten sagen müssen. Mein Vater hinterließ mir keinen Auftrag, keine Imperative. Stattdessen sah er mich inständig an. Aber auch dieser Ausdruck blickte durch mich hindurch in die eigene Existenz, von der er nicht lassen konnte. »Nicht fertig, nicht fertig! Muss noch leben!«, hat Anastasius Grün, der Lyriker des Vormärz, auf seinem Sterbebett geflüstert. Dieses Flüstern hörte ich unablässig, auch ohne dass sich seine Lippen bewegten.
»Möchte noch«, der letzte Konjunktiv liegt dahinter. Wir sind immer fertig, wir sind nie fertig. In einen Fortsetzungsroman geboren, ist die Geschichte, die wir nicht kennen werden, eine Kränkung der Kontinuität, in die wir uns betten und die stabiler ist, als wir es sind. Als Vermächtnis bleibt kein »Was nun zu tun ist«, sondern immer nur ein »Was bisher geschah … «
Wir blickten beide nicht in jenen Zustand, der sein würde, wenn mein Vater nicht mehr wäre. Auch die Liebe war unaussprechlich. Für ihn, weil er so war, wie er war, für mich, weil ich nicht leicht Zugang zu meinen Gefühlen fand. Sie hätten ihn ohnehin nur verlegen gemacht, und außerdem versagten sich in der Todeszone alle ringsum, den Tod auszusprechen, Ärzte, Schwestern, Angehörige, Freunde, als hätten sie Angst, ihn erst dadurch zu rufen. Man hatte damals wohl auch in der Medizin noch ein abergläubisches Verhältnis zum Namen, oder aber man vertraute auf die Heilkraft der Hoffnung inniger, als man es heute tut, jedenfalls hat man auch meiner Mutter, die mit vierzig Jahren Witwe sein und drei Kinder durch die Schule bringen würde, bis zuletzt die Wahrheit nicht nur verschwiegen, sondern man hat sie geradezu verzweifelt unbeholfen belogen.
Über die Krankheit meines Vaters wurde, seit sie zwei Jahre zuvor ausgebrochen war, nicht geschwiegen, aber sie wurde nicht bei ihrem Namen genannt. Auch eine Art Bann. Die Begriffe »Bestrahlung«, »Karzinom«, »Rezidiv« und »Metastasen« waren uns Kindern bald geläufig, das heißt, wir wussten, wo man sie in einem Satz unterbrachte. Mein Vater ging zuerst noch mehrmals wöchentlich in die »Strahlenklinik«, und wir lernten, unsere Stimmungen nach dem neuesten »Befund« auszurichten. Das war nicht einfach, denn manchmal passte unsere Stimmung nicht zu diesem Befund. All das waren partikulare, mit der Krankheit verbundene Einheiten oder Segmente der Sprache. Doch existierten sie zusammenhangslos, als Emanationen einer Störung, die als Ganzes ohne Namen blieb. Diesen habe ich erst relativ spät erfahren, kurz vor dem Mittagessen.
Ich stehe in der Küche, meine Mutter rührt in einem Topf, sie rührt, als sei es sehr anstrengend, mit einem Ellbogen, der hoch über dem Löffel schwebt, auf den sich die Hand stützt, und alle diese mit Krankheit infizierten Begriffe sind im Raum. Sie spricht mehr zu sich selbst, sich und mich auf den neuesten Stand bringend, indem sie für das Leiden ihres Mannes prägnante Vokabeln findet.
»Wie merkwürdig«, sage ich aus Verlegenheit, nicht wissend, was ich sonst sagen soll, »dass diese Krankheit so schwer, aber gar nicht so bekannt ist.«
»Wieso?«, erwidert meine Mutter und rührt mit ihrem spitzwinkelig aufragenden Ellenbogen weiter in ihrem Topf, weiter, als sei es eine Riesenanstrengung, »bekannter geht’s doch nicht mehr.«
»Aber wie heißt diese Krankheit denn?«, frage ich.
»Na, Krebs!«
Sie sagt es nicht, sie kräht es, es klingt wie »Kräääps« und dehnt sich wie der Ton eines Nebelhorns. Dann steckt sie den breiten Holzlöffel in den Mund und schmeckt ab, und der Löffel in ihrem Mund wird von nun an das Symbol des Todes sein.
