Housesitter

Cover

Für Nina, weil ich ihr gern Angst mache!

Komm herein, sei unser Gast, fühl dich wie zu Hause.

Still verharrte er in seinem Versteck und betrachtete das Licht aus einiger Entfernung, so wie er es zeit seines Lebens getan hatte. Der Abstand war ihm wichtig. Oft genug hatte das Licht sich verändert, sobald er eingetaucht war, hatte seine Wärme verloren. Und dann war nichts mehr geblieben von dem sicheren Gefühl, endlich ein Zuhause gefunden zu haben. Das Licht barg ebenso Chance wie Gefahr, war zugleich Verlockung und Vernichtung. Das hatte er schon früh begriffen, in einer der vielen, langen und einsamen Nächte, in denen er auf den Glaskegel einer Straßenlaterne vor seinem Fenster gestarrt und Insekten beobachtet hatte, die immer wieder ins Licht flogen, obwohl sie darin ihren Tod fanden.

Jetzt bewegte sich etwas am Fenster des Hauses. Es war die Frau. Eine große Brünette mit warmem Lächeln und braunen Augen. Die wenigen Male, die er ihr nah genug gekommen war, hatte er gespürt, wie gut sie ihm tun würde. Es umgab sie etwas, für das ihm die Worte fehlten. Manche Frauen hatten es, andere nicht. Mareike hatte es gehabt. Aber an Mareike durfte er jetzt nicht denken, denn wenn diese Erinnerung erst seinen Kopf füllte, übernahm etwas anderes in ihm die Führung, etwas, das er nicht kontrollieren konnte.

Er sah die Brünette zurückkommen. Sie stellte etwas auf dem runden Tisch im Esszimmer ab, und er beobachtete, wie

Licht im Inneren eines Hauses ließ alles, was sich draußen in der Dunkelheit abspielte, unsichtbar werden. Daher konnte die Brünette ihn nicht sehen, befand sich selbst für ihn aber auf dem Präsentierteller. So konnte er sie in aller Ruhe beobachten, wie sie ganz nah an die Scheibe herantrat und in die Dunkelheit hinausschaute. Ihre Augen wurden zuerst größer, dann verengten sie sich, ganz so, als suche sie etwas, schließlich richtete sie sich auf, verschränkte in dieser typisch weiblichen Art schützend die Arme vor dem Brustkorb und sagte etwas über ihre rechte Schulter hinweg. Einen Moment später trat der Mann neben sie.

Ein mittelgroßer, schlanker Typ, mit kurzem braunen Haar und magerem Gesicht. Ein Gesicht, das er sich gemerkt hatte und nie wieder vergessen würde. Der Mann legte der Brünetten einen Arm um die Taille und schaute mit ihr hinaus. Plötzlich zuckte er zusammen, und die Brünette erschrak heftig. Der Mann brach in Lachen aus, und bevor sie ihm einen spielerischen Schlag versetzen konnte, verschwand er aus dem Fensterausschnitt. Sie rief ihm etwas hinterher. Man musste nicht Lippen lesen können, um zu wissen, dass es ein Schimpfwort war. Die Brünette verharrte noch einen Moment am Fenster, löste dann die Bänder der Vorhänge und zog sie zu.

Sperrte ihn aus.

Er war verwirrt.

Auf gar keinen Fall hatte sie ihn gesehen. Aber woher rührte ihre Sorge? Hatte sie etwas gespürt? Vielleicht war ihr in diesem Moment klargeworden, dass jeder sie von draußen in dem hell erleuchteten Zimmer sehen konnte. Mitunter belebte ein

Auf halber Strecke zum nächsten Fenster presste er sich gegen den Boden, machte sich ganz klein und verharrte.

Er hatte etwas gehört.

Leise Schritte auf Betonpflaster.

Im nächsten Moment kam ein alter Mann die Straße hinunter. Er führte eine hässliche kleine Promenadenmischung an der Leine. Der Alte bewegte sich wie im Halbschlaf, und auch der Hund machte einen trägen Eindruck. Aber Hunde durfte man niemals unterschätzen, er war bereits dreimal von einem Hund aufgestöbert und verscheucht worden. Dieser hier bemerkte ihn jedoch nicht. Am Pfeiler der Zufahrt blieb er stehen, um zu markieren. Sein Herrchen zog ungeduldig an der Leine, und einen Moment später verschwanden beide in der Nacht.

