Die Originalausgabe erschien 1984 unter dem Titel «Slow Learner. Early Stories» im Verlag Little, Brown and Company, Boston, Toronto.
Die Erzählung «Tiefland» wurde von Jürg Laederach und Thomas Piltz übersetzt, alles Übrige von Thomas Piltz; bei «Entropie» dankt der Übersetzer den Teilnehmern seines Seminars vom Sommersemester 1983 am Amerika-Institut der Universität München, deren Vorschläge in die deutsche Fassung eingingen.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2015
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ISBN Printausgabe 978-3-499-13481-4 (3. Auflage 2009)
ISBN E-Book 978-3-644-04661-0
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ISBN 978-3-644-04661-0
Soweit ich mich irgend erinnern kann, schrieb ich diese Erzählungen zwischen 1958 und ’64. Vier davon entstanden während meiner Collegezeit; die fünfte, «Die heimliche Integration» (1964), ist schon mehr ein Gesellenstück als die Arbeit eines Lehrlings. Wie Sie vielleicht aus eigener Erfahrung wissen, kann es dem Ego einen gewaltigen Stoß versetzen, wenn man irgend etwas zu Gesicht bekommt, das man vor zwanzig Jahren geschrieben hat, und sei es ein geplatzter Scheck. Meine erste Reaktion beim Wiederlesen dieser Stories war O mein Gott, begleitet von physischen Symptomen, bei denen wir nicht verweilen wollen. Mein zweiter Gedanke war der einer Überarbeitung von A bis Z. Diese beiden Regungen haben einer jener Phasen mittelalterlicher Gelassenheit Platz gemacht, in der ich mir nun einbilde, eine gewisse Klarheit über den jungen Autor erreicht zu haben, der ich damals war. Schließlich kann ich diesen Burschen nicht einfach in die Maschine spannen und aus meinem Leben ausixen. Wenn ich ihm andererseits, dank einer noch unerfundenen Technologie, heute auf der Straße begegnete – wie wohl wäre mir bei dem Gedanken, ihm Geld zu leihen oder auch nur in die nächste Kneipe mit ihm zu gehen, um über einem Bier von den alten Zeiten zu reden?
Es ist nur fair, auch den gewogensten Leser davor zu warnen, daß hier einige äußerst ermüdende Passagen auf ihn warten, jugendlich-unreif und sogar -kriminell. Wobei ich nur hoffen kann, daß diese Erzählungen, so prätentiös, töricht und unausgegoren sie hin und wieder sein mögen, sich mit allen ihren Mängeln als Demonstrationsobjekte für typische Schwierigkeiten in der Anfängerklasse des Schreibens nützlich machen und jungen Autoren zur Warnung vor einigen Unarten dienen, die sie selbst vielleicht lieber vermeiden.
«Der kleine Regen» war meine erste veröffentliche Story. Ein Freund, der während derselben zwei Jahre, die ich in der Navy verbrachte, bei der Armee gewesen war, versorgte mich mit den Einzelheiten. Der Hurricane hat sich tatsächlich ereignet, und der Funktrupp, dem mein Freund angehörte, hatte die in der Story geschilderte Aufgabe. Das meiste, was mir an meiner Schreibe nicht gefällt, ist hier in embryonalen und auch in fortgeschrittenen Stadien zu bewundern. Beispielsweise war ich blind dafür – dies nur als Vorspiel –, daß das Problem der Hauptfigur real und interessant genug war, um die Erzählung zu tragen. Offensichtlich hielt ich es für nötig, noch eine ganze Schicht von Regenmetaphern und Anspielungen auf T. S. Eliots «Waste Land» («Das Wüste Land») und Hemingways A Farewell to Arms (In einem anderen Land) drüberzukleistern. Ich verfuhr nach dem Motto «Mach es literarisch», ein schlechter Rat, den ich mir selber gab und treu befolgte.
Ebenso betrüblich ist der Fall von Schlechtem Ohr, der vor allem gegen Ende der Geschichte einen Teil des Dialogs ruiniert. Mein Gefühl für regionale Akzente war damals bestenfalls rudimentär. Mir war aufgefallen, daß die Sprechweise beim Militär zu einem allamerikanischen Provinzidiom abgeschliffen wurde. Italienische Street-Kids aus New York klangen nach einiger Zeit genauso wie eingesessene Südstaatler; Seeleute aus Georgia kehrten vom Heimaturlaub zurück und beklagten sich, daß sie keiner mehr verstünde, weil sie wie Yankees sprächen. Da ich selbst aus dem Norden komme, hörte ich als «südlichen Akzent», was in Wahrheit nicht viel mehr war als der uniformierte Akzent der Streitkräfte. Ich bildete mir ein, in den Zivilistenstimmen der Küstenregion Virginias [u:] für [au], oot für out, gehört zu haben, aber ich wußte nicht, daß die Leute in anderen Gebieten dieses eigentlichen, zivilen Südens und selbst in anderen Teilen von Virginia mit einer Vielzahl von ganz anderen Akzenten sprachen. Es ist ein Irrtum, den man auch in den Filmen von damals hören kann. Mein spezielles Problem in der Kneipenszene besteht nicht nur darin, daß ich ein Mädchen aus Louisiana in – dazu noch ungenau gehörten – Ostvirginia-Diphtongen sprechen lasse, sondern daß ich, was schlimmer ist, daraus unbedingt ein Element der Handlung machen will: Es macht einen Unterschied für Levine und daher auch für den Fortgang der Story. Wobei mein Fehler der war, mit einem Gehör angeben zu wollen, das ich noch gar nicht hatte.