Denn so viel wusste ich sofort: Sterben würde mein Vater, an Krebs sterben, trotz aller Bestrahlungen und günstig klingen den Befunde, sterben an etwas, das unter dem von den Strahlungen rot gewordenen Fleck auf seiner oberen Rückenpartie saß – eine Stelle wie ein mittelschwerer Sonnenbrand. Diese raue Stelle war das einzig Äußerliche, das uns die Krankheit zu sehen gab. Nein, es war ja nicht einmal die Krankheit, die sich zeigte, es war der ärztliche Versuch einer Therapie, die auf Strahlen, Verbrennungen, Verätzungen, auf Ausmerzungs Prozesse im Innern des Vaterleibes setzte. Wir alle haben diese Stelle manchmal eingecremt, die einzige Spur der Krankheit berührt, eine Rötung bloß, eine Bagatelle.
Doch der Knacks? Nicht das Wort »Krebs« löste ihn aus, nicht der Kochlöffel, nicht das Bild des Vaters im Krankenhausbett und auch nicht der Blick aus seinen Augen, als er sich, schon von Morphium benebelt, im Kissen aufrichtete, auf mich zeigte und fragte: »Wer ist das?«
Auch die Nachricht von seinem Tod an jenem Augustnachmittag war nicht der Knacks. Dies alles waren Schocks, Detonationen, Implosionen. Der Knacks war das weiße Huhn, das wiedergefundene Unwiederbringliche.
Die Trauer ist das eine. Das andere ist der Eintritt in eine Sphäre des Verlusts. Anders gesagt: Der Verlust ist das eine, das andere aber ist, ihn dauern zu sehen und zu wissen, wie er überdauern wird: Nicht im Medium des Schmerzes und nicht als Klage, nicht einmal expressiv, sondern sachlich, als graduelle Verschiebung der Erlebnisintensität.
Man könnte auch sagen: Etwas Relatives tritt ein. Was kommt, misst sich an diesem Erleben und geht gleichfalls durch den Knacks. Es ist der negative Konjunktiv: Etwas ist schön, wäre da nicht … Es tritt ein Moment ein, in dem alles auch das eigene Gegenteil ist. Als kämen, auf die Spitze getrieben, die Dinge unmittelbar aus dem Tod und müssten sich im Leben erst behaupten und bewähren.
Dann das Bild, als sie mich in den Krankenhauskeller führten, die Schublade öffneten und er dalag, mit hochgebundenem Kiefer, scheinbar lachend, fadenscheinig und fremd. Mein Abwenden impulsiv, dann Bedauern, ihn so gesehen zu haben.
Dieses gehört zu den auto aktiven Bildern, es kommt ungerufen. Solche Bilder sind wie Eigenschaften. Man wiederholt sich in ihnen, man kann sich nicht erneuern, dreht sich in ihnen wie in einem Scharnier. Sie üben einen Bann aus, nehmen die Person in Geiselhaft.
Vielleicht wird jemand sagen, dieser eine Verlust sei ein Kontrastmittel. In der Konfrontation mit ihm wirkten die Farben der Welt nun leuchtender, als sei das Dauernde durch die Begegnung mit dem Vergänglichen noch wunderbarer. Es ist die Dialektik der Sonntagsrede. Als müsste man dem eigenen Leben nur Verluste zuführen und würde gleich dessen froh, was man hat. Nein, man kann ganz gut unterscheiden zwischen der Schlappe, dem Unglück, dem Scheitern, der Einbuße, dem Verlust, der überwunden werden kann. Man kann ja in manchem Verlust diesen selbst nicht einmal fühlen, sondern möchte lachen: über die Pantomime des Tragöden, über das Stummfilm Pathos der Trauer. Man wird darüber hinwegkommen, über die Trauer und über das Gelächter, das sie weckte.
Aber der Knacks ist etwas anderes, über ihn kommt man nicht hinweg. Er ist ein Schub, meist bewegt er sich lautlos und unmerklich. Erst im Rückblick kann man sagen: Dann war nichts mehr wie zuvor. Eine posthume Perspektive, die des Passé. Die Farben nehmen jetzt Patina an, die Genüsse büßen ihre Frische ein, die Erfahrung wählt einen flachen Einfallswinkel, sie kommt eher vermittelt, wie durch eine Membran gegangen. Das Leben wechselt die Sphäre, es reift, es altert, und irgendwann ist zum ersten Mal das Gefühl da, überhaupt ein eigenes Alter zu haben, das heißt, es fühlen zu können.
