Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-25205-1
ISBN E-Book 978-3-688-10274-7
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-10274-7
Für Tio, der dabei war
Dieses Buch ist dem liebevollen Andenken an meinen Onkel James Edmondson gewidmet, dessen Erinnerungen an längst vergangene Winter in Westmoreland und dessen Geschichten über das Leben in den dreißiger Jahren ebenso vergnüglich wie inspirierend waren.
LETZTE MELDUNGEN
Bergsteiger aus Westmoreland bei Unfall ums Leben gekommen
Neville Richardson, ältester Sohn von Sir Henry und Lady Richardson von Wyncrag, ist Anfang des Monats beim Klettern in den Anden abgestürzt und dabei ums Leben gekommen. Mit einundvierzig Jahren hinterlässt er eine Frau, Helena, einen Sohn und zwei Töchter. Der jüngste Sohn von Sir Henry, Jack Richardson, fiel 1917 in Frankreich.
NIEMALS präsentiert die Landschaft sich vorteilhafter, als wenn der See von einem Ufer zum anderen mit durchscheinendem Eis bedeckt ist und Sonnenstrahlen die Oberfläche in bunte Farben kleiden und sie funkeln lassen wie einen Opal in einem Kranz aus jungfräulichem Weiß. Kurz bevor sie untergeht, taucht die Sonne die schneebedeckten Fells in sämtliche Farben des Spektrums, vom tiefsten Karmesinrot bis zum blassesten Gold. Der Frost säumt Bäche und Flüsse, zeichnet mit seinen kalten Fingern Muster auf Fensterscheiben und webt zarte Spinnweben über die Hecken. Der Atem gefriert in der Luft, und das schwarze Kleid der Ponys ist weiß bestäubt, ebenso die zottige Wolle der zähen einheimischen Schafe, die unter dem Schnee nach Futter suchen.
Einen solchen Frost wie diesen Winter hat es seit 1920/21 nicht mehr gegeben, und die Nachricht, dass die großen Seen im Norden Englands zufrieren, beschäftigt nicht nur unsere Lokalblätter, sondern füllt auch die Spalten der großen Londoner Zeitungen, die ihre Berichte rund um den Globus verbreiten. Während die Nordengländer ihre Schlittschuhe schleifen und den klaren blauen Himmel und das sternenübersäte Firmament nach einer unwillkommenen Wetteränderung absuchen, erinnern sich Exilanten im restlichen England und im Ausland an längst vergangene Tage, verschließen ihre Augen vor grauen Straßenschluchten und träumen von einem strahlenden Winterhimmel, von Luft, die ungetrübt ist durch Qualm, Ruß und Rauch. Im Geiste gleiten sie wieder am Fuß der aufragenden Fells auf ihren Schlittschuhen von einem Seeufer zum anderen, ausgelassen vor Freude und mit glühenden Ohren, und die scharfen Kufen zischen über das glitzernde Eis.
LONDON, CHELSEA
Warum wollte sie nicht über Weihnachten in den Norden fahren?
Alix Richardson schlug zwei Eier in eine Schüssel und verquirlte sie mit einer Gabel. Cecy Grindleys Worte waren weder kritisch noch neugierig gewesen, sie hatte nur eine einfache und ganz natürliche Frage gestellt. Obwohl ihre alte Freundin wusste, wie Alix zu ihrer Großmutter stand, betrachtete sie dies nicht als ausreichenden Grund, Wyncrag fernzubleiben.
Wahrscheinlich hatte Cecy Recht. Ohne Begeisterung starrte Alix in die gelbe Masse. Dafür, dass sie sich nichts aus Omeletts machte, aß sie ziemlich oft welche.
Kochen für Einsiedler.
Andere Leute verbrachten Weihnachten bei ihren Familien. Es war so üblich, auch wenn sie es jedes Mal bereuten und alle Jahre schworen, nie wieder. Menschen, die kein richtiges Familienleben hatten, stellten sich solche Zusammenkünfte stets als Gipfel des Glücks vor, obwohl die Wirklichkeit in den meisten Fällen anders aussah: alte Familienstreitereien, die wieder ausgegraben wurden und für Verstimmungen und Feindseligkeiten sorgten, gereizte Nerven, die spätestens bei Braten und gut gefüllten Brandygläsern zur Katastrophe führten.
Alix zündete das Gas unter der Omelettpfanne an und sah zu, wie die Butter brutzelnd schmolz. Weihnachten auf Wyncrag war ganz anders. Großmutter zog allenfalls einmal die Augenbrauen hoch, erhob aber nie die Stimme. In diesem Haus war kein Platz für Wut, Zorn und Streit. Zankereien im Kinderzimmer blieben im Kinderzimmer, außerhalb dieser schützenden Wände sorgten gute Manieren und die Furcht vor Großmama für Ruhe und Frieden. So hatte es wenigstens den Anschein.
Sie goss die aufgeschlagene Eimasse auf die Butter und kippte die Pfanne, als das Omelett zu braten begann. Es hatte eine Zeit gegeben, da war Wyncrag erfüllt gewesen von Geschrei, Lachen und glücklichen Stimmen. Das war, als sie, Edwin, Isabel und ihre Eltern als Familie zusammengelebt hatten.
Vor ihrem geistigen Auge sah Alix ihre Schwester von der Jagd nach Hause kommen, bevor der Frost eingesetzt hatte und der Schnee von den Hügeln heruntergeweht war. Schon mit vierzehn war Isabel eine hervorragende Schützin gewesen, ganz anders als die übrigen Mitglieder der Familie, die wohl von Zeit zu Zeit ein Gewehr hervorholten, die leidenschaftliche Begeisterung der Nachbarn für diesen Sport jedoch nicht teilten.
Sie konnte sich daran erinnern, dass sie in diesem Dezember mit ihrem Zwillingsbruder Edwin aufs Eis gegangen war, um Schlittschuh zu laufen oder einfach zu schlittern.
Zu Beginn der Ferien hatte das Haus von aufgeregtem Geschrei und den eiligen Schritten der Kinder widergehallt, geendet hatten sie mit kalten, gereizt getuschelten Worten. Ihr letztes gemeinsames Weihnachtsfest.
Sie ließ das Omelett auf einen Teller gleiten, den sie aus dem offenen Regal über dem Herd geholt hatte, ging ins andere Zimmer und stellte ihn auf den Tisch. Dann schenkte sie sich ein Glas Wein ein. Sie schob sich eine Gabel voll Omelett in den Mund und aß, ohne wahrzunehmen, ob es schmeckte oder nicht.
Es hatte Gespräche gegeben, die abrupt endeten, wenn sie oder Edwin den Raum betraten. Sie erinnerte sich plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit daran, wie ihre Mutter ein einziges Mal die Stimme gegen Großmama erhoben hatte, und an Großmamas gemeine, halblaut gezischte und daher unverständliche Antworten.
