Anne Rice
Das Geschenk der Wölfe
Roman
Aus dem Englischen von Edith Beleites
Rowohlt E-Book
Anne O’Brien Rice wurde 1941 in New Orleans geboren. Weltberühmtheit erlangte sie vor allem mit ihrer zehnbändigen «Chronik der Vampire» um den Blutsauger Lestat de Lioncourt; Band eins wurde als «Interview mit einem Vampir» verfilmt, mit Brad Pitt und Tom Cruise in den Hauptrollen.
Interview mit einem Werwolf
Der junge Journalist Reuben soll einen Artikel über ein altes Herrenhaus schreiben, das abgelegen auf den Klippen der nordkalifornischen Küste thront. Doch die Besichtigung endet blutig: Reuben wird von einem großen Raubtier attackiert. Seine Wunden heilen indes ungewöhnlich schnell. Bald verändert Reuben sich. Er wird zum Wolfsmann.
Bei Tag der attraktive Jungreporter, der über die furchterregende fremde Kreatur berichtet, bei Nacht eine Bestie: Reuben wird gefürchtet und gejagt. Doch das wahre Böse lauert woanders.
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «The Wolf Gift» bei Alfred A. Knopf/Random House, Inc., New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juli 2013
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«The Wolf Gift» Copyright © 2012 by Anne O’Brien Rice
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich
(Foto: HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich)
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN Printausgabe 978-3-499-23860-4 (1. Auflage 2013)
ISBN E-Book 978-3-644-49331-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-49331-5
Für
Christopher Rice,
Becket Ghioto,
Jeff Eastin,
Peter und Matthias Scheer
sowie die
«People of the Page»
WIE IMMER WIR DIE MACHT AUCH NENNEN,
DIE UNSERE WELT REGIERT – VIELLEICHT
ERSCHAFFEN WIR SIE SELBST, AUF DASS SIE
UNS SO SEHR LIEBE, WIE WIR SIE LIEBEN.
Reuben war ein großer junger Mann, an die eins neunzig, mit braunen Locken und tiefliegenden blauen Augen. Seinen Spitznamen, «Sonnyboy», hasste er so sehr, dass er es vermied, auf eine Weise zu lächeln, die jeder «unwiderstehlich» fand. Momentan war er aber zu glücklich, um seine Gesichtszüge zu kontrollieren oder so zu tun, als sei er älter als dreiundzwanzig.
Eine steife Brise wehte vom Meer her, als er einen steilen Hügel erklomm. Neben ihm ging eine etwas ältere, ebenso exotische wie elegante Frau namens Marchent Nideck, die ihm wunderbare Dinge über das große Haus auf den Klippen erzählte. Sie war schlank, fast dünn, ihr schmales Gesicht erinnerte an die klassischen Züge einer Marmorstatue, und ihr Haar war von jenem Blond, das nie ergraute. Es war glatt zurückgekämmt und fiel ihr mit sanftem Schwung fast bis auf die Schultern. Mit ihrem langen braunen Strickkleid und den polierten braunen Stiefeln entsprach sie genau Reubens Geschmack.
Er war hergekommen, um im Auftrag des San Francisco Observer für einen Artikel über dieses riesige Haus zu recherchieren. Marchent Nideck wollte es verkaufen, nachdem ihr Großonkel, Felix Nideck, endlich für tot erklärt und der Nachlass geregelt worden war. Er war bereits vor zwanzig Jahren verschwunden, sein Testament aber jetzt erst gültig geworden, und danach ging das Haus an seine Nichte Marchent.
Seit Reuben angekommen war, hatten sie den bewaldeten Hügel durchstreift, ein verfallenes altes Gästehaus und die Ruine der ehemaligen Scheune besichtigt. Sie waren alten Straßen und Pfaden gefolgt, die sich teilweise in unwegsamem Gelände verloren, und hier und da waren sie plötzlich an den steil abfallenden Klippen herausgekommen, wo sie einen phantastischen Blick auf den kalten eisengrauen Pazifik hatten, um dann wieder ins sichere Unterholz mit knorrigen Eichen und üppigem Farngestrüpp einzutauchen.
Auf einen solchen Streifzug durch die Wildnis war Reuben nicht vorbereitet gewesen und folglich ganz unpassend gekleidet. Als er sich auf den Weg nach Norden gemacht hatte, trug er seine gewohnte «Uniform» – einen blauen Kammgarn-Blazer über einem dünnen Kaschmirpullover und eine graue Hose. Wenigstens hatte er noch einen Schal im Handschuhfach gefunden, den er umbinden konnte, obwohl ihm die beißende Kälte eigentlich nichts ausmachte.
Das große Haus mit den tief herabgezogenen Schieferdächern und bleiverglasten Fenstern glich einem Winterpalast. Die Mauern waren aus unbehauenem Naturstein, und zahllose Schornsteine erhoben sich über den spitzen Giebeln. An der Westseite hatte es einen ausgedehnten Wintergarten, der ganz aus Glas und weiß gestrichenem Eisen bestand. Reuben war restlos begeistert. Schon die Fotos, die er sich im Internet angesehen hatte, waren phantastisch gewesen, aber das Haus in natura zu sehen war einfach überwältigend.
Er selbst war in einem alten Haus aufgewachsen, in Russian Hill, einem der begehrtesten Wohnviertel von San Francisco, und auch die luxuriösen Häuser von Presidio Heights und den Vororten der Stadt kannte er von innen. Auch in Berkeley, wo er aufs College gegangen war, hatte er eindrucksvolle Gebäude kennengelernt, und das Fachwerkhaus seines verstorbenen Großvaters in Hillsborough war viele Jahre lang sein Feriendomizil gewesen. Aber keins dieser Häuser konnte es mit dem der Nidecks aufnehmen.
Allein schon seine Größe machte es zu etwas Besonderem, ganz zu schweigen von dem riesigen Grundstück, das dazugehörte. Es war wie eine eigene Welt für sich.
«Das ist nicht zu toppen», hatte er fasziniert gemurmelt, als er es zum ersten Mal sah. «Diese Schieferdächer! Und die Regenrinnen scheinen noch aus Kupfer zu sein!» Üppige Efeuranken bedeckten gut die Hälfte des Gebäudes und reichten bis an die obersten Fenster. Gleich beim ersten Blick auf das Haus hatte er gebremst und war eine ganze Weile im Wagen sitzen geblieben, um es zu bewundern. Eines Tages, dachte er, wenn er ein berühmter Schriftsteller war und ein Refugium brauchte, um dem Rummel um seine Person zu entgehen, würde er nur zu gern ein Haus wie dieses besitzen.
Er wusste, dass ein wunderbarer Nachmittag vor ihm lag.
Als er dann das verwahrloste, unbewohnbare Gästehaus gesehen hatte, war er erschrocken, aber Marchent hatte ihm versichert, das Haupthaus sei in bester Ordnung.