An dieser Stelle blickt man zurück und erkennt die Requisiten der Kindheit zum ersten Mal mit abschiedhafter Sentimentalität. Man sieht, was dort zurückbleiben wird: Kinderrotz und Tafelläppchen, Blockflöten und Gummi-Twist, Freundschaftsringe und handgeschriebene Verträge, Kinderfrömmigkeit und eine Art zu jauchzen. Scharf gesehene Komplexe aus einer frühen Zeit, die sich erst zu erkennen gibt, wenn sie endet, die die Bedingung ihrer Erscheinung also darin hat, dass sie zu Ende gehen muss.
Das erste Zu Ende-Gehen. Heißt es nicht bei Walter Benjamin, die Studentenzeit charakterisiere sich durch die Tatsache, dass zum ersten Mal im Leben eine Generation nachwachse, die man selbst unterrichten werde? Diese Beunruhigung, die von den Nachgeborenen aus auf die Gegenwart fällt – man wird von ihr schon berührt, wenn man die imaginäre Linie übertritt, die die Kindheit von ihrem Jenseits trennt. In dieser Zone erscheinen die Insignien der Kindheit wie Embleme des Verlorenen, Epiphanien eines verlassenen Lebens, das nur im Verlust erscheinen kann und vom Verlust aus seine Farben empfängt.
An dieser Stelle kommt die Ironie ins Leben, das Sein löst sich vom Darstellen ab. Noch führt man sein Leben durch die alte Kulisse. Noch schleppt man sich durch die Rituale, ist Tochter, Bruder, Sohn, freut sich am Geburtstag und zeigt sich zu Weihnachten überrascht. Doch ist man all das nicht wirklich mehr, man assimiliert sich dem Gewohnten und ist weniger wahr als wahrscheinlich. Man demonstriert ein Verhalten, das innen seine Plausibilität verloren hat. Zum ersten Mal tritt man in eine Zone des uneigentlichen Lebens ein, weil es dahinter, verschleiert, ein eigentliches gibt, ein zwingendes.
Im Unterschied zum Bruch tritt der Knacks nicht an die Oberfläche, er wird nicht im Schock geboren. In seinem Kern ist der Knacks der Beginn einer Entwicklung im Fluss der Entwicklungen. Zwei Liebende, die sich im Bett zum ersten Mal voneinander wegdrehen, um lieber ihrer Einsamkeit zugewandt einzuschlafen.
Etwas trennt sich, ermüdet, verliert Farbe, scheitert, gibt auf. Es ist dieser an der Wurzel kaum greif- und schon gar nicht beherrschbare Vorgang, dieser am Ich vollstreckte, nicht auf Entscheidungen zurückzuführende Vollzug, von dem mehr Beunruhigung ausgehen kann als vom Schock mit all seinen therapeutischen Offerten. Der Schock will beantwortet, ja bearbeitet werden, der Knacks schleicht sich als etwas Unheilbares in den Organismus, entstanden in einem namenlosen Augenblick, als Konsequenz eines Vorgangs, als Impuls, Reflex, Ablösung, als ein Freiwerden in einer ehemals gebundenen Symbiose, vielleicht selbst als ein Nachlassen der Kraft, der Vitalität, des Bauwillens.
In der Malerei reichen die »Craquelé« genannten Risse allenfalls bis zur Grundierung. Sie entstehen durch das Nachlassen der Elastizität bei den verwendeten Bindemitteln, die im Prozess der Härtung nach fünfzig oder sechzig Jahren den Bewegungen der textilen oder hölzernen Bildträger nicht mehr folgen können, oder aber es entstehen sogenannte Frühschwundrisse durch Interaktionen der verwendeten Chemikalien bei der Grundierung.
Das Craquelé ist etwas wie der Fingerabdruck des Bildes, Ausdruck einer spezifischen Form des Alterns und Ermüdens. An ihm lassen sich Maltechnik, Material, Bindemittel, Pinselstärke, ja, sogar Klimaschwankungen oder mechanische Bewegungen ablesen. Selbst das Alter und die Echtheit eines Gemäldes können am Craquelé bestimmt werden. Nichts in diesem Prozess, das nicht metaphorisch beziehbar wäre auf das Altern des Menschen, den mit den Jahren sein persönliches Craquelé überzieht.
Manchmal kann man zum Leben kaum vordringen, selbst in der größten Freude findet man keinen Eingang in die Euphorie. Es liegt schwerfällig und grau und abweisend, das Gefühl, das mögliche Empfinden.
