Nathan Filer
Nachruf auf den Mond
Roman
Aus dem Englischen von Eva Bonné
Knaur e-books
Nathan Filer, ehemaliger Krankenpfleger auf der Abteilung für »Psychische Erkrankungen«, Mitglied des Forschungsteams für Psychiatrie an der Bristol University, hat fast zehn Jahre an Nachruf auf dem Mond geschrieben, für den er unter anderem mit dem begehrten Costa Award ausgezeichnet wurde. Heute unterrichtet er zudem Creative Writing an der Bath Spa University und zeichnet für sein Leben gern.
Mehr über den Autor unter: www.nathanfiler.co.uk
Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»The Shock of the Fall« bei HarperCollins, London.
© 2015 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2013 by Nathan Filer
© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Teresa Pütz
Covergestaltung: Network! Werbeagentur GmbH
Coverabbildung: Network! Werbeagentur GmbH
ISBN 978-3-426-42793-4
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Für Emily
Sie sollten wissen, dass ich kein netter Mensch bin. Manchmal bemühe ich mich, nett zu sein, aber meistens klappt es nicht. Und als ich an der Reihe war, die Augen zu schließen und bis hundert zu zählen, habe ich geschummelt.
Ich stand dort, wo man stehen muss, wenn man mit Zählen dran ist: gleich neben den Recyclingtonnen hinter dem Laden, der Einweggrills und Zeltheringe verkauft. An der Stelle mit dem kniehohen Gras und dem Wasserhahn.
Bloß dass ich mich nicht erinnern kann, dort gestanden zu haben. Nicht so richtig. Man hat nicht immer alle Details parat, oder? Man weiß nicht mehr genau, ob man neben den Mülltonnen stand oder weiter hinten, auf dem Fußweg, der zu den Duschkabinen führt, und ob es überhaupt einen Wasserhahn gab.
Ich kann die panischen Schreie der Möwen nicht mehr hören, auch die salzige Luft schmecke ich nicht. Ich spüre weder die Nachmittagssonne, die mein aufgeschlagenes Knie unter dem frischen weißen Verband schweißnass werden lässt, noch das Kribbeln der Sonnencreme in den rissigen Krusten. Ich kann das vage Gefühl des Verlassenseins nicht mehr heraufbeschwören. Und genauso wenig – wo wir schon einmal dabei sind – erinnere ich mich, bewusst geschummelt und die Augen geöffnet zu haben.
Sie war etwa in meinem Alter, hatte rotes Haar und ein mit Hunderten von Sommersprossen besprenkeltes Gesicht. Der Saum ihres cremeweißen Kleides war schmutzig, weil sie auf dem Boden gekniet hatte, und sie presste sich eine kleine Stoffpuppe mit schmutzig rosa Gesicht, braunem Wollhaar und glänzenden, schwarzen Knopfaugen an die Brust.
Zuerst legte sie die Puppe weg, bettete sie behutsam neben sich ins hohe Gras. Die Puppe schien es dort sehr bequem zu haben, mit seitlich ausgestreckten Armen und leicht erhöhtem Kopf. Jedenfalls fand ich, dass es gemütlich aussah.
Ich war ihr so nah, dass ich das Kratzen und Scharren hörte, als sie sich daranmachte, mit einem Stock ein Loch in den trockenen Erdboden zu graben. Sie bemerkte mich aber nicht, nicht einmal, als sie den Stock wegwarf und er fast auf meinen Zehen landete, die vorn aus meinen blöden Gummiflipflops herausragten. Ich hätte lieber Turnschuhe getragen, aber Sie kennen ja meine Mutter. Turnschuhe, an einem so schönen Tag wie heute? Auf keinen Fall. So ist sie eben.
Eine Wespe summte um meinen Kopf herum, normalerweise hätte ich jetzt wild um mich geschlagen. Aber diesmal hatte ich mich im Griff. Ich hielt absolut still, um das kleine Mädchen nicht zu stören, um nicht bemerkt zu werden. Sie grub mit den Händen weiter und kratzte die trockene Erde mit den Fingern beiseite, bis das Loch tief genug war. Dann rieb sie sich den Staub von den Fingern, so gut es ging, nahm die Puppe wieder auf und küsste sie zweimal.
Daran kann ich mich am deutlichsten erinnern – an die zwei Küsschen, eins auf die Stirn und eins auf die Wange.
Ich habe vergessen zu sagen, dass die Puppe einen Mantel trug. Einen leuchtend gelben Mantel mit schwarzer Plastikschnalle am Revers. Das ist wichtig, denn als Nächstes öffnete das Mädchen die Schnalle und zog der Puppe den Mantel aus. Sie erledigte das sehr schnell, und dann stopfte sie sich den Mantel in den Ausschnitt.
Manchmal, wenn ich mich an die Küsschen erinnere – jetzt zum Beispiel –, meine ich, sie auf der Haut zu spüren.
Eins auf die Stirn.
Eins auf die Wange.
Was als Nächstes geschah, habe ich weniger klar vor Augen, denn inzwischen haben sich so viele andere Erinnerungen dazwischengeschoben, habe ich es auf so viele Arten durchgespielt, dass ich die Realität nicht mehr von der Einbildung trennen, geschweige denn den Unterschied benennen kann. Deshalb weiß ich nicht mehr genau, wann sie zu weinen anfing, oder ob sie von Anfang an geweint hatte. Und ich weiß auch nicht mehr, ob sie zögerte, bevor sie die letzte Handvoll Erde warf. Aber ich weiß noch, dass sie sich, als die Puppe endlich begraben und die Erde festgeklopft war, vorbeugte, sich den Mantel an die Brust drückte und laut zu schluchzen anfing.