Ein zentraler Punkt der Geschichte, ebenso entscheidend wie unerfreulich, ist die Oberflächlichkeit, mit der mein Erzähler – fast, aber nicht ganz ich selbst – das Thema Tod behandelt. Wenn wir von der «Ernsthaftigkeit» erzählender Literatur sprechen, dann meinen wir damit in letzter Konsequenz ihre Einstellung zum Tod – wie sich ihre Figuren in seiner Gegenwart verhalten oder wie sie mit ihm umgehen, wenn er nicht unmittelbar gegenwärtig ist. Jeder weiß das, aber dennoch wird das Thema gegenüber jüngeren Autoren kaum je zur Sprache gebracht, was daran liegen mag, daß die meisten einen solchen Hinweis bei einem Adressaten, der noch im Lehrlingsalter steht, für schlicht vergeudet halten. (Vermutlich besteht eine der Ursachen für die Faszination von Fantasy und Science-fiction auf junge Leser darin, daß in einem beherrschbar gemachten Raum-Zeit-Kontinuum, in dem die Figuren nach Belieben herumreisen und sich physischen Gefahren ebenso wie der Unerbittlichkeit des Chronometers entziehen können, die Sterblichkeit so selten ein Problem ist.)
Im «Kleinen Regen» findet man Figuren, die mit dem Tod auf pubertäre Weise umgehen. Sie weichen aus: sie schlafen lange, sie flüchten in Euphemismen. Wenn sie vom Tod reden, ziehen sie sich mit faulen Witzen aus der Affäre. Und was das schlimmste ist: sie versuchen, ihn mit Sex auszutreiben. Man wird gegen Ende der Erzählung feststellen, daß sich irgendeine Art von sexueller Begegnung abzuspielen scheint, obwohl der Text es kaum verrät. Die Sprache wird plötzlich zu preziös, um noch lesbar zu sein. Vielleicht steckt hier mehr dahinter als nur meine eigene jugendliche Unsicherheit in Sachen Sex. Im Rückblick glaube ich, daß diese Unsicherheit ein allgemeines Kennzeichen der Subkultur der zirka Zwanzigjährigen in jener Zeit war. Das Ergebnis war eine Neigung zur Selbstzensur. Es war auch die Epoche von Howl, Lolita, dem Wendekreis des Krebses und den juristischen Pressionen, die das Erscheinen dieser Werke im Gefolge hatte. Selbst die «weiche» Pornographie, die damals in Amerika erhältlich war, nahm absurde symbolische Umwege in Kauf, nur um die direkte Beschreibung von Sexualität zu vermeiden. Heute mag das alles längst kein Thema mehr sein, aber damals war es eine äußerst fühlbare Beschränkung für jeden, der schrieb.
Was ich heute an der Story interessant finde, ist weniger die verkorkste, infantile Grundeinstellung als vielmehr der Klassenaspekt. Wofür auch sonst der Militärdienst im Frieden gut sein mag, er kann jedenfalls eine vorzügliche Einführung in die großen Gliederungen der Gesellschaft geben. Selbst einem jungen Menschen wird offensichtlich, daß häufig verdrängte Barrieren aus dem zivilen Leben in der militärischen Unterscheidung von «Offizieren» und «Mannschaften» einen unmittelbaren, glasklaren Ausdruck finden. Man macht die erstaunliche Entdeckung, daß fertige Erwachsene, die mit Collegediplomen, Khakiuniformen und Würdenzeichen herumlaufen und alle möglichen Verantwortungen auf ihren Schultern tragen, tatsächlich Idioten sein können. Und daß kleine Mannschaftsdienstgrade aus der Arbeiterklasse, obwohl theoretisch ebenfalls zur Idiotie befähigt, oft die wahrscheinlicheren Kandidaten sind, wenn es um Sachkompetenz, Mut, Menschlichkeit, Vernunft und ähnliche Tugenden geht, die die gebildeteren Schichten mit sich selbst assoziieren. Obwohl in literarischen Kategorien formuliert, handelt «Fettarsch» Levines Konflikt im «Kleinen Regen» davon, welcher Seite seine Loyalität gehören soll. Als unpolitischem Studenten der 50er Jahre war mir das damals nicht bewußt – aber in der Rückschau scheint mir, daß ich aus einem Dilemma heraus arbeitete, mit dem sich die meisten von uns damals Schreibenden auf die eine oder andere Weise auseinandersetzen mußten.
Auf der einfachsten Ebene hatte es mit der Sprache zu tun. Wir wurden von vielen Seiten – von Kerouac und den Beat-Autoren, von der Diktion Saul Bellows in den Abenteuern des Augie March, von neuen Stimmen wie denen von Herbert Gold und Philip Roth – zu der Erkenntnis ermutigt, daß es erlaubt war, mindestens zwei sehr verschiedene Formen des Englischen in der erzählenden Prosa koexistieren zu lassen. Erlaubt! Es war tatsächlich okay, so zu schreiben! Und wer ahnte, was daraus werden mochte? Es war eine erregende, befreiende, zutiefst ermutigende Erfahrung. Dabei ging es nicht um ein Entweder-Oder, sondern um die Erweiterung der Möglichkeiten. Ich glaube nicht, daß wir damals bewußt nach einer Synthese suchten, obwohl wir das vielleicht hätten tun wollen. Später, in den 60er Jahren, fand der Erfolg der Neuen Linken seine Grenze im Scheitern der politischen Zusammenarbeit von Studenten und Arbeiterschaft. Ein Grund dafür war die unsichtbare, aber sehr reale Existenz von klassenspezifischen Kraftfeldern in der Kommunikation der beiden Gruppen miteinander.
