Mathias Irle

Älterwerden für Anfänger

Inhaltsverzeichnis

Zitat

Vorwort

Die gute Anpassung Oder: Wie wir alt werden

Die zielbewusste Persönlichkeit Oder: Wie wir uns im Alter verändern

Erinnern und Erinnerung Oder: Wie das autobiographische Gedächtnis funktioniert

Neuverhandlungen Oder: Wie uns unsere Beziehung herausfordert

Das große Zusammenrücken Oder: Was aus unseren sozialen Beziehungen wird

Die gefühlte Gesundheit Oder: Warum wir alle krank werden

Fremde Hilfe Oder: Warum wir die eigenen Defizite nicht sehen

Das gelebte Sterben Oder: Was uns am Ende bewegt

Die gewagte Freiheit Oder: Was machen wir ohne Verpflichtungen?

Weiterführende Bücher

 

Was kommt, was geht?

VORWORT

Während meiner Ausbildung zum Psychotherapeuten habe ich in einer psychiatrischen Klinik mit älteren Menschen gearbeitet. Was mir dabei auffiel: Viele meiner Freunde, Verwandten und Bekannten zeigten eine große Neugier hinsichtlich der Frage, was Menschen im Alter persönlich bewegt. Vor allem aber bemerkte ich, dass bei ihnen, bei mir und bei den Älteren selbst große Wissenslücken bei Themen wie Fühlen, Denken, Verhalten und Erleben von Menschen jenseits der 65 existierten. Auf scheinbar einfache Fragen fanden sich keine befriedigenden Antworten: Wie verändert sich die Persönlichkeit im Alter? Erinnert man sich besser an seine Jugend, je älter man wird? Wenn ja, warum? Wie gestaltet sich das Liebesleben jenseits der 65? Inwieweit hängt es vom Zufall ab, ob man im Alter einsam wird? Warum bleiben manche Älteren trotz körperlicher Krankheit scheinbar zufrieden? Wie stirbt man? Warum leiden einige Menschen im Alter unter ihrer freien Zeit, während andere noch einmal neue Interessen entwickeln? Und ist das Alter etwas, vor dem man sich fürchten muss, oder gibt es auch berechtigte Gründe, sich darauf zu freuen?

Es existierten vor allem lückenhafte Vorstellungen und Klischees davon, was das Älterwerden mit uns macht. Gleichzeitig war klar, dass das Alter heute nicht selten zwanzig Jahre oder mehr dauert; zu lange also, um es einfach zu ignorieren. Mich interessierte daher: Gibt es einen Zusammenhang zwischen unserem Leben in jungen Jahren und der Art, wie wir alt werden? Was erwartet Menschen jenseits der 65? Und muss man bestimmte Weichen schon früh im Leben stellen, um später keine unangenehme Überraschung zu erleben?

Auf der Suche nach Antworten habe ich mit zahlreichen Wissenschaftlern, Ärzten, Psychologen, Experten in der Seniorenarbeit und natürlich Älteren selbst gesprochen. Ich habe Literatur gesichtet und viele, sehr unterschiedliche Orte in Deutschland besucht.

Das Ergebnis? Viele Antworten auf meine Fragen. Und ein tiefer Einblick in das Leben älterer Menschen, der helfen kann, Entscheidungen für das eigene Alter rechtzeitig zu treffen, Entwicklungen richtig einzuordnen und beruhigter aufs eigene Älterwerden zu blicken.

 

An diesem Buch waren viele Menschen beteiligt. Ihnen allen, die sich Zeit genommen haben, die ihr Wissen mit mir geteilt haben, die mich mit Kontakten versorgt haben, die mir Anregungen gegeben haben, die mir Türen geöffnet haben oder die mir Einblicke in ihre oft sehr persönlichen Erfahrungen mit dem Alter gewährt haben, möchte ich an dieser Stelle von ganzem Herzen danken. Ohne sie wäre dieses Buch schlichtweg nicht möglich gewesen.

Manche Gesprächspartner haben darum gebeten, dass sie nicht mit ihrem richtigen Namen im Buch auftauchen. Ich habe daher ihre Namen geändert und dies jeweils mit einem Stern kenntlich gemacht.