Es ist gar nicht so einfach, ein Mädchen zu trösten, wenn man ein Junge von neun Jahren ist. Insbesondere, wenn man das Mädchen nicht kennt und nicht weiß, was Sache ist.
Ich gab mein Bestes.
Um ihr sanft meinen Arm um die Schulter zu legen – so wie mein Dad es auf Familienspaziergängen bei Mum machte –, setzte ich mich in Bewegung, war aber plötzlich unschlüssig, ob ich mich neben sie knien oder stehen bleiben sollte. Ich schwebte unbeholfen zwischen beiden Positionen, verlor das Gleichgewicht und kippte in Zeitlupe vornüber, so dass das weinende Mädchen mich erst bemerkte, als ich mit meinem vollen Gewicht auf ihm landete und sein Gesicht in das frische Grab gedrückt wurde. Obwohl ich oft darüber nachgedacht habe, weiß ich bis heute nicht, was ich hätte sagen können, um die Situation zu entschärfen. Als wir nebeneinander auf dem Boden lagen und unsere Nasenspitzen sich fast berührten, versuchte ich es mit: »Ich bin Matthew. Wie heißt du?«
Sie antwortete nicht sofort. Sie legte den Kopf in den Nacken, um mich besser sehen zu können, und dabei fühlte ich, wie eine Strähne ihres langen Haars an meiner Zunge entlang und aus meinem Mundwinkel herausglitt. »Ich heiße Annabelle«, sagte sie.
Sie hieß Annabelle.
Das Mädchen mit den roten Haaren und dem mit Hunderten von Sommersprossen besprenkelten Gesicht heißt Annabelle. Versuch, es nie zu vergessen. Halte es fest, auch wenn das Leben weitergeht, auch wenn Dinge passiert sind, die diese Erinnerung austreiben wollen. Bewahre sie an einem sicheren Ort auf.
Ich erhob mich. Der Verband an meinem Knie war jetzt verdreckt und braun. Ich wollte ihr erzählen, dass wir Verstecken spielten und sie mitspielen könne, wenn sie wolle. Aber sie fiel mir ins Wort. Sie sprach sehr leise und war kein bisschen wütend oder aufgebracht, aber sie sagte: »Du bist hier nicht mehr willkommen, Matthew.«
»Was?«
Sie würdigte mich keines Blickes, stützte sich auf Hände und Knie und konzentrierte sich darauf, den kleinen Erdhügel abermals zu bearbeiten, bis er makellos glatt war. »Der Campingplatz gehört meinem Daddy. Ich wohne hier, und du bist nicht willkommen. Geh nach Hause.«
»Aber …«
»Hau ab!«
Im nächsten Moment hatte sie sich aufgerichtet und kam mit vorgereckter Brust auf mich zu wie ein kleines Tier, das sich größer machen will. Sie wiederholte sich: »Hau ab, habe ich gesagt. Du bist hier nicht willkommen.«
Eine Möwe lachte hämisch, und Annabelle rief: »Du hast alles verdorben!«
Es war zu spät für Erklärungen. Als ich zurück auf dem Pfad war, kniete sie schon wieder auf dem Boden und vergrub das Gesicht in dem kleinen, gelben Puppenmantel.
Die anderen Kinder riefen aus ihren Verstecken nach mir. Aber ich suchte sie nicht. Vorbei an den Duschkabinen, am Laden vorbei und durch den Park – ich rannte, so schnell ich konnte, ich jagte mit knallenden Flipflops über den heißen Asphalt. Ich blieb nicht stehen und wurde nicht langsamer, bis ich unseren Wohnwagen gefunden hatte, vor dem meine Mum in ihrem Liegestuhl saß. Sie trug einen Strohhut und betrachtete das Meer. Sie lächelte und winkte mir zu, dabei wusste ich, dass sie immer noch schlecht auf mich zu sprechen war. Seit ein paar Tagen waren wir verkracht. Es war albern, denn eigentlich war nur mir etwas passiert und die Krusten außerdem fast schon verheilt, aber manchmal fällt es meinen Eltern schwer zu vergessen.
Besonders meine Mutter kann sehr nachtragend sein.
Ich wohl auch.
Ich werde Ihnen erzählen, was passiert ist, denn bei der Gelegenheit kann ich Ihnen meinen Bruder vorstellen. Er heißt Simon. Ich glaube, Sie werden ihn mögen. Wirklich. In ein paar Seiten wird er tot sein. Danach war er nie mehr derselbe.
Als wir am Ocean Cove Holiday Park ankamen, gelangweilt von der Reise und brennend vor Forscherdrang, sagte man uns, wir dürften den Campingplatz nach Belieben erkunden, jedoch niemals allein an den Strand gehen, der unterhalb eines gefährlich steilen Trampelpfades lag. Und weil man, um zum Trampelpfad zu gelangen, ein Stück an der Landstraße entlanggehen musste. Unsere Eltern gehörten zu jener Sorte Menschen, die sich um so etwas Gedanken machen – um abschüssige Pfade und Landstraßen. Ich hatte trotzdem beschlossen, allein zum Strand zu gehen. Ich tat oft, was verboten war, und mein Bruder machte es mir nach. Wenn ich nicht entschieden hätte, diesen Teil meiner Geschichte Das Mädchen und seine Puppe zu nennen, hätte er Der Schock nach dem Sturz und das Blut an meinem Knie geheißen, denn auch das war von Bedeutung.