Ich traf einen Schauspieler und fragte ihn: »Finden Sie leicht Zugang zu Ihren Gefühlen?«
»Nein«, erwiderte er überraschend. »Das ist ein weiter Weg. Manchmal denke ich, ich fühle mich schon selbst kaum mehr.«
Woher er sie dann nehme, die Gefühle?
»Aus der Kindheit, wie alle. Gefühle, das ist eine große Rückführung, zurück zur Mutter, zur Großmutter. Alle nehmen doch, was sie wirklich bewegt, von dort, aus dem großen Treibhaus. Oder sie denken vom Nachruf aus: Wer wirst du gewesen sein? Und weinen.«
Der Knacks verläuft nicht durch die Handlung, sondern durch das Bild. Die Handlung kennt Bindemittel, sie stiften Zusammengehörigkeit: die kausallogische Herleitung, die Konsequenz, die Schlussfolgerung, Moral der Sieger und der Besiegten. Kaum aber erlahmen, zergehen die Bindungen, bleiben nur Bildreste übrig, halbe Motive, Fragmente.
In den Vergnügungen, den Reisen an entlegene Orte, dem Extremsport, der Esoterik, den asiatischen Meditationstechniken wird dem Wunsch nach Einheit nachgegeben, einem Verlangen, identisch mit sich und auf der Höhe des eigenen Handelns zu sein. Dass alle Charaktere gemischte Charaktere sind, dass wir einer Handlung zugleich vorauslaufen und auf sie zurückblicken, dass wir ein Paar sind und es zugleich darstellen, dass wir nicht gleichzeitig sein können mit dem, was passiert, also dauernd mehrzeitig sein müssen, dezentral leben, fragmentiert in der Erfahrung und brüchig im Selbstbild, das macht den Knacks zum Medium. In ihm kristallisieren sich Persönlichkeiten aus, indem sie sich aufgeben.
Doch muss, wo vom Knacks, vom Angriff der Zeit, die Rede ist, eigentlich immer à la baisse spekuliert werden? So könnte etwa Selbstvergessenheit noch etwas ganz anderes freisetzen: eine Duldsamkeit dem gegenüber, was kommt. Man könnte doch erreicht werden, sich erreichen lassen, wie das unförmige, abstoßende Individuum in den grotesken Liebesgeschichten bei Boccaccio und Rabelais erreicht wird vom überraschenden Glücksversprechen: Eine Frau kommt und erhebt den unliebenswürdigen Mann: Du bist schön. Sie bemüht sich, die Liebe um ihre Traurigkeit zu erleichtern, und mit einem Mal ist ein Jenseits gefunden zu den Desillusionen des Knacks.
Du warst einmal: Als sich die Köpfe über das Baby, das Kleinkind, den Jungen, den Heranwachsenden beugten und immer das Gleiche sagten: All diese unbegrenzten Möglichkeiten, vielversprechenden Optionen, besten Chancen, berechtigten Hoffnungen. Einer, dessen Zeit kommen wird, einer, an den sich große Erwartungen heften, einer, von dem man noch hören wird, der seine Zeit noch vor sich hat.
Friedrich Hölderlin, An die Natur:
Tot ist nun, die mich erzog und stillte,
Tot ist nun die jugendliche Welt,
Diese Brust, die einst ein Himmel füllte,
Tot und dürftig, wie ein Stoppelfeld
Wie kommt die Enttäuschung in das Gesicht des Schwärmers? Wie kommt das Misstrauen in das Gesicht des Abgeordneten? Wie kommt das Geringschätzige ins Gesicht des Träumers? Wann wurde aus der Mutter eine Behörde? Wie kommt das Gemeine in das Gesicht der Pornodarstellerin? Wann gewann die Feigheit die Oberhand, wann wandelte sich die Schwäche in Unaufrichtigkeit? Wann war man eingeschüchtert genug, Eigenschaften zu erwerben, Gewohnheiten, Suspensorien, Krücken, Treppenaufzüge für eine Ebene höher oder tiefer?
Anders gefragt: Wann wurde man nicht, was man hätte sein können? Wo setzte die Drift ein? Wann nahm das Sein-Lassen seine doppelte Bedeutung an als Tolerieren und Aufgeben? Wann wurde aus »Milde« ein Indiz für Ermüdung? Was breitete sich an der Stelle aus, wo sich ehemals Möglichkeiten zeigten? Welche Laster hat die Kapitulation hervorgetrieben?