Sie trank einen Schluck Wein – es hätte genauso gut Essig oder Orangeade sein können. Isabel war krank, hieß es gegenüber den Zwillingen. Man sagte ihnen nicht, was mit ihr nicht stimmte, irgendetwas Ansteckendes, sodass sie in einer fernen Ecke des Hauses weggesperrt worden war. Alix erinnerte sich, mit den Augen einer versunkenen Kindheit schauend, sehr deutlich daran, wie sie die Halle betreten hatte, wo Rokeby besorgt den Weihnachtsschmuck abnahm. Tante Trudie war ebenfalls dort, riss Kerzen und Schmuck vom Baum und warf alles wie Kraut und Rüben in eine Keksschachtel, statt jedes Teil einzeln in Seidenpapier zu wickeln und in die Holzkiste zu legen, die eigens diesem Zweck diente.
Alix schob den Rest ihres Omeletts an den Tellerrand. Eintopf, sie hatte lange keinen Eintopf mehr gegessen. Die Leute in London hatten keine Ahnung von Eintopf. Oder von Porridge zum Frühstück, mit braunem Zucker und dicker Sahne vom Bauernhof. Großpapa aß seinen auf schottische Art mit Salz, doch für sie musste es immer mit Zucker und Sahne sein. Schokoladenpudding. Wenn sie nach Hause fuhr, würde die Köchin für sie ihren köstlichen Schokoladenpudding mit heißer Vanillesoße kochen, für den sie im ganzen Lake District bekannt war, dessen Rezept jedoch eisern unter Verschluss gehalten wurde.
Alix stand auf, trug den Teller und das Glas in die Küche und stellte beides ins Waschbecken; ihre Zugehfrau würde am Morgen abspülen. Sie machte Kaffee und beobachtete mit leerem Blick, wie die heiße Flüssigkeit aufkochte und Blasen warf.
Sie hatte alle Verbindungen zu Wyncrag gekappt, war fortgegangen, um ihr eigenes Leben zu führen. Bedeuteten Traditionen ihr irgendetwas? Sehnte sie sich nach Weihnachtsliedern, nach Plumpudding und Geschenken unter dem Baum?
Nein. Doch sie sehnte sich nach dem See und den Hügeln und nach dem Gefühl von eisiger Luft auf glühenden Wangen, und sie sehnte sich danach, noch einmal unter dem klaren, kalten blauen Himmel über das Eis zu fliegen. Und nach Eintopf und Schokoladenpudding. Ganz zu schweigen von dem köstlichen Wild, das es um diese Jahreszeit dort immer gab. Nach Brot, in London schien man nirgends anständiges Brot kaufen zu können. Auf Wyncrag lieferte der Bäckerjunge immer noch jeden Morgen frisches Brot, einen Korb voller Laibe, die in ein Tuch eingewickelt und wie durch ein Wunder noch warm waren.
Bestand die Gefahr, dass sie wieder unter Großmamas Fuchtel geriet, wenn sie zurückging? Sicher nicht, nicht mehr.
Wenn sie über Weihnachten nach Wyncrag fuhr – es waren schließlich nicht mehr als ein paar Tage –, konnte sie Stunden um Stunden mit Edwin zusammen sein. Mit ihm reden, spazieren gehen, Schlittschuh laufen und lachen, genau wie früher. Sie ging ihm, seit sie in den Süden gezogen war, aus dem Weg, obwohl sie wusste, dass er mehrmals im Jahr nach London kam. Sie vermisste ihn, doch die große Nähe zwischen ihnen führte dazu, dass sie sich in Acht nahm, ihn nicht zu oft zu sehen. Er kannte sie zu gut, und sie hatte das Gefühl, dass sein Verständnis ihr erst recht an den ohnehin strapazierten Nerven zerren würde. Sie hatte beschlossen, dem Norden und ihrer Familie den Rücken zu kehren, während er sich entschieden hatte zu bleiben. Für ihn war es leichter. Ihn regierte Großmama nicht mit der Härte, die sie ihren weiblichen Nachkommen zuteil werden ließ, und so konnte er in Lowfell in seinen eigenen vier Wänden wohnen und besaß gleichzeitig ein kleines Apartment in London, Privilegien, die man ihr niemals zugestanden hätte.
Doch jetzt sehnte sie sich plötzlich danach, ihn wiederzusehen. Und Perdita – wie musste sich die damals Zwölfjährige in den drei Jahren verändert haben! Wollte sie, dass ihre Schwester erwachsen und ihr immer fremder wurde?
Großpapa sah sie, wenn er nach London kam, zwei- oder dreimal im Jahr. Willensstark war sie wohl geworden, doch nicht herzlos. Er schrieb ihr, erzählte ihr zahlreiche Neuigkeiten und führte sie dann zum Abendessen in eines seiner Lieblingsrestaurants, schummrige, friedliche Orte, wo die Kellner sich mit vornehmer Geschwindigkeit bewegten und das Essen nahrhaft, liebevoll zubereitet und einfach herzerwärmend war.
Im Frühling waren sie zusammen eine Woche nach Deutschland gefahren. Er hatte als junger Mann lange in Deutschland gelebt und auch dort studiert. Er wollte, dass seine Kinder und Enkelkinder die deutsche Sprache lernten, und hatte deutsche Erzieherinnen und Hauslehrer beschäftigt, die sie ihnen beibringen sollten. Er schüttelte den Kopf über das neue Deutschland, die saure Frucht von Versailles, wie er es nannte. Alix hatte sich bestens unterhalten und sich in Gesellschaft der jüngeren Verwandten von Großpapas Freunden in das bizarre Nachtleben des vergnügungssüchtigen Berlin gestürzt. Sie hoffte, er ahnte nicht, wie sehr sich ihre Altersgenossen von den ernsten, verantwortungsvollen Bürgern unterschieden, die er so gut kannte, auch wenn Großpapa stets die Kunst beherrscht hatte, zu ignorieren, was er nicht ändern konnte. Sie liebte ihn, doch sie wusste, dass ihre Welt und ihre Gewohnheiten für ihn – Gott sei Dank – ein Buch mit sieben Siegeln waren. Er würde sich riesig freuen, wenn sie dieses Jahr nach Wyncrag käme. Der wehmütige Brief, der stets gegen Ende des Jahres von ihm kam und der wie immer einen beträchtlichen Scheck enthielt, drückte sein tiefes Bedauern darüber aus, sie an Weihnachten nicht zu sehen. Sie hatte ihn rasch aufgerissen und gelesen.
Es war dumm. Es war die Jahreszeit, die allgemeine lamettabehängte Langeweile, die verführerische Sentimentalität der Feiertage.
Natürlich würde sie nicht in den Norden fahren. Es war eine blöde Idee.
Und eine Idee, die ihr nie in den Sinn gekommen wäre, hätte sie nicht zufällig Cecy getroffen, die bei Harrods Weihnachtseinkäufe machte. Cecy, eine Grindley von Grindley Hall, ihre nächsten Nachbarn in Westmoreland, und eine ihrer ältesten Freundinnen.
Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass sie sich so freuen würde, Cecy zu treffen, ihr vertrautes Lächeln zu sehen, die fröhlichen Augen hinter den runden Brillengläsern, die blonde Haarsträhne, die sich aus dem Knoten löste. Cecy gehörte in die Zeit, bevor sie sich in das rastlose, verfahrene Leben ihrer jüngsten Vergangenheit gestürzt hatte. Damals hatte sie ihre Freundschaft verschmäht, jetzt war sie dankbar, dass es noch eine menschliche Beziehung gab, die sie nicht völlig missachtet hatte und auf der sie nicht herumgetrampelt war.
Diese letzten drei Wochen, dachte sie und schaute auf die trüben Tage zurück, haben in mir die Sehnsucht nach der Wärme einfacher, aufrichtiger Freundschaft geweckt. Nach Freundschaft, nicht nach dem gedankenlosen Bedürfnis, pausenlos, am Tag und in der Nacht, von Leuten umgeben zu sein. Ihr Adressbuch, einst ihre Bibel, voller Namen und Telefonnummern von Menschen, die sie nun nie wiedersehen und von denen sie nie wieder etwas hören wollte, hatte sie in ihrer Schreibtischschublade eingeschlossen.
Sie hatte immer noch keine Ahnung, warum sie, als sie eines Morgens verkatert und verschwitzt aufgewacht war, augenblicklich diesen blinden Hass auf den Mann neben ihr empfunden hatte, auf das muskulöse Bein, das über die Bettkante hing. Er war nicht schlimmer als die anderen, vielleicht sogar ein bisschen weniger unangenehm, harmlos, er hatte Charme und konnte ihr in kurzen Augenblicken der Leidenschaft die Einsamkeit vertreiben und der Nacht die Trostlosigkeit nehmen.
Aber plötzlich wollte sie ihn los sein. Sie hatte an seinem Bein gezerrt, ihm die Kleider zugeworfen und ihn aus der Wohnung gejagt. Als sie an jenem Abend von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte sie den Telefonhörer von der Gabel genommen, die Türklingel abgestellt und den ganzen Abend in der Badewanne gelegen und die Kinderbücher gelesen, die sie sich in der Mittagspause gekauft hatte: Feuervogel und Zauberteppich, Alice im Wunderland und Wenn heute morgen ist…
Sie hatte erwartet, diese Stimmung würde vorübergehen und sie nach kurzer Zeit zu ihrer Clique zurückkehren und wieder ganz die Alte sein – doch dem war nicht so. Ihre Lebhaftigkeit schien brüchig, ihre Munterkeit ziellos und leer, ihr Leben eine sinnlose Abfolge von Partys und Nachtclubs, Blasiertheit, oberflächlich und unbefriedigend. Sie fühlte sich wie eine Schlange, die ihre Haut abgestreift hatte und nun abwartete, welche neuen Muster die Schuppen formen würden. Sie badete viel, trank wenig, schlug sämtliche Einladungen aus, floh um Ecken oder versteckte sich in Ladeneingängen, um Bekannten aus dem Weg zu gehen, in deren Gesellschaft sie sich monatelang bewegt hatte.
Und plötzlich hatte Cecy vor ihr gestanden und sie auf ihre altvertraute Weise angelächelt. Sie empfand Schuldgefühle, weil sie ihre alten Freunde einfach hatte fallen lassen. Es war ja schön und gut, sich von der Familie abzuwenden, doch Cecy gehörte nicht zur Familie. Alix hatte gewusst, dass sie in London war, sie war Medizinstudentin an einem der großen Krankenhäuser, doch sie hatte keinen Versuch unternommen, sich mit ihr zu treffen.
Sie schlug vor, ins Kino zu gehen.
«Im Odeon spielen sie den neuen Cary-Grant-Film. Mit Bettina Brand. Die Schlange ist bestimmt kilometerlang.»
«Macht nichts», meinte Cecy. «Treten wir der Schlange mutig entgegen.»
Es war ein gutes Programm, vor der Pathé-Wochenschau und dem Hauptfilm lief ein Zeichentrickfilm, den sie sehr witzig fanden, doch die heitere Stimmung wurde von den grobkörnigen Nachrichtenbildern einer Kundgebung in Berlin rasch vertrieben.
«Marschieren können sie, das muss man ihnen lassen», sagte eine Frau in der Reihe hinter ihnen.
«Ein bisschen was von ihrer Disziplin würde den Faulpelzen in diesem Land nicht schaden.»
«Dieses Gebell von diesem Hitler. Wie der die ganze Zeit schreit und brüllt und den Arm in die Höhe streckt. Und sein Schnurrbart, hast du schon mal so etwas Albernes gesehen?»
«Es überläuft mich kalt, wenn ich ihn und diese anderen Gestalten, die die ganze Zeit in Uniform herumlaufen, nur sehe.»
«Pst.»
Die Szene, in der Hitler sich an die begeisterten Massen wandte, wurde abgelöst von deutschen Schönheiten, die, vor Gesundheit strotzend, in einem KdF-Ferienlager Tücher synchron durch die Luft schwenkten, dann folgte eine Aufnahme von Hitlerjungen, die hinter überdimensionierten Bierkrügen draußen auf den Bänken eines Landgasthofs saßen und verschnauften, im Hintergrund schneebedeckte Berge.
«Endlich.» Cecy machte es sich auf ihrem Sitz bequem, als die Orgelmusik leiser wurde und dann der Vorhang wieder aufging und der brüllende Löwe von MGM auf der Leinwand erschien.
Sie fand spät ins Bett und konnte lange nicht einschlafen. Erst in den frühen Morgenstunden fiel Alix endlich in einen unruhigen Schlaf. Die Folge war, dass sie verschlief und gerade noch rechtzeitig ins Büro kam, um sich eine Minute nach neun in die Anwesenheitsliste einzutragen. Der Mann am Empfang blickte sie finster an, denn er hatte gehofft, sie dieses eine Mal zu ertappen. «Vielen Dank, Mr. Milsom», strahlte sie ihn an. Sie ließ den winzigen, uralten Aufzug in der Mitte des Treppenhauses links liegen und machte sich zu Fuß auf den Weg, die drei Treppen hinauf zu ihrem Büro in der Werbeabteilung.
Obwohl Büro eine arge Beschönigung war für diesen ehemaligen Abstellraum, der kaum genug Platz für einen kleinen Tisch, einen Stuhl und ein wackeliges Bücherregal bot, in dem veraltete Adressbücher standen (von Kollegen schlauerweise dort abgeladen), ein Synonymenwörterbuch (absolut unentbehrlich, das sie stets wieder aufspürte und in kürzester Zeit zurückeroberte, wenn es aus dem Regal entwendet wurde), ein Rechtschreibwörterbuch (in einer Ausgabe von 1912, die aktuellere Auflage hatte sich jemand von der Werbetextabteilung ausgeliehen und nie zurückgebracht), eine in die Jahre gekommene Ausgabe von Grays Anatomie (von unschätzbarem Wert bei der Arbeit für pharmazeutische Kunden und ihre ebenso primitiven wie lukrativen Allheil-Wundermittel), der Wisden Almanach vom letzten Jahr (ein Rätsel, wie der dort gelandet war), Zitatenschätze und Sprichwörtersammlungen (fast ebenso gut bewacht wie das Synonymenwörterbuch) und mehrere ausrangierte Schundromane, die sich die Mitarbeiterinnen des Schreibbüros an langweiligen Tagen ausliehen und die dort standen, weil sonst nirgends Platz in den Regalen war.