Da waren der Schock nach dem Sturz und das Blut an meinem Knie. Körperliche Schmerzen habe ich noch nie gut ertragen können. Ich hasse mich dafür. Ich bin ein totales Weichei. Als Simon mich eingeholt hatte – an dem Knick im Pfad, wo frei liegende Wurzeln nach nichtsahnenden Fußknöcheln schnappen –, heulte ich längst wie ein Kleinkind.
Er sah so bestürzt aus, dass es fast schon wieder lustig war. Simon lächelte ständig und hatte ein großes, rundes Gesicht, das mich an den Mond erinnerte. Aber jetzt auf einmal wirkte er so verdammt besorgt.
Simon tat Folgendes: Er nahm mich auf die Arme und trug mich Schritt für Schritt den steilen Küstenpfad hinauf, und dann trug er mich eine weitere Viertelmeile bis zu unserem Wohnwagen. Das tat er für mich.
Unterwegs begegneten wir Erwachsenen, die helfen wollten, aber Sie müssen wissen, dass Simon anders war als die meisten Menschen, die Sie kennen. Er besuchte eine besondere Schule, wo den Kindern grundlegendes Wissen vermittelt wird, zum Beispiel, dass man nicht mit Fremden spricht; wann immer er verwirrt war oder Angst bekam, rief er sich diese einfachen Lektionen ins Gedächtnis, um seine Sicherheit zurückzugewinnen. So tickte er.
Er trug mich ganz allein. Dabei war er nicht einmal stark. Das war ein Symptom seiner Krankheit, er litt an Muskelschwäche. Sie hat einen bestimmten Namen, der mir gerade nicht einfällt, aber ich werde ihn nachschlagen, sobald ich die Gelegenheit dazu habe. Sie hatte jedenfalls zur Folge, dass die Anstrengung ihn beinahe umbrachte. Nachdem wir den Wohnwagen erreicht hatten, musste er den Rest des Tages im Bett verbringen.
Simon hat mich getragen, und dies sind die drei Dinge, die mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben sind:
Wie mein Kinn bei jedem Schritt gegen seine Schulter schlug. Ich hatte Angst, ihm weh zu tun, aber ich war zu beschäftigt mit meinem eigenen Schmerz, um etwas zu sagen.
Also versuchte ich, seinen Schmerz wegzuküssen, so wie früher, als ich klein war und dachte, dass die Methode wirklich funktioniert. Ich glaube aber nicht, dass er es bemerkt hat, denn bei jedem Kuss schlug nicht mehr mein Kinn gegen seine Schulter, sondern meine Zähne, was höchstens noch schmerzhafter war.
Pssst, pssst, das wird schon wieder. Das sagte er zu mir, als er mich draußen vor dem Wohnwagen ablegte, und dann rannte er los, um Mum zu holen. Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt – Simon war alles andere als stark. Mich zu tragen war das Anstrengendste, was er je getan hatte, und dennoch versuchte er, mich zu trösten. Pssst, pssst, das wird schon wieder. Er klang so erwachsen, so sanft und sicher. Zum ersten Mal im Leben hatte ich wirklich das Gefühl, einen älteren Bruder zu haben. In den wenigen, kurzen Sekunden, die ich draußen lag und auf Mum wartete, während ich mein Knie umklammert hielt und den Dreck und den Sand in der Wunde sah und mir einbildete, den Knochen erkennen zu können – in jenen kurzen Sekunden fühlte ich mich absolut sicher.

Mum säuberte und verband die Wunde, und dann schimpfte sie mich aus, weil ich Simon in so eine unmögliche Lage gebracht hatte. Auch Dad schimpfte mich aus. Zwischendurch schimpften sie gleichzeitig, so dass ich nicht mehr wusste, wen ich anschauen sollte. So lief das bei uns. Obwohl mein Bruder drei Jahre älter war als ich, wurde ich immer und für alles verantwortlich gemacht. Ich nahm ihm das oft übel. Nur diesmal nicht. Diesmal war er mein Held.
Das also ist die Geschichte, mit der ich Simon vorstellen möchte. Sie war der Grund dafür, dass meine Mutter schlecht auf mich zu sprechen war, als ich atemlos den Wohnwagen erreichte und zu begreifen versuchte, was es mit dem kleinen Mädchen und der Stoffpuppe auf sich hatte.
»Mein Schatz, du bist ja kreidebleich!«
Sie nannte mich immer kreidebleich, meine Mum. Bis heute nennt sie mich so, ständig. Fast hatte ich vergessen, dass sie es damals schon zu mir sagte. Ich habe komplett vergessen, dass sie mich immer schon kreidebleich nannte.
»Das wegen neulich tut mir leid, Mum.« Es tat mir wirklich leid. Ich hatte viel darüber nachgedacht. Wie Simon mich getragen hatte, und wie besorgt er gewesen war.