»Am Anfang war alles beisammen«, sagt der griechische Philosoph Anaxagoras, »dann kam der Verstand und schuf Ordnung.« Der irreparable Mensch ist der Mensch, der das Chaos hinter sich hat, und die Ordnung in der Marotte, in der Konvention, in den Tröstungen der Gewohnheit, im Tic, in der Routine, im Stil findet. Er wird nichts mehr. Kultivierte er früher vielleicht noch das aufklärerische Ideal, das Ich-Gebilde müsse stetig, plausibel, aus sich heraus entwickelt aufsteigen, so blamiert das Selbstbild im Knacks jede Vorstellung einer sich zielgerichtet entwickelnden Persönlichkeit. Am Ende erweist er sich als allenfalls amüsierbar.
Es gibt selbst im Leben des Kindes einen Ernst, der das Eigentliche vom Uneigentlichen trennt. Das Eigentliche verbindet sich dem Überleben.
In der Nacht wachte ich als Kleinkind davon auf, dass ich nicht mehr atmete. Die Luft war in der Brust stehengeblieben, vielleicht eine Tasse voll, in ihrem reglosen schwarzen Spiegel reflektierte nichts. Das war früher schon passiert, ich musste nur warten, dass der Atem wieder zu fließen beginnen würde, aufwärts, um die Lungen zu füllen, oder abwärts, um sie endlich auszuleeren.
Ich schlug mit den Wimpern, um die Sauerstoffzirkulation anzuwerfen. Nichts zu sehen, kein Schatten, keine Aufhellung. Als sei ich zeitgleich erblindet. Dazu ein Zehren in der Brust, so als müsse jeden Augenblick das Vakuum dort implodieren, und das Licht fiele wieder durch einen Riss in der Nacht: aber nur um den Tod zu beleuchten. Und während die Luft immer noch stand und das Dunkel durch die geöffneten Augen in den Kopf eindrang, harkte ein Croupier mit dem Rechen lauter Kinderbilder zusammen – ein sonniges Mauerstück im Hof, ein schmutziges Läppchen, ein Butterkügelchen auf einem geschnitzten Brett –, warf sie durcheinander und ließ sie verschwinden, bis nur noch das Spielfeld blieb, und dann die Angst, jetzt, in diesem Augenblick, abgeschafft zu werden.
Und als es schon fast zu spät ist, weil selbst die Angst durchlässig wird und unbedrängten Bildern Platz machen will, ruckt der Atem, nur zwei Zentimeter höher (also aufwärts ging es), und dann in einer Talfahrt hinab, in einem langen seufzenden Gleiten. Du atmest. Es wird dir nichts geschenkt. Am nächsten Morgen ist alles zunächst ein bisschen leerer.
Als Kind habe ich geglaubt, man käme direkt aus dem Nichts. Warum sollte ich auch nicht noch mit dem Nichts behangen sein, mit einer Sphäre des Unbewussten? Ich war noch nicht lange am Leben. Kannte ich nicht deshalb den Tod besser? In einer Selbstmord-Statistik aus den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts sind schon Fünfjährige erfasst, die sich das Leben nahmen. Die meisten von ihnen sprangen aus dem Fenster, ich dachte damals, wie Eichendorff schreibt, »als flögen sie nach haus«.
Warum sollte das Gefühl des Heimwehs nicht älter sein als die Erfahrung der Heimat? Warum sollte nicht fehlen können, was man nie besaß? Wahrscheinlich ist selbst anderen Gefühlskomplexen – der Liebe, der Begierde, der Enttäuschung – manchmal etwas wie Heimweh beigemengt.
Trotzdem spricht die erwachsene Welt gerade dem Kinder-Suizid gegenüber gern vom »Appell«, von »Signalfunktion«. Als ob es eine einzige menschliche Handlung gäbe, die nicht auch sprechen und eine Wirkung hinterlassen wollte! Bei der Betrachtung eines solchen Kinderlebens aber findet man vielleicht nichts: keine Sünde, keine Angst vor Strafe, keine Herzlosigkeit der Alten, kein Trauma der Institutionen. Der Tod steht in sich, als sei er schon vorher da gewesen.
