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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2018

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Satz Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN Printausgabe 978-3-7371-0032-8 (1. Auflage 2018)

ISBN E-Book 978-3-644-10050-3

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-10050-3

Ich lernte wohnen,

Wo niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen,

Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet?

Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht?

 

– Ihr alten Freunde! Seht! Nun blickt ihr bleich,

Voll Lieb’ und Grausen!

Nein, geht! Zürnt nicht! Hier – könntet ihr nicht hausen:

Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich –

Hier muss man Jäger sein und gemsengleich.

 

Nietzsche

 

Who is afraid to be in the dark

 

Nico

«Die patente Dose» lautete Mitte der fünfziger Jahre der Werbeslogan für eine Creme, die Sonnenbrand verhüten und «die natürliche Bräunung» fördern sollte. Patent waren auch die Frauen in den Fünfzigern: Geschickt und selbstbewusst hatten sie Deutschland wiederaufgebaut, und nun, in den Jahren des Wirtschaftswunders, bildeten sie, wie es sich gehörte, erneut das Zentrum der Familie.

Sie waren stark, aber sie waren sich ihrer Rolle bewusst: Wenn es mit dem Käfer nach Italien ging, vielleicht das erste Mal überhaupt in den Süden, saßen sie auf dem Beifahrersitz und verteilten Brote an ihre Lieben. Am Strand angekommen, holten sie schließlich Pfeilrings Lanolin-Creme hervor, denn die blieb «sauber, sogar wenn sie mal in den Sand rollt». Die hübsche junge Frau mit dem Strohhut, die auf der Werbeanzeige gleich neben der Dose zu sehen war, konnte all das bestätigen.

Die hübsche junge Frau, die man für die Anzeige fotografiert hatte, würde dagegen nie mit dem Käfer nach Italien fahren. Sie würde das Flugzeug nehmen, und sie würde es nicht bei Italien belassen. Sie würde, seien wir ehrlich, auch niemals Pfeilrings Lanolin-Creme benutzen, sondern nach französischen Produkten mit schillernderen Namen greifen.

Sie würde nicht am heimischen Herd auf Mann und Kinder warten, im Gegenteil, sie würde auf sich warten lassen.

Und alle würden auf sie warten: Federico Fellini, Bob Dylan, Lou Reed und John Cale, Andy Warhol, Jim Morrison, Leonard Cohen und Iggy Pop.

Sie würde Supermodel werden, Superstar, Pop Girl of 1966.

Sie würde Nico heißen.

 

Der Umgang mit den Berühmtesten ihrer Zeit. Das Kino. Geld und schnelle Autos. Konzerte auf großer Bühne. Wie schaffte sie das, und warum gerade sie?

Auch in Berlin schien Mitte der fünfziger Jahre wieder die Sonne. Also packte man die Sonnencreme ein und fuhr zum Wannsee. Als gefragtes Model hatte die fünfzehnjährige Christa allerdings bald kaum mehr Zeit für solche Badevergnügen.

Und warum setzt sich einer achtzig Jahre nach ihrer Geburt und dreißig Jahre nach ihrem Tod hin und betrachtet diese Bilder? Wie sie versonnen eine Tafel Hershey’s-Schokolade an ihre Wange hält. Wie sie lasziv zwischen zwei Trompetern auf dem Cover der zu Recht vergessenen Platte «Pops go Trumpet» posiert. Wie sie auf Bill Evans’ unvergessenem Album «Moon Beams» noch viel lasziver in die Kamera schaut. Wie sie auf dem Cover ihrer ersten eigenen Single so fremd aussieht, mit ungewohnt fransigen Haaren, oder wie sie auf einem Foto von Stephen Shore plötzlich Sommersprossen zu haben scheint.