»Ist schon gut, mein Schatz. Wir sind im Urlaub. Versuch, dich ein bisschen zu amüsieren. Dad ist mit Simon an den Strand gegangen, sie wollen den Drachen steigen lassen. Sollen wir ihnen nachgehen?«
»Ich möchte lieber drinnen bleiben. Es ist so heiß draußen. Ich glaube, ich möchte ein bisschen fernsehen.«
»An einem so schönen Tag wie heute? Also wirklich, Matthew. Was sollen wir bloß mit dir machen?«
Ihre Frage klang irgendwie gutmütig, so als verspüre sie eigentlich kein Bedürfnis, etwas mit mir zu machen. Manchmal konnte sie sehr nett sein. Richtig nett.
»Ich weiß auch nicht, Mum. Das wegen neulich tut mir leid. Alles tut mir leid.«
»Schwamm drüber, Schätzchen. Im Ernst.«
»Versprochen?«
»Versprochen. Komm, wir lassen den Drachen steigen, ja?«
»Ich habe keine Lust.«
»Du wirst jetzt nicht fernsehen, Matt.«
»Eigentlich spiele ich gerade Verstecken.«
»Du versteckst dich?«
»Nein. Ich muss suchen. Ich sollte jetzt wirklich damit anfangen.«
Aber die anderen Kinder hatten sich in ihren Verstecken gelangweilt und sich in kleinere Grüppchen aufgeteilt, um andere Spiele zu spielen. Ich hatte sowieso keine Lust mehr. Ich lief ziellos herum, bis ich wieder an der Stelle stand, wo ich das kleine Mädchen getroffen hatte. Bloß dass sie nicht mehr da war. Da war nur noch der kleine Erdhügel, der mittlerweile mit Butterblumen und Gänseblümchen und zwei über Kreuz gelegten Stöcken, die das Grab markierten, liebevoll geschmückt war.
Ich wurde sehr traurig. Und sogar jetzt, wenn ich daran zurückdenke, werde ich ein bisschen traurig. Wie dem auch sei, ich muss jetzt Schluss machen. Jeanette aus der Kunstgruppe führt wieder ihre Pantomime vom aufgescheuchten Vogel auf: Sie hampelt am Ende des Flurs herum, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Das Pappmaché rührt sich nicht von allein an!
Ich muss Schluss machen.
Die nächste Sache, an die ich mich erinnere, ist, dass Mum das Radio auf volle Lautstärke drehte, damit ich sie nicht weinen hörte.
Es war dumm. Ich hörte sie sowieso. Ich saß direkt hinter ihr im Auto, und sie weinte echt laut. Dad übrigens auch. Er weinte und fuhr gleichzeitig. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht mehr, ob ich auch geweint habe. Wahrscheinlich schon. Es schien jedenfalls angebracht. Aber als ich meine Wangen berührte, waren sie trocken. Ich weinte kein bisschen.
Das meinen die Leute, wenn sie sagen, sie fühlen sich wie betäubt, nicht wahr? Ich war zu betäubt, um zu weinen, so was sagen sie manchmal im Fernsehen. In diesen Talkshows, die tagsüber laufen. Ich konnte rein gar nichts fühlen, sagen sie. Ich war wie betäubt. Und das Publikum nickt mitfühlend, so als hätte das jeder schon einmal erlebt, als wüsste jeder, wie es sich anfühlt, betäubt zu sein. So war es wohl, gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen deswegen. Ich vergrub meinen Kopf zwischen den Händen, damit Mum und Dad, falls sie sich zu mir umdrehten, glaubten, ich würde mit ihnen weinen.
Aber sie drehten sich nicht um. Niemand drückte mir beruhigend das Knie, niemand sagte mir, alles würde wieder gut. Niemand flüsterte: Psst, psst.
Da wusste ich – ich war ganz allein.
Seltsam, es auf diese Weise zu erfahren.
Der DJ im Radio sagte aufgeregt den nächsten Song an, als wäre es der beste jemals aufgenommene Song, den ankündigen zu dürfen sein Leben erst lebenswert machte. Für mich ergab das alles keinen Sinn. Ich verstand nicht, wie der DJ so glücklich sein konnte, wo doch etwas so Schreckliches passiert war. Das war mein erster klarer Gedanke. Das war es, woran ich dachte, als ich gewissermaßen erwachte. Ich hatte mein Leben bis dahin zwar nicht unbedingt verschlafen, aber besser kann ich den Moment nicht beschreiben.
Die Erinnerungen fielen von mir ab wie ein Traum kurz nach dem Aufwachen. So fühlte es sich an. Ich nahm meine Erinnerungen nur noch verschwommen wahr – Nacht, schnelle Schritte, irgendwo standen Polizisten herum.
Und Simon war tot.
Mein Bruder war tot.
Aber die Eindrücke ließen sich nicht festhalten. Es sollte mir erst viel später wieder einfallen.
Ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Ich habe nur eine Chance, es richtig darzustellen. Ich muss aufpassen. Ich muss es sorgfältig auspacken, nach und nach, damit ich es schnell wieder zusammenfalten und einstecken kann, falls es mir zu viel wird. Und jeder weiß, dass man Sachen am besten zusammenfaltet, indem man sich an den vorgeprägten Falzen orientiert.