Sie vergnügte sich einen Vormittag lang mit dem führenden Mittel gegen Sodbrennen: EasiTums – Gegen Reizbarkeit, die Lebensfreude raubt –, und schon war ihr Schreibtisch frei von weiteren dringenden Aufgaben. Um zehn vor eins stand sie in der Telefonzelle an der Straßenecke.
Sie würde es zuerst bei Edwin im Atelier versuchen, vielleicht hatte sie Glück. Dort rief sie ihn lieber an als auf Wyncrag. Sie hob den Hörer ab, wählte die Nummer der Vermittlung und bat um eine Fernverbindung. Es folgte eine lange Pause, wiederholtes Klicken, dann bat das Fräulein vom Amt sie, ihre Münzen einzuwerfen, und die Verbindung stand.
Die Stimme ihres Zwillingsbruders erklang in der Leitung, selig vertraut. «Alix?»
«Oh, Edwin, ja, ich bin’s. Nun, ich habe mich gefragt …» Jetzt wusste sie nicht recht, was sie sagen sollte. «Stimmt es, dass der See zufriert?»
«Macht hübsche Fortschritte. Gib ihm noch ein paar Tage bei solchem Frost, und wir können Schlittschuh laufen. Alle schwören, es gäbe kein Anzeichen dafür, dass sich das Wetter ändern wird. Komm doch hoch, oder bringst du es nicht über dich, dich von den Lichtern der Großstadt zu trennen?»
«Wenn du wüsstest. Ich wollte tatsächlich kommen, aber Großmama …»
«Sie wird sich freuen.»
«Es ist über drei Jahre her.»
«Was bedeutet das schon? Abgesehen davon ist es dein Zuhause. Komm rauf, sobald du dich freimachen kannst. Bring aber bloß nicht den Mann deines Lebens mit.»
«Es gibt keinen.»
Das Schweigen am anderen Ende sprach Bände.
«Edwin? Bist du noch da?»
«Sag mir Bescheid, mit welchem Zug du kommst, dann lasse ich dich abholen, Lexy», sagte er.
Dass er den Kosenamen aus Kindertagen benutzte, trieb ihr Tränen in die Augen. «Ich rufe Großmama wohl lieber vorher an.»
«Ich erzähl’s ihr und sage ihr, ich hätte mit dir telefoniert und dich dazu überredet, in den Norden zu kommen. Und ich suche dir deine Schlittschuhe raus und bringe sie zum Schmied, falls die Kufen geschliffen werden müssen.»
Das Fräulein vom Amt unterbrach sie mit gleichgültiger Stimme: «Ihre drei Minuten sind um, Madam.»
LONDON, WHITEHALL
Saul Richardson schaute aus dem hohen Fenster auf die Straße hinunter. Unter ihm zog der Verkehr brummend auf Whitehall hin und her, Autos und Taxen, wie zahllose schwarze Käfer. Die rote Livree der Doppeldeckerbusse war der einzige farbige Lichtblick an diesem regnerisch trüben Tag. Ein Trupp der berittenen Garde trabte vorbei, die Hufe klapperten auf dem Asphalt, die Uniformen der Reiter und das Schimmern ihrer Brustharnische fügten dem grauen Einerlei einen weiteren Farbfleck hinzu. Schwarze Pferde schüttelten Köpfe und Mähnen, kauten am Zaumzeug, begierig darauf, zurück in den Stall zu kommen, raus aus dem Schneeregen.
Er drehte sich um und schaute in die andere Richtung, hinaus über den Parliament Square. Westminster Abbey und die gedrungene St. Margaret’s Church, beide rußgeschwärzt, sahen uralt, kalt und abweisend aus. Das mächtige neugotische Parlamentsgebäude trug nicht dazu bei, die Tristesse zu beleben. Ein einsamer Constable in einem Regenumhang stand an den Toren des Unterhauses Wache. Auf dem St. Stephen’s Tower flatterte keine Fahne, das Haus hatte sich bis nach Weihnachten vertagt, und die Mitglieder des Parlaments waren in ihre Wahlkreise aufgebrochen, in Erkundungs- oder Regierungsmissionen unterwegs oder packten für die Ferien in wärmeren Klimaregionen. Nur Parlamentsmitglieder wie Saul weilten noch in der Stadt und dienten König und Vaterland.
Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann betrat den Raum, elegant gekleidet und formvollendet in seinem Auftreten.
«Die Morgenzeitungen, Sir. Ich habe ein, zwei Artikel angestrichen, die Sie interessieren könnten.»
«Vielen Dank, Charles», sagte Saul, der immer noch aus dem Fenster schaute.
Charles hüstelte, Saul wandte sich um und sah ihn an. «Was ist?»
«Die Seen frieren zu, so steht es in der Times.»
«Die Seen? Welche Seen? Wovon reden Sie? Kanada? Die Vereinigten Staaten?»
«Ihr See, Sir. Ich dachte, es würde Sie interessieren.»
«Mein See?»
«In Westmoreland.»
«Ich sehe mir die Zeitungen gleich an.»
«Diese Briefe müssen Sie beantworten.»
«Legen Sie sie auf den Tisch.»
«Gibt es sonst noch etwas?»
«Nein, nein … Wieso fragen Sie?»
«Wenn Sie mich eine Weile nicht brauchen, gehe ich in die Downing Street und hole die Unterlagen aus der Kabinettskanzlei.»
«Kann man keinen Boten schicken? Ach, meinetwegen.» Saul wartete, bis die Tür ganz geschlossen war, dann war er mit einem Satz beim Tisch und griff nach der Zeitung. Die Probleme in der Türkei – verdammt, es gab immer Probleme in der Türkei – hatte Charles, der unverschämte junge Mensch, ebenso überblättert wie die alarmierenden Nachrichten aus dem Fernen Osten und die Meldungen über die angespannte Situation in Spanien und hatte die Zeitung auf der Seite aufgeschlagen, die eine Fotografie der schneebedeckten Fells zeigte, die über einer ach so vertrauten, in eisiger Pracht erstrahlenden Wasserfläche aufragten.
Saul las die Bildunterschrift und den Artikel, die zu dem Foto gehörten. Dann warf er die Zeitung auf den Tisch und ging mit verschränkten Armen zurück zum Fenster. Er hatte das merkwürdige Gefühl, aus zwei Personen zu bestehen, einer, die in die schwarze Jacke und die grau gestreifte Hose der amtlichen Welt gekleidet war, blassgesichtig und perfekt frisiert, während die andere dreihundert Meilen weit entfernt existierte, Tweed trug, braune Stiefel und Schlittschuhe an den Füßen hatte, während das Haar vom Wind zerzaust wurde und die Wangen vor Kälte glühten.