Hinter dem Fenster, unter dem er jetzt hockte, lag die Küche. Hier gab es keinen Vorhang, den man zuziehen konnte. Dafür zwei Regalbretter, die zwischen den Laibungen angebracht waren, um darauf in kleinen Porzellantöpfen Küchenkräuter zu ziehen. Die Pflanzen störten! Er würde die Brünette nur sehen können, wenn sie direkt vor dem Fenster stand. Dabei waren es genau diese Bilder, die er sich erhofft hatte. Tagsüber war es hier langweilig gewesen, aber da er nicht wusste, wann genau die beiden zum Flughafen aufbrechen würden, hatte er

Er zog sich in die Büsche zurück, ließ sich nieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen den dünnen Stamm einer jungen Eibe, zog die Oberschenkel heran und beobachtete. Ließ das Licht auf sich wirken, verlor sich darin und merkte nicht einmal, wie die Zeit verging.

Plötzlich öffnete sich die Haustür zu dem kleinen Einfamilienhaus in der Gartenstraße im Hamburger Stadtteil Bergedorf. Schnell verließ er seinen Platz, drückte sich tief auf den Boden und betrachtete die Szene aus der Ameisenperspektive.

Die Brünette trat zuerst heraus. Sie kramte in ihrer großen Handtasche, wahrscheinlich ihr Handgepäck. Sie war elegant und sportlich gekleidet: Lederstiefel mit hohem Absatz, die bis unters Knie reichten, dazu einen kurzen schwarzen Rock und eine enganliegende Lederjacke. Das Haar fiel ihr auf die Schultern. Er meinte, ihr teures Parfüm riechen zu können.

Ihr Freund trat einen Moment später heraus, stellte zunächst ihren und dann seinen Koffer auf den Gehweg. Schließlich zog er die Tür hinter sich zu und schloss ab.

Auf dem Weg zum Wagen kamen sie ganz nah an ihm vorbei. Er drückte sich noch tiefer gegen den Boden und wandte sein Gesicht ab, weil er befürchtete, es könne das Licht der Straßenlaterne reflektieren.

Die Plastikrollen der Koffer waren entsetzlich laut. Keine zwei Meter von ihm entfernt rollten sie vorbei. Erst als er das leise Piepen hörte, mit dem der Mann das Auto entriegelte, hob er den Kopf weit genug, um die beiden sehen zu können. Der Mann öffnete den Kofferraum des Wagens und lud beide Koffer ein. «Bereit für deinen ersten Urlaub?», fragte die Brünette.

Er lag da im Dreck und dachte darüber nach, es sofort zu tun. Nicht noch zwei Wochen zu warten. Ihm einfach den Kopf zu zertrümmern, das wäre mit einem einzigen harten Hieb getan. Sie bewusstlos zu schlagen und beide in den Kofferraum zu stecken. Würden die Nachbarn etwas mitbekommen? Was, wenn sie schrie? Dieses Was-wäre-wenn lag ihm nicht, er bekam Kopfschmerzen, sobald er zu intensiv über etwas Bestimmtes nachdachte. Die Dinge mussten gleichmäßig und langsam ablaufen, ohne Überraschungen. Außerdem sah sein Plan einen anderen Ablauf vor, und er würde auf das Schönste verzichten, wenn er voreilig handelte.

Bevor der Mann in den Wagen stieg, blieb er noch einmal stehen und sah zum Haus zurück. Seine Augen verengten sich misstrauisch. Was dachte er? Hatte er Angst, dass in seiner Abwesenheit etwas geschehen könnte mit seinem Zuhause?

Schließlich stieg er ein, startete den Motor, und der Wagen fuhr in die Nacht davon.

Er wartete noch, bis das Motorengeräusch vollkommen verklungen war. Dann wartete er noch etwas länger, für den Fall, dass ein Nachbar vom Lärm des Autos oder der Koffer aufgewacht und ans Fenster getreten war. Erst als er langsam auskühlte, drückte er sich mühsam vom Boden hoch und ging auf die Haustür zu.

Bevor er sich Schloss und Alarmanlage widmete, drehte er sich noch einmal um und wünschte den beiden in Gedanken einen guten Flug.

Vor allem aber eine heile Rückkehr.

«Meine sehr verehrten Fluggäste, über Hamburg liegt derzeit eine Gewitterzelle. Wir hatten gehofft, sie würde bis zur Landung weitergezogen sein, doch sie scheint Gefallen an der Hansestadt gefunden zu haben. Die Landung wird daher etwas unruhig werden, es besteht aber kein Grund zur Sorge.»

Die Stimme des Piloten aus den Bordlautsprechern klang vollkommen ruhig. Thomas Bennett war weit davon entfernt, sich Sorgen zu machen.

«Bitte stellen Sie nun Ihre Sitze in eine aufrechte Position, klappen Sie die Tische vor sich hoch und schnallen Sie sich an.»