Es gibt so viele Bilder von ihr – kein Wunder, dass sie in späteren Jahren am liebsten nicht mehr fotografiert worden wäre. Das Klicken des Auslösers, das Ratschen der Filmrolle, die grellen Blitze, all das muss ihr irgendwann schwer auf die Nerven gefallen sein. Umgekehrt

Aber was machte diese Ausstrahlung aus? Warum wurde sie nicht eine dieser patenten deutschen Frauen, sondern eine Frau, die alle Strophen des Deutschlandlieds sang und dafür, weit weg vom Rheinland und vom märkischen Sand, im gen Himmel strebenden Manhattan bejubelt wurde? Wieso brauste sie mit Alain Delon im Maserati den Broadway hinauf, statt im Käfer ganz vorschriftsmäßig zum Einkaufen zu fahren? Und warum musste es trotzdem ein Kind sein, ein Kind, um das sie sich viel zu spät kümmern würde? Wieso gab sie irgendwann die strahlende Metropole am Hudson auf und verkroch sich in einer dunklen Höhle in der Pariser Rue Richelieu? Warum konnte sie, selbst als es ihr noch so schlecht ging, nichts Schlechtes finden an den Drogen? Immerhin bestimmte sie selbst, was sie kaputt machen sollte – und es waren nicht die Männer. Wie patent war Nico, was ihr eigenes Leben betraf?

So viele Fragen.

Man muss all die Bilder also noch etwas länger betrachten.

Gurken und Granaten. Vom Rhein in den Spreewald

Es war eine ereignisreiche Woche in Köln. Wenn auch von der Taufe Christa Päffgens nur wenige etwas mitbekamen, das Splittern der Schaufensterscheiben zwei Tage später und das Brennen der Synagogen wird jeder Kölner gehört oder gesehen haben, und viele hatten dazu beigetragen. Weitere zwei Tage später wurde die staatlich sanktionierte Haltung den Juden gegenüber dann noch einmal lautstark gefeiert. Die Karnevalssaison hatte begonnen, und der neue Karnevalsschlager ging so:

Hurra mer wäde jetz die Jüdde loß,

die janze koschere Bande, trick nohm jelobte Land.

Mir laachen uns für Freud noch halv kapott.

Der Itzig und die Sahra trecke fott.

Denkbar unchristlich war das Verhalten den jüdischen Mitbürgern gegenüber in dieser so katholischen Stadt Köln, nicht nur im November 1938, als die Tochter von Wilhelm und Grete Päffgen auf den so christlichen Namen Christa getauft wurde (der zu allem Überfluss so ähnlich klingt wie das in der Pogromnacht zu Bruch gegangene «Kristall»).

Unchristlich war auch das Verhalten des Vaters, der

Päffgen – kleiner Pfaffe. Religion allüberall, und das in einer Zeit, als die Kirche und auch der Glaube einen schweren Stand hatten. Den Namen wurde Grete, eine geborene Schulze, nicht mehr los, so sie ihn überhaupt loswerden wollte. Womöglich hoffte sie auf eine Wiederverheiratung. Christa jedenfalls glaubte daran. Ihre Eltern hätten sich sehr geliebt, sagte sie später, als sie längst Nico hieß. Es habe eine Vater-Tochter-Beziehung zwischen Wilhelm und Grete bestanden, «wegen der unterschiedlichen Größe». Es sei der Krieg gewesen, der das Familienglück, die erneute Heirat der beiden, vereitelt habe.

Außer dem Nachnamen und der gemeinsamen

Aber noch sind wir im Jahr 1938. Der Anschluss Österreichs liegt nur ein paar Monate zurück, die Annexion des Sudetenlands hat wenige Wochen vor Christas Geburt stattgefunden, die auf den 16. Oktober fällt, denselben Tag, an dem auch Enver Hoxha das Licht der Welt erblickt. Weder Nico noch den albanischen Herrscher würde man gleichwohl mit den klassischen Eigenschaften der Waage in Verbindung bringen. Ausgeglichen und aufgeschlossen sind andere. Eher könnte man sie für Widder halten: Führungspersönlichkeiten mit Tendenz zur Herrschsucht. Bei Adolf Hitler, der an einem 20. April geboren wurde, kommt die Astrologie der Sache näher.