Er hätte ihr stundenlang zuhören können. Sie sprach mit einem Akzent, der weder britisch klang noch aus Boston oder New York stammte, aber er hatte etwas Kultiviertes, Weltgewandtes und verlieh allem, was sie sagte, Würde und Leichtigkeit zugleich.
«Ich weiß, wie schön dieses Haus ist», sagte sie. «An der gesamten kalifornischen Küste gibt es keins, das es mit ihm aufnehmen könnte. Aber ich muss es verkaufen, mir bleibt nichts anderes übrig. Wenn es so weit kommt, dass ein Haus von einem Besitz ergreift, muss man es loslassen und sich wieder um Dinge kümmern, die man vernachlässigt hat.» Sie sagte, sie wolle wieder reisen, und gab zu, dass sie seit Onkel Felix’ Verschwinden nicht besonders viel Zeit in dem Haus verbracht hatte. Sobald es verkauft war, wollte sie nach Südamerika gehen.
«Was für ein Jammer», sagte Reuben und wusste, dass ein Reporter nichts derart Persönliches sagen sollte, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Außerdem verlangte ja niemand von ihm, kalt wie ein Fisch zu sein. «Dieses Haus ist einzigartig, Marchent», sagte er. «Ich werde ihm mit meinem Artikel ein Denkmal setzen und hoffe, dass Sie auf diese Weise schnell einen Käufer finden.»
Was er meinte, war: Ich wünschte, ich könnte dieses Haus selber kaufen. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, seit er das Haus zum ersten Mal durch die Bäume schimmern gesehen hatte.
«Ich bin ja so froh, dass die Zeitung ausgerechnet Sie geschickt hat», sagte Marchent. «Sie sind begeisterungsfähig, und das ist mir wichtig.»
Reuben dachte: Ja, ich bin begeisterungsfähig, und ich will dieses Haus haben. Warum auch nicht? So eine Chance bekomme ich nie wieder. Doch dann dachte er an seine Mutter und Celeste, seine Freundin, den aufgehenden Stern der Bezirksstaatsanwaltschaft, und sah förmlich vor sich, wie sie über diese verrückte Idee lachten.
«Was haben Sie denn plötzlich, Reuben?», fragte Marchent. «Sie schauen auf einmal so merkwürdig drein.»
«Ach, ich hab nur gerade nachgedacht», sagte er und tippte sich an die Schläfe. «In Gedanken schreibe ich schon an meinem Artikel. ‹Architektonisches Juwel an der Küste von Mendocino, seit seiner Erbauung zum ersten Mal auf dem Markt.›»
«Klingt gut.» Selbst so kurze Bemerkungen klangen in Marchents eigenartigem Akzent weltläufig.
«Ich würde dem Haus einen Namen geben, wenn es meins wäre», sagte Reuben. «Einen, der seinen Charakter zum Ausdruck bringt. Kap Nideck oder so.»
«An Ihnen ist ein Dichter verloren gegangen», sagte Marchent. «Das merkt man gleich. Ich mag Ihre Artikel, ich habe einige gelesen. Sie haben einen ganz eigenen Ton. Aber momentan arbeiten Sie an einem Roman, nicht wahr? Ein talentierter Reporter in Ihrem Alter sollte sich der Literatur zuwenden. Es wäre schade, wenn Sie es nicht täten.»
«Das ist Musik in meinen Ohren», sagte Reuben gerührt und sah Marchent überrascht an. Sie war wunderschön, und wenn sie lächelte, schienen die feinen Linien ihres Gesichts zu sprechen. «Erst letzte Woche hat mein Vater gesagt, dass ein junger Mann wie ich noch nichts zu erzählen hat – und zu sagen schon gar nichts. Er war Professor und ist mittlerweile ziemlich ausgebrannt. Seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren überarbeitet er seine ‹Gesammelten Gedichte›.» Kaum hatte er das gesagt, dachte er: Du redest zu viel, lass das sein!
Eigentlich müsste dieses Haus seinem Vater gefallen. Phil Golding war der wahre Dichter der Familie, und als solcher müsste ihn dieses Haus gefühlsmäßig ansprechen. Wahrscheinlich würde er sogar Reubens Mutter ganz begeistert davon erzählen, die eine solche Lobeshymne aber nur mit einer spöttischen Bemerkung quittieren würde. Dr. Grace Golding war eine praktisch veranlagte, zupackende Frau, und sie war es, die die Familiengeschicke lenkte. Sie war es auch, die Reuben den Job beim San Francisco Observer besorgt hatte, obwohl er nichts als einen Master in Englischer Literatur und eine Weltreise pro Jahr vorzuweisen hatte.
Grace war stolz auf den investigativen Journalismus, den er neuerdings betrieb, aber diese «Maklergeschichte» hielt sie für reine Zeitverschwendung.
«Jetzt träumen Sie schon wieder», sagte Marchent, legte ihren Arm um seine Schultern, lachte und küsste ihn auf die Wange.
Damit hatte Reuben nicht gerechnet, und es ging ihm durch und durch, als er ihre weichen Brüste spürte und ihr schweres, dezent aufgetragenes Parfüm roch.
«Um ehrlich zu sein, habe ich bis jetzt noch nichts Nennenswertes zustande gebracht», sagte er mit einer Vertraulichkeit, die ihn selbst überraschte. «Meine Mutter ist eine brillante Chirurgin, mein Bruder Priester. Mein Großvater mütterlicherseits war bereits in meinem Alter ein international erfolgreicher Grundstücksmakler. Dagegen bin ich ein Nichts, ein Niemand. Auch bei der Zeitung bin ich erst seit einem halben Jahr. Man sollte die Menschheit vor mir warnen. Aber ich verspreche Ihnen, dass mein Artikel über dieses Haus ganz nach Ihrem Geschmack sein wird.»
«Unsinn», sagte Marchent. «Ihre Herausgeberin sagt, Ihr Artikel über den Greenleaf-Mord hat zur Festnahme des Täters geführt. Sie sind ein sehr charmanter, bescheidener junger Mann.»
Reuben wusste nicht, ob er rot wurde. Warum schüttete er dieser Frau sein Herz aus? Sonst war es gar nicht seine Art, Freunde mit Selbstauskünften dieser Art zu bombardieren. Aber dieser Frau fühlte er sich auf unerklärliche Art verbunden.
«Für den Greenleaf-Artikel habe ich nicht mal einen Tag gebraucht», murmelte er. «Und das meiste, was ich über den Verdächtigen herausgefunden habe, ist nie gedruckt worden.»
Marchent fragte augenzwinkernd: «Wie alt sind Sie eigentlich, Reuben? Ich bin achtunddreißig.»
«Das sieht man Ihnen nicht an», sagte Reuben und meinte es so. Am liebsten hätte er gesagt: Sie sind perfekt. Tatsächlich sagte er: «Ich bin dreiundzwanzig.»
«Dreiundzwanzig? Dann sind Sie ja noch fast ein Kind.»