Das Flugzeug begann zu wackeln und zu ruckeln. Unter den zweihundert Rückreisenden brach Unruhe aus. Hektisch wurde an Gurten und Sitzen gezerrt, ohnehin schon genervte Mütter fuhren quengelnde Kinder an, eine ältere Dame kam aus der Toilette und schien vergessen zu haben, wo sich ihr Sitz befand. Aus dem Bund ihrer bequemen Reisehose hing das violette Unterhemd heraus. Die Vierergruppe knapp zwanzigjähriger Jungs, bei denen nicht ganz klar war, ob sie angetrunken waren oder einfach nur gut gelaunt, und die sich bereits eine Standpauke einer Stewardess eingehandelt hatten, johlte auf, einer machte die Geräusche eines abstürzenden Flugzeuges nach.

Thomas Bennett beugte sich über den Gang und stupste den jungen Mann an der Schulter an.

«Lass das mal lieber, die Kinder sind so schon verängstigt – und meine Freundin auch. Sie hasst Landungen.»

Eben hatte der junge Mann noch gescherzt und gelacht, wenn auch auf eine gehässige Art und Weise, doch als er

«Sonst was, Alter? Bist du hier der Sheriff, oder wie?»

Thomas hatte nicht damit gerechnet, so angefahren zu werden. Er hatte freundlich, fast schon ein wenig flapsig gesprochen. Saskia neben ihm krallte sich panisch an den Armlehnen fest.

Er wusste nicht, was er erwidern sollte, und war froh, als eine der Flugbegleiterinnen den jungen Mann nachdrücklich um Ruhe bat. Mit Schwung klappte sie das Tischchen vor ihm hoch und bedachte ihn mit einem einschüchternden Blick.

Kaum ging sie weiter, formte der junge Mann mit der Hand eine Waffe, legte auf Thomas an und tat, als würde er abdrücken. Dabei grinste er überheblich. Dann beugte er sich ein Stück vor und machte in Richtung Saskia eine anzügliche Bewegung mit der Zunge.

Saskia legte Thomas eine Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. Ein wortloses «Lass es gut sein». Zum Glück. Thomas hätte ohnehin nicht gewusst, wie er hier im Flieger darauf reagieren sollte.

Die Mallorcabräune nach zwei Wochen unter der Mittelmeersonne stand ihr ausnehmend gut. Ihre Haut hatte einen Bronzeton angenommen, und ihr brünettes Haar war ein wenig heller geworden. Thomas hatte sie auf Mallorca beim Stand-up-Paddling beobachtet, sein Surfer Girl im knappen Bikini, anscheinend schwerelos auf dem Wasser, den Blick in die Weite gerichtet, eingerahmt vom goldenen Licht des Sonnenunterganges. Das nasse Haar hatte sie noch schlanker und irgendwie auch verletzlicher wirken lassen, und Thomas hatte sich wie immer gefragt, ob er in der Lage sein würde, sie zu beschützen.

«Tut mir leid», sagte er leise in ihr Ohr, damit der Blödmann auf der anderen Seite des Ganges es nicht mitbekam. «Wenn wir ausgestiegen sind, töte ich ihn.»

«Aber lass es wie einen Unfall aussehen.»

«Er wird in die Flugzeugturbine stolpern. Niemand macht meine Frau ungestraft an.»

«Meine Frau?», wiederholte sie, was er gesagt hatte, und Thomas spürte, wie die Situation sich veränderte, wie aus Flapsigkeit Ernst wurde, er verstand nur nicht, warum.

«Freundin. Ich meinte natürlich Freundin.»

Jetzt verschwand auch der letzte Rest ihres Lächelns.

«Natürlich.»

Das Flugzeug legte sich in eine Rechtskurve, die Triebwerke wurden für einen Moment lauter. Dann gab es einen heftigen Ruck, jemand schrie leise auf, und Saskia krallte sich an Thomas’ Arm fest. Die Lichter erloschen.

«Ich töte auch den Piloten, wenn er damit nicht aufhört», scherzte er.

Erst als das Flugzeug wieder einigermaßen ruhig flog, löste Saskia ihre Finger aus seinem Fleisch. Die Abdrücke ihrer Nägel zeichneten sich wie rote Halbmonde auf seinem Unterarm ab.

«Ich hasse das», stieß sie mit der angehaltenen Atemluft aus.

«Ich erinnere dich ungern, aber du wolltest unbedingt fliegen.»

Saskia atmete tief durch. «Eigentlich hatte ich es für zu Hause geplant», begann sie und beugte sich nach unten zu der kleinen Tasche, die zwischen ihren Füßen stand. «Aber in Anbetracht der Tatsache, dass wir beide gleich sterben werden, ist jetzt vielleicht doch der bessere Zeitpunkt.»