Im Jahr 1938 sieht für den Führer noch alles bestens aus, und daran ändert sich wenig, bis im Juni 1941 mit dem «Unternehmen Barbarossa» auch noch Russland erobert werden soll. Bei diesem Versuch kommt Wilhelm Päffgen zu Tode – durch die Kugel eines vorgesetzten Offiziers. Nicht, weil er desertiert wäre oder den Befehl verweigert hätte. Nicht, weil er in Widerstandspläne verwickelt gewesen wäre oder Geheimnisse verraten hätte, nein. Eine feindliche Kugel hatte ihn am Kopf getroffen. Er hätte wohl, wenn auch mit einem Hirnschaden, überleben können. Aber in den Augen der Nazis wäre das wertloses Leben gewesen. Also kurzer Prozess.

Aber wie für ihre Mutter gilt auch für Christa: Päffgen bis in den Tod. Der Name steht auf dem gemeinsamen Grabstein auf dem Waldfriedhof Grunewald-Forst in Berlin.

 

Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg, und zuerst gilt es, Köln zu entfliehen. Weniger dem Gerede der Nachbarn oder dem Schweigen der Päffgens als vielmehr den Bomben der Briten. Köln galt als erster deutscher Großstadt ein massiver Luftschlag. Über eintausend Flugzeuge waren in der Nacht vom 30. auf den 31. Mai 1942 im Rahmen der «Operation Millennium» gestartet. Eigentlich sollte Bremen das Ziel sein, aber die Wetterbedingungen dort waren schlecht, also wich man nach Köln aus. Zum ersten Mal setzten die Engländer Brand- statt Sprengbomben ein. Und das vor allem gegen zivile Ziele, denn die Moral der Bevölkerung sollte untergraben werden.

Zu einem Feuersturm, wie ihn später Hamburg und Dresden erlebten, kam es in Köln nicht. Dennoch tat der Angriff seine Wirkung, einerseits, was die unmittelbaren Schäden anging (über zehntausend Gebäude wurden getroffen und teilweise komplett zerstört), andererseits, und viel entscheidender, gelang der Schlag gegen die

Ihr seid dort nicht mehr sicher, schrieb Gretes Vater Albert Schulze aus Lübbenau. Aber das wusste seine Tochter wohl selbst. Viel hielt sie ohnehin nicht in Köln. Kurz vor dem Angriff hatte ein Brief aus Frankreich sie darüber informiert, dass ihr Mann gefallen war. Es habe, so Nico, auch noch ein Päckchen gegeben mit schicker französischer Unterwäsche und getrockneten Datteln, seither seien Datteln ihre Lieblingsfrüchte gewesen.

Zuerst ging es nach Berlin, zu Gretes älterer Schwester Helma. Auch sie war alleinerziehend, Christas Cousin Ulli um weniges älter als seine Cousine. Aber die Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in Berlin war zu klein für die zwei Schwestern mit ihren schon nicht mehr ganz so kleinen Kindern. Außerdem trafen die Bombenangriffe zunehmend auch die Hauptstadt. Helma, Grete, Ulrich und Christa zogen schließlich nach Lübbenau, zu den Großeltern der Kinder. Unter der Woche fuhren Grete und Helma weiterhin nach Berlin, um dort in einem Rüstungsbetrieb zu arbeiten.

Albert und Bertha Schulze waren die liebenswertesten Großeltern, die man sich vorstellen kann, wie Ulli sich noch fünfundsiebzig Jahre später erinnern sollte. Ursprünglich stammte die Familie aus Bromberg in

Als Grete und Christa 1942 nach Lübbenau kamen, hatte die Wehrmacht längst gründlich Rache an den Polen genommen und mehrere tausend polnische Bromberger hingerichtet. Im Oktober würde Nico vier Jahre alt werden. Sie konnte schon laufen, sprechen, vielleicht malte sie gerne, tanzte oder sang oder spielte mit den Kaninchen, die es bei den Großeltern gab, hinten im Hof des großen Mietshauses. Erinnern konnte sich Nico an die Jahre zuvor später nicht.