 

Mathias Irle, im April 2009

DIE GUTE ANPASSUNG ODER: WIE WIR ALT WERDEN

Sollte man sich gegen das Altern wehren?

Wie lange darf man sich jugendlich verhalten?

Wann sollte man sein Alter akzeptieren?

 

Vor allem aber:

Wie altern wir überhaupt?

 

Wann ist man alt?

«Wenn man auf jung macht. So wie Madonna.»

(Maxi, 16 Jahre, aus Zürich, im Sommer 2008 im Interview mit der Schweizer Zeitschrift «Die Weltwoche»)

 

Es könnte schon morgen passieren. Oder in zwei Monaten. Allerspätestens aber im nächsten Sommer. Für einen Moment schaut Norbert Natusch – 69 Jahre alt, gepflegter grauer Kurzhaarschnitt, Seidentuch um den Hals, Manschettenknöpfe am weißen Hemd, Slipper an den Füßen – in den großen Raum seiner Loftwohnung im Kölner Stadtteil Mülheim. Es wirkt, als denke er an die alten Zeiten. Daran, als er an einem Wochenende mit seiner Harley-Davidson nach Stockholm fuhr und am nächsten schon an die Côte d’Azur. Als man noch nicht den ADAC rief, sondern selbst zum Werkzeug griff, wenn kurz hinter Leverkusen schon wieder das Schutzblech abfiel. Und daran, als sie keine Hotels zum Übernachten buchten, sondern die Zelte aufschlugen und mancher betrunken auf seiner Harley ins Gebüsch fuhr und dort bis zum nächsten Tag seinen Rausch ausschlief.

Vielleicht ist Natusch aber auch nur am Rechnen: Über 52 Jahre ist es her, dass er sein erstes Motorrad kaufte, und über 35 Jahre, dass er in Köln den Harley-Davidson Club Deutschlands e. V. gründete. Ganze sechs Harley-Fahrer gab es damals, 1973, im Gesamtraum Köln, und obwohl sie als «Strolche», als «Underdogs», galten, übernahmen sie die Vereinsstatuten einfach vom Karnickelzüchterverein eines Bekannten. Die Harley-Davidson-Fahrer in Europa waren damals noch ein überschaubarer, rein männlicher Haufen, die sich regelmäßig irgendwo auf dem Kontinent trafen. Es gab noch keine Helmpflicht. Natusch – so ist es in seinem Fotoalbum zu sehen – fuhr mit Fellstiefeln, einer fransigen Wildlederjacke und einer Harley-Davidson-Mütze aus Jeansstoff, manchmal von Ostpolen ohne Unterbrechung bis nach Köln. Man war jung. Man fühlte sich frei. Und als Harley-Fahrer war man Teil einer starken, loyalen Gruppe. Dennoch verkaufte er gut sieben Jahren später sein Motorrad. Für seine Arbeit im Bundesamt für Zivildienst, so Natusch, brauchte er schlichtweg ein Auto. Zudem hatte er geheiratet und wurde Vater.

Seit 28 Jahren saß er nun nicht am Lenker einer Harley. Aus Natusch ist mittlerweile ein Immobilienbesitzer und aus dem Verein ein bundesweiter Club mit über 1000 Mitgliedern geworden. Immer wieder versucht der Club ihn, den Gründungsvater und das Mitglied Nummer eins, wieder zum Fahren zu bewegen. Noch setzt sich Natusch regelmäßig nur in den Beiwagen des Harley-Gespanns des Kölner Regionalleiters, wenn es auf Tour geht. Doch es scheint, als würde sich dies bald ändern: Immer häufiger vermisst Natusch das Gefühl, unter sich das Knattern des Motors zu hören. Und eine Teilnahme am großen europäischen Harley-Treffen kann er sich nur vorstellen, wenn er selbst mit einer Maschine vorfährt.

Ob er sich dann, mit 72 Jahren, vielleicht zu alt fühlen wird, noch ein schweres Motorrad zu beherrschen?