Klar. «Sonnyboy» nannte ihn ja sogar seine Freundin Celeste. «Kleiner» sagte sein großer Bruder Jim, der Priester. «Mein Baby» war er für seine Mutter, sogar wenn andere Leute dabei waren. Nur sein Vater nannte ihn Reuben, und wenn sie einander in die Augen sahen, hatte Reuben stets das Gefühl, dass sein Vater ihn so sah, wie er wirklich war. Dad, du solltest dieses Haus sehen! Es gibt keinen besseren Ort zum Schreiben, um seine Ruhe zu haben und sich von der spektakulären Landschaft inspirieren zu lassen.
Reuben steckte die klammen Hände in die Taschen und versuchte den scharfen Wind zu ignorieren, der ihm Tränen in die Augen trieb. Sie waren auf dem Rückweg und würden sich gleich bei einem Kaffee am Kamin von der Kälte erholen.
«Aber Sie sind viel zu groß, um noch ein Junge zu sein», sagte Marchent. «Außerdem sind Sie äußerst sensibel, Reuben. Es gehört schon was dazu, dieses gottverlassene Fleckchen Erde trotz dieser Kälte würdigen zu können. Mit dreiundzwanzig war ich am liebsten in New York oder Paris. Die großen Metropolen waren meins.» Sie hielt inne und sah Reuben an. «Was ist? Habe ich Sie beleidigt?»
«Nein, gar nicht.» Reuben hatte das Gefühl, schon wieder rot zu werden. «Ich rede zu viel über mich. Aber keine Sorge, Marchent, ich verliere den Artikel nicht aus den Augen. Buscheichen, Gräser, feuchte Erde, Farnkraut. Ich registriere alles.»
«Ich weiß. Nie wieder ist der Geist so aufnahmefähig wie in der Jugend», sagte Marchent. «Wir werden die nächsten zwei Tage miteinander verbringen, da möchte ich direkt sein. Sie schämen sich Ihrer Jugend, nicht wahr? Das ist nicht nötig. Sie sind ein attraktiver Mann, um ehrlich zu sein: der attraktivste, den ich je gesehen habe. Nein, nein, das meine ich ernst. Wer so aussieht, hat keinen Grund, schüchtern zu sein.»
Reuben schüttelte den Kopf. Marchent wusste ja nicht, was sie da sagte. Er hasste es, als attraktiv, hinreißend oder süß bezeichnet zu werden. «Was, wenn die Leute das nicht mehr sagen? Meinst du, dann fühlst du dich besser?», hatte Celeste einmal gefragt. «Hast du darüber schon mal nachgedacht? Was mich betrifft, Sonnyboy, wäre ich nicht mit dir zusammen, wenn du nicht so gut aussähst.» Es sollte ein Scherz sein, aber Celestes Scherze hatten oft einen bitteren Beigeschmack.
«Jetzt habe ich Sie doch beleidigt», sagte Marchent. «Bitte verzeihen Sie mir. Ich glaube, alle Normalsterblichen glorifizieren Menschen, die so gut aussehen wie Sie. Aber das Wesentliche an Ihnen ist, dass Sie ein Poet sind.»
Als sie die gepflasterte Terrasse erreichten, wurde es kühler. Der Wind hatte jetzt etwas Schneidendes, und die Sonne sank hinter silbernen Wolken langsam ins Meer.
Marchent blieb kurz stehen und schien um Atem zu ringen, aber Reuben war sich nicht sicher, ob das der Grund für ihr Zögern war. Der Wind ließ ihr Haar flattern, und sie legte die Hand schützend an die Stirn. Dann hob sie den Kopf und blickte zum obersten Fenster hinauf, als suchte sie dort etwas. Plötzlich kam sich Reuben wie das verlorenste Wesen der Welt vor, und ihm wurde schmerzhaft bewusst, wie abgeschieden und einsam dieser Ort war.
Das nächste Dorf, Nideck, war Kilometer entfernt, und wenn es hochkam, wohnten dort vielleicht zweihundert Menschen. Auf der Fahrt hatte er dort angehalten, aber die meisten Läden an der Hauptstraße waren geschlossen gewesen. Die einzige Pension stand zum Verkauf, und zwar schon «seit Ewigkeiten», wie der Tankwart sagte, aber Reuben solle sich keine Sorgen machen, es gebe hier kein Funkloch, Internet und Handys funktionierten hier einwandfrei.
Trotzdem kam ihm die Welt jenseits der windigen Terrasse in diesem Moment ganz unwirklich vor.
«Spukt es hier?», fragte er und folgte Marchents Blick zu dem obersten Fenster. «Sehen Sie Gespenster?»
«Dieses Haus braucht keine», sagte sie. «Die Zeiten sind so schon finster genug.»
«Es ist einfach ein wunderbares Haus», sagte Reuben. «Die Nidecks hatten einen ausgezeichneten Geschmack. Ich bin mir ganz sicher, dass Sie einen Käufer mit einer romantischen Ader finden, der es beispielsweise in ein einzigartiges, unvergessliches Hotel umfunktioniert.»
«Eine gute Idee. Andererseits: Warum sollte jemand ausgerechnet hier Urlaub machen? Der Strand ist nur ein schmaler Streifen und schwer zu erreichen. Die Redwoodbäume sind phantastisch, aber wer aus der Gegend von San Francisco nimmt eine Fahrt von vier Stunden auf sich, um Redwoodbäume zu sehen? Das kann man in Kalifornien einfacher haben. Und das Dorf haben Sie ja selber gesehen. Bei Licht betrachtet, gibt es hier weit und breit nichts als Kap Nideck, wie Sie es nennen. Manchmal habe ich Angst, dass selbst dieses Haus nicht mehr lange stehen wird.»
«Das dürfen Sie nicht sagen! Nicht mal denken. Wer würde denn so ein wunderbares Haus niederreißen?»
Marchent nahm seinen Arm, und sie gingen über den sandigen Plattenweg an Reubens Wagen vorbei zur Tür auf der anderen Seite des Hauses. «Wenn Sie in meinem Alter wären, würde ich mich in Sie verlieben», sagte sie. «Hätte ich früher einen so charmanten Mann kennengelernt, würde ich heute bestimmt nicht allein leben.»
«Warum eine Frau wie Sie allein lebt, kann ich nicht verstehen», sagte Reuben. Sie war die anmutigste und selbstsicherste Frau, die er kannte. Selbst nach ihrem Streifzug durch die Wildnis sah sie noch so elegant aus, als machte sie einen Einkaufsbummel am Rodeo Drive. Am linken Handgelenk trug sie ein schmales Perlenarmband, das ihren lässigen Bewegungen zusätzlichen Glanz verlieh, obwohl Reuben nicht genau sagen konnte, wie dieser Effekt zustande kam.
Nach Westen hin war das Gelände baumlos, daher war es nur zu verständlich, warum man den Blick in diese Richtung frei gehalten hatte. Inzwischen toste der Wind übers Meer, und grauer Nebel senkte sich über den Pazifik. Ich muss mich mit der Atmosphäre vertraut machen, dachte Reuben. Dazu gehört auch so eine Düsternis wie jetzt gerade. Es war, als fiele ein Schatten auf seine Seele, aber es war ein durchaus angenehmes Gefühl.