«Ein Geschenk?», fragte Thomas und spürte, wie sein Hals plötzlich trocken wurde. Er schluckte mühsam.

Vor zwei Monaten war Saskia zu ihm in sein Haus gezogen. Die Bewährungsprobe eines gemeinsamen Alltags hatten sie bestanden, auch wenn sie sich wegen der vielen Arbeit in seiner Firma nur abends sahen. Und dennoch, die Zahnbürste neben seiner und die langen Haare im Waschbecken und der Dusche waren nicht zu übersehende Zeichen für große Veränderungen. Zum ersten Mal in seinem Leben war es ihm ernst mit einer Beziehung, dennoch wäre er nicht auf die Idee gekommen, Saskia einen Antrag zu machen. Dazu war es zu früh, und es sprach aus seiner Sicht nichts dagegen, einfach so zusammenzuleben, ohne Trauschein und dieses ganze Brimborium. Sie hatten auch nie darüber gesprochen, nicht einmal im Spaß. Hatte er etwas übersehen? Hatte Saskia sich für ihren ersten gemeinsamen Urlaub einen Antrag gewünscht? Hatte sie deshalb so vehement darauf bestanden? Selbst wenn er von allein darauf gekommen wäre, hätte Thomas sie niemals am Strand dieser Partyinsel gefragt, ob sie seine Frau werden wollte. Das war kitschig und hatte keinen Stil.

«Mach es auf», sagte sie.

Bevor er dazu kam, ruckelte das Flugzeug noch einmal heftig, und ein Blitz erhellte die dunkle Kabine. Saskia presste ihre Unterarme auf die Lehnen, ihre Hände verkrampften sich. Thomas verschränkte seine Finger in ihren.

«Keine Angst, ich bin bei dir.»

Er machte sich daran, das Geschenk auszupacken. Warum nur fiel es ihm so schwer? Warum hätte er es ihr am liebsten wieder zurückgegeben und auf den richtigen Zeitpunkt verwiesen?

Es war ein gelbes Maßband, wie es von Schneidern benutzt wurde.

Thomas nahm es aus dem kleinen Kästchen, rollte ein paar Zentimeter ab und starrte es verständnislos an.

«Was ist das?», fragte er.

«Ein Maßband», sagte Saskia.

«Ja, sicher … aber … wofür?»

«Damit du meinen Bauchumfang messen kannst. Jeden Tag. Die nächsten sieben oder acht Monate.»

«Nein, du darfst nicht so schwer heben!»

Thomas sprang vor, schnappte sich den Koffer, der auf dem Gepäckband langsam vorbeizockelte, und wuchtete ihn auf den Gepäckwagen.

«Ich bin doch nicht krank», sagte Saskia.

«Trotzdem, wir müssen ja kein Risiko eingehen.»

Sie zog seinen Kopf zu sich hinunter und küsste ihn. Die umstehenden Reisenden beobachteten sie, und es war Thomas ein wenig unangenehm, denn der Kuss war sichtbar leidenschaftlich.

«Ich liebe dich», flüsterte sie ihm ins Ohr.

Thomas kam nicht dazu, ihre Liebeserklärung zu erwidern, denn auf dem Band tauchte nun sein eigener Koffer auf. Er stellte ihn zu Saskias auf den Gepäckwagen, und sie gingen in Richtung Ausgang. Da der Flug spätabends um halb elf gelandet war, war es in der Ankunftshalle relativ leer und ruhig.

Thomas dagegen war unruhig. Früher oder später würde Saskia ihn nach seinen Gefühlen fragen, das wusste er, und er war verzweifelt auf der Suche nach den richtigen

Schwanger.

Ein Kind.

Er würde Vater werden.

Thomas wartete auf den Freudenschub, der ihn lauthals auflachend Saskia um den Hals fallen und sie mit Küssen überhäufen lassen würde. Nichts davon hatte er bisher getan. Er war schweigsam gewesen seit der Nachricht, und er war Saskia dankbar dafür, dass sie ihn in Ruhe gelassen hatte. Wahrscheinlich wusste sie es ohnehin – oder besser, sie glaubte, es zu wissen. Denn ein Grund dafür, warum er so erschüttert war, war so tief in seinem Inneren verborgen, dass auch Saskia ihn niemals würde ergründen können. Thomas hatte nicht vor, jemals mit irgendjemandem darüber zu sprechen – auch nicht mit Saskia.

Vor ihnen glitten die Glastüren auseinander und gaben den

«Kein Unterschied zu Mallorca», konstatierte Thomas.