Meine Großmutter (die Mutter meiner Mutter, die wir Nanny Noo nennen) liest Bücher von Danielle Steel und Catherine Cookson, und jedes Mal wenn sie ein neues anfängt, blättert sie zuerst zur letzten Seite und liest das Ende.

Das macht sie immer so.
Ich blieb für eine Weile bei ihr. Für die erste Woche. Eine sehr traurige Woche war das, und vermutlich die einsamste meines Lebens. Ich glaube, man kann sich nicht einsamer fühlen als ich damals, selbst ohne einen Großvater und eine Nanny Noo, die einem Gesellschaft leisten.
Meinen Großvater kennen Sie wahrscheinlich nicht, aber falls doch, werden Sie wissen, dass er ein begeisterter Hobbygärtner ist. Bloß dass er keinen Garten hat. Schon seltsam, wenn man mal drüber nachdenkt. Dann wiederum ist es kein bisschen seltsam, denn er hat ein kleines Grundstück ein paar Gehminuten von der Wohnung entfernt gepachtet, auf dem er Gemüse und Kräuter anbaut, Rosmarin und andere Sorten, deren Namen ich immer vergesse.
In jener Woche verbrachten wir endlose Stunden dort. Manchmal half ich beim Unkrautjäten, manchmal durfte ich am Rand des Gartens sitzen und Donkey Kong auf meinem Game Boy Color spielen, solange ich den Ton abstellte. Meistens stromerte ich jedoch durch die Gegend und wälzte Steine um, damit ich die Insekten darunter sehen konnte. Am besten gefielen mir die Ameisen. Simon und ich hatten im Garten immer nach Ameisennestern gesucht. Simon fand sie großartig, und er bettelte um die Erlaubnis, eine Ameisenfarm in seinem Zimmer haben zu dürfen. Meistens bekam er seinen Willen. Diesmal nicht.
Mein Großvater half mir, die Gehwegplatten hochzustemmen, damit ich die Nester sehen konnte. Sobald die Platte angehoben wurde, drehten die Ameisen durch, sie krabbelten panisch herum, tauschten geheime Botschaften aus und schleppten ihre winzigen, weißgelben Eier in sichere Tiefen.
Nach wenigen Minuten war die Erdoberfläche verlassen, abgesehen vielleicht von ein paar Asseln, die schwerfällig herumwanderten und sich fragten, was die ganze Aufregung sollte. Manchmal steckte ich einen Zweig in eins der Erdlöcher, und augenblicklich kam ein Dutzend Ameisensoldaten heraus, um den Gegenangriff einzuleiten und die Kolonie mit ihrem Leben zu verteidigen. Nicht dass ich sie jemals verletzt hätte. Ich wollte immer nur zuschauen.
Wenn mein Großvater fertig mit Unkrautjäten oder Ernten oder Pflanzen war, legten wir die Gehwegplatte vorsichtig an ihren Platz zurück und machten uns auf den Weg nach Hause, wo Nanny mit dem Abendessen wartete. Ich kann mich nicht erinnern, mich je mit ihm unterhalten zu haben. Dabei kann es nicht anders gewesen sein. Aber welche Worte wir auch wechselten, sie sind aus meiner Erinnerung verschwunden wie Ameisen in einem Loch.
Nanny Noo konnte gut kochen. Sie ist eine von diesen Frauen, die einem etwas zu essen anbieten, sobald man zur Tür hereinkommt, und sie hört nicht auf damit, bis man wieder geht. Vielleicht steckt sie einem noch schnell ein Schinkenbrot zu, als Wegzehrung.
Ein schöner Charakterzug, finde ich. Menschen, die ihr Essen großzügig verteilen, haben ein großes Herz. Aber in der Woche fiel es mir schwer, bei meinen Großeltern zu sein, weil ich keinen Appetit hatte. Meistens war mir schlecht, und ein- oder zweimal übergab ich mich sogar. Auch für Nanny Noo war es nicht leicht, denn wann immer ein Problem sich nicht durch Essen lösen ließ – durch einen Teller Suppe, ein Brathühnchen oder eine Scheibe Battenbergkuchen –, fühlte sie sich überfordert. Einmal spionierte ich ihr nach und sah, wie sie sich in der Küche über das unangerührte Essen beugte und schluchzte.
Am schlimmsten war das Schlafengehen. Ich schlief im Gästezimmer, in dem es nie wirklich dunkel wird, weil der Vorhangstoff dünn ist und draußen vor dem Fenster eine Laterne steht. Abends lag ich stundenlang wach, starrte ins Halbdunkel und wünschte mir, ich könnte nach Hause. Ich fragte mich, ob ich jemals zurückdurfte.
»Kann ich heute bei euch schlafen, Nanny?«
Sie rührte sich nicht, deswegen schlich ich ins Zimmer und hob ihre Bettdecke an. Nanny Noo besitzt eine von diesen Elektrodecken, weil sie immer kalte Knochen hat. Aber in dieser Nacht war es warm und die Decke nicht eingeschaltet. Ich stieß einen leisen Schrei aus, als ich mit dem nackten Fuß auf den Stecker trat.
»Schätzchen?«
»Nanny, bist du wach?«
»Pssst, weck deinen Großvater nicht auf.«
Sie hob die Decke, und ich schlüpfte zu ihr ins Bett. »Ich bin auf den Stecker getreten«, sagte ich. »Mein Fuß tut ein bisschen weh.«
Ich spürte Nannys warmen Atem an meinem Ohr. Ich hörte meinen Großvater rhythmisch schnarchen.