Der Konflikt blieb damals, wie fast alles andere, unausgesprochen. In seiner literarischen Version wurde er zwischen «traditionellen» und «Beat»-Autoren ausgetragen. Einer der Schauplätze der Auseinandersetzung, von dem wir, obwohl weit weg, immer wieder hörten, war die University of Chicago. Es existierte beispielsweise eine «Chicago School» in der Literaturwissenschaft, die eine Menge öffentlicher Anerkennung und Beachtung fand. Auf der anderen Seite kam es zu einem Aufstand beim Chicago Review, der zur Gründung der Beatorientierten Literaturzeitschrift Big Table führte. «Was ist in Chicago los?» wurde zur Kurzformel für eine unvorstellbare, subversive Bedrohung. Es gab noch viele andere solche Kontroversen. Gegen die nicht zu leugnende Macht der Tradition ließen wir uns von zentrifugalen Lockungen anziehen, wie sie von Norman Mailers Essay «The White Negro», von der leichten Verfügbarkeit der Jazzmusik auf Schallplatten und von einem Buch ausgingen, das ich auch heute noch für einen der großen amerikanischen Romane halte: On the Road (Unterwegs) von Jack Kerouac.
Einen verstärkenden Effekt übte, jedenfalls auf mich, Helen Waddels The Wandering Scholars aus, eine in den frühen 50er Jahren wiederaufgelegte Studie über die Vagantendichter des Mittelalters, die in einem großen Aufbruch die Klöster mit den Straßen Europas vertauschten und in ihren Liedern die Vielfalt des Lebens feierten, die sie außerhalb der akademischen Mauern fanden. Angesichts meiner damaligen Universitäts-Umgebung waren die Parallelen nicht schwer zu sehen. Zwar war das Leben im College nicht wirklich langweilig, aber dank all der alternativen Nachrichten von unten, die durch den Efeu hereinsickerten, begannen wir ein Gespür für jene andere Welt zu entwickeln, die dort draußen summte und vibrierte. Einige von uns konnten der Versuchung nicht widerstehen, rauszugehen und zu schauen, was sich da abspielte. Und es kehrten genügend zurück und berichteten aus erster Hand, um andere zu dem gleichen Versuch zu ermutigen – eine Vorschau auf die Massenbewegung der Uni-Aussteiger der 60er Jahre.
Ich selbst nahm nur als Zaungast an der Beat-Bewegung teil. Wie andere auch, verbrachte ich viel Zeit in Jazzklubs, wo ich das Zwei-Bier-Minimum über den Abend zu strecken versuchte. Ich trug horngefaßte Sonnenbrillen bei Nacht. Ich ging auf Parties, die in Lofts stattfanden und von Mädchen in seltsamer Gewandung besucht wurden. Ich ließ mich gern von allen möglichen Marijuana-Gerüchten kitzeln, obwohl das Gerede damals in einem umgekehrten Verhältnis zur Verfügbarkeit dieser nützlichen Substanz stand. 1956 war ich in Norfolk, Virginia, in eine Buchhandlung marschiert und hatte dort die Nummer eins des Evergreen Review entdeckt, damals ein frühes Forum der Beat-Sensibilität. Mir ging ein Licht auf. Ich war zu dieser Zeit bei der Marine, wo ich schon Leute kannte, die im Kreis auf Deck zu sitzen und perfekt und mehrstimmig all die frühen Rock ’n’ Roll-Songs zu singen pflegten, die Bongos und Saxophon spielten und ehrlichen Schmerz empfunden hatten, als Yardbird und später Clifford Brown starben. Als ich an die Universität zurückkehrte, fand ich die Akademiker schon vom Cover des Evergreen Review zutiefst beunruhigt, ganz zu schweigen von dem, was drinstand. Die Einstellung mancher Literaten zu den Beat-Autoren schien die gleiche zu sein, die einige Offiziere meines Schiffs gegenüber Elvis Presley an den Tag gelegt hatten. «Was ist seine Botschaft», war ihre ängstliche Frage, die sie an solche Mannschaftskameraden richteten, die sich z.B. durch eine Elvis-Tolle als potentielle Quelle empfahlen, «worauf will er hinaus?»