Ein Taxifahrer eilte auf sie zu, doch Thomas schüttelte den Kopf. Sie waren mit dem eigenen Wagen hier, er stand in Parkhaus fünf. Hier zu parken war zwar teuer, aber Thomas hatte seinen fast neuen Wagen nicht zwei Wochen lang unbeobachtet vor der Haustür stehen lassen wollen. Im Parkhaus wurde er wenigstens videoüberwacht.

Thomas musste am Zebrastreifen anhalten, weil ein Taxi mit hoher Geschwindigkeit rücksichtslos vorbeirauschte.

Von hinten rammte ihm jemand einen Kofferwagen in die Hacken.

«Sieh an, der Sheriff und seine ängstliche Miezekatze.»

Es war die Vierergruppe aus dem Flugzeug. Der junge Mann, den Thomas angesprochen hatte, baute sich vor ihm auf. Er war größer und kräftiger und roch nach Alkohol.

«Und? Immer noch ’ne große Klappe?»

Die Jungs umringten sie. Thomas spürte Angst in sich aufsteigen. Es war niemand in Sicht, der ihnen helfen würde.

«Tut mir leid, wir wollen keinen Ärger», sagte er.

«Nee, natürlich nicht, du Flachwichser.» Der Junge wandte sich Saskia zu. «Und, Miezekatze? Besorgt er es dir richtig? Oder haste mal Bock auf einen richtigen Mann?»

Erneut machte er diese widerliche Geste mit der Zunge.

Saskia schlug ihm ansatzlos mit der flachen Hand ins Gesicht, dass es nur so klatschte.

«Du blöde Kuh!», stieß der Junge aus.

«Hey, jetzt ist aber …»

«Was willst du?», schrie der Junge, fuhr zu Thomas herum, packte den Griff des Kofferwagens und rüttelte daran.

«Gibt es Probleme?»

Die Stimme kam von der Eingangstür des Terminals. Dort standen zwei Securitymänner in schwarzer Uniform.

Sofort ließ der Junge den Griff los und entfernte sich von Thomas und Saskia.

«Nee, alles cool, keine Probleme», sagte er.

«Na, dann verzieht euch.»

Das taten die Jungs, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Thomas sah ihnen nach. Sein Herz raste und seine Hände klammerten sich noch immer an den Griff des Wagens.

«Verdammte Arschlöcher», schimpfte Saskia neben ihm.

Sie schien überhaupt nicht verängstigt zu sein, nur sehr wütend.

«Bist du wahnsinnig», fuhr Thomas sie an. «Solche Situationen löst man nicht mit Gewalt. Das hätte leicht eskalieren können.»

 

Es war still im Wagen. Nur das gleichmäßige Brummen des Motors war zu hören.

Saskia war vollkommen erschöpft und nickte während der Fahrt immer wieder ein. Ihr Kopf sackte zur Seite gegen die Scheibe, sie wachte auf, blickte verwirrt um sich und schlief wieder ein. Im Schlaf zuckten ihre Hände nervös und legten sich auf ihren Bauch, so als wolle sie etwas festhalten.

Die Straßenlaternen waren bereits dunkel, als Thomas in die Gartenstraße einbog. Wie immer waren die Straßenränder rechts und links zugeparkt. Die Grundstücke waren in dieser Gegend der Stadt teuer und deshalb klein, einen Stellplatz besaßen die meisten, aber für den zweiten Wagen reichte es nicht, der wurde eben am Bordstein geparkt. Thomas hoffte, einen Platz direkt vor dem Haus zu bekommen, denn in der Auffahrt stand Saskias Wagen. Als sie sich seinem kleinen modernen Neubau näherten, bemerkte er das Licht hinter den Fenstern und wunderte sich. Dann fiel ihm die automatische Lichtsteuerung ein, die zur Alarmanlage gehörte und den Eindruck erwecken sollte, die Bewohner seien zu Hause. Zwar war bei Thomas noch nicht eingebrochen worden, aber man konnte ja nie wissen. Seine direkten Nachbarn hatte er darüber informiert, dass er zwei Wochen in den Urlaub fahren würde, trotzdem aber Licht im Haus brannte. Wahrscheinlich wäre es ihnen ohnehin egal gewesen. Links wohnte ein junges Pärchen, ziemlich hip, die waren eigentlich nie zu Hause, und wenn, dann feierten sie Partys. Sie machte irgendwas mit Mode, er war Werbefachmann. Rechts wohnte ein alter Mann, der einzige verbliebene «Ureinwohner» der Straße. Er war fast taub und außerdem ein echter Griesgram. Thomas nahm

Die Stadt konnte anonym sein, wenn sie es wollte. Und hier wollte sie es.