Das Kind, der Halbwüchsige, sie können vielleicht, was das 19. Jahrhundert in seinen Totentänzen konnte: Den Tod als Freund denken, so wie er am Bett wacht, hinter dem Schreitenden auf der Brücke wartet, im Kellergewölbe die Kerzen behütet, ganz wie ein Schutzengel. Diese Jungen, sie kennen den »Gevatter Tod« der Märchen nicht als Dämon, nicht ausgestattet mit der Psychologie des Verführers, des Schurken oder Betrügers. Den Tod als Mentor kennen sie, als Seelsorger. Als das erhabene Hohlbild aller realen Freunde können Kinder ihn denken, sind sie doch von den Zudringlichkeiten öffentlicher Lebensfreude erst gestreift und den Anforderungen des erwachsenen Lebens vielleicht nicht besser gewachsen als dem Mysterium des Todes.
So hat, wenn Kinder und Halbwüchsige aus dem Leben gehen, ihr Gestus etwas von der österreichischen Wendung für den Suizid: Die Sich-heim-Drehenden sind es, die erkennen durch Erfahren.
Die erste Verstandesordnung, in die das Kind von der Schule des Lebens eingeführt wird, ist die logische. Wer nicht zählen kann, kann auch nicht erzählen. Also unterwirft sich das Kind die Welt zuerst durch die Grundrechenarten und lernt so den Vorgang des Addierens und Substrahierens. Es sagt nicht »Substrahieren« und es sagt nicht »Minus«, es sagt: »Abziehen« und »Weniger«. Es ist die Zeit, in der ein Verb noch »Tu-Wort« heißt und ein Adjektiv »Wie-Wort«. Denken wir also an Abertausende geballte Kinderfäuste, in denen ein Stift steckt, und diese Kinder lernen auf dem Papier zu kalkulieren: Fünf weniger Drei, Zehn weniger Sieben. Vielleicht bringt das Bewusstsein hier eine Erfahrung auf den Begriff, die es in der materiellen Welt als Erstes erfährt: Etwas wird weniger, die Milch, das Essen, das Tageslicht, selbst die Tafelkreide.
Dass die Welt schrumpfen kann, dass sie jeden Einzelnen mit dem Mangel bedroht und das Geschenkte entziehen kann, mit dieser Erfahrung beginnt die Reife. Denn einerseits entfaltet das Glück seine Großherzigkeit gerade darin, dass es den Glücklichen in die Mitte des Überflusses setzt, andererseits findet dieser seinen Platz darin, indem er sich bescheidet. Das Unerschöpfliche erweist sich als erschöpflich, das dem Einzelne Zugemessene rationiert.
Der Prozess der Reife beginnt also, wo der Einzelne in die Kategorie des »Weniger« eintritt, weil er weniger Habe, aber auch weniger Geist, weniger Gefühl, weniger Urteil, weniger Sprache, weniger Emphase besitzt, weil er sich als Mangel erkennen und seine Individualität aus soviel Mangel gewinnen muss. Das ist eine soziale Erfahrung, die Geburt des Einzelnen als »zoon politikon«.
Zugleich mischt die Erfahrung der eigenen Minderwertigkeit dem Heranwachsen und Reifen ein Kontrastmittel bei, das hilft, alle Farben einer Persönlichkeit umso stärker hervortreten zu lassen. Wie ein Mensch sich der Erfahrung des Mangels, der Niederlage, des Scheiterns, der Verminderung seines Selbstgenusses stellt, sagt mehr über seine Persönlichkeit aus als sein Umgang mit Triumphen.
Es handelt sich also um gegenläufige Prozesse: Während sich der Mensch im Verlauf der Kulturgeschichte erst zur vermeintlichen »Krone der Schöpfung« emanzipiert, gewinnt er in der Individualgeschichte allmählich das Bewusstsein, auch weniger zu sein und zu werden.
Es ist dies der Prozess, den man das Altern nennt, das Welken, Vergehen, Verfallen, Hinscheiden, eine Erfahrung, die vom Leben immer reicher orchestriert wird: Weniger Haare, weniger Zähne, weniger Luft, weniger Schlaf, weniger Spannung, weniger Kraft. Und diese Verminderung findet in der Welt außen ihre Entsprechung: Weniger Spezies, weniger Wälder, weniger Atemluft, weniger Natur, weniger Ruhe, weniger Sicherheit.