Aus Köln blieb ihr, wie gesagt, die Abneigung gegen Kölsch, eine Abneigung prinzipieller Natur, denn probiert haben wird sie es wohl nie. Auch die ersten Eindrücke von Berlin werden bald überlagert von denen des Jahres 1945. Das Bild der Ruinenlandschaft wird Christa prägen wie kein anderes Landschafts- oder Städtebild. Wie überhaupt Berlin die erste Großstadt ist, die sie bewusst erlebt. Den Rest ihres Lebens wird sie in Großstädten leben, abgesehen von dem einen oder anderen Sommermonat auf Ibiza. Nie wieder wird sie sich länger an einem Ort wie Lübbenau aufhalten, einem von Flüssen und Fließen durchzogenen Städtchen im Spreewald, knapp hundert Kilometer südlich von Berlin.

«Unsere Nachbarn und wir warteten an den Zäunen, die die Bahngleise von der Straße trennten, um den Menschen in den Waggons Wasser und Nahrung zu geben. Aber die Wachmannschaften hielten sie mit ihren Peitschen von uns fern. Ich erinnere mich an all die hungrigen Menschen in diesen Zügen. Güterzüge mit stacheldrahtumwickelten Fenstern … Meinem Cousin Ulli sagte ich, ich würde mich weigern, mich mit Seife aus Menschenknochenmehl zu waschen. Die Kleidung damals war aus Menschenhaar, Lampenschirme waren aus tätowierter Haut gefertigt.»

So erinnerte sich Nico später oder behauptete das zumindest. Aber weder konnte ihr Cousin Ulrich das Ereignis bezeugen, noch hat man jemals davon gehört, dass sich ganze Nachbarschaften zusammengefunden hätten, um Juden auf ihrer Deportation mit Wasser und Nahrung zu versorgen. Von Lampenschirmen aus Menschenhaut und Seife aus Knochenmehl hat 1944 zudem bestimmt kein sechsjähriges Mädchen gewusst. Außerdem haben Güterzüge normalerweise keine Fenster. Wozu auch?

So entbehrt diese vermeintliche Erinnerung ebenso

Auch Großvater Albert – der angeblich Russisch sprach und damit seine Familie zu Kriegsende vor Übergriffen schützen konnte – besaß Phantasie oder verfügte zumindest über ein gewisses Erzähltalent. Bücher gab es im großelterlichen Haushalt nicht, geschweige denn einen Fernseher, das Radio sendete Kriegsmeldungen, und Kino war nichts für sechsjährige Kinder. So gab es für Christa und Ulli kaum etwas Spannenderes als die Erzählungen Alberts, meistens Märchengeschichten.

Es blieb das Spiel auf der Straße, auch zwischen den Gleisen werden die beiden sich verbotenerweise herumgetrieben haben. Im Winter, so erinnert sich Ulli, wurden Regenschirmgestänge unter den Holzpantinen befestigt, dann wurde auf den Kanälen des Spreewalds Schlittschuh gelaufen.

Sonst passierte nicht viel in Lübbenau.

Nur einmal war richtig was los, gleich nach der

Christas liebster Ort lag allerdings hinter dem Wohnhaus in der Güterbahnhofstraße: der evangelische Friedhof, ein äußerst weitläufiges Areal. Bäume beschatten die vielfach von schmiedeeisernen Zäunen eingefassten Gräber. Hundert Plätze konnte hier ein Kind finden, sich zu verstecken, den Vögeln zu lauschen, die Eichhörnchen zu beobachten, für eine Weile allein zu sein. Die Toten werden Nico keine Angst gemacht haben, der Gedanke an die Endlichkeit aller Dinge wird für die Sechsjährige noch recht abstrakt gewesen sein. Andererseits wurde die Geschichte der tagelang zwischen Gräbern spielenden oder auch nur sitzenden Christa vielleicht so

Auf einem Foto von Antoine Giacomoni, das auf einem (dem inoffiziellen) Cover ihrer vorletzten Schallplatte «Drama of Exile» verwendet werden sollte, sieht man Nico an ein steinernes Grabkreuz gelehnt. Aufgenommen auf einem Londoner Friedhof, fällt sofort ein zweites, kleineres Kreuz auf, das auf dem eigentlichen Grabkreuz abgebildet ist. Es hat drei Querbalken, der unterste davon leicht gekippt – das Kreuz der russisch-orthodoxen Kirche, mit dem die Fußstütze symbolisierenden Balken. Fast wirkt es, als sollten hier zwei Kindheitserzählungen oder -märchen miteinander verknüpft werden, die der friedhofsliebenden Sechsjährigen und die der Päffgen-Pawlowskys und der russischsprechenden Schulzes.