Der Stellplatz vor seiner Einfahrt war frei. Thomas musste sich Mühe geben, seinen Wagen in die enge Lücke zu manövrieren. Dabei wachte Saskia auf. Verwirrt sah sie sich um.

«Sind wir schon da?», fragte sie mit schlaftrunkener Stimme und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund.

Thomas stellte den Motor ab.

«Wie geht es dir?» Er nahm ihre Hand.

«Ganz gut. Das Kind kommt noch nicht sofort, denke ich.»

«Sehr witzig!»

Sie sah ihn nicht an, ließ ihren Blick über die dunkle Straße gleiten. Auf ihrer Stirn erschienen ein paar Sorgenfalten.

«Warum können die die Straßenlaternen nachts nicht anlassen?»

Es war mehr ein Vorwurf als eine Frage. Saskia hatte Angst vor der Dunkelheit. In ihrer Kindheit war in ihr Elternhaus eingebrochen worden, und obwohl sie sich kaum an etwas erinnern konnte, war die Angst doch geblieben. Sie war überaus erfreut gewesen, als sie bei ihrem Einzug vor zwei Monaten festgestellt hatte, dass Thomas über eine Alarmanlage verfügte.

«Einbrüche finden tagsüber statt», sagte Thomas, der die Statistiken kannte. «Wenn du hinten im Garten arbeitest, räumen sie dir vorn die Wohnung aus. Auch Einbrecher brauchen ihren Nachtschlaf.»

«Na toll! Da fühle ich mich ja gleich viel wohler.»

Thomas wollte etwas sagen, möglichst etwas Mutiges nach der Sache am Flughafen, aber ihm fielen nicht die richtigen Worte ein.

Thomas stieg aus und holte ihren Koffer aus dem Kofferraum.

Saskia wartete vor der Tür auf ihn. Thomas bekam das Türschloss nicht sofort auf, etwas schien im Inneren zu haken. Er zog den Schlüssel heraus, überprüfte, ob es der richtige war, und steckte ihn wieder hinein. Abermals hakte er.

«Was ist denn?», fragte Saskia.

«Ich weiß nicht … irgendwie …»

Endlich gab die Sperre nach, und der Schlüssel ließ sich drehen.

«Na also.» Thomas öffnete die Tür und ließ Saskia vorangehen.

Noch auf der Schwelle blieb sie abrupt stehen. «Was ist das denn für ein Geruch?», fragte sie und rümpfte die Nase.

Thomas mühte sich ab, Saskias schweren Koffer über die drei Stufen zu wuchten. Als er im Flur stand, schnupperte er ebenfalls.

«Ich weiß nicht, was du meinst.»

«Hier riecht es anders als sonst.»

«Ja, abgestanden. Zwei Wochen wurde nicht gelüftet.»

«Schon möglich», nuschelte Saskia. «Ich dusche noch schnell und gehe dann sofort ins Bett.»

«Okay, ich hole meinen Koffer.»

 

Saskia hatte das Gefühl, den Körper einer Siebzigjährigen die Treppe hinauf ins Obergeschoss zu schleppen. War das wirklich nur die Müdigkeit nach einem langen Tag, oder machte sich die Schwangerschaft jetzt schon bemerkbar?

Auf ihrem Handy befanden sich die Beweise, die sie Thomas noch gar nicht gezeigt hatte. Fotos von dem Schnelltest, ein kurzes Video, wie sich der Farbstreifen veränderte. Der erste Beweis ihrer Schwangerschaft, das erste Lebenszeichen ihres Babys. Kein körniges schwarzweißes Ultraschallbild, nein, ein in dem kleinen Bad ihres Hotelzimmers gedrehtes Video mit Palmwedeln im Hintergrund. Der Auftakt eines neuen Lebens.

Zwar hatte sie nicht geplant, schwanger zu werden, aber irgendwie erschien ihr der Zeitpunkt richtig. Seit einigen Monaten vertrug sie die Pille nicht mehr und hatte auf die Temperaturmessmethode umgestellt. Vielleicht hatte sie nicht richtig aufgepasst, vielleicht hatte die leichte Grippe die Messungen verfälscht, wie auch immer, es gab keine Zufälle im Leben, alles folgte einem vorbestimmten Plan, und dieser Plan sah nun einmal vor, dass sie und Thomas Eltern werden würden.

Jetzt fragte sie sich allerdings, ob Thomas bereit war dafür.

Ein wenig enttäuscht war Saskia von seinem Verhalten am Flughafen schon. Sie wusste ja, wie wenig er von Waffen, Gewalt und körperlichen Auseinandersetzungen hielt. Dass er in einer konkreten Bedrohungssituation aber nicht in der Lage war, sie zu beschützen, machte sie doch nachdenklich. Sein rüdes Verhalten danach verstand sie zwar, billigte es aber nicht. Er hatte sie angefahren, um sich selbst besser zu fühlen, um ihr zu verdeutlichen, dass sie einen Fehler gemacht hatte, nicht er.