Er wollte dieses Haus haben, sein Leben an diesem Ort verbringen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Zeitung hätte einen anderen Reporter hergeschickt, aber man hatte sich nun mal für ihn entschieden. Da hatte er wirklich Glück gehabt.
«Mein Gott, es wird ja beinahe sekündlich kälter», sagte Marchent, und beide beschleunigten ihre Schritte. «Ich hatte ganz vergessen, wie schnell das hier an der Küste geht. Obwohl ich damit aufgewachsen bin, überrascht es mich immer noch.» Doch dann blieb sie noch einmal stehen, um an der Fassade hochzusehen. Wieder sah es so aus, als suchte sie etwas oder jemanden. Dann legte sie wieder die Hand an die Stirn und blickte in den heraufziehenden Nebel.
Bestimmt würde sie es eines Tages bereuen, dass sie sich entschlossen hatte, das Haus zu verkaufen, dachte Reuben. Doch es schien nötig zu sein. Und schließlich hatte er nicht über ihre Gefühle zu entscheiden.
Trotzdem war es ihm peinlich, dass er genug Geld hatte, um das Haus zu kaufen, und er hatte das Gefühl, dass er ausdrücklich erklären sollte, warum er kein Gebot abgab. Aber das wäre einfach zu unhöflich gewesen. Und abgesehen davon war er in Gedanken immer noch am Kalkulieren und Phantasieren.
Die Wolken wurden dichter und dunkler, und die Luftfeuchtigkeit war hoch. Wieder folgte Reuben Marchents Blick die mittlerweile ganz im Dunkeln liegende Hausfassade hinauf. Die rautenförmigen bleiverglasten Fenster glänzten, und die gigantischen Redwoodbäume hinter der Ostseite des Hauses kamen ihm völlig überdimensioniert vor.
«Was denken Sie gerade?», fragte Marchent.
«Oh, nichts Besonderes. Ich habe gerade zu den Redwoodbäumen hinübergesehen. Sie lösen in mir immer ganz merkwürdige Gefühle aus. Neben ihnen wird alles andere so klein. Als würden sie sagen: ‹Wir waren schon da, bevor der erste Mensch hier an Land ging, und wir werden immer noch hier sein, wenn ihr und eure Häuser längst verschwunden seid.›»
Marchent lächelte, aber sie sah traurig aus, als sie sagte: «Das stimmt. Mein Onkel Felix hat diese Bäume sehr geliebt. Er hat dafür gesorgt, dass sie nicht gefällt werden dürfen.»
«Gott sei Dank», murmelte Reuben. «Es läuft mir immer kalt den Rücken herunter, wenn ich alte Fotos sehe, auf denen Holzfäller in den Redwoodwäldern arbeiten und tausend Jahre alte Baumriesen vernichten. Stellen Sie sich das bloß mal vor: tausend Jahre!»
«Genau das hat Onkel Felix auch gesagt, fast wörtlich.»
«Er würde auch nicht wollen, dass das Haus abgerissen wird, nicht wahr?» Sofort bereute Reuben, was er gesagt hatte. «Entschuldigen Sie bitte. Das hätte ich nicht sagen sollen.»
«Aber Sie haben absolut recht. Das hätte er ganz sicher nicht gewollt. Er hat dieses Haus sehr geliebt. Er hatte gerade angefangen, es zu renovieren, als er verschwand.»
Mit einem merkwürdig sehnsüchtigen Blick wandte Marchent sich ab.
«Wir werden wohl nie erfahren, was passiert ist», sagte sie seufzend.
«Was meinen Sie damit, Marchent?»
«Nun ja … wie mein Onkel verschwunden ist.» Sie lachte bitter auf. «So ein Unsinn! Verschwunden! Wahrscheinlich ist er völlig zu Recht für tot erklärt worden. Trotzdem kommt es mir so vor, als würde ich ihn verraten, wenn ich das Haus verkaufe oder Dinge sage wie: ‹Wir wissen nicht, was passiert ist, aber er wird ganz gewiss nie wieder durch diese Tür gehen.›»
«Verstehe», sagte Reuben leise. Er hatte keinerlei Gefühl für den Tod und konnte sich darunter nichts vorstellen. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder und seine Freundin hatten ihm das oft vorgehalten. Seine Mutter war die gute Seele der Abteilung für Traumapatienten am General Hospital von San Francisco, und seine Freundin kannte die dunkle Seite der Menschen von ihrer Arbeit als Staatsanwältin, während sein Vater den Tod sogar in fallendem Laub sah.
Er selbst hatte sechs Artikel über zwei Mordfälle geschrieben, und beide Frauen seines Lebens hatten diese Artikel erst in den Himmel gelobt und ihm dann Vorträge darüber gehalten, was er alles nicht begriffen hatte.
Eine Bemerkung seines Vaters kam ihm in den Sinn. «Du bist ziemlich naiv, Reuben, aber das Leben wird dich früh genug lehren, was du wissen musst.» Er sagte oft ungewöhnliche Dinge. Erst am Vortag hatte er beim Essen gesagt: «Es vergeht kein Tag, an dem ich keine universelle Frage stelle. Was ist der Sinn des Lebens? Hat es überhaupt einen? Oder ist alles nur Schall und Rauch? Sind wir alle verdammt?»
Und später hatte Celeste gesagt: «Ich weiß, warum nichts wirklich zu dir durchdringt, Sonnyboy. Deine Mutter schildert ihre Operationen in allen unappetitlichen Einzelheiten, während sie einen Krabbencocktail löffelt, und dein Vater spricht nur von absolut bedeutungslosen Dingen. Ich wünschte, ich könnte das so locker nehmen wie du. Jedenfalls ist es ein gutes Gefühl, dich an meiner Seite zu haben.»
Aber war es auch für ihn ein gutes Gefühl? Nein. Kein bisschen. Trotzdem musste man Celeste zugutehalten, dass sie viel liebenswürdiger und netter war, als man meinen könnte, wenn man sie nur reden hörte. Sie war eine knallharte Staatsanwältin, ein Meter sechsundfünfzig pures Dynamit, aber wenn sie mit ihm zusammen war, war sie anschmiegsam und einfach nur süß. Sie achtete darauf, wie er sich kleidete, und rief stets zurück, wenn er sie mal nicht erreichen konnte. Wenn er fachliche Fragen hatte, die sie nicht selbst beantworten konnte, setzte sie ihn umgehend mit kompetenten Kollegen in Verbindung. Trotzdem war ihre Art zu reden oft harsch und zynisch.
Plötzlich hatte Reuben das Gefühl, dass das Haus etwas Düsteres, Tragisches ausstrahlte, und er wollte dahinterkommen, was es war, denn in erster Linie erinnerte es ihn an Cellomusik, tiefe, volltönende, etwas raue und vor allem klare Cellomusik. Es war, als spräche das Haus zu ihm – oder als würde es das tun, sobald er aufhörte, die Stimmen von zu Hause im Ohr zu haben.