Natusch schaut, als sei dies eine absurde Frage, dann sagt er: «Ich halte mich noch nicht für alt und weder körperlich noch geistig für klapperig.» Wie zum Beweis zeigt er auf ein Foto mit älteren Herren. Zahnärzte mit Halbglatze und Anwälte mit grauen Haaren und Brille sieht man darauf; sie sitzen auf ihren Motorrädern. Wie Natusch waren sie von Anfang an dabei, doch im Gegensatz zu ihm haben sie nie ihre Maschinen verkauft. Sie alle sind heute über 70 und fahren noch immer regelmäßig auf ihren Maschinen. Natürlich: Es gebe einige, sagt Natusch, die kauften sich im Ruhestand eine Harley und führen damit ein bisschen durch die Innenstadt, um sich interessanter zu machen und sich jugendlicher zu fühlen. Doch das seien für ihn ohnehin keine «echten Harley-Fahrer». Und selbstverständlich: Unter Harley-Fahrern würde diskutiert, warum das Durchschnittsalter im Club mittlerweile bei 56 Jahren liege. Doch das Problem seien weniger die Alten, sondern vielmehr, dass so wenige junge Leute nachrücken würden. «Wir Alten haben eben einfach noch Spaß an unseren Maschinen», sagt Natusch. Wenn er morgen wieder anfangen würde, könne er gleich loslegen. Er sei es noch von früher gewohnt, so lange zu fahren, bis er «halb tot auf dem Bock» sitze. «Harley-Fahren ist weniger eine Frage des Alters», so Natusch, «sondern eine des Willens.»

 

Hat Natusch recht? Macht er genau das Richtige, wenn er nicht auf das Alter in seinem Personalausweis achtet? Oder ist er womöglich leichtsinnig? Einer, der nicht einsehen will oder kann, dass er nicht mehr der Jüngste ist, weil er Angst hat vor dem Alter? Falls ja, wäre das verwerflich? Was würde es bringen, dem Alter ins Gesicht zu schauen? Und ist es nicht sogar vielleicht so, dass für das Altern das Gleiche wie für das Harley-Fahren gilt: alles nur eine Frage des Willens?

WIE WIR HEUTE ALT WERDEN

Lag die Lebenserwartung um 1900 in Europa noch zwischen 40 und 45 Jahren, so liegt sie heute in Deutschland bei 75 Jahren für Männer und 81 Jahren bei Frauen. Eine Frau, die heute die 65 erreicht, hat im Schnitt noch weitere 23 Jahre zu leben, ein Mann weitere 19 Jahre. Und jedes zweite neugeborene Mädchen in Deutschland wird voraussichtlich fast 100 Jahre alt. Die Phase, die man landläufig als Alter bezeichnet, wird also immer länger.

Doch was heißt das?

Noch ist das alles andere als klar. Schließlich handelt es sich um ein bisher weitgehend unbekanntes Terrain. Eins, das gerade erst erkundet wird und für das noch nicht klar ist, wie man sich am besten in ihm bewegt. Verlässliche Rollenvorbilder sind Mangelware. Deutlich wird dies schon daran, dass die Vorstellungen und Berichte, die derzeit in der Gesellschaft über das Alter kursieren, höchst widersprüchlich sind. Entweder wird euphorisch von den neuen jungen, konsumfreudigen Alten erzählt, die durch die gestiegene Lebenserwartung wertvolle Jahre dazugewonnen haben, die sie nun aktiv und gesund verbringen können. Oder es wird ein düsteres Bild vom Alter gezeichnet, das geprägt ist von Pflegebedürftigkeit, Armut und geistigem Verfall. In beiden Vorstellungen stecken Wahrheiten, doch es scheint, als kämen beide aus unterschiedlichen Welten. Was ist an den jeweiligen Vorstellungen richtig? Wo liegen ihre Verbindungen? Und wie passen sie beide gemeinsam in ein Bild?

Gerontologen – Wissenschafter wie Mediziner, Psychologen, Biologen oder Soziologen, die sich mit dem Thema Alter beschäftigen – unterteilen das Alter schon längst in mehrere Abschnitte. Die üblichste Einteilung ist die in ein drittes Lebensalter (das junge Alter), das ca. von 60 bis 80 Jahren reicht, und in ein viertes Lebensalter (das alte Alter), welches jenseits der 80 beginnt. Die Grenzen sind relativ, da es sich bei dem vierten Lebensalter laut Definition um den Abschnitt im Leben handelt, in dem weniger als die Hälfte eines Geburtsjahrgangs noch leben. Diese Einteilungen machen insofern viel Sinn, da sich der durchschnittliche 65-Jährige heute deutlich vom durchschnittlichen 90-Jährigen unterscheidet und man eine Richtschnur für die Forschung braucht.