Männer. Nicht immer einfach.

Im Obergeschoss angekommen, verharrte Saskia auf dem

Die Tür zum Schlafzimmer stand einen Spaltbreit offen. Saskia starrte die Dunkelheit in diesem Spalt an und fragte sich, ob die Tür auch schon offen gestanden hatte, als sie das Haus verlassen hatten, und plötzlich erinnerte sie sich daran, dass sie sich an jenem Abend vor zwei Wochen beobachtet gefühlt hatte. Der Eindruck, jemand halte sich im Garten auf und gaffe durch die beleuchteten Fenster hinein, war sehr stark gewesen, und sie hatte Thomas darauf angesprochen. Wie immer hatte er ihre Furcht nicht ernst genommen und sie aus Spaß erschreckt. Und doch, da war jemand gewesen, Saskia war sich sicher.

Der Geruch, die Tür … schon wollte sie nach Thomas rufen, aber der war ja noch einmal zum Wagen hinausgegangen, also ließ sie es sein.

Sie sparte sich den Weg ins Schlafzimmer und zog die schmutzige Kleidung gleich im Bad aus. Dann stellte sie die Dusche an, wartete darauf, dass das Wasser heiß wurde, und warf einen Blick in den Spiegel. Dabei fiel ihr die Unordnung auf der gläsernen Ablage darunter auf. Sie konnte sich nicht erinnern, das Bad so hinterlassen zu haben. Einige Dinge fehlten, die befanden sich in den Koffern, aber die, die zurückgeblieben waren, standen anders als sonst.

Saskia drängte ihre Panik zurück. Womöglich hatte sie das Chaos auf der Ablage selbst hinterlassen. Vor zwei Wochen war es zeitlich eng gewesen, sie war direkt von der Spätschicht gekommen.

Saskia betrat die Dusche, regulierte das Wasser noch ein wenig wärmer, trat unter den Strahl und ließ ihn auf ihren

Wahrscheinlich hatte Thomas die Haustür zugeworfen.

Thomas ging im Dunkeln durch das große Wohnzimmer zur Terrassentür, um frische Luft hereinzulassen. Saskia hatte recht, es roch muffig im Haus, aber das war nach vierzehn Tagen ohne Bewohner ja auch kein Wunder. Als er die Tür aufzog, bemerkte er, dass der weiße Kunststoffgriff schmutzig war. Schwarze Fingerabdrücke hafteten daran. Am Tag vor dem Urlaub hatte Thomas noch den Rasen gemäht und den Mäher gereinigt, wahrscheinlich war er danach mit schmutzigen Händen hereingekommen. Normalerweise war seine Putzfrau gründlich, aber er hatte sie für drei Wochen in den Urlaub geschickt.

Thomas wischte die Spuren ab, trat auf die Terrasse hinaus und betrachtete den kleinen Garten, der durch hölzerne Sichtschutzzäune, Büsche und eine Buchenhecke zu den Nachbargrundstücken hin abgegrenzt war. Der Rasen war lang geworden in den vierzehn Tagen, außerdem musste es ordentlich gestürmt haben, denn auf der Terrasse standen die Stühle anders als sonst.

Thomas befühlte die Auflagen. Sie waren feucht. Vermutlich hatte der Wind den Regen unter die Überdachung gedrückt. Hatte er die Auflagen nicht ins Haus gebracht, bevor sie aufgebrochen waren?

Thomas kehrte ins Wohnzimmer zurück, machte Licht – und erschrak! Nichts war so wie sonst – der Tisch, die Couch, die Lampen, alles war verrückt. Bücher, die sonst im Regal standen, lagen auf dem Tisch, dazwischen Geschirr, das in die Küche gehörte. Leere Wasserflaschen lagen auf dem Boden,

Einbruch, schoss es ihm durch den Kopf.

Er tastete nach seinem Handy, doch das steckte in seiner Jackentasche, und die Jacke lag im Wagen.

Also das Festnetz.

Die Ladeschale mit dem Festnetztelefon stand in der Küche.

Sieh zuerst nach Saskia, sagte er sich, riss aber gleichzeitig die Tür zur Küche auf.

Eine Bewegung. Ein Schatten.

Etwas prallte mit großer Wucht gegen seinen Kopf, der Boden wankte, die Welt wankte, in seinen Ohren kreischte es, alles wurde von einem grellweißen Licht überlagert, der Raum kippte vornüber, Thomas taumelte, fiel, bekam einen weiteren harten Schlag gegen den Schädel, und dann verschwand alles im Nichts.