Sein Handy vibrierte in seiner Tasche. Ohne den Blick vom Haus abzuwenden, schaltete er es aus.
«Meine Güte, wie Sie aussehen!», sagte Marchent. «Sie frieren ja! Wie gedankenlos von mir. Kommen Sie, wir gehen rein.»
«Halb so schlimm», sagte Reuben. «In Russian Hill schlafe ich immer bei offenem Fenster. Ich bin solche Temperaturen gewohnt.»
Er folgte ihr die Stufen hinauf und durch die massive, gewölbte Tür.
Angenehme Wärme schlug ihnen entgegen, obwohl sie in einer riesigen Diele mit hohen Deckenbalken standen, von der in lichter Höhe endlose holzgetäfelte Flure abgingen, die sich im Zwielicht verloren.
An der gegenüberliegenden Wand loderte ein Feuer in einem höhlenartigen Kamin. Davor standen alte, unförmige Sofas und Sessel.
Die brennenden Eichenscheite hatte Reuben schon auf der Wanderung gerochen. Der Geruch war ihm ab und zu angenehm in die Nase gestiegen.
Marchent führte ihn zu dem Samtsofa, das dem Kamin am nächsten stand. Auf einem großen marmornen Couchtisch stand ein silbernes Kaffeeservice.
«Wärmen Sie sich auf», sagte sie und stellte sich selbst mit ausgestreckten Händen ans Feuer.
Die großen alten Kaminböcke waren aus Messing, das Kamingitter schmiedeeisern, die Kaminziegel schwarz.
Marchent drehte sich um und ging fast lautlos über die alten, abgewetzten Orientteppiche und schaltete einige Lampen an, die überall im Raum verteilt waren. Nach und nach wurde es hell und freundlich.
Die Sitzmöbel waren trotz ihrer enormen Ausmaße bequem und die zerschlissenen Schonbezüge praktisch. Hier und da standen karamellfarbene Lederstühle. Etliche altmodische Bronzestatuen stellten mythologische Figuren dar. An den Wänden hingen alte, nachgedunkelte Landschaftsgemälde in schweren Goldrahmen.
Es wurde so warm, dass Reuben kurz davor war, Jacke und Schal abzulegen.
Er blickte auf die alte, dunkle Holztäfelung über dem Kamin, die mit klassischen Schnitzereien verziert war, genau wie die der anderen Wände. Der Kamin war von Bücherschränken eingerahmt, in denen große alte Lederbände, Bücher mit Leinenrücken und sogar Taschenbücher standen. Hinter Reuben, an der Ostseite des Hauses, schloss sich eine schöne alte Bibliothek an, ebenfalls holzgetäfelt. Schon immer hatte er davon geträumt, einmal so eine Bibliothek zu besitzen. Auch dort schien ein Kaminfeuer zu brennen.
«Das ist ja atemberaubend», sagte er. Er stellte sich vor, wie sein Vater dort säße, seine Gedichte durchsähe und sich endlose Notizen machte. Er würde diese Bibliothek lieben. Es war der ideale Ort, um über universelle Fragen nachzudenken.
Seine Mutter würde sich hier allerdings nicht wohlfühlen. Aber warum eigentlich nicht? Seine Eltern liebten einander, waren aber grundverschieden. Phil versuchte, Grace’ Arztfreunde zu ertragen, und in ihren Augen waren seine wenigen Akademikerfreunde von früher schreckliche Langweiler. Gedichte verabscheute Grace aus grundsätzlichen Erwägungen, genau wie die Filme, die Phil mochte. Wenn er auf einer Dinnerparty seine Meinung über irgendetwas äußerte, wechselte sie das Thema, wandte sich ihrem Tischnachbarn zu, verließ den Raum, um noch eine Flasche Wein zu holen, oder begann zu husten.
Sie tat das nicht, um ihn zu verletzen, denn so war sie nicht. Vielmehr stürzte sie sich voller Elan auf Dinge, die sie liebte, und sie vergötterte Reuben. Er war sich darüber bewusst, dass sie ihm mehr Selbstvertrauen gegeben hatte, als die meisten Menschen aus ihrem Elternhaus mitbekamen. Nur seinen Vater konnte sie manchmal schwer ertragen, was Reuben oft sogar verstehen konnte.
In letzter Zeit war es jedoch immer schwieriger geworden, die Spannungen auszuhalten, weil seine Mutter nicht zu altern schien, vor Energie sprühte und ihren Beruf so engagiert wie eh und je ausübte, während sein Vater alt und verbraucht war. Celeste hatte sich schnell mit seiner Mutter angefreundet («Wir beide sind Powerfrauen!»), und gelegentlich traf sie sich mit ihr sogar zum Mittagessen, während sie seinen Vater, den «alten Mann», wie sie ihn nannte, ignorierte. Manchmal fragte sie Reuben warnend: «Willst du etwa wie er werden?»
Was meinst du, Dad, würde es dir hier gefallen?, dachte Reuben. Wir könnten zwischen den Redwoodbäumen spazieren gehen und das verwahrloste Gästehaus instand setzen, für deine Dichterfreunde. Andererseits ist das Haus so groß, dass sie auch dort übernachten könnten. Sie könnten hier regelrechte Symposien abhalten, und Mom könnte herkommen, wann immer sie Lust hat.
Aber wahrscheinlich würde sie nie kommen.
Reuben sah kurz auf und sagte sich, dass er seine Phantasie zügeln sollte. Schließlich war er gekommen, um Marchent Fragen zu stellen. Die aber blickte nachdenklich ins Feuer und schien es nicht eilig zu haben, das Gespräch fortzusetzen. Also hing auch er weiter seinen Gedanken nach.
«Nur dass ich es richtig verstehe», würde Celeste sagen. «Ich arbeite sieben Tage die Woche, und du hast einen Job in San Francisco. Willst du jetzt etwa jeden Tag vier Stunden zur Arbeit fahren?»
Es wäre die letzte große Enttäuschung, die er ihr bereitete. Die erste war, dass er nicht wusste, wer er war. Sie hatte ihr Jurastudium in Rekordzeit absolviert und mit zweiundzwanzig die Zulassung zum Gericht bekommen. Er dagegen hatte sein Studium geschmissen, weil er nicht genug Scheine in einer Fremdsprache vorweisen konnte und im Übrigen ohnehin keinen Lebensplan hatte. Lieber hörte er sich Opern an, las Gedichte und Abenteuerromane, reiste alle paar Monate nach Europa und raste mit seinem Porsche jenseits des Tempolimits durch die Gegend – immer auf der Suche nach seinem wahren Ich. Genauso hatte er das einmal zu ihr gesagt, und sie hatte gelacht. Beide hatten sie gelacht. «Wenn du meinst, dass du so ans Ziel kommst, Sonnyboy …», hatte sie gesagt. «Ich dagegen habe jetzt einen Termin bei Gericht.»
Marchent probierte den Kaffee. «Heiß genug», sagte sie.