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte ich schließlich. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich weiß nicht, was ich getan habe.«
Ich wollte es wenigstens aussprechen. Ich konnte an nichts anderes mehr denken und wollte es unbedingt aussprechen, auch wenn sich nichts änderte. Ich spürte Nannys Atem an meinem Ohr. »Du bist auf den Stecker getreten, mein armer Engel. Du hast dir am Fuß weh getan.«
Als ich nach Hause kam, gab es nur noch Mum und Dad und mich. Am ersten Abend ließen wir uns zu dritt auf das große, grüne Sofa sinken, so wie immer, denn Simon hatte lieber im Schneidersitz auf dem Teppich gesessen, das Gesicht dicht vor dem Fernsehschirm.
So in etwa sah unser Familienporträt aus. Kaum zu glauben, dass man so etwas vermissen kann. Vielleicht ist es einem vorher kaum aufgefallen, obwohl man Tausende Male zwischen Mum und Dad auf dem großen, grünen Sofa saß und der große Bruder auf dem Teppichboden davor einem die Sicht auf den Fernseher versperrt hat. Vielleicht ist es einem nie aufgefallen.
Aber es fällt einem auf, sobald er nicht mehr da ist. Auf einmal bemerkt man die Plätze, an denen er nicht ist, und man hört so viele Dinge, die er nicht sagt.
Ich jedenfalls.
Ich höre ihn die ganze Zeit.
Mum schaltete den Fernseher ein, weil EastEnders anfing. Das war unser Ritual. Waren wir einmal nicht zu Hause, zeichneten wir die Folge auf. Simon war schrecklich in Bianca verliebt, was wir sehr lustig fanden. Wir zogen ihn damit auf und sagten ihm, Ricky würde ihn zusammenschlagen. Nur zum Spaß sagten wir das. Simon lachte dann laut und wälzte sich auf dem Teppich. Er hatte ein Lachen, das die Leute ansteckend nennen. Sein Lachen machte alles noch einen Tick schöner.
Ich weiß ja nicht, ob Sie EastEnders kennen, und selbst wenn, können Sie sich wohl kaum an eine so alte Folge erinnern. Aber diese eine habe ich nie vergessen. Ich weiß noch, wie ich auf dem Sofa saß und sah, wie der ganze Betrug und die Lügen – angeblich hatte Bianca mit dem Freund ihrer Mum geschlafen und noch ein Haufen anderes Zeugs – zur bitteren Auflösung kam. Es war die Folge, in der Bianca Walford verlässt.
Nach der Sendung sprachen wir für eine ganze Weile nicht. Wir rührten uns nicht vom Fleck. Andere Sendungen begannen und gingen zu Ende, bis spät in die Nacht. So sah unser neues Familienporträt aus: wir drei, Seite an Seite, auf den leeren Platz starrend. Dort, wo Simon immer saß.
Immer wieder schaut sie mir über die Schulter. Sich an diesem Ort zu konzentrieren ist schon schwer genug, auch ohne dass einem jemand über die Schulter schaut.
Ich habe die Buchstaben extragroß gemacht, damit die Botschaft ankommt. Es hat funktioniert, aber jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen. Es war die Junge, die mir über die Schulter geschaut hat, die mit dem Pfefferminzatem und den großen Goldohrringen, die hier eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin macht. Sie ist echt nett.
Jedenfalls ist sie jetzt munter und fröhlich und mit hüpfenden Schritten im Flur verschwunden. Dabei weiß ich, dass ich sie beschämt habe, denn so munter und fröhlich hüpfen die Leute nur, wenn sie sich schämen. Wenn man sich nicht schämt, besteht kein Grund zu hüpfen, dann geht man einfach.
Aber es ist gut, diesen Computer benutzen zu dürfen. Der Beschäftigungstherapeut hat mich eingewiesen. Er heißt Steve, wahrscheinlich werde ich ihn kein zweites Mal erwähnen. Offensichtlich war er sehr erleichtert darüber, dass ich nicht versucht habe, in die Tastatur zu beißen, oder was auch immer die befürchtet haben. Er hat gesagt, es wäre okay, wenn ich den Computer zum Schreiben benutze. Das Passwort hat er mir trotzdem nicht verraten, und so muss ich jedes Mal fragen, und dann habe ich nur vierzig Minuten. So läuft das hier, vierzig Minuten dies, vierzig Minuten das. Aber dass ich die Studentin beschämt habe, tut mir aufrichtig leid. Ehrlich. Ich hasse mich dafür.
Ich hatte kein Recht, an der Beerdigung meines Bruders teilzunehmen. Aber ich war trotzdem dabei. Ich trug ein weißes Polyesterhemd, das am Kragen höllisch kratzte, und eine schwarze Krawatte zum Anklipsen. Wann immer jemand hustete, hallte es durch die ganze Kirche. Hinterher gab es Scones mit Schlagsahne und Marmelade. An mehr kann ich mich nicht erinnern.