Mit Religion hatte Nicos Friedhofspose freilich nichts zu tun, die Religion hatte ihre Eltern getrennt. So nannte sie sich selbst zeitlebens eine Nihilistin, eine wohl auch angesichts des Krieges seit Anbeginn Ungläubige.

Als Grete und Christa 1942 nach Lübbenau kamen, war die Euphorie der Blitzsiege schon verflogen. Noch aber brachten die Züge Tausende und Abertausende Soldaten an die Front. In Christas Gesichtsfeld traten Soldaten jedoch erst gegen Kriegsende – in russischer, dann in amerikanischer, britischer und französischer Uniform.

Der Spreewald, könnte man meinen, hatte mit dem Weltgeschehen nicht viel zu tun. Hier legte man wie eh und je Gurken ein und ließ den Führer einen guten Mann sein. Durchquert man allerdings den evangelischen Friedhof hinter den Häusern der Güterbahnhofstraße oder besser: umrundet ihn, denn wegen Astbruchgefahr ist er seit

Die Grafen geboten einst über diese Gegend, ihr bescheidenes Schloss ist heute noch zu besichtigen. Ende des 18. Jahrhunderts stifteten sie den evangelischen Friedhof, auf dem Christa sich so gerne herumtrieb. Während sie dies tat, diente Wilhelm von Lynar als Adjutant des Generalfeldmarschalls Erwin von Witzleben.

Dieser wiederum sollte, so sah es der Plan der Verschwörer des 20. Juli vor, nach dem erfolgreichen Attentat auf Hitler Befehlshaber der Wehrmacht werden. Wilhelm von Lynar war nicht nur in die Pläne eingeweiht, er stellte sein Schloss für geheime Treffen zur Verfügung. Nach dem Scheitern des Anschlags wurde auch er verhaftet, verurteilt und in Plötzensee hingerichtet. Den Familien der Verschwörer wurde nicht gestattet, ihre Männer und Väter beizusetzen. Deren Körper wurden verbrannt und die Asche auf den Rieselfeldern vor Berlin verstreut. Das Familiengrab der Lynars blieb 1944 also unberührt und wurde schließlich 1970 von der adelsfeindlichen DDR-Bürokratie zur Einebnung bestimmt.

Anders erging es jenem, der die Verschwörer des 20. Juli verurteilte, Roland Freisler. «Was fassen Sie sich dauernd an die Hose, Sie ekliger, alter Mann?!», hatte er während des Prozesses Lynars Vorgesetzten Witzleben angeherrscht, der in der Haft abgemagert war und seine Hose festhalten musste, weil er keinen Gürtel tragen durfte. Kurze Zeit später kam Freisler bei einem

Von dieser Nähe aber ahnte Nico wohl nichts, wenn sie das Grab ihrer Mutter besuchte, das später auch ihr eigenes werden sollte. Ahnte nicht, was für Pläne damals, 1944, fünfzehn Gehminuten von der Güterbahnhofstraße entfernt geschmiedet wurden.

Christa fand vielleicht nicht einmal den Weg bis zum Lynar’schen Familiengrab, sondern blieb in der Nähe des Hauses, auf den angrenzenden Gräbern, die eher friedlich als morbid wirken, spielte dort womöglich mit Puppen – auch wenn es schwer ist, sich Nico mit Puppen vorzustellen. Die sechsjährige Christa dagegen sieht auf Fotos genauso aus wie ein Mädchen, das sich Puppen wünscht, das Zöpfe flechten und Kleidchen an- und ausziehen möchte.

Nicos Zipfelmützenanorak war 1942 ebenso weit verbreitet wie die kesse Kappe ihres Cousins Ulrich. Auch mit ihren blonden Haaren entsprachen die zwei dem Zeitgeschmack. Und beide wuchsen sie, wie so viele ihrer Altersgenossen, ohne Vater auf.