Sie schenkte Reuben etwas in eine Porzellantasse und zeigte auf das silberne Milchkännchen und das silberne Zuckerschälchen. Alles hier war so geschmackvoll, so kultiviert. Aber Celeste würde es wahrscheinlich spießig finden, und seine Mutter hätte bestimmt überhaupt keinen Blick dafür. Grace hatte eine Abneigung gegen alles Häusliche, außer Festessen. Und für Celeste war die Küche ein Ort, an dem man Cola light aufbewahrte. Seinem Vater hingegen gefiel es hier gewiss. Er wusste über so vieles Bescheid, unter anderem über Silber- und Porzellangeschirr, die Geschichte der Gabel, Weihnachtsbräuche in aller Welt, die Geschichte der Mode, Kuckucksuhren, Wale, Weine und Baustile. Reubens Spitzname für ihn war «Miniver Cheevy», nach dem romantischen Helden aus einem Gedicht Edwin Arlington Robinsons, der sein Leben damit verbrachte, sich in vergangene Epochen zu träumen.
Tatsache war, dass Reuben sehr schätzte, was er hier zu sehen bekam, vom überdimensionalen Kamin bis zu den kunstvollen Buchstützen.
«Und was brütet Ihr Dichterhirn jetzt gerade aus?», fragte Marchent.
«Ach … Die Deckenbalken, sie sind riesig, vielleicht die längsten, die ich je gesehen habe. Und dann die Perserteppiche mit dem typischen Blumendekor … Nur der kleine Gebetsteppich dort ist nicht persisch. Unter diesem Dach wohnt bestimmt kein böser Geist.»
«Keine negative Energie, meinen Sie? Da haben Sie recht. Aber Sie können sicher verstehen, dass ich immer um Onkel Felix trauern würde, wenn ich hierbliebe. Er war ein bemerkenswerter Mann. Inzwischen ist mir übrigens wieder eingefallen, wie das mit seinem Verschwinden damals war. Ich war achtzehn, als er hier aus der Haustür ging, um nach Vorderasien zu reisen.»
«Warum Vorderasien?», fragte Reuben. «Was wollte er dort?»
«An einer archäologischen Grabung teilnehmen. Das tat er oft. Das letzte Mal sollte es in den Irak gehen. So wie ich es verstanden hatte, ging es um die Ausgrabung einer antiken Stadt, die gerade entdeckt worden war und so alt wie Mari oder Uruk sein sollte. Aber ob das stimmt, habe ich nie herausgefunden. Jedenfalls war er vor der Reise ganz aufgeregt, was ungewöhnlich war. Wochenlang hatte er mit Freunden in aller Welt telefoniert. Damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Er verreiste oft und kam immer wieder zurück. Wenn es nicht gerade um eine Ausgrabung ging, war es eine Bibliothek irgendwo auf der Welt, wo einer seiner zahlreichen Gelehrtenfreunde ein altes Manuskript aufgestöbert hatte, das noch nie katalogisiert worden war. Dutzende arbeiteten für ihn, und ständig schickten sie ihm ihre Forschungsergebnisse. Er lebte losgelöst in seiner eigenen Welt.»
«Er muss Aufzeichnungen hinterlassen haben, wenn er so sehr mit diesen Dingen beschäftigt war», sagte Reuben.
«Aufzeichnungen? Sie machen sich ja kein Bild davon, wie viele! Die Zimmer oben sind voll davon. Manuskripte, Ordner, zerfledderte Bücher … All das müsste einmal durchgesehen werden, und jemand müsste entscheiden, was mit all dem Zeug passieren soll. Aber sollte das Haus morgen verkauft werden, würde ich alles in ein gutklimatisiertes Lagerhaus schaffen lassen und mich später in Ruhe um die Sachen kümmern.»
«Was genau hat er denn erforscht? War er auf der Suche nach etwas Bestimmtem?»
«Er hat nie darüber gesprochen. Einmal hat er gesagt: ‹Die Welt braucht Beweise. So viel ist schon verloren gegangen.› Ich glaube aber, das hat er ganz allgemein gemeint. Jedenfalls weiß ich, dass er Ausgrabungen finanziert hat. Er hatte auch viel Kontakt zu Archäologie- und Geschichtsstudenten. Hier gab einer dem anderen die Klinke in die Hand. Vielen hat er Privatstipendien gegeben.»
«Das ist ja großartig», sagte Reuben. «Was für ein Leben!»
«Nun, er konnte es sich leisten. Er war ein reicher Mann, das wusste ich schon immer, aber erst als ich sein Erbe antrat, habe ich begriffen, wie reich er war. Soll ich Sie einmal herumführen?»
Die Bibliothek war großartig.
Reuben bewunderte die Büchersammlung, obwohl er sich sicher war, dass in diesem Zimmer kein Mensch je einen Brief geschrieben oder ein Buch gelesen hatte. Vielmehr schien es eine dieser Vorzeigebibliotheken zu sein. Marchent bestätigte seine Vermutung. Der antike französische Schreibtisch war auf Hochglanz poliert, seine Messingbeschläge strahlten wie aus purem Gold.
Die Regale reichten bis an die Decke und enthielten die wichtigsten Klassiker. Sie waren ledergebunden, und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie in einen Rucksack zu packen oder in einem Flugzeug zu lesen. Es gab auch ein zwanzigbändiges Wörterbuch der englischen Sprache, eine alte Ausgabe der Encyclopaedia Britannica, großformatige Kunstbände, Atlanten und dicke Bücher, deren vergoldete Titel längst verblichen waren.
Es war ein ehrfurchteinflößender Raum. Reuben stellte sich vor, wie sein Vater hier am Schreibtisch saß, während es draußen, hinter den bleiverglasten Fenstern, langsam dunkel wurde, oder in dem Plüschsessel am Fenster saß und las. Die Fenster auf der Ostseite des Hauses erstreckten sich über mindestens neun Meter.
Inzwischen war es so dunkel geworden, dass man den Wald nicht mehr sehen konnte, aber am Morgen würde man direkt hineinblicken. Reuben kam immer mehr zu der Überzeugung, dass dieses hier Phils Zimmer sein müsste, sollte er das Haus je kaufen. Bestimmt würde sein Vater ihm sogar zum Kauf raten, wenn Reuben ihm nur diese Bibliothek beschrieb. Sein Blick fiel auf das Eichenparkett mit den großen, quadratischen Intarsien und die alte Bahnhofsuhr an der Wand.
Rote Samtvorhänge wurden von Messingstangen gehalten. Über dem Kamin hing ein großes Foto, das eine Gruppe von sechs Männern zeigte. Alle trugen Khakianzüge, hinter ihnen waren Bananenstauden und Tropenbäume zu sehen. Das Foto musste mit einer Planfilmkamera aufgenommen worden sein, denn es war gestochen scharf. Erst heute, im digitalen Zeitalter, konnte man Fotos so stark vergrößern, ohne die Qualität zu mindern. Das Foto hier war aber nicht bearbeitet oder retuschiert worden. Sogar die Fasern der Bananenblätter sahen aus wie eingraviert. Die feinsten Knitterfalten in den Jacken der Männer waren zu erkennen, genau wie der Staub auf ihren Stiefeln.