Ich sollte langsamer machen. Ich tendiere zur Hektik, wenn ich nervös bin. Beim Sprechen ist es genauso, was sehr seltsam ist; man könnte doch meinen, dass nur kleine, drahtige Menschen so schnell reden. Ich bin eins zweiundachtzig groß und wachse vielleicht sogar noch ein Stück. Vielleicht auch nicht, denn ich bin schon neunzehn. In die Breite wachse ich aber definitiv. Ich bin dicker, als ich sein sollte. Schieben wir es auf die Medikamente – die Nebenwirkungen sind allseits bekannt.
Jedenfalls spreche ich zu schnell. Wenn sie mir unangenehm sind, so wie jetzt, beeile ich mich, mit den Wörtern fertig zu werden.
Ich sollte langsamer machen, denn ich möchte erklären, wie mein Leben immer langsamer wurde. Ich muss außerdem darüber sprechen, dass mein Leben eine bestimmte Form und Größe hat und sich in etwas Kleines hineinzwängen lässt – beispielsweise in ein Haus.
Aber zunächst möchte ich erzählen, wie es ringsum still wurde. Das fiel mir als Erstes auf. Es war, als wäre jemand gekommen und hätte den Ton leiser gedreht; offenbar fühlten sich alle verpflichtet zu flüstern. Nicht nur Mum und Dad, sondern auch die Besucher – als schliefe in der Ecke ein schreckliches Ding, das auf keinen Fall geweckt werden durfte.
Ich spreche hier von Verwandten, von Leuten wie meinen Tanten und Großeltern. Meine Eltern hatten keinen großen Bekanntenkreis. Ich hatte Freunde, aber die waren alle in der Schule. Das war die andere Sache. Ich fürchte, dass ich schon wieder vorgreife, aber ich muss Ihnen kurz schildern, warum ich plötzlich aufhörte, in die Schule zu gehen, erstens, weil es wichtig, und zweitens, weil es tatsächlich so passiert ist. Das meiste im Leben ist weder das eine noch das andere. Ein überwiegender Teil des Lebens besteht aus verstreichender Zeit, und einen großen Teil davon verschlafen wir auch noch.
Wenn ich viele Medikamente bekommen habe, schlafe ich bis zu achtzehn Stunden am Tag. In diesen Phasen interessieren mich meine Träume mehr als die Realität, allein schon deshalb, weil sie so viel meiner Zeit in Anspruch nehmen. Habe ich schöne Träume, kommt mir das Leben ziemlich gut vor. Wenn die Medikamente nicht richtig anschlagen – oder wenn ich nicht alle nehme –, bin ich länger wach. Wobei meine Träume mich selbst dann verfolgen.
Es ist, als wären unsere Träume durch eine Wand von der Realität getrennt, nur dass die Wand in meinem Fall Risse aufweist. Meine Träume schaffen es immer wieder, sich durchzuschieben und durchzusickern, bis ich den Unterschied nicht mehr merke.
Manchmal
stürzt
die Mauer
ein.
Dann
kommen
die Alpträume.
Aber ich lasse mich schon wieder ablenken.
Ich lasse mich immer so leicht ablenken. Ich muss mich konzentrieren, denn ich habe eine Menge aufzuschreiben – das mit der Schule zum Beispiel. Der Sommer war vorüber. Der September neigte sich seinem Ende zu, und ich war noch kein einziges Mal im Unterricht gewesen. Eine Entscheidung war fällig.
Der Schuldirektor rief an, und ich hörte Mums Hälfte des Gesprächs, während ich auf der Beobachtungsstufe saß. Wobei es sich genau genommen um kein Gespräch handelte. Eigentlich bedankte sie sich bloß, wieder und wieder. Dann rief sie mich an den Apparat.
Es war seltsam, denn in der Schule spricht man ja eher nicht mit dem Schuldirektor. Ich meine, eigentlich spricht man immer nur mit seinen Lehrern. Ich hätte nicht sagen können, ob ich überhaupt schon einmal mit dem Schuldirektor geredet hatte, aber da war er schon am anderen Ende der Leitung und sagte: »Hallo, Matthew, hier ist Mr. Rogers.«
»Hallo, Sir«, brachte ich heraus. Auf einmal klang meine Stimme ganz klein. Ich wartete darauf, dass er etwas sagte, während Mum meine Schulter drückte.
»Ich habe mich eben schon mit deiner Mum unterhalten, aber ich wollte auch mit dir sprechen. Ist das in Ordnung?«
»Ja.«
»Ich weiß, dass du gerade eine sehr schwierige und traurige Zeit durchmachst. Ich kann mir kaum ausmalen, wie hart das sein muss.«
Ich sagte nichts, weil mir darauf nichts zu sagen einfiel, und so kam es zu einer sehr langen Schweigepause. Dann, ich wollte gerade sagen, es sei tatsächlich sehr hart, fing Mr. Rogers unvermittelt zu sprechen an und wiederholte, wie traurig das alles sei. Als wir daraufhin beide innehielten, um den anderen ausreden zu lassen, ergab sich ein weiteres Schweigen. Mum strich mir über die Schulterblätter. Im Telefonieren war ich nie gut.