Doch sie alleine sagen noch nichts darüber, was das Alter eigentlich ist und welche Eigenschaften es kennzeichnen: Bedeutet Alter Abbau von Leistungsfähigkeit, Gesundheit, Freude und Kraft, und ist es daher ein Feind, vor dem man sich so lange wie möglich schützen muss? Oder birgt das Alter auf einer anderen Dimension neue, gute Eigenschaften und Vorteile, von denen erst derjenige erfährt, der es akzeptiert und sich auf das Alter einlässt? Ist es möglich, äußerlich das Alter zu bekämpfen und innerlich weise zu werden? Altert der Körper anders als der Geist? Verliert man seine Spannkraft, lässt man sich erst einmal auf das Alter ein? Oder ist der Traum vom jungen Alter nur eine müßige Fortsetzung des Jugendwahns – getrieben von der Unfähigkeit, sich mit dem wahren Alter auseinanderzusetzen, und genährt von dem Traum, im Idealfall bis eine Stunde vor dem Tod ein junger Alter zu bleiben? Ist es leichtsinnig oder genau richtig, wenn ein Mensch über 70 mit dem Gedanken spielt, sich bald wieder aufs Motorrad zu setzen?

 

Um es vorwegzunehmen: Es gibt bis heute keine eindeutigen Antworten auf all diese Fragen, und Wissenschaftler sind weit entfernt, das Wesen des Alters zu entschlüsseln. Dennoch gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Erkenntnissen über das Alter und das Altern. Diese können zumindest Hinweise darauf geben, ob das Alter eher Freund, Feind oder beides gleichzeitig ist; darauf, wie man sich in dem neugewonnenen Terrain des immer länger werdenden Lebens bewegen sollte; darauf, was es denn nun eigentlich ist – das Alter. Vor allem aber zeigen sie, dass wir Menschen körperlich und psychisch sehr unterschiedlich altern und beeindruckende Fähigkeiten besitzen, um uns an die Veränderungen des Alters anpassen zu können.

WARUM WIR ALTERN

Das Alter ist dabei nicht das Gleiche wie das Altern. Ersteres ist eine Beschreibung, die von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen abhängt und von der heute nicht einmal klar ist, wann genau es anfängt. Letzteres, das Altern, ist hingegen ein Prozess, der mit der Geburt beginnt und mit dem Sterben aufhört. Ganz nüchtern betrachtet meint Altern nichts anderes als die Veränderungen des Körpers im Lauf der Zeit, die letztlich zum Tod führen. Aus evolutionsbiologischer Sicht geht es darum, dass Lebewesen, die sich nicht mehr fortpflanzen können und auch nicht mehr mit der Aufzucht ihrer Nachkommen beschäftigt sind, Platz machen für die nachfolgenden Generationen. Für viele Wissenschaftler ist es daher nicht so sehr verwunderlich, dass wir irgendwann sterben, sondern vielmehr, dass wir noch so lange leben, wenn wir unsere eigentliche Aufgabe – unsere Art zu erhalten – schon erfüllt haben.

Alles deutet darauf hin, dass es für alle Lebewesen eine artspezifische Obergrenze gibt, wie lange ein Leben maximal dauern kann. Diese liegt und lag für uns Menschen bei rund 120 Jahren. Auch aus früheren Zeiten wird überliefert, dass Menschen über 100 Jahre wurden. Berichte über Menschen, die noch älter als 120 Jahre geworden sind, hielten Überprüfungen hingegen bisher nicht stand.

Diese Obergrenze ist damit unabhängig von der heutigen, gestiegenen Lebenserwartung. Dass wir heute im Durchschnitt viel älter werden, hat zu einem guten Teil mit einer besseren hygienischen Versorgung, besserer Ernährung und vor allem einer dank des medizinischen Fortschritts stark gesunkenen Säuglingssterblichkeit zu tun.