Er griff nach dem Hörer des Telefons auf seinem Tisch. «Verbinden Sie mich bitte mit Mrs. Richardson.»
Eine Minute später schrillte das Telefon. «Jane? Ich sage den Weihnachtsbesuch im Wahlkreis ab. Wir fahren in den Norden. Ruf Mama an und kündige ihr an, dass wir kommen. Ich denke, nach dem Wochenende. Wir fahren mit dem Auto. Ich überlasse dir die entsprechenden Vorkehrungen.»
Er legte den Hörer auf, ging zum Garderobenständer, zog seinen Mantel an, steckte seinen dunklen Schal unter den Kragen und verließ, seinen Bowler in der Hand, den Raum. Rasch durcheilte er das Vorzimmer. «Ich bin etwa gegen vier zurück», unterrichtete er im Vorbeigehen die stets freundlich lächelnde Frau, die hinter einer riesigen Schreibmaschine saß. «Sagen Sie Charles, er soll sich um diese Papiere kümmern, nein, ich bin nicht zu erreichen.»
Dann war er draußen im Korridor und ging rasch zu den Aufzügen. Er wollte London nicht verlassen, ohne Mavis noch einmal zu sehen.
LONDON, KNIGHTSBRIDGE
Das Telefon läutete und läutete. Jane Richardson konnte förmlich hören, wie die Telefone ihr schrilles Klingeln ertönen ließen: in der Großen Halle, in Rokebys Anrichteraum, in Henrys Arbeitszimmer, in Carolines Ankleidezimmer.
Endlich wurde abgenommen, und Jane hörte eine raue Stimme mit französischem Akzent: «Hallo?»
«Wer ist da?», fragte Jane mit scharfer Stimme.
«Lipp.»
«Lipp. Ich hätte es wissen müssen. Warum gehen Sie ans Telefon?»
«Es ist sonst niemand da. Sind Sie es, Mrs. Saul?»
Wie sie es hasste, Mrs. Saul genannt zu werden. «Lipp, nach all den Jahren müssten Sie eigentlich wissen, dass Sie, wenn Sie denn ans Telefon gehen müssen, die Nummer des Anschlusses zu nennen haben. Sie können nicht einfach nur ‹Hallo› sagen. Das ist äußerst ungefällig. Man könnte mit jedem x-Beliebigen verbunden worden sein, und überhaupt verstehe ich nicht, wieso Sie ans Telefon gehen müssen. Wo ist Rokeby? Das wissen Sie bestimmt.» Natürlich wusste Lipp es, sie wusste immer, wo alle waren.
«Rokeby hilft Sir Henry mit dem Generator.»
«Aha, zu dumm.» Warum ein Mann im Alter und Rang ihres Schwiegervaters, der überdies eine ganze Schar Dienstboten beschäftigte, sich um den Generator kümmern musste, ging über ihr Begriffsvermögen. «Gehen Sie, und sagen Sie Lady Richardson bitte, dass ich sie sprechen möchte.»
Es rumste, als Lipp den Hörer ablegte, und weit weg in London konnte Jane das Klippklapp der Absätze verklingen hören, als das Dienstmädchen ihrer Mutter die Treppe hinaufging.
Lipp hatte den Hörer wohl zu nah an die Tischkante gelegt, denn es gab ein Rascheln und einen dumpfen Schlag und dann noch mehr Gepolter. Der Hörer baumelte zweifellos an der Schnur, schwang hin und her und schlug dabei immer wieder gegen das Tischbein. Dann folgte ein lautes Knistern in der Leitung, und nach weiteren Erschütterungen hörte sie endlich Carolines Stimme.
«Jane?»
«Soll ich jetzt hier auflegen, Mylady?»
«Ja», sagten Jane und Caroline gleichzeitig.
Rums.
«Diese schreckliche Frau», flüsterte Jane.
«Was hast du gesagt? Nichts? Ich habe deutlich gehört, dass du etwas gesagt hast. Nun gut. Wie geht es Saul?»
«Sehr gut. Er möchte über Weihnachten nach Wyncrag kommen.»
Carolines kristallklare Stimme drang so deutlich durch die Leitung, als stünde sie neben ihr. Sie klang immer so am Telefon. «Ich habe euch erwartet. Wann kommt ihr?»
«Das hat Saul noch nicht entschieden. Er möchte selbst fahren, also wird er aufbrechen, bevor der große Weihnachtsverkehr beginnt. Irgendwann nächste Woche, ich sage dir noch Bescheid. Perdita kommt auch in der Woche, nehme ich an. Wer wird noch da sein?»
«Edwin möchte Alix überreden zu kommen.»
«Alix! Gütiger Himmel, nach so langer Zeit? Hast du etwas von ihr gehört?»
«Über sie reden habe ich gehört, das reicht mir. Es scheint, als wäre sie in unschickliche Gesellschaft geraten.»
«Alix ist alt genug, um selbst zu entscheiden, welche Gesellschaft schicklich für sie ist. Sie ist kein Kind mehr. Wenn du dich gleich wieder auf sie stürzt, könnte es sein, dass sie auf dem Absatz kehrtmacht und Wyncrag sofort wieder verlässt. Ich würde es jedenfalls tun.»
«Ich denke nicht, dass deine Meinung zu diesem Thema von Belang ist.» Dieser Ansicht war Caroline nicht nur bei diesem Thema. «Abgesehen davon, erwarte ich nicht, dass sie kommt.»
Jane hörte, wie der Hörer aufgelegt wurde, nach einer kurzen Pause quäkte eine andere Stimme: «Sie haben Madam aufgeregt.»
«Madam hat mich aufgeregt.»
«Sie ist nicht mehr die Jüngste, Sie sollten Rücksicht nehmen.»
«Vielen Dank, Lipp. Wollten Sie sonst noch etwas sagen?»
«Madam möchte, dass Sie in die Bond Street gehen und das Leinen abholen, das sie bestellt hat. Sie können es im Auto mitbringen.»
«Auf Wiedersehen», sagte Jane energisch. Sie legte den Hörer vorsichtig auf und saß dann, die Hände im Schoß gefaltet, reglos da. Mit ihren eleganten grauen Schuhen, ihrem blassgrauen Rock, ihrem grauen Kaschmir-Twinset, das sie mit einer unaufdringlichen Diamantenbrosche trug, ihrem makellosen Gesicht und ihrem glatten, kinnlangen Haar war sie ein Bild der Perfektion.