»Matthew, ich will dich nicht länger aufhalten. Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss. Ich wollte dir nur sagen, dass wir alle an dich denken und dich vermissen. Und egal wie lange es dauert, egal wie viel Zeit du brauchst, du wirst hier immer herzlich willkommen sein. Hab keine Angst.«
Das aus seinem Mund zu hören war wirklich seltsam, denn bis zu diesem Moment hatte ich gar keine Angst gehabt. Ich fühlte alles Mögliche – das meiste davon verstand ich selbst kaum –, aber Angst war nicht dabei. Bis zu diesem Moment, denn sobald er es ausgesprochen hatte, bekam ich Angst. Also bedankte auch ich mich mehrfach, während meine Mum mir ein müdes Lächeln schenkte, das ihre Augen nicht erreichte. »Wollen Sie noch einmal mit meiner Mum sprechen?«
»Nein, ich denke, fürs Erste wäre alles geklärt«, sagte Mr. Rogers. »Ich wollte nur kurz mit dir reden. Wir sehen uns bald, ja?«
Ich ließ den Hörer mit einem lauten Plonk auf die Gabel fallen.
Er sah mich nicht bald. Ich ging erst viel später wieder in die Schule. In eine andere Schule. Ich weiß nicht, wie solche Entscheidungen zustande kommen. So ist das wohl, wenn man neun ist; man bekommt so gut wie nichts gesagt. Wenn man zum Beispiel von der Schule genommen wird, erklärt einem keiner, warum. Die Erwachsenen müssen sich für nichts rechtfertigen. Ich denke allerdings, dass die meisten unserer Handlungen von unserer Angst bestimmt werden. Ich glaube, meine Mum hatte große Angst, mich zu verlieren. So muss es gewesen sein. Aber ich will Ihnen keinen Floh ins Ohr setzen.
Wenn Sie in England wohnen, steht es Ihnen frei, Ihre Kinder von der Schule abzumelden und sie stattdessen zu Hause am Küchentisch zu unterrichten. Sie schreiben einfach einen Brief an den Schuldirektor und fertig. Sie müssen nicht einmal Lehrerin sein, so wie meine Mum eine war. In gewisser Hinsicht. Ich sollte Ihnen etwas mehr über meine Mum erzählen, denn wahrscheinlich sind Sie ihr nie begegnet.
Sie ist dünn und blass und hat kalte Hände. Sie hat ein breites Kinn, was ihr oft unangenehm ist. Sie schnüffelt an der Milch, bevor sie trinkt. Sie liebt mich. Und sie ist verrückt. So, das reicht fürs Erste.
Ich habe geschrieben, sie sei in gewisser Hinsicht eine Lehrerin, weil sie früher einmal Lehrerin werden wollte. Das war zu der Zeit, als sie versucht hatte, schwanger zu werden, aber es gab Komplikationen, und die Ärzte sagten ihr, dass sie möglicherweise unfruchtbar sei. Ich kenne den Sachverhalt, ohne dass ihn mir jemand ausdrücklich erklärt hätte. Ich glaube, sie wollte Lehrerin werden, um ihrem Leben einen Sinn zu geben, oder um sich abzulenken. Ich glaube, da besteht kein großer Unterschied.
Sie schrieb sich also an der Universität ein und besuchte die Seminare. Dann wurde sie mit Simon schwanger, und der Sinn des Lebens kam auf die ganz normale Weise daher, strampelnd und heulend.
Und dann wurde sie meine Lehrerin. Wenn Dad zur Arbeit gegangen war, begann für uns der Unterricht, und zwar an ausnahmslos jedem Wochentag. Zunächst räumten wir gemeinsam den Frühstückstisch ab und stapelten Schüsseln und Teller neben der Spüle. Mum erledigte den Abwasch, während ich mich hinter einem Stapel von Key-Stage-Lehrbüchern verschanzte. Ich war damals sehr clever. Ich glaube, Mum war ziemlich überrascht.
Als Simon noch lebte, konnte er wie ein Schwamm sein, der alle Aufmerksamkeit einsog. Er machte das nicht mit Absicht, so ist das einfach bei Menschen mit besonderen Bedürfnissen – sie verlangen ihrer Umgebung mehr ab. Ich dagegen schien immer irgendwie übersehen zu werden. Aber als ich dort am Küchentisch saß, bemerkte meine Mum mich. Möglicherweise hätte sie es leichter gehabt mit mir, wenn ich dumm gewesen wäre. Das ist mir erst jetzt, während des Schreibens, eingefallen, aber vielleicht ist etwas Wahres dran. In meinen Sachkunde-, Mathe- und Französischbüchern von Key Stage gab es an jedem Kapitelende einen Test, und wann immer ich alle Fragen richtig beantwortete, verstummte meine Mum für eine gefühlte Ewigkeit. Wenn ich aber nur fast alles richtig machte, nickte sie aufmunternd und erklärte mir geduldig meine Fehler. Das war seltsam. Irgendwann fing ich daher an, absichtlich Fehler einzustreuen.
Wir gingen nie aus dem Haus, und wir redeten über nichts anderes als den Lehrstoff. Auch das war merkwürdig, denn es war ja nicht so, dass Mum sich wie eine Lehrerin benommen hätte. Manchmal küsste sie mich auf die Stirn oder strich mir übers Haar oder so. Trotzdem redeten wir nur über das, was in den Büchern stand. Und so vergingen unsere Tage, für eine lange Zeit, die ich Ihnen leider nicht in Wochen oder Monaten angeben kann. Alles floss zu einem einzigen, langgezogenen Moment zusammen, in dem ich am Küchentisch saß und Aufgaben löste und Mum mir meine absichtlich eingestreuten Fehler erklärte.