Wir befanden uns in einer Übergangsphase, einer merkwürdigen kulturellen Wendezeit im Windschatten der Beats, und unsere Loyalität war tief gespalten. Wie sich Bop und Rock ’n’ Roll zum Swing und zur Popmusik der Nachkriegsjahre verhielten, so stand der neue Stil gegen die etablierte Tradition des Modernismus, der wir im College ausgesetzt waren. Unglücklicherweise gab es für uns selbst keine primäre Wahl zu treffen. Wir waren Zuschauer: die Parade war vorbeigezogen, und wir erhielten bereits alles aus zweiter Hand serviert, eifrige Konsumenten dessen, was uns die Medien jener Zeit anzubieten hatten. Das hinderte uns freilich nicht daran, die Posen und Requisiten der Beat-Bewegung zu übernehmen und später, als Post-Beatniks, zu einem tieferen Verständnis dessen zu gelangen, was letztlich nichts anderes war als eine nüchterne und glaubwürdige Bekräftigung der Ideale, die wir alle für die eigentlich amerikanischen halten möchten. Als es zehn Jahre später zu einer Neuauflage im Zeichen der Hippies kam, waren Nostalgie und Rechtfertigungsbedürfnis, jedenfalls für eine ganze Weile, die beherrschenden Gefühle. Die Beat-Propheten wurden wieder aus der Versenkung geholt, die Riffs der Altsaxophone erklangen auf E-Gitarren, und die Weisheit des Ostens kehrte in modischer Verkleidung zurück. Es war alles wie früher, nur war alles anders.
Auf der negativen Seite schlägt allerdings bei beiden Bewegungen eine Überbewertung der Jugend, inklusive der ewigen Varietät, zu Buch. An mich selbst war Jugend damals natürlich satt verschwendet; trotzdem greife ich den Aspekt des Reifezeugnisses hier wieder auf, weil zu demonstrieren ist, wie meine jugendlichen Wertbegriffe – ganz abgesehen von den unausgegorenen Einstellungen zu Sex und Tod – in meine Schreibe einsickern und eine sonst sympathische Figur zugrunde richten konnten.
Dies ist der traurige Fall bei Dennis Flange in «Tiefland». Eigentlich handelt es sich hier mehr um eine Charakterskizze als um eine Erzählung. Der gute alte Dennis «wächst» in ihrem Verlauf nicht eben viel. Er bleibt statisch, nur seine Phantasien werden unangenehm lebendig, und damit hat sich’s auch schon: bestenfalls eine Klärung der Probleme, aber keine Lösung, und daher auch nicht viel Bewegung oder Leben.
Es ist heutzutage kein Geheimnis, vor allem nicht für Frauen, daß viele amerikanische Männer, selbst solche von gesetztem Alter, die dezente Anzüge tragen und ehrenwerten Berufen nachgehen, in Wirklichkeit, so unglaublich es klingen mag, tief in ihrem Inneren ganz kleine Jungs sind. Flange verkörpert diesen Typus, auch wenn er mir, als ich die Story schrieb, ziemlich cool vorkam. Er wünscht sich Kinder – warum wird nicht recht klar –, aber er ist nicht bereit, dafür eine reale Beziehung zu einer erwachsenen Frau aufzubauen. Seine Lösung für dieses Dilemma ist Nerissa, eine Frau, die in Körpergröße und Verhalten einem Kinde gleicht. Ich kann mich nicht mit Sicherheit erinnern, aber es sieht so aus, als hätte ich es gegen Ende der Geschichte offenlassen wollen, ob Nerissa nur ein Geschöpf seiner Phantasie ist oder nicht. Es läßt sich leicht spekulieren, daß Dennis’ Problem auch mein Problem war und daß ich es auf ihn abwälzte. Wie dem auch sei – jedenfalls hätte es von allgemeinerer Bedeutung sein können. Ich hatte zu dieser Zeit weder mit der Ehe noch mit Kindern unmittelbare Erfahrung und schnappte vielleicht einfach männliche Denkmuster auf, die damals in der Luft lagen – oder, genauer gesagt, auf dem Hochglanzpapier von Männermagazinen standen, vor allem dem Playboy. Ich glaube nicht, daß diese Zeitschrift die exklusive Wunschprojektion ihres Verlegers war: hätte sich nicht ein großer Teil der amerikanischen Männerwelt in ihr wiedergefunden, so wäre der Playboy bald pleite und von der Bildfläche verschwunden gewesen.
Kurioserweise hatte ich gar nicht beabsichtigt, Dennis Flange zur Hauptfigur der Story zu machen – er sollte nur der Stichwortgeber sein für Pig Bodine. Das im wirklichen Leben existierende Gegenstück zu dieser unbekömmlichen Blaujacke war mein ursprünglicher Ausgangspunkt gewesen. Ich hatte die Geschichte von den mißglückten Flitterwochen von einem Kanonier meines Schiffes gehört, als ich bei der Navy war. Wir waren gemeinsam zum Streifendienst im Hafengelände von Portsmouth, Virginia, eingeteilt. Unser Abschnitt war ein trostloses Stück Werftgelände – nur Maschendraht und Abstellgleise –, und die Nacht war zu unwirtlich und kalt, um irgendwelche Seeleute auf Abwege zu locken, die uns zum Einschreiten veranlaßt hätten. So fiel meinem Kameraden als dem Seniormitglied der Streife die Verpflichtung zu, die Zeit mit Seegeschichten totzuschlagen, und das war eine davon. Was ihm während seiner eigenen Flitterwochen tatsächlich widerfahren war, ließ ich Dennis Flange zustoßen. Dabei amüsierte mich weniger der konkrete Inhalt der Geschichte als die grundsätzlichere Idee, daß es überhaupt Leute gab, die sich derart verhielten. Wie sich herausstellte, figurierte der Saufkumpan meines Partners in einer Vielzahl von Bordanekdoten. Schon vor meiner Zeit zu einer Dienststelle an Land versetzt, war er auf dem Schiff zur Legende geworden. Einen Tag vor meiner Entlassung bekam ich ihn schließlich noch mit eigenen Augen zu sehen, früh beim Morgenappell vor einem Kasernengebäude in der Marinebasis von Norfolk. In der Sekunde, als mein Blick auf ihn fiel, und noch ehe er auf den Aufruf seines Namens reagierte, hatte ich (Ehrenwort!) die merkwürdige ASW-Gewißheit, daß nur er und kein anderer es sein konnte. Ich will diesen Augenblick nicht dramatisieren – aber weil ich Pig Bodine noch immer gerne mag und die Figur inzwischen ein- oder zweimal in Romanen auftreten ließ, ist es eine angenehme Erinnerung, daß sich unsere Wege tatsächlich auf diese geisterhafte Weise gekreuzt haben.