Äußerlich war sie vollkommen ruhig. Innerlich kochte sie. Sie hätte am liebsten das Telefon durchs Zimmer geschleudert, mit den Fäusten auf den Tisch gehauen, geschrien und mit den Füßen aufgestampft. Wyncrag. Wie sie Wyncrag hasste. Fast so sehr wie das Haus in Surrey mit seinem lächerlichen Fachwerk und dem großspurigen Versuch, auszusehen wie ein richtiger Landsitz. Fast so sehr, wie sie diese Wohnung hasste mit ihrem spindeldürren französischen Mobiliar, den kostbaren Teppichen, Bildern und Spiegeln. Perfekt. Steril. Standesgemäß. Genau, wie sie die perfekte, standesgemäße Frau war, die man sich an der Seite eines aufstrebenden Politikers vorstellte.
Sie klappte das Zigarettenetui auf und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Sie zündete sie mit dem silbernen, unsäglichen Tischfeuerzeug an, das wie eine Terrine geformt war, schlug eine Ausgabe von Country Life auf und blätterte durch die Seiten voller Fotos von begehrenswerten Anwesen, die zum Verkauf standen.
Ihr Blick fiel auf ein kleines Schwarzweißbild. Impey Manor, las sie. Herrenhaus aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit vielen erhaltenen historischen Teilen, modernisierungs- und renovierungsbedürftig. Gärten, Garagen, Ställe, Irrgarten, kleiner See, Koppeln, Gesamtfläche neun Morgen.
Was für ein schöner Traum, dachte sie. In diesem Traum lebte sie auf dem Land, in einem freundlichen alten Haus voller verwinkelter Durchgänge und unvermuteter Treppen und mit nur dem nötigsten Komfort. Hunde. Ponys. Tauben flatterten um einen Taubenschlag. Im Winter Matsch und Eis, plötzlicher Frühlingseinbruch, der kräftige Duft des Sommers, frisch gemähtes Gras, Heu, Rosen, Herbstbäume in glühenden Farben. Kinder in Gummistiefeln raschelten durch das heruntergefallene Laub.
Wieder wurde das Messer in der Wunde gedreht. Sich solchen Träumen hinzugeben war unerträglich. Sie zwang sich zurück ins Hier und Jetzt. Vergiss die Herrenhäuser, das Land und die Rosen, sagte sie sich.
Vergiss die Kinder.
Die Kinder, die sie nach Sauls Willen nicht bekommen sollte. Oder, genauer gesagt, die Kinder, von denen Sauls Mutter nicht wollte, dass sie sie bekam, da sie und ihr Mann Cousin und Cousine waren und die Gefahren der Inzucht, wie Caroline es so charmant formulierte, das Risiko nicht wert waren.
Sie schlug die Zeitschrift zu, stand auf, zog heftig an ihrer Zigarette und machte im Geist mehrere Listen. Saul zuerst: Sein Diener würde sich um seine Kleidung kümmern müssen. Seine Schlittschuhe, waren sie hier oder auf Wyncrag? Fernglas. Bücher, Geschenke, sie würde eiligst ihre Einkäufe erledigen müssen. Ihre Gedanken sprangen von einer Sache zur nächsten. Das Abendkleid musste geändert werden. Ihr Terminkalender; über Weihnachten und Neujahr waren sämtliche Tage verplant, mit Cocktailpartys, Abendessen und Bällen; jede einzelne Verabredung musste abgesagt, Entschuldigungen mussten vorgebracht, erhitzte Gemüter beruhigt, jedes Wort mit Bedacht gewählt werden. Jede Nachlässigkeit konnte eine verlorene Wählerstimme bedeuten.
Die Zeit, die sie in Sauls Wahlkreis verbrachten, war stets eine Zeit, in der sie wie auf Eiern gingen. Verflucht, sie würden das Blaue vom Himmel lügen müssen. «Sir Henry, Mr. Richardsons Vater, geht es nicht gut.» Lächerlich, sein Vater war kerngesund wie immer, er besaß Energie für drei. Sauls Wähler wussten das jedoch nicht, zum Glück hatte er sich im Süden um einen Sitz beworben.
Oder sollte sie lieber seine Mutter vorschieben? Lady Richardson? Die Leute würden sich eine zerbrechliche, weißhaarige Schönheit vorstellen, die am Stock ging, eine verwelkende Rose. Mochten sie sich vorstellen, was sie wollten, wenn sie nur die kleine, rüstige Frau mit ihren zusammengekniffenen Falkenaugen nie zu sehen bekamen, mit dem Haar, das immer noch die Spuren der kastanienbraunen Pracht ihrer Jugend zeigte. Was würde Saul mehr Sympathie einbringen? Wenn er an die Seite seines Vaters oder an die seiner Mutter eilte?
Wie satt sie dieses ganze elende Geschäft hatte. Wenn sie daran zurückdachte, wie sie sich gefreut hatte, als er gewählt worden war. Sein Jubel hatte mehr der Begeisterung eines kleinen Jungen geglichen, der ein lang ersehntes Geschenk bekommen hatte, als dem eines erwachsenen Mannes, der eine politische Karriere anstrebte.
Sie drückte mit verhaltener Wut ihre Zigarette aus und läutete dann nach dem Dienstmädchen.
SS GLORIANA, GOLF VON BISKAYA
Die Wellen rollten lang und tief und dunkel unter dem schaumigen Teppich aus Gischt. Hal Grindley hatte den Regenmantel eng um sich geschlungen, den Kragen hochgestellt, die eiskalten Hände in den tiefen Taschen vergraben. Er trug keinen Hut, denn den hätte der Wind sofort davongeweht.
Er stand an der Reling auf dem dritten Deck, wo er jeden Abend stand, seit sie aus Bombay ausgelaufen waren. Von dort hatte er zugesehen, wie über der spiegelglatten See ein riesiger Mond aufgegangen war, und hatte beobachtet, wie die südlichen Sterne von den vertrauteren nördlichen Sternbildern abgelöst wurden, die mit schier unglaublicher Intensität am eisigen Dezemberhimmel glitzerten. Abend für Abend hatte er dort dieses Gefühl von Unwirklichkeit gespürt, das sich auf Seereisen stets einzustellen pflegte. Dann hatte er an Margo gedacht, Nacht für Nacht, hatte versucht, seine Gedanken zu ordnen, den Schmerz zu mildern und ein Gefühl der Verhältnismäßigkeit zurückzugewinnen.
Seit seiner Abreise von San Francisco war sie all die Monate in Gedanken bei ihm gewesen, sie begleitete ihn in seinen Träumen, als er kreuz und quer durch Australien fuhr, als er sich in der drückenden Hitze des Sommers hin und her warf, als er in Indien draußen auf einer Veranda saß und den unheimlichen nächtlichen Geräuschen des Ostens lauschte. Erst als die See grauer und rauer wurde, hatte er schließlich das Stadium der Gleichgültigkeit erreicht, nach dem er sich gesehnt hatte. Hinter ihm schlug eine Tür zu, sperrte die Jahre aus, die er mit ihr verbracht hatte, ließ ihren Betrug zusammenschrumpfen, bis er nicht mehr war als das zischende Brechen einer Welle, Gischt, die in die Luft schoss und dann in der großen Wassermasse verschwand.