Am Ende bewegt sich der Mensch zwischen zwei Sphären der Verminderung. Beide entziehen sich seinem Einfluss. Doch auch wenn man die Geschichte der Kultur nicht zuletzt als Anpassung an Prozesse der Verminderung verstehen kann und auch wenn das Altern den Einzelnen weniger werden lässt und ihm seine Hoheit sukzessive entzieht, bleibt es sein Privileg, den Mangel kompensieren zu können. Zuletzt kommt er, reduziert und reich zugleich, bei seinen Anfängen an, beim Schlichten, bei der Fülle im Wenigen, bei Dürers Satz: »Als ich jung war, erstrebte ich Vielfalt und Neuheit; nun in meinem Alter habe ich begonnen, das natürliche Gesicht der Natur zu sehen, und fange an zu begreifen, dass diese Einfachheit das allerletzte Ziel der Kunst ist.«
Die wirkliche Wirklichkeit, »das natürliche Gesicht der Natur«: Das Einfache, versiegelt durch eine Tautologie, der Verlust als Rettung in einer Sphäre des Verlierens.
Inseln, immer Inseln oder Halbinseln, meine ganze Kindheit ist voll von ihnen. Wann immer meine Eltern Ende der fünfziger Jahre ihren weißen NSU »Neckar« bepackten und Auslauf suchten, wussten wir Kinder: Meerumschlungen musste das Ziel sein und dem Freigang eine natürliche Grenze setzen. Meinem vor allem, denn gerne habe ich als Kind das Weite gesucht, bin aber nie weit gekommen. Das heißt, bis ans Meer bin ich immer gekommen, deshalb rührte mich später jene Zeile aus einem alten Seemannslied, in der es heißt: »Und des Matrosen allerliebster Schatz muss weinend steh’n am Strand.« In meiner Kindheit war ich Seemannsbraut, jedenfalls stand ich weinend am Strand.
Doch zugleich konnte mich dieser Zustand an sich ziehen mit erotischer Intensität. Immer hatte ich ein gepacktes Köfferchen unter dem Bett, bereit, jederzeit aufzubrechen, und später legte ich im Keller einen Vorrat aus Büchsen an, die ich bei meiner Flucht aus dem häuslichen Leben, einer Flucht in die Unbehaustheit, brauchen würde. »Ohne festen Wohnsitz«, das war damals als Prädikat so verführerisch wie »Staatsfeind Nr. 1«.
Auf der Insel Reichenau im Bodensee fing alles an. Mit einem Eimerchen und vollen Windeln über eine steinige Uferstrecke watscheln, das geht als Erholung durch in einer Zeit, in der man sich noch nicht erholen muss. Wenn man das Fruchtwasser noch nicht lange hinter sich hat, ist das Meerwasser eigentlich nur geschmacklich sensationell.
Außerdem ist man als Kind der Kindheit der Menschheit wahrscheinlich näher. Man bewegt sich gewissermaßen den ganzen Tag lang in vorgeschichtlichen Epochen, wird zu einem Teil der hackenden und sammelnden Kulturen, buddelt Gruben, Gräben, ganze Stollen, um die Erde zu gestalten, ihr etwas abzutrotzen, ihre Kraft zu brechen oder in ihr fündig zu werden. »Zeigebewegungen sind zu kurz geratene Greifbewegungen«, hat der Völkerpsychologe Wilhelm Wundt bemerkt. Kinder weisen in alle Himmelsrichtungen, und sie finden sogar die romantische Idee von den Schätzen im Erdinnern äußerst plausibel. Deshalb habe ich Jahre meiner Kindheit in der schließlich enttäuschten Hoffnung zugebracht, das Meer werde mir einen Goldklumpen oder Bernstein, den ich mir schwarz vorstellte, vor die Füße spülen.
Reichenau, Norderney, Borkum, Vrouwenpolder: In meinem Gedächtnis sind alle diese Eilande eins. Sand, Kies, Schlick: Geblieben ist nichts als Materie. Ich schmecke kein Wasser-Eis, sehe keine Bikinis, rieche kein Piz Buin mehr, denn diese Inselferien waren wie Leben vor dem ersten Schöpfungstag. Diese Zeit bewegt sich nicht, sie ist gefeit vor dem Morbus der Veränderung. Mal ist Licht auf ihr, mal nicht. Was war, wird wiederkommen, es wird am nächsten Tag ganz genauso sein. Wenn es etwas gibt, das idyllisch ist an der Kindheit, dann ist es die Wiederholbarkeit: Man kann dieselbe Stelle in einem Märchen immer und immer wieder hören. Man kann die gleiche Speise immer und immer wieder auf die gleiche Weise verzehren. Zeige- und Greifbewegungen sind noch identisch.