Zwei von ihnen trugen Gewehre, die anderen standen mit leeren Händen lässig herum.
«Ich habe es von einem kleineren Foto anfertigen lassen», sagte Marchent. «Es war ziemlich teuer, aber ich wollte kein Gemälde von meinem Onkel haben, sondern ein authentisches Foto. Deswegen habe ich mich für dieses Format entschieden, eins zwanzig mal eins achtzig. Sehen Sie den Mann in der Mitte? Das ist Onkel Felix. Es war das einzige aktuelle Foto, das ich vor seinem Verschwinden von ihm hatte.»
Reuben sah es sich genauer an.
Die Namen der Männer standen in schwarzer Tinte auf dem unteren Rand, aber Reuben konnte sie schlecht lesen.
Marchent schaltete den Kronleuchter an, und nun sah Reuben ihren Onkel Felix klar und deutlich. Er war ein gutaussehender Mann mit dunkler Haut und dunklem Haar, groß und schlank. Er hatte die gleichen feingliedrigen Hände, die Reuben an Marchent so bewunderte, und auch das Lächeln der beiden ähnelte sich. Er schien ein liebenswürdiger Mensch zu sein, mit einer fast kindlichen Neugier und Begeisterungsfähigkeit. Sein Alter war schwer zu schätzen, es musste irgendwo zwischen zwanzig und fünfunddreißig liegen, obwohl er dem Erzählen nach älter gewesen sein musste.
Auch die anderen Männer sahen interessant aus, wenn auch ernster. Der Mann ganz links war so groß wie die anderen, aber er trug sein Haar schulterlang, und ohne seinen Khakianzug hätte man ihn für einen Büffeljäger im Wilden Westen halten können. Sein Gesicht schien regelrecht zu leuchten und erinnerte an die verträumte Figur eines Rembrandtgemäldes, auf die ein geheimnisvolles, beinahe göttliches Licht fällt.
Marchent beobachtete Reuben und folgte seinem Blick. «O ja, der», sagte sie. «Ein imposanter Typ, was? Er war Felix’ bester Freund und Mentor. Margon Sperver. Onkel Felix nannte ihn einfach nur Margon – und manchmal Margon, den Gottlosen, aber ich weiß nicht, warum. Margon hat immer darüber gelacht. Laut Felix war er der geborene Lehrer. Wenn mein Onkel eine Frage nicht selbst beantworten konnte, sagte er: ‹Vielleicht weiß es der Lehrer.› Und dann griff er zum Telefon und rief Margon, den Gottlosen, an, in welchem Winkel der Welt der auch gerade stecken mochte. Hier im Haus gibt es ein paar Tausend Fotos von diesen Männern, Sergej, Margon, Frank Vandover und den anderen. Sie waren die engsten Vertrauten meines Onkels.»
«Und Sie konnten keinen von ihnen erreichen, als er verschwunden war?»
«Nicht einen. Aber wir haben ja auch erst ein Jahr nach seiner Abreise mit der Suche begonnen. Bis dahin dachten wir, er würde sich bald melden. Manchmal waren seine Reisen kürzer, aber dann wieder ging er für längere Zeit in Länder wie Äthiopien oder Indien, wo wir ihn nicht erreichen konnten. Einmal hat er sich eineinhalb Jahre nach seiner Abreise von einer Südseeinsel gemeldet. Mein Vater hat ihm dann ein Flugzeug geschickt, um ihn abzuholen. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Dass ich keinen seiner Freunde finden konnte, nicht einmal Margon, seinen Mentor, hat alles nur noch schlimmer gemacht.»
Marchent seufzte und schien plötzlich sehr müde zu sein. Dann sagte sie leise: «Zuerst hat mein Vater nicht mit Nachdruck gesucht. Kurz nach Felix’ Verschwinden war er zu viel Geld gekommen, und zum ersten Mal war er richtig glücklich. Ich glaube, er wollte dieses Glück nicht schmälern, indem er groß über Felix’ Schicksal nachdachte. ‹Felix, immer nur Felix›, sagte er ungehalten, wenn ich nach ihm fragte. Meine Mutter und er wollten das Erbe genießen, das ihnen, glaube ich, irgendeine Tante vermacht hatte.»
Es war ihr deutlich anzumerken, dass es sie Überwindung kostete, über diese Dinge zu sprechen. Reuben streckte die Arme aus – langsam, um sie nicht zu erschrecken – und zog sie an sich. Dann küsste er sie so auf die Wange, wie sie es am Nachmittag bei ihm getan hatte.
Einen Moment lang schmiegte sie sich an ihn, küsste ihn kurz auf die Lippen und sagte, sie fände ihn ganz reizend.
«Was für eine erschütternde Geschichte», sagte er.
«Sie sind ein merkwürdiger Bursche, so jung und zugleich so alt.»
«Na, hoffentlich», sagte er.
«Und dann Ihr Lächeln! Warum zeigen Sie es so selten?»
«Tu ich das? Tut mir leid.»
«Sie haben recht, es ist wirklich eine erschütternde Geschichte.» Marchent betrachtete wieder das Foto. «Das ist Sergej», sagte sie und zeigte auf einen großen blonden Mann mit hellen Augen, der ganz verträumt oder gedankenverloren dastand. «Ich glaube, ihn kannte ich am besten. Die anderen kannte ich nicht so gut. Zuerst war ich davon überzeugt, dass ich Margon finden würde. Die Telefonnummern, die ich in Felix’ Unterlagen fand, gehörten zu Hotels in Asien und dem Nahen Osten. Dort kannte man Margon natürlich, aber niemand wusste, wo er steckte. Dann habe ich alle Hotels in Kairo und Alexandria abtelefoniert, und wenn ich mich recht erinnere, auch in Damaskus. Onkel Felix und Margon waren oft in Damaskus gewesen, weil es dort ein altes Kloster gab, in dem unbekannte Manuskripte aufgetaucht waren. Die alten Manuskripte befinden sich hier in den oberen Zimmern, ich weiß genau, wo sie liegen.»
«Wie alt sind sie denn? Vielleicht sind sie ein Vermögen wert», sagte Reuben.
«Kann schon sein, aber das interessiert mich nicht. Ich fühle mich für sie verantwortlich, aber ich weiß nicht, was ich damit tun soll. Sie müssen erhalten werden, aber wie? Was würde Felix wollen? Er war sehr kritisch gegenüber manchen Museen und Bibliotheken. Wohin würde er diese Dokumente geben? Seine früheren Studenten hätten dazu natürlich gern Zugang. Sie haben nie aufgehört, anzurufen und danach zu fragen. Aber so etwas will gut überlegt sein. Es sind Schätze, die mit Sachverstand archiviert und gepflegt werden müssen.»
«Das ist wahr. Ich habe viel Zeit in den Bibliotheken von Berkeley und Stanford verbracht», sagte Reuben. «Hat er selbst auch Bücher veröffentlicht? Ich meine über seine Funde?»