Heute Nacht kämpfte die SS Gloriana sich ihren Weg durch die schwere See im Golf von Biskaya. Es waren keine Sterne zu sehen.
Ein Stück das Deck hinunter öffnete sich eine Tür, und er hörte das leiser werdende Läuten der Glocke, mit der die Passagiere zum Abendessen gerufen wurden. Nach einem letzten Blick in die schwarze Nacht trat er zurück in die Wärme und das Licht und das stete Brummen der Schiffsmotoren. Er ging zu seiner Kabine, um seinen Mantel abzulegen, er war bereits zum Abendessen angekleidet, doch als er den Kragen seines Regenmantels eng um den Hals zugeknöpft hatte, war seine schwarze Krawatte in Unordnung geraten. Er zog sie zurecht. Dann machte er sich wieder einmal auf den Weg durch den schwankenden Korridor. Die heftigen Bewegungen des Schiffs beunruhigten ihn nicht im Mindesten.
Der riesige Speisesaal war nur spärlich besetzt. Ein Steward an seiner Seite flüsterte ihm respektvoll ins Ohr, da nur wenige Passagiere zu Abend äßen, sei die gewohnte Sitzordnung fürs Erste aufgehoben. Er ließ sich zu einem Tisch begleiten, an dem bereits eine Hand voll Menschen saß. Sie schenkten ihm das vertrauensvolle Lächeln jener, die immun sind gegen Seekrankheit.
An den Tischen waren kleine hölzerne Vorrichtungen angebracht, die verhinderten, dass Silber und Porzellan zu Boden glitten, und als der Ober ihm den Stuhl unterschob und er nach der Serviette griff, klirrten die Gläser an seinem Platz aneinander. Der Ober sorgte sicher und geschickt wieder für Ordnung. Hal legte sich die dicke Leinenserviette über die Knie und wandte seine Aufmerksamkeit seinen Tischnachbarn zu.
Natürlich saß die unvermeidliche Lady Gutteridge mit am Tisch. Die Frau des Gouverneurs der Zentralprovinzen brachte ihre Mädchen nach Hause, um sie auf die Saison im nächsten Jahr vorzubereiten. Allein höhere Gewalt hätte ihre ungeheure Vitalität bändigen können, von ein wenig Seegang ließ sie sich nicht beirren. Er überlegte, ob die beiden Töchter froh über die Gelegenheit waren, in ihren Kabinen zu bleiben, für ein paar Stunden befreit von der unbarmherzigen Aufsicht und den Schikanen ihrer strengen Mutter.
Beide Mädchen hatten Hal in den kurzen Momenten, in denen die wachsamen Augen der Mutter nicht auf sie gerichtet gewesen waren, aufmerksam beobachtet. Die eine hatte ihn für zu alt befunden, um noch interessant zu sein. Er war ihr überdies zu selbstsicher erschienen, hatte einen zu harten Kern, um für Koketterien empfänglich zu sein. Ihre Schwester hingegen war fasziniert von ihm und fühlte sich von genau den Eigenschaften angezogen, die ihre Schwester abgestoßen hatten. Sie war beeindruckt von seiner hageren, düsteren Erscheinung. Seine höhnische Miene ließ sie erschaudern, und wenn er belustigt war, seine fast schwarzen Augen glühten und seine beweglichen Lippen sich zu einem schiefen Lächeln verzogen, fand sie ihn zutiefst beunruhigend.
Ob er die Saison in London verbringen werde, wollte sie wissen, als sie ihn während eines Ringtennisspiels in Beschlag nahm.
Sie vergeude ihre Zeit, sagte ihre Schwester zu ihr. Wer auch immer dieser Hal Grindley sei, er würde sicher nicht auf Mummys Liste passen, schließlich wussten sie überhaupt nichts über ihn oder seine Familie. Auf Fragen nach Schule, Regiment und Universität – den Säulen des sozialen Rangs – reagierte er sehr zurückhaltend, und auch seine Kleidung widersetzte sich der Klassifizierung, obwohl seine gut geschnittene Abendgarderobe nur den Händen eines Londoner Schneiders entstammen konnte. Doch was waren das für gelbe Socken?
Es ging das Gerücht, dass er aus dem Norden Englands stammte, dass er in Amerika gelebt hatte, durch ganz Australien und wer weiß wohin noch gereist war; womit eindeutig feststand, dass er kaum für einen Tanz, geschweige denn für das Leben, der geeignete Mann war.
Wie auch immer, der Schaden war bereits angerichtet: Die nächsten zwölf Monate würde sie ihre Mutter zur Verzweiflung treiben und sämtliche begehrenswerten jungen Männer, die ihr Avancen machten, als fade und dumm ablehnen, um am Ende eine wenig standesgemäße Verbindung mit einem aufstrebenden, nicht mehr ganz jungen Labour-Politiker einzugehen – «ausgerechnet einen von diesen schrecklichen Menschen, meine Liebe» –, einzig und allein, weil dieser wenigstens ansatzweise etwas von dem lebhaften Geist und der natürlichen Autorität besaß, aufgrund deren sie sich in den geheimnisvollen Mr. Grindley verliebt hatte.
Der Kolonialbischof, der Hal gegenübersaß, erkundigte sich, wohin er fahren werde, wenn das Schiff in England anlegte.
«Nach Westmoreland», antwortete er ohne Zögern. Wo die Seen zufroren und wo seine Familie lebte.
Er fügte nicht hinzu, dass er ursprünglich nicht vorgehabt hatte, seine Familie zu besuchen, doch die Berichte in den Zeitungen, die an Bord gebracht worden waren, als das Schiff Gibraltar anlief, hatten eine schier überwältigende Sehnsucht nach seinen heimatlichen Hügeln geweckt. Er hatte Telegramme geschickt und sich in seine Kabine zurückgezogen, den Kopf plötzlich angefüllt mit Erinnerungen an die Winter der Kindheit am See und inmitten der mächtigen Fells, an Schlittschuhlaufen in der frischen, klaren Luft, an Rodelschlitten und Eissegler, an heißen Kuchen, der mit kalten Fingern auf dem Eis gegessen wurde, und an Nanny, die schimpfte, wenn er durchgefroren, hungrig und erschöpft hereinkam, um zwölf Stunden wie ein Toter zu schlafen und dann wieder aufs Eis zu gehen, weil er mit seinen Freunden weiter schlittern und herumtoben wollte.
Vor seinem geistigen Auge konnte er Grindley Hall sehen. Ob Peter viele Veränderungen vorgenommen hatte? Was war mit Peters neuer Frau? Vermutlich uninteressant, sicher ein Abstieg nach der witzigen, lebhaften Delia, die er angebetet hatte und die eines Sommerabends mit einem schottischen Dichter durchgebrannt war. Sie hatte für ihr neues Leben auf einem Schloss in den Highlands einen hohen Preis gezahlt, denn Peter hatte seiner unmäßigen Wut dadurch Luft gemacht, dass er ihr jeglichen Kontakt mit den Kindern verbot. Sie stand, wie Hal wusste, heimlich mit ihnen in Verbindung, indem sie Nanny Briefe an eine andere Adresse als Grindley Hall schickte.