Leser von heute werden einigermaßen schockiert auf die unakzeptable Menge von rassistischem, sexistischem und protofaschistischem Gerede in dieser Story reagieren. Ich wünschte, ich könnte sagen, daß es sich dabei nur um Pig Bodines Stimme handelt, aber traurigerweise war es damals auch die meine. Das Positivste, was ich heute daran finden kann, ist, daß sie für ihre Zeit wahrscheinlich ziemlich authentisch klingt. John Kennedys Rollenvorbild James Bond war im Begriff, sich einen Namen zu machen, indem er Menschen aus der Dritten Welt durch die Gegend kickte und so den Abenteuerbüchern, mit denen viele von uns aufgewachsen waren, ein neues Kapitel anfügte. Es existierte seit geraumer Zeit und weiterhin ein ganzes System von Vorurteilen und feinen Unterschieden, die weder offen ausgesprochen noch bezweifelt wurden und Jahre später, in den 70ern, ihren vollkommensten Ausdruck in der Figur des TV-Serienhelden Archie Bunker fanden. Es mag sich noch herausstellen, daß ethnische Unterschiede keineswegs von ähnlich grundlegender Bedeutung sind wie Fragen des Geldes und der Macht: daß sie vielmehr eingesetzt worden sind – oft genug zum Nutzen derer, die sie am meisten bedauern –, um uns aufzusplittern und in unserer relativen Armut und Machtlosigkeit zu halten. Aber auch, wenn das gesagt ist, bleibt die Erzählerstimme von «Tiefland» die eines klugscheißerischen Wichtigtuers, der es nicht besser wußte, und ich entschuldige mich dafür.
So unerfreulich ich «Tiefland» inzwischen finde – es ist gar nichts im Vergleich zu der Verzweiflung, die mein Herz befällt, wenn ich den Blick auf «Entropie» richte. Diese Erzählung ist das Paradebeispiel für einen Verfahrensfehler, vor dem Anfänger immer wieder gewarnt werden. Es ist schlicht verkehrt, mit einem Thema, einem Symbol oder sonst einem vereinheitlichenden Konzept anzufangen und erst nachträglich die Figuren und die Handlung so zurechtzustutzen, daß sie das Schema ausfüllen. Im Gegensatz dazu waren die Charaktere in «Tiefland», auch wenn in anderer Hinsicht problematisch, wenigstens mein Ausgangspunkt, von dem ich erst später zu dem theoretischen Kram gelangte, der dem Projekt einen Anschein von erzählerischem Raffinement verleihen sollte. Andernfalls wäre es nicht mehr gewesen als die Geschichte einer Handvoll unangenehmer Leute, die mit ihren Problemen nicht zu Rande kommen, und wem soll so was nützen? Aus diesem Grund die aufgepfropften Lektionen über das Erzählen von Seemannsgeschichten und Geometrie.
Weil die Erzählung zirka dreimal in Anthologien abgedruckt wurde, glauben die Leute, daß ich mehr von Entropie verstehe, als tatsächlich der Fall ist. Selbst der normalerweise unbestechliche Donald Barthelme hat sich in einem Zeitschrifteninterview zu der Vermutung hinreißen lassen, daß ich eine Art Eigentumsrecht daran besäße. Nun, tatsächlich wurde der Begriff, wenn man dem Oxford English Dictionary glauben darf, 1865 von Rudolf Clausius nach dem Muster des Wortes «Energie» geprägt, worunter er das Griechische für «Arbeitsinhalt» verstand. Die Entropie, der «Verwandlungsinhalt», wurde eingeführt, um die Energiebilanz innerhalb eines Arbeitszyklus einer Wärmekraftmaschine in den Griff zu kriegen, wobei die gemeinte «Verwandlung» die von Wärme in Arbeit war. Wäre Clausius bei seiner Muttersprache und dem Wort «Verwandlungsinhalt» geblieben, so hätte das ganze Konzept womöglich eine völlig andere Karriere gemacht. So jedenfalls wurde es, nachdem die Physiker siebzig oder achtzig Jahre lang diszipliniert damit umgegangen waren, von einigen Kommunikationstheoretikern aufgegriffen und mit dem kosmisch/moralischen Hautgout versehen, dessen es sich noch heute erfreut. Der Zufall wollte es, daß ich Norbert Wieners The Human Use of Human Beings (Mensch und Menschmaschine) (eine populäre Fassung seiner theoretischeren Kybernetik) etwa zur gleichen Zeit las wie Henry Adams’ autobiographische Erziehung des Henry Adams, und das «Thema» meiner Erzählung ist größtenteils von dem abgeleitet, was diese beiden Herren zu sagen hatten. Eine Pose, die ich damals kongenial fand – und von der ich zu meiner Entlastung hoffe, daß sie im späten Jugendalter nichts Ungewöhnliches ist –, war die einer düsteren Lust an jeder Form von massenhaftem Nieder- oder Untergang. Bekanntlich hat es das moderne Genre des politischen Thrillers verstanden, aus solchen Visionen von potenziertem und verführerisch herausgeputztem Sterben einen Haufen Kapital zu schlagen. Meine studentische Gemütsverfassung vorausgesetzt, schien Adams’ Menetekel von der amoklaufenden Energie zusammen mit Wieners Spektakel eines universellen Wärmetodes und mathematischer Erstarrung genau das zu sein, was mir schmeckte. Doch die grandiose Abgehobenheit dieser Idee führte dazu, daß die Menschen in meiner Geschichte zu kurz kamen. Auf mich wirken sie synthetisch und einfach nicht lebendig. Die Ehekrise, die in der Story vorkommt, ist wieder einmal, wie bei den Flanges, bis zur Unglaubwürdigkeit vereinfacht. Die Lektion ist traurig, wie Dion immer sagt, aber wahr: sei zu theoretisch, zu clever und zu überlegen, und deine Figuren sterben dir auf dem Papier weg.