WIE WIR KÖRPERLICH ALTERN

Jeder kennt 85-Jährige, die noch vielseitig interessiert sind, ebenso wie 62-Jährige, die kaum noch Offenheit für Neues zeigen. Manche sind schon in jungem Alter gesundheitlich sehr angeschlagen, andere bleiben bis ins höchste Alter verhältnismäßig fit. Mit anderen Worten: Wir altern offensichtlich sehr unterschiedlich. Dabei ist es scheinbar nicht nur unser Körper, der sich verändert, sondern auch unsere Psyche. Wie hängt die Alterung der Körpers mit der Alterung des Geistes zusammen? Führt das eine zum anderen? Oder sind es zwei voneinander unabhängig ablaufende Prozesse? Können wir körperlich alt, geistig aber jung sein? Oder umgekehrt?

 

Betrachten wir zunächst den Prozess des körperlichen Alterns etwas näher. Dies macht nicht nur insofern Sinn, weil er uns alle mehr oder weniger gleich betrifft. Sondern auch, weil die Folgen des körperlichen Alterns früher oder später mit unserer Vorstellung vom Alter verschmelzen: Die Haare werden grau, die Haut faltig, Muskelzellen sterben ab, die Knochen werden brüchiger oder das Gehör schlechter.

WARUM DIE ZELLEN UNS KÖRPERLICH ALTERN LASSEN

Der Hauptgrund für den körperlichen Alterungsprozess ist in den etwa 100 Millionen menschlichen Zellen zu suchen, aus denen der Körper eines erwachsenen Menschen besteht. Dabei verhalten sich nicht alle Zellen gleich. Sie unterscheiden sich etwa im Hinblick auf ihre Lebenszeit und ihre Fähigkeit, sich zu erneuern: So leben manche Blutzellen nur wenige Tage, andere hingegen wie die roten Blutkörperchen Monate. Anschließend beginnen sie sich zu teilen und sich so wieder zu ersetzen. Anders verhält es sich bei den meisten Herzmuskel-, Sinnes- und Nervenzellen: Einmal gebildet, teilen sie sich nicht mehr, sondern bleiben (in der Regel) ein Leben lang erhalten.

Die einen Zellen ersetzen sich also selber, die anderen bleiben erhalten. Wie kann es dann sein, dass die Zellen dennoch einen Einfluss auf unseren biologischen Alterungsprozess haben?

 

Beginnen wir mit den Zellen, die sich teilen. Schon vor über 50 Jahren hat der Wissenschaftler Leonard Hayflick beobachtet, dass dieser Prozess begrenzt ist: So teilen sich Hautzellen beispielsweise 40- bis 50-mal, anschließend treten sie in den Zustand der sogenannten «replikativen Seneszenz» ein. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Zellen zwar noch ihre Funktionen wahrnehmen können, sie sich jedoch nicht mehr weiter teilen.

Sie haben dann einen ähnlichen Zustand erreicht wie die Herzmuskel-, Sinnes- und Nervenzellen, die Zellen also, die sich von Beginn an ohnehin nie teilen. Und sie erleiden das gleiche Schicksal: Bei der Ausübung ihrer Funktionen werden die Zellen beschädigt und verunreinigt. Zusätzlich werden sie von Einflüssen von außen bedroht.

Einer ihrer größten und am besten untersuchten Feinde: die sogenannten freien (Sauerstoff-)Radikale. Bei ihnen handelt es sich um Atome und Moleküle, die als Nebenprodukt beim Stoffwechsel, also beim Umwandeln von Nahrung in Energie für die Zellen, entstehen. Sie tragen in sich sogenannte «ungepaarte Elektronen», die danach drängen, anderen Zellen – salopp formuliert – Elektronen wegzunehmen, um sich mit ihnen zu verbinden. Freie Radikale verbreiten durch diesen Hunger nach Elektronen «oxidativen Stress», und dies ist der Grund, warum freie Radikale bedrohlich für den Organismus sind: Indem sie Zellen Elektronen «wegnehmen», können sie deren Funktionsfähigkeit nachhaltig verändern und verschlechtern. So kann es in der Folge einer Zelle beispielsweise nicht mehr in ausreichendem Maß gelingen, schädliche Bakterien abzutöten oder mit anderen Zellen zu kommunizieren. Es ist also ein paradoxer Prozess: Einerseits muss der Mensch Stoffwechsel betreiben, um die wichtigen Nährstoffe aus der Nahrung und der Atmung den verschiedenen Körperzellen zuzuführen; andererseits entstehen genau bei diesem Prozess freie Radikale, die auf Dauer den Zellen und dem Stoffwechsel schaden.