 

Blut und Haar wusch er noch im Untergeschoss unter dem futuristisch gestylten Wasserhahn in der Küche ab. Als er mit den Fingern die Hautfetzen von dem metallenen Grat entfernte, schnitt er sich daran, und sein eigenes Blut mischte sich mit dem des Mannes. In konzentrischen Kreisen spülte das Wasser die Mischung in den Abfluss. Er beugte sich tief über den Hahn, hielt seinen Mund darunter und trank von dem Wasser.

Dann richtete er sich auf und stellte es ab.

Aber er hörte weiter Wasserrauschen.

Es kam von oben.

Die Brünette stand unter der Dusche.

Eine Tropfspur vom Hammer folgte ihm aus der Küche

Er zog die Schuhe aus und stieg in Socken die Treppe hinauf. Die linke hatte ein Loch, aus dem sein großer Zeh ragte. Das störte ihn, er hatte das ganze Haus nach Stopfnadeln und Garn abgesucht, jedoch nichts dergleichen gefunden. Früher hatte es so etwas in jedem Haushalt gegeben. Noch sehr genau hatte er das Bild seiner Mutter vor Augen, wie sie abends vor dem Fernseher saß und stopfte, während er das Sandmännchen schaute. Liebe Kinder, gebt gut acht, ich hab euch etwas mitgebracht. Mutter hatte diesen Satz immer leise mitgesungen.

Man lief nicht mit Löchern in den Socken herum, es gehörte sich einfach nicht!

Das Rauschen verstummte in dem Moment, da er den oberen Treppenabsatz erreichte.

Die Tür zum Bad war nur angelehnt, durch einen schmalen Spalt sah er die Brünette hinter der Glaswand hervortreten. Sie nahm ein großes weißes Handtuch von der Stange, beugte den Oberkörper vornüber und wollte sich das Haar trocken rubbeln. Doch plötzlich verharrte sie, betrachtete mit nachdenklich gerunzelter Stirn das Handtuch, hielt es sich unter die Nase und schnupperte daran.

Er hatte sich einige Male damit abgetrocknet, konnte es sein, dass sein Geruch daran haftete?

Es war interessant, sie zu beobachten. Ihr sorgenvoller Blick wanderte vom Handtuch zur Ablage unter dem Spiegel

Schließlich trat sie mit strubbeligem Haar vor den Spiegel, wischte den feuchten Beschlag mit dem Handtuch ab, ließ es zu Boden fallen, drehte sich seitlich, betrachtete sich und fuhr sich mit der Hand sanft über den Bauch. Es kam ihm so vor, als streckte sie ihren Bauch bewusst weit heraus, obwohl sie an dieser Stelle ihres Körpers genauso dünn war wie überall sonst. Eine ganze Weile stand sie dort so und streichelte sich.

Sie war makellos und wunderschön.

Plötzlich schämte er sich noch mehr für das Loch in seiner Socke und fragte sich, ob er noch genug Zeit hatte, hinunterzulaufen und die Schuhe wieder anzuziehen. Nur gehörte es sich ebenso wenig, auf dem Teppich im Obergeschoss mit Straßenschuhen herumzulaufen.

Sie nahm ihm die Entscheidung ab, indem sie sich vom Spiegel abwandte und auf die Tür zukam.

«Thomas», rief sie, «hast du hier oben …»

Dann entdeckte sie ihn.

Erstarrte, riss die Augen auf, gab ein merkwürdiges Geräusch von sich und taumelte zurück.

Er trat einen Schritt vor, den Hammer in der Hand. Warme, feuchte Luft empfing ihn, dazu ihr Geruch, dieser ganz natürliche Geruch weiblicher Haut.

Das hatte nicht den gewünschten Erfolg. Sie schrie trotzdem.

Er schloss die Tür hinter sich und drängte sie zurück.

«Willkommen daheim. Ich habe so lange auf dich gewartet!»

Es gab keine Fluchtmöglichkeit aus diesem Raum. Das Fenster war ein schmaler langer Spalt hoch oben in der Wand, sodass man von außen nicht hineinschauen konnte. Sie wich schreiend zurück bis in die Dusche, aus der sie gerade erst gekommen war.

«Nicht schreien. Jetzt wird alles gut, du bist zu Hause!»

Sie wollte sich nicht beruhigen.

Der alte Rhythmus drängte sich ihm erneut auf.

Schlag, Schlag, Pause …

Ein Rhythmus, der sich selbst gegen ihre schrillen Schreie durchsetzte, die in der gekachelten Dusche widerhallten.

Schlag, Schlag, Pause …