Beim Betrachten von Kinderfotos: Man zieht eine Linie zwischen dem Erwachsenen und seinem Vorläufer. Von allen möglichen Metamorphosen der Person, herausdifferenziert aus dem Gesicht des Kleinen, erstarrt zu diesem einen Ausdruck – eine Variante bloß, aber offenbar die hartnäckigste, robusteste. Auf Fotos sieht man oft erst im Rückblick, welches der »eigentliche« Ausdruck dieses Gesichts ist, welches Gesicht hinter dem Gesicht saß und nicht gesehen werden wollte, welches das verdrängte, welches das überlagerte, welches das heraustretende Gesicht war. Man blickt Tote so an, Selbstmörder vor allem, um erkennen zu können: Vom Grund ihrer Augen aus wankt dem Betrachter ein Sterbender entgegen.
Er wolle die Erkenntnis ausschöpfen, »dass alles für nichts« ist. Davon war der wenig ältere Freund aus meinen Kindertagen wie besessen. »Dass dahinter nichts ist!« Er redete mir in die sperrangelweit offenen Augen, redete sich selbst in einen nihilistischen Rausch, so früh schon. Er hatte zuerst die Welt der Ideen entdeckt, dann die Welt und konnte also denken, ehe er erzählen konnte.
»Mach, dass du Land gewinnst«, wiederholte er. In seinem Mund bedeutete das nicht: Verschwinde, sondern erwirb sie rasch, die Fähigkeit, Abstand zwischen dich und die Welt zu bringen. Er blickte auf die Erde wie ein Kosmonaut und konnte keinen Eiffelturm, keinen Kölner Dom, keine Nordsee erkennen und keinen anderen Konflikt außer jenem, der die Welt eines Tages das Leben kosten könnte. Ein Untergangsversessener war er, den ich kaum verstand und der sich manchmal schon auf geschriebene Sätze berief.
Zur gleichen Zeit lernte ich meinen ersten Satz schreiben. Er lautete: »Heiner ist im Auto.« Ein enttäuschender Satz, von dem nichts ausging, den ich ohne Stolz schrieb, der keinen Sog besaß und den ich nie mehr brauchen sollte. Aus den Sätzen des Freundes dagegen drang das süße Gift des Pessimismus. Er besaß Aura und bewährte sich als das erste Ordnungsprinzip der kindlichen Welt.
Von meinen vier Großeltern sind drei erschossen worden. Ich kenne den Krieg nicht, bin aber unter den Augen von Hinterbliebenen aufgewachsen. Sie hatten nicht allein den Verlust in sich aufgenommen, sondern die Geschichte des Verlierens. Vom Krieg zu Leidensempfängern verurteilt worden, verbarrikadierten sie sich im Fatalismus.
Die einzige überlebende Großmutter hatte eine eigene Ikonographie für ihren Gram gefunden: Lebhaft interessierte sie sich für die Zeitungsfotos von in den Weltraum geschossenen Tieren: Affen, die mit einer zerdrückten Nase aus der Schwerelosigkeit heimgekehrt waren, der Raumhund Laika, dem, wie man damals glaubte, zu wenig Futter mitgegeben worden war, so dass er im Orbit verhungerte.
Meine Großmutter studierte diese Fotos mit dem Vergrößerungsglas, aß Dextropur mit dem Esslöffel dazu und versuchte, die Erfahrung der Reise im Blick der Heimgekehrten zu rekonstruieren. Das machte sie heiter, selbst wenn unter dem Vergrößerungsglas manchmal kaum mehr erschien als eine Masse von Rasterpunkten.
Offenbar lag im Schicksal dieser dem Experiment geopferten Tiere, in der Schwerelosigkeit, in der sie Opfer waren, im Mutwillen, mit dem man sie Gedeih oder Verderb auslieferte, etwas Symbolisches, das auf meine Großmutter heilsam wirkte, vielleicht, weil sich eine Gesellschaft darin fand.
Einmal, ich ging noch nicht einmal zur Schule, spielten wir in ihrem Häuschen Verstecken. Meine Schwester und ich deklarierten die fast achtzigjährige Greisin mit ihrem schlohweißen Haar und ihren komischen, nach Zigarettenrauch und 4711