Eine Zeitlang war meine einzige Besorgnis die, daß ich die Dinge nicht in Energie-, sondern in Temperaturbegriffen formuliert hatte. Als ich später mehr über das Thema las, ging mir auf, daß das gar keine allzu schlechte Taktik gewesen war. Dennoch möge man die Oberflächlichkeit meines Verständnisses nicht unterschätzen: z.B. wählte ich 37 Grad Fahrenheit als den Punkt des Ausgleichs, weil 37 Grad Celsius die normale Körpertemperatur ist. Raffiniert, nicht wahr?
Weiter zeigt die nähere Betrachtung, daß keineswegs alle zu einer so pessimistischen Beurteilung der Entropie gelangt sind. Wieder laut dem Oxford Dictionary gebrauchten Clerk Maxwell und P. G. Tait den Begriff, zumindest vorübergehend, in einem Clausius genau entgegengesetzten Sinn: nämlich als das Maß der Energie, die zur Umwandlung in Arbeit zur Verfügung steht (und nicht: verloren ist). Willard Gibbs, der vor einem Jahrhundert in den USA den theoretischen Überbau über dem Phänomen errichtete, hielt es, jedenfalls in schematischer Form, für ein Hilfsmittel zur Popularisierung der Wissenschaft von der Thermodynamik, vor allem ihres zweiten Gesetzes.
Was ich heute an der Erzählung interessant finde, ist weniger ihr thermodynamischer Weltzweifel als die Erfahrung der 50er Jahre, die durch sie hindurchschimmert. Sie scheint mir den Stories der Beats so nahezukommen, wie es mir damals nur möglich war – obwohl ich natürlich glaubte, dem Beatnik-Feeling mit angelesener Naturwissenschaft intellektuellen Glanz zu verleihen. «Entropie» entstand 1958 oder ’59 – wenn in der Story von dem Jahr ’57 als von «damals» die Rede ist, meine ich es fast sarkastisch. Die Jahre sahen einander in den 50ern zum Verwechseln ähnlich. Es war einer der niederträchtigsten Effekte dieser Zeit, daß sie die jungen Menschen, die in ihr aufwuchsen, zu der Überzeugung brachte, sie würde ewig dauern. Ehe John Kennedy, der damals nur als der komisch frisierte Emporkömmling im Kongreß gesehen wurde, Aufmerksamkeit zu erregen begann, war allgemeine Ziellosigkeit eins der beherrschenden Gefühle. Solange Eisenhower am Ruder war, schien es keinen Grund zu geben, warum nicht alles immer so weitergehen sollte wie bisher.
Seit ich diese Erzählung geschrieben habe, versuche ich immer wieder, die Entropie zu verstehen, aber ich werde zusehends unsicherer, je mehr ich darüber lese. Es ist mir gelungen, den Definitionen des Oxford Dictionary zu folgen und auch der Art, wie Isaac Asimov die Sache erklärt, und selbst einem Teil der Mathematik. Aber die Qualitäten und Quantitäten fügen sich in meinem Kopf zu keinem Ganzen. Es ist ein schwacher Trost, zu erfahren, daß Gibbs genau das vorausgesehen hat, als er die Entropie in ihrer schriftlichen Fixierung als «weit hergeholt … dunkel und schwierig zu begreifen» bezeichnete. Wenn ich heute über das Konzept nachdenke, so geschieht es immer häufiger im Hinblick auf die Zeit, auf jene menschliche Einwegzeit, in der wir alle hier an unserem Ort gefangen sind und die, so hört man wenigstens, im Augenblick des Todes endet. Gewisse Prozesse, nicht nur thermodynamische, sondern auch solche medizinischer Natur, erweisen sich oft genug als nicht umkehrbar. Früher oder später kriegen wir das alle mit – von innen.