Man neigt dazu, den Kinderversionen späterer Berühmtheiten auch deren spätere Charakterzüge zuzuschreiben, bestimmte Vorlieben und Eigenarten, und es mag sein, dass ohne frühe Fokussierung auf zum Beispiel das Klavierspiel, das Ballett oder den Fußball ein Erfolg auf Bühnen und Sportplätzen schwer vorstellbar ist. Aber Nico? Was war ihr Talent? Model wurde sie mit fünfzehn, Schauspielerin mit zwanzig, Sängerin mit fünfundzwanzig Jahren. Ihr Talent war wohl zuallererst, Nico zu sein,

«Tante Helma», so lautet eine der wenigen überlieferten Anekdoten über ihre Kindheit, «Taaaante Heeeelmaaaa!», habe die kleine Christa durchs ganze Haus gerufen oder vielmehr geröhrt, auf eine Weise, dass Tante Helma, so erzählte sie selbst, stets sofort diesem Ruf folgte und gehorchte, fürchtete sie doch, dass er sonst noch einmal erklingen und das Haus zum Erzittern bringen würde.

Diese Stimme war also schon da, und tatsächlich wurde Nicos Stimme nicht seltener gehuldigt als ihrer Schönheit. Freilich galt ihre Stimme nicht als schön, sie war nur außerordentlich irritierend. Für eine Frauenstimme war sie ungewöhnlich tief, Nicos deutscher Akzent ungeheuer penetrant. Ihre Sprechweise war zudem extrem gedehnt, in jeder Hinsicht also das Gegenstück zum Klischee des quasselnden, giggelnden Mädchens. Es dürfte auch dieser Kontrast von eindringlicher Stimme und äußerer Schönheit gewesen sein, der das Interesse an Nico immer wieder befeuert hat.

Gleichwohl errang sie mit ihrer Stimme auch noch Aufmerksamkeit, als ihre Erscheinung nicht mehr sonderlich ansprechend war. Ihren Akzent, ihre kaugummiartige Sprechweise pflegte sie gewissenhaft weiter, selbst als sie jeder Körperpflege längst abgeschworen hatte. «Schwer wie ein Gestapo-Mantel und laut wie das Nebelhorn der Bismarck», fasste es ihr Pianist James Young zusammen.

Am Anfang also war nicht das Wort, am Anfang war die Stimme: «Taaaante Heeeelmaaaa!»

Die Schönheit der Ruinen. Eine Berliner Kindheit

Nicht der Krieg, sondern das Kriegsende änderte alles für Christa. Der Krieg war grün, war voller Bäume und Wälder und schattiger Friedhofsecken, Bienen und Blumen. Erst der Nachkrieg brachte das Grau und die Zerstörung. Und doch war er für Christa eine Offenbarung. Himmel hieß für sie fortan: Leben zwischen Ruinen. In ihren Worten: «Die Hölle sieht aus wie eine zerstörte Stadt. Und sie ist wunderschön anzusehen.»

Am 20. April 1945, Hitlers sechsundfünfzigstem und letztem Geburtstag, marschierte die Rote Armee in Lübbenau ein. Widerstand, und zwar erfolgreichen, leistete allein Albert Schulze. Er beschützte seine Töchter und seine Enkelin. Da er ja angeblich Russisch sprach und es verstand, sich einen Offizier, nicht den Stadtkommandanten Federow, aber immerhin einen Oberst Myzkow gewogen zu machen, ließ man die Finger von Grete, Helma und Christa.

Zu einer Vergewaltigung, so notierte Nico vierzig Jahre später, kam es erst durch einen amerikanischen Soldaten in Berlin. Aber auch diese Geschichte ist fragwürdig. Überhaupt gibt es über Nicos frühe Jahre wenig gesicherte Erkenntnisse. Immerhin existieren mehrere Aufnahmen, die sie in Lübbenau zeigen – mit Oma

In den Jahren nach dem Krieg aber scheint kein Fotoapparat mehr verfügbar gewesen zu sein. Ja, man könnte diese Jahre – bis Nico 1953 zum ersten Mal Modell steht und von diesem Zeitpunkt an unablässig fotografiert wird – als eine Art Verpuppungsstadium begreifen. Christa wird unsichtbar. Sie ist nun nicht mehr auf dem Friedhof von Lübbenau zu finden, sondern verschwindet irgendwo auf dem großen Friedhof Berlin.