Hal machte ihr keine Vorwürfe. Er war im Grunde selbst weggelaufen. Weniger skandalumwittert, doch fast ebenso erfolgreich. Wie Delia hatte Hal im Kreis von Bohemiens und Künstlern Zuflucht vor seiner Familie gesucht, nur dass er wusste, dass die von ihm Verlassenen nichts als Erleichterung über seine Abwesenheit empfanden. Er war ein Wechselbalg unter den Grindleys, teilte weder das Interesse der übrigen Familie am Töten von Tieren noch am Geldverdienen.
Nach einem Abendessen, das trotz der tosenden See wie gewohnt aus fünf Gängen bestanden hatte, eilten der Bischof und er in den Rauchsalon, um Ihrer Ladyschaft zu entkommen, da selbst eine Frau mit ihrem selbstsicheren Auftreten es nicht wagte, dieses Heiligtum der Männer zu betreten. Dort, umgeben vom Geruch guter Zigarren und dem Leder der Clubsessel, saßen sie gesellig beieinander, der Bischof mit einem schottischen Whisky und Hal mit einem Glas Bourbon in Reichweite.
Das Gespräch über den Frost im Norden brachte den Bischof auf die eine große Leidenschaft seines Lebens, das Angeln, insbesondere die Fliegenfischerei, und er erging sich in einem langen Vortrag über Angelhaken, Fliegen und Teiche an versteckten Orten und in Erinnerungen an Fische, die ihm vor längst vergangenen Zeiten entwischt waren.
Hal fand es sehr erholsam, seiner weitschweifigen Erzählung zuzuhören, denn er war nicht nur mit Gewehren und Angelruten aufgewachsen, sondern auch mit den handfesten Beweisen der Grindley’schen Obsession in Form solcher Ergötzlichkeiten wie eines Glaskastens, der einen riesigen Lachs, umrahmt von leuchtend grünem Schilf, enthielt, versehen mit einem Täfelchen, das verkündete, dass er 1898 von Gertrude Grindley gefangen worden war.
Diese spezielle Trophäe war aus irgendeinem Grund in seinem Schlafzimmer gelandet, wo sie ihm zuerst Albträume verursachte und dann einfach auf die Liste der Dinge kam, die ihm an seinem Zuhause missfielen. Der Fisch war ihm allerdings immer noch lieber als die Köpfe mit den Geweihen und den traurigen Augen und die ausgestopften Hermeline, Wiesel und Füchse, die von irgendeinem taxidermieverrückten Vorfahren eifrig gesammelt worden waren und nun Beistelltische und Regale im ganzen Haus zierten.
Seine Aufmerksamkeit wurde von den alarmierenden Worten «Und natürlich habe ich dort mit Ihrem Onkel, Robert Grindley, zusammen geangelt, der, wie ich hörte, inzwischen verstorben ist» wieder auf das gelenkt, was der Bischof sagte.
«Onkel?»
«Sie sind doch der Sohn des alten Nicholas Grindley, oder nicht? Er ist natürlich auch tot, aus dieser Generation lebt niemand mehr, bis auf eine Schwester, das muss Ihre Tante Daphne sein. Und Sie müssen Peters jüngster Bruder sein. Ich bin mit Peter zur Schule gegangen, er hat mir ein Jahr lang Dienste geleistet. Wir haben ihn Kloschüssel genannt. Wegen des Familiengeschäfts, wissen Sie.»
«Ah, ja.» Hal konnte sich nur allzu gut an seinen eigenen Spitznamen in der Schule erinnern, Jeyes und Kloreiniger. Roger war, wenn er sich richtig erinnerte, Wasserspülung gerufen worden, was ihm jedoch nie etwas ausgemacht zu haben schien.
«Wie geht es Peter? Hält er sich gut? Ich habe von der Sache mit seiner Frau gehört, haarsträubende Geschichte, haarsträubend. Aber er hat wieder geheiratet.»
«Ja, ich sehe ihn nur selten, seit ich im Ausland lebe.»
«Jaja, Sie waren immer der Außenseiter.»
Hal war beunruhigt. «Ich würde es vorziehen, wenn Sie nicht erwähnen würden, dass Sie meine Familie kennen. Lady Gutteridge gegenüber. Ich meine …»
Der Bischof schüttelte sich vor Lachen. «Nein, nein, mir war gleich vom ersten Augenblick an klar, dass ich das nicht tun sollte, ich habe keineswegs den Wunsch, Unheil anzurichten. Wohlgemerkt, Grindley Hall ist schön und gut, doch ich denke, ihre Ambitionen gehen über den jüngsten Sohn eines Landjunkers aus dem Norden Englands hinaus, falls Sie mir erlauben, so frei zu sprechen.»
«Oh, nur zu. Wie auch immer, bei einer solchen Frau kann man nicht vorsichtig genug sein.»
«Nein, in der Tat, in der Tat. Sie können sich auf mich verlassen. Ja, Peter Grindley, wie mich das an alte Zeiten erinnert. Ich weiß noch, in einem Jahr, da hatten wir ein paar Angelruten rauf nach Loweswater mitgenommen …»
Hal bedauerte allmählich, dass der Bischof sich diese tropische Krankheit eingefangen hatte, die ihn so dünn und gelb hatte werden lassen und offensichtlich dazu geführt hatte, dass er seinen überseeischen Dienst nicht länger fortsetzen konnte. Nicht dass es dem Bischof viel auszumachen schien. Als er seine bischöflichen Gedanken von denkwürdigen Fischzügen den feuchten Vergnügungen zuwandte, die ihn erwarteten, gewann das Gefühl der Langeweile, das Hal so oft überkam, wenn er mit seiner Familie und deren Freunden zusammen war, die Oberhand über seine Gutmütigkeit und seine Manieren. Er stand auf. «Ich glaube, ich gehe zu Bett», sagte er und streckte eine Hand aus, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als das Schiff in ein besonders tiefes Wellental glitt.
«Ganz recht», sagte der Kolonialbischof, in dessen Kopf sich Whiskydunst und schuppenhäutige Widersacher tummelten.
Es war bitterkalt an dem Tag, als das Schiff in Tilbury anlegte, und Hal verabschiedete sich am Zollhäuschen von dem Bischof. Der reiste zu einem Bischofssitz im West Country, Hal verbrachte die Nacht in seinem Club in London. Den nächsten Tag würde er sich beruflichen und geschäftlichen Angelegenheiten widmen und dann den Nachtzug Richtung Norden nehmen. Zu dem gefrorenen See.
YORKSHIRE
Perdita Richardson hatte keinen Brief von ihrer besten Freundin Ursula Grindley erwartet, nicht so kurz vor Ende des Schuljahres. Doch da war er, überbracht von einem gefälligen und für seine Dienste gut entlohnten Dienstmädchen der Schule, in einer zerfledderten alten Ausgabe der Suiten von Couperin versteckt.