Solche Überlegungen waren großenteils abwesend, als ich «Entropie» schrieb. Ich war vollauf damit beschäftigt, unschuldiges Papier mit einer Reihe von Fehltritten zu bedecken, von denen ich als Beispiel hier das Überformulieren nenne. Eine eingehendere Diskussion all der Überformulierungen, die in diesen Erzählungen erscheinen, möchte ich mir und jedermann ersparen und nur sagen, wie zerknirscht ich angesichts der Vielzahl von Ranken bin, die immer wieder auftauchen. Ich weiß bis heute nicht genau, was eine Ranke im botanischen Sinn wirklich ist. Ich glaube, ich schnappte das Wort bei T. S. Eliot auf. Persönlich habe ich nicht das geringste gegen Ranken einzuwenden, aber meine Überstrapazierung dieses Wortes bleibt ein gutes Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man zu viel Zeit und Energie nur auf die Wörter wendet. Sicher ist dieser Rat schon oft und überzeugender gegeben worden, aber mein spezieller Holzweg, der fast unglaublich scheint, war damals der, mit dem Finger durch das Wörterbuch zu wandern und herauszuschreiben, was cool und hip klang oder einen Effekt versprach – meistens den, mich gut aussehen zu lassen –, ohne anschließend im Lexikon nachzuschauen, was diese Wörter exakt bedeuteten. Wenn sich das dämlich anhört, dann zu Recht. Ich erwähne es nur für den Fall, daß andere heute ebenso verfahren und aus meinem Irrtum Nutzen ziehen können.
Derselbe Gratistip ist gültig, wenn es um Informationen geht. Jedem wird geraten, nur über Dinge zu schreiben, die er kennt. Das Ärgerliche ist bei vielen von uns, daß wir in den jungen Jahren unseres Lebens alles schon zu kennen glauben – oder, um es zweckdienlicher zu formulieren, daß uns das Ausmaß unserer Ahnungslosigkeit nicht bewußt ist. Ahnungslosigkeit ist mehr als nur ein weißer Fleck auf der mentalen Landkarte eines Menschen. Sie hat Konturen und Zusammenhang, und ich bin überzeugt, daß sie auch nach eigenen Gesetzen funktioniert. Daher sollten wir dem Grundsatz, über das zu schreiben, was wir kennen, vielleicht als logische Ergänzung anfügen, daß wir mit unserer Ahnungslosigkeit und ihren Möglichkeiten, eine gute Story zu ruinieren, vertraut werden müssen. Opernlibrettos, Filmen und Fernsehspielen läßt man alle möglichen Detailfehler durchgehen. Ein Schriftsteller, der zu viel Zeit vor der Röhre verbringt, kann zu der Überzeugung kommen, daß es sich in der Literatur ähnlich verhält. Aber weit gefehlt. Obwohl es nicht schlechthin verkehrt sein mag, das zu erfinden, was man nicht weiß oder zu recherchieren zu faul ist (und ich tue es ja auch weiterhin), gelangen falsche Fakten doch öfter, als einem lieb ist, an empfindliche Textstellen, an denen sie einen Unterschied machen und den mageren Charme verlieren, den sie außerhalb des Story-Kontexts vielleicht besessen haben. Als Beleg ein Beispiel aus «Entropie». Bei der Figur des Callisto schwebte mir eine Art daseinsmüder, mitteleuropäischer Weltschmerz-Effekt vor, und so brachte ich die grippe espagnole zum Einsatz, die ich im Rückseitentext einer Plattenhülle von Strawinskys L’histoire du soldat entdeckt hatte. Ich muß mir darunter so etwas wie eine spirituelle Malaise im Gefolge des Ersten Weltkriegs vorgestellt haben – bis ich später rausfand, daß der Begriff nichts andres meint als das, was er sagt: Spanische Grippe. Die Anspielung, die ich entlehnt hatte, bezog sich auf etwas so Konkretes wie die weltweite Virus-Epidemie, die 1918/19 wütete.
Die Lektion, offensichtlich und doch immer wieder übersehen, ist einfach die, daß man Fakten überprüfen soll – vor allem solche, die einem zugelaufen sind, sei es gesprächsweise oder auf Plattentüten. Schließlich sind wir erst kürzlich in eine Ära eingetreten, in der prinzipiell jeder an einer unvorstellbaren Masse von Informationen teilhaben kann, wenn er nur ein paar Tasten an einem Terminal drückt. Es gibt keine Entschuldigungen mehr für dumme kleine Fehler, und ich hoffe, daß damit auch die Scheu zunimmt, einfach irgendwo abzuschreiben und zu hoffen, daß es keiner merkt.
Literarischer Diebstahl, das faszinierende Thema! Wie im Strafgesetzbuch, so gibt es auch hier Abstufungen. Sie reichen vom Plagiat zur bloßen Anregung, aber alle sind sie Zeichen einer falschen Strategie. Wenn man allerdings glaubt, daß es ohnehin nichts Neues gibt und daß alle Autoren bei irgendwelchen Quellen «borgen», dann bleibt immer noch die Frage der Kenntlichmachung dieser Quellen. Ich selbst konnte mich erst bei «Unter dem Siegel» (1959) dazu bringen, dem Ahnvater aller Reiseführer, Karl Baedeker, meinen – wenn auch versteckten – Dank für sein Ägypten-Handbuch aus dem Jahr 1898 abzustatten, das die wichtigste «Quelle» für meine Erzählung war.