Der Krieg kam lange nicht nach Lübbenau. Ein großes Gemüsebeet und die zahlreichen Kaninchen versorgten die Familie Schulze-Päffgen auch in kargen Zeiten. Nico mit Cousin Ulli, Tante Helma und Oma Bertha.

Kein aufregenderer Spielplatz als Berlin in den Nachkriegsjahren, heißt es. Wer fünf Jahre alt war, zehn oder fünfzehn, der erlebte hier die schönsten Abenteuer. Auf den Ruinen konnte man nicht nur wunderbar herumklettern, die Trümmerberge waren nicht nur Sichtschutz und Rutschbahn in einem; überall gab es unzählige Verstecke, und immer wieder ließen sich kleine und größere Schätze finden, vergraben unter Steinen, zurückgelassen von Menschen, die vielleicht längst nicht mehr waren. Wenn auch kein Grün mehr wuchs, die letzten nicht von Bomben gefällten Bäume bald den Äxten der frierenden Einwohner zum Opfer fielen – für Kinder leuchtete diese graue Stadt, glänzten die Haufen aus Staub und Beton in den schillerndsten Farben.

Nico sprach in späteren Jahren allerdings nicht von Berlin als einem Abenteuerspielplatz. Auch von Freundinnen oder Freunden ist nicht die Rede, keiner Trümmerbande, der sie angehörte. Sie scheint sich allein in Beobachtung geübt zu haben. Als wollte sie Berlin, wenn seine Bewohner es schon nicht taten, in ihrem Innern so konservieren, wie sie es vorgefunden hatte. Man hätte,

Die Ruinen, sagte sie, bildeten den Hintergrund für ihre Songs. Irgendwann behauptete Nico sogar, all die Leichen, die sie auf den Straßen der Stadt und zwischen den Ruinen gesehen habe, seien eine Art Folie, auf der ihre Lyrics zu lesen seien (was sich allerdings, liest man ihre Songtexte gesondert, nicht konkret belegen lässt).

Ob Klein Christa, als sie im Herbst 1945, fast ein halbes Jahr nach Kriegsende und selbst gerade sieben Jahre alt, nach Berlin kam, tatsächlich noch Leichen herumliegen sah? Wohl kaum. Vielleicht gab es den ein oder anderen von der Roten Armee erschossenen Volkssturm-Mann auf den staubigen Straßen Lübbenaus, ansonsten aber mögen Erzählungen anderer die eigene Erinnerung besetzt haben.

So auch im Fall der Abreise aus dem Spreewaldort. Die beiden Mütter, Grete und Helma, zog es nach Berlin, fort von den Eltern, den Russen, der Kleinstadt, in der sie nicht auf ein Auskommen hoffen konnten. Aber wie? Die Straßen waren von Militär blockiert, die Gleise in üblem Zustand, und für Zivilisten gab es ohnehin keinen Platz in den wenigen Zügen. Irgendwann erfuhr Großvater Albert, dass in Berlin Waggons benötigt wurden, von denen in Lübbenau noch einige auf einem Abstellgleis standen. Er lotste seine Töchter auf ein Waggondach, und dann begann das Warten. Es dauerte vier Tage, bis eine Lokomotive auftauchte, um die Waggons zu holen.

So erzählte Nico die Geschichte, aber ganz so war es wohl nicht. Nur Helma und Ulrich unternahmen diese strapaziöse Reise, Grete und Christa folgten ihnen drei Monate später, als die Strecke wieder einfacher zu befahren war. Allerdings mussten sie nun illegal die inzwischen etablierte Grenze zwischen Ost und West passieren. Damit waren auch die Großeltern aus der Welt. Besuche waren aus logistischen wie politischen Gründen kaum mehr möglich, an Telefonieren war nicht zu denken.