«Nicht dass ich wüsste.»
«Glauben Sie denn, dass Felix und Margon die letzte Reise zusammen gemacht haben?»
Marchent nickte. «Was immer passiert ist, hat beide getroffen. Mein schlimmster Albtraum ist, dass allen das Gleiche passiert ist.»
«Allen sechs?»
«Genau. Schließlich hat sich keiner von ihnen je wieder gemeldet und nach Felix gefragt. Zumindest weiß ich nichts davon. Es kamen auch keine Briefe mehr, dabei hat es vorher eine rege Korrespondenz gegeben. Ich habe viel Zeit und Mühe investiert, um sie zu finden, aber als ich ihre alten Briefe endlich aufgestöbert hatte, enthielten sie keine Absender, jedenfalls keine identifizierbaren, und so erwies sich auch das als Sackgasse.»
Reuben versuchte zu begreifen, was das zu bedeuten hatte, und fragte: «Also sind alle wie vom Erdboden verschluckt?»
«Ganz genau.»
«Gibt es denn keine Aufzeichnungen über die Reise, die Felix machen wollte?»
«Doch, das nehme ich an. Aber niemand konnte seine privaten Aufzeichnungen je lesen, weil er dafür eine Art Geheimschrift erfunden hat. Niemand außer den anderen fünf konnte sie lesen. Sie haben alle diese Geheimschrift benutzt, jedenfalls hatte ich den Eindruck, als ich später ihre Briefe und Notizen fand. Sie haben sie nicht immer benutzt, aber offenbar beherrschten sie sie alle. Sie wird nicht mit lateinischen Buchstaben geschrieben. Ich kann sie Ihnen zeigen. Vor ein paar Jahren habe ich sogar ein Computergenie angeheuert, um den Code zu knacken, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen.»
«Unglaublich. Meine Leser werden fasziniert sein. Das Haus könnte zu einer richtigen Touristenattraktion werden.»
«Aber es ist nichts Neues. Sie kennen doch die alten Artikel über Onkel Felix.»
«In den alten Artikeln geht es aber immer nur um Felix. Kein Wort von seinen Freunden. Was Sie mir hier erzählen, ist viel detaillierter. Es ist Stoff für einen Dreiteiler.»
«Klingt gut», sagte Marchent. «Schreiben Sie einfach, was Ihnen wichtig ist. Und wer weiß … Vielleicht weiß einer Ihrer Leser ja, was aus den sechs geworden ist.»
Das war tatsächlich möglich. Trotzdem wollte Reuben keine falschen Hoffnungen wecken, nachdem Marchent seit zwanzig Jahren mit dieser Tragödie gelebt hatte.
Sie führte ihn aus der Bibliothek.
Reuben sah sich noch einmal nach den beeindruckenden Männern auf dem Foto um. Wenn ich das Haus tatsächlich kaufe, dachte er, werde ich das Foto nicht abnehmen. Falls Marchent es mir überlässt oder ich mir eine Kopie anfertigen darf. Schließlich sollte Felix Nideck in irgendeiner Form in diesem Haus präsent bleiben.
«Sie würden dem neuen Eigentümer bestimmt nicht dieses Foto überlassen, oder?», fragte er.
«Doch, ich denke schon», sagte Marchent. «Ich habe es ja im Kleinformat. Das Haus steht mit dem gesamten Mobiliar zum Verkauf.» Sie machte eine ausladende Handbewegung, als sie durch die weitläufige Diele gingen. «Habe ich das nicht erwähnt? Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch schnell den Wintergarten, bevor es Zeit zum Essen ist. Felice ist taub und fast blind, aber sie verfügt über eine innere Uhr und legt Wert auf Pünktlichkeit.»
«Es riecht schon nach Essen», sagte Reuben. «Köstlich.»
«Ein junges Mädchen aus dem Dorf geht ihr zur Hand. Die jungen Leute hier in der Gegend sind alle ganz wild darauf, dieses Haus von innen zu sehen, und verlangen kaum Geld, wenn man ihnen hier irgendeinen Job anbietet. Ich merke übrigens gerade, wie hungrig ich bin.»
Der Wintergarten im Westflügel war voller alter orientalischer Töpfe in phantastischen Farben, aber die Pflanzen darin waren verdorrt. Die gusseisernen Pfeiler, von denen die Glaskuppel gestützt wurde, waren weiß angemalt und erinnerten Reuben an ausgeblichene Knochen. In der Mitte des schwarzen Granitfußbodens befand sich ein Springbrunnen. Hierher wollte Reuben am Morgen noch einmal zurückkommen, wenn das Licht von drei Seiten hereinfiel. Jetzt war es hier nur feucht und kalt.
«Bei gutem Wetter hat man dort eine schöne Aussicht.» Marchent zeigte auf die Glastüren, die ins Freie führten. «Einmal wurde hier drinnen sogar eine Party gefeiert. Die Leute tanzten hier und auf der Terrasse, bis hinunter zu dem Geländer am Rand der Klippe. Felix’ Freunde waren alle da. Sergej Gorlagon sang russische Lieder und begeisterte alle damit. Auch Onkel Felix amüsierte sich königlich. Er bewunderte seinen Freund Sergej, ein wahrer Hüne. Felix lief immer zu Hochform auf, wenn gefeiert wurde. Er war ein geistreicher Unterhalter und ein wunderbarer Tänzer. Mein Vater dagegen hat immer nur darüber gejammert, was das wieder alles kostet.» Marchent zuckte mit den Schultern. «Ich muss das Haus noch reinigen lassen. Eigentlich hätte ich es tun sollen, bevor Sie kamen.»
«Ich kann mir gut vorstellen, was für ein schöner Raum das hier sein kann», sagte Reuben. «Überall stehen Kübel mit Orangenbäumchen und Bananenstauden, ausladende Ficusbäume reichen bis zur Glaskuppel, dazu Orchideenbäume und blühende Rankengewächse … Ich würde hier morgens die Zeitung lesen.»
Marchent lachte. «O nein, mein Lieber. Die Zeitung würden Sie in der Bibliothek lesen, das ist nämlich das Morgenzimmer. Hier aber hält man sich nachmittags auf, wenn die Sonne im Süden steht und alles mit Licht durchflutet. Und abends beobachtet man hier die Sonnenuntergänge. Wie kommen Sie übrigens auf Orchideenbäume?»
«Ich liebe sie», sagte Reuben. «In der Karibik habe ich welche gesehen. Als Nordlichter sehnen wir uns wohl alle nach den Tropen. Wir waren einmal in einem kleinen Hotel in New Orleans, eigentlich nur eine Frühstückspension im French Quarter, aber auch dort säumten Orchideenbäume den Pool. Die lila Blüten fielen hinein. Die ganze Wasseroberfläche war ein einziger lila Blütenteppich. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen.»
«Sie sollten wirklich ein Haus wie dieses haben», sagte Marchent. Für einen Moment verdüsterte sich ihre Miene, aber dann lächelte sie wieder und drückte Reuben die Hand.