Ich entdeckte dieses Buch im Co-op-Buchladen der Cornell University. Den ganzen Herbst und Winter über hatte ich an einer akuten Schreibhemmung gelitten. Ich besuchte ein Creative-Writing-Seminar, das von Baxter Hathaway geleitet wurde. Da ich das Studium, nach einer Unterbrechung, erst in diesem Semester wieder aufgenommen hatte, war er eine unbekannte Größe für mich, was mir angst machte. Der Kursus lief schon eine ganze Weile, und noch immer hatte ich nicht das geringste abgeliefert. «Nun mach schon», redeten mir die anderen zu, «er ist ein netter Bursche, mach dir mal keine Sorgen». Wollten sie mich verarschen, oder was? Die Sache wuchs sich zu einem wirklichen Problem aus. Schließlich, als das Semester etwa halb vorbei war, brachte mir die Post eine dieser Karten mit einer Juxzeichnung auf der Vorderseite. Sie zeigte eine über und über mit Graffiti bedeckte Klokabine mit dem Text: «Du hast lang genug geübt» – und wenn man die Karte aufklappte: «Jetzt schreib!» Darunter die Unterschrift «Baxter Hathaway». Ob ich, als ich die grünen Lappen an der Kasse dafür hinlegte, unterbewußt schon die Absicht hatte, diesem verblichenen roten Bändchen das Rohmaterial für eine Erzählung zu entlehnen?
Konnte Willy Sutton einen Safe ausrauben? Ich räuberte im Baedeker, kupferte mir alle Einzelheiten einer Zeit und einer Weltgegend ab, die ich nie kennengelernt hatte, bis hinunter zu den Namen des diplomatischen Korps. Wer könnte einen Namen wie Khevenhüller-Metsch denn auch erfinden? Um zu verhüten, daß andere von dieser Technik ebenso in Bann geschlagen werden, wie ich es damals war und heute noch bin, möchte ich laut und vernehmlich sagen, daß es eine lausige Methode ist, mit einer Geschichte anzufangen. Die Schwierigkeit ist hier die gleiche wie bei «Entropie»: man geht von etwas Abstraktem aus – einem Begriff der Thermodynamik oder den Einzelheiten eines Reiseführers – und versucht erst später, die dazu passenden Figuren und Ereignisse zu entwickeln. Eine solche Strategie ist schlicht ass backwards, wie wir in der Zunft sagen, «arschverkehrt». Ohne ein Fundament in der menschlichen Realität wird man höchstwahrscheinlich wieder nur eine Lehrlingsarbeit zustande bringen, wofür «Unter dem Siegel» den unerfreulichen Beweis liefert.
Ich war auch in der Lage, auf subtilere Weise zu klauen, oder sagen wir: mich anregen zu lassen. Ich hatte in meiner frühen Jugend eine Menge von Spionage- und Agentenromanen gelesen, vor allem die von John Buchan. Das einzige Buch von ihm, an das man sich heute noch erinnert, ist Die neununddreißig Stufen, aber er schrieb noch ein halbes Dutzend andere, die genauso gut oder besser sind. Sie alle gab es in der Bücherei meiner Heimatstadt zu leihen, ebenso E. Phillips Oppenheim, Helen MacInnes, Geoffrey Household und viele andere. Die schleichende Wirkung dieser Lektüre war, daß sich in meinem unkritischen Kopf eine seltsam zwielichtige Vorstellung vom Ablauf der Geschichte vor den beiden Weltkriegen bildete. Politische Entscheidungsprozesse und historische Dokumente spielten darin eine weit geringere Rolle als herumschleichende Spione, falsche Identitäten und psychologische Verwirrspiele. Sehr viel später stieß ich auf zwei andere wichtige Einflüsse, Edmund Wilsons To the Finland Station (Der Weg nach Petersburg) und Machiavellis Der Fürst, aus denen ich die interessante Frage destillierte, die im Hintergrund der Erzählung steht – ist die Historie persönlich oder statistisch? Meine Lektüre schloß zu dieser Zeit auch viele Viktorianer ein, wodurch der Erste Weltkrieg in meiner Phantasie die Gestalt jenes attraktiven Ärgernisses annehmen konnte, das spätpubertären Gemütern so teuer ist: der apokalyptische Showdown.
Ich möchte das Thema beileibe nicht herunterspielen. Unser aller Alptraum, die Bombe, steckt natürlich auch mit drin. Er war 1959 schlimm genug und ist heute ungleich schlimmer, da die Gefahrenpotentiale unaufhörlich angewachsen sind. Weder damals noch heute wurde er im Unbewußten geträumt. Abgesehen von jener Sukzessiongemeingefährlicher Irrer, die seit 1945 an der Macht sind – eingeschlossen die Macht, etwas dagegen zu unternehmen –, hat fast der ganze Rest von uns armseligen Schafen nie etwas anderes empfunden als schlichte, elementare Angst. Wir alle haben auf diese schleichende Eskalation unserer Hilflosigkeit und unseres Schreckens mit den wenigen Mitteln reagiert, die uns zur Verfügung stehen, vom Versuch, nicht drüber nachzudenken, bis zur Flucht in den Wahnsinn. Irgendwo auf diesem Spektrum der Machtlosigkeit befindet sich das Schreiben von Literatur darüber – gelegentlich, wie hier, versetzt in eine farbigere Welt und Zeit.
Roadrunner