Abgesehen von den Trümmern, die angeblich ausgereicht hätten, einen fünf Meter hohen Wall bis nach Köln zu bauen, war Berlin bis zum Ende des Jahrzehnts eine Stadt des Mangels. Immerhin gab es bald wieder Kinos. Von den ehemals über vierhundert Lichtspieltheatern der Stadt existierten nach Kriegsende noch zwanzig. Das änderte sich nicht zuletzt deswegen, weil die westlichen Alliierten, allen voran die Amerikaner, die Kultur und speziell den Film als wichtigen Bestandteil ihrer Politik der Re-education betrachteten – was freilich auch für die Russen in der Sowjetzone gilt.

Der erste weibliche Filmstar der Nachkriegszeit, Hildegard Knef, überzeugte Christa und ihre Mutter allerdings nicht. Sie verehrten nach wie vor das schwedische Aushängeschild der UFA, Zarah Leander. Sie war der höchstbezahlte weibliche Filmstar im Dritten Reich gewesen, hatte in dem Propagandafilm «Die große Liebe»

Ob Christas und Gretes Begeisterung für Leander an ihrem Äußeren lag, an den melodramatischen Rollen, in denen sie auftrat? Oder war es doch die Stimme, die mindestens so tief war wie die der späteren Nico? Vielleicht hat Nico ihr Selbstvertrauen als Sängerin auch aus dieser Erinnerung gezogen: Wenn Zarah Leander mit solch einer Stimme Erfolg hatte, warum dann nicht ich?

Die amerikanische Kultur dagegen hatte auf die heranwachsende Christa keinen allzu großen Einfluss. Später sollten es eher die Geschichten des Großvaters sein, die ihre Songtexte grundierten, das Nibelungen- und Märchenland mit seiner düsteren Romantik. Hätten die Deutschen nicht die Brüder Grimm gehabt, sondern Winnie-the-Pooh, so ein Brite nach dem Krieg, der Welt wäre viel Leid erspart geblieben. Nun war es nicht Winnie-the-Pooh, der Einzug in deutsche Kinderzimmer hielt, sondern Mickey Mouse. Aber für Pop scheint sich Nico erst in den sechziger Jahren geöffnet zu haben, als sie den Urvater des Pop traf, Andy Warhol. Caspar David Friedrich und Robert Schumann waren ihr zeitlebens näher als Roy Lichtenstein und Michael Jackson.

Auch wenn Nico Deutschland mit sechzehn Jahren verließ und in den darauffolgenden dreiunddreißig Jahren nur noch Gast sein würde in der BRD, ihre deutsche Prägung legte sie ebenso wenig ab wie ihren deutschen Pass. Mögen Coleridge und Lautréamont später für sie an

Selbst in «Schwarzmarkt», ihrem liebsten deutschen Wort, hörte Nico den Binnenreim des Vokals «a». «Schwarzmarkt» war für sie lange Zeit ein wundersamer Klang, der die ungefähre Vorstellung eines großen dunklen Gebäudes hervorrief. Ihre Mutter dagegen ging tatsächlich zum Schwarzmarkt – um einzukaufen, möchte man schreiben, aber richtiger wäre wohl: um einzutauschen, denn Geld war nicht unbedingt das Zahlungsmittel der Wahl. Zigaretten bildeten den Goldstandard der Zeit.

Aber woher sollte Grete Zigaretten nehmen, gute amerikanische zumal? So kann man sicher sein, dass auch andere Dinge als Tauschware herhalten mussten. Der Dichter Ernst Kreuder notierte einmal, was sich alles so eintauschen ließ: «Kartoffeln gegen Fahrradbeleuchtung. Bettwäsche gegen Kaninchen. Für eine alte Kodak-Box bekam ich einen länglichen Persil-Karton voll Knaster, abgetrocknet, Marke ‹Scheuerbambel›, ‹Siedlerstolz› oder schlicht ‹Lungentod›. Feingehackt, in Blättchen aus Durchschlagpapier eingerollt, ergab’s krumpelige Zigaretten, Besen genannt.»

Mangel bestand an allem, vor allem aber an Nahrungsmitteln. In den Jahren bis zur Währungsreform 1948 hungerten viele, zumal in den Großstädten und ganz besonders in Berlin, wo die Schwarzmarktpreise höher waren als in jeder anderen Stadt. So unternahmen die Menschen Wildgemüse-Exkursionen: «Wir trafen uns

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