Normalerweise löst der Körper diesen Widerspruch, indem er über unterschiedliche Mechanismen verfügt, um Beschädigungen der Zellen zu verhindern oder wieder zu reparieren. So sorgen etwa die sogenannten Mitochondrien – Proteinkomplexe, die die Kraftwerke der Zellen bilden – durch die Umwandlung von Sauerstoff in harmloses Wasser dafür, dass freie Radikale erst gar nicht entstehen. Doch auch Mitochondrien, die ebenfalls aus Zellen bestehen, unterliegen einem Alterungsprozess. Je länger sie im Dienst sind, umso weniger gelingt es ihnen, den oxidativen Stress für die Zellen zu verhindern. Die Folge ist, dass die menschlichen Zellen über die Zeit immer weniger funktionsfähig werden.

Zwar werden die alten, abgenutzten Zellen in einigen Körperregionen teilweise gezielt vernichtet und können anschließend durch neue, frische Zellen ersetzt werden: Nach Schätzungen werden jeden Tag 300 Milliarden Blutzellen verbraucht und genauso viele wieder produziert. Doch auch die Produzenten dieser neuen Zellen, die Stammzellen, unterliegen ihrerseits den bereits beschriebenen Alterungsprozessen.

Zudem können Zellen etwa im Gehirn nicht einfach durch neue, frische Zellen ersetzt werden. Das liegt daran, dass unsere lebenslangen Erfahrungen in der Art, wie die Zellen miteinander verschaltet sind, gespeichert sind. All unser Wissen wird repräsentiert durch Zell-Netzwerke. Würde man aus einem solchen Netzwerk eine alte Zelle mit all ihren Verschaltungen herausnehmen und sie einfach durch eine neue Zelle ohne Verschaltungen ersetzen, würde das Netzwerk verändert – und damit auch unser Wissen.

Die Lebenszeit und die Funktionsfähigkeit der menschlichen Zellen sind also begrenzt. Wie alt ein Mensch wird und wie lange sich der Alterungsprozess hinzieht, hängt dabei zum einen von der Summe aller schädigenden Einflüsse ab, die von außen auf die Zelle einwirken. Zum anderen davon, wie gut es dem Körper gelingt, mögliche Schädigungen an der Zelle wieder zu reparieren. «Von Beginn an ist das Leben bedroht», so der Tübinger Professor und Neurologe Johannes Dichgans. Von Geburt an befindet sich unser Organismus in einem Kampf gegen die schädlichen Einflüsse von außen, den er letztlich nicht gewinnen kann.

 

Einigkeit besteht darin, dass genetische Faktoren in diesem körperlichen Alterungsprozess eine entscheidende Rolle spielen. So sieht derzeit alles danach aus, dass die begrenzte Anzahl an möglichen Zellteilungen genauso festgelegt ist wie die Tatsache, dass die Reparatursysteme der Zellen irgendwann dem Ansturm der Schädlinge nicht mehr gewachsen sind. Allerdings ist an der Steuerung dieses Prozesses eine Vielzahl von genetischen Programmen beteiligt, die zusätzlich in einem hochkomplexen Wechselspiel miteinander stehen. Der gelegentlich vernehmbare Wunsch, es möge ein Altersgen geben, das man nur ausschalten müsse, um nie mehr faltige Haut oder graue Haare zu bekommen, ist daher wohl vergebens.

WELCHE FOLGEN DER BIOLOGISCHE ALTERUNGSPROZESS HAT

Die körperlichen Folgen dieses biologischen Alterungsprozesses sind vielfältig, deutlich und fangen nicht selten schon mit dem 30. Lebensjahr an: Blutgefäße verlieren an Elastizität. Knochen werden brüchiger. Die Muskeln bilden sich zurück, sodass man mit 65 Jahren fast ein Drittel der Dauermuskelkraft und gar 60 Prozent der Spitzenmuskelkraft verloren hat. Die Haut wird faltiger, schlaffer und weniger elastisch. Das Sexualverhalten verlangsamt sich, und Sex wird oft weniger intensiv erlebt. Das Sehvermögen fängt an nachzulassen: Die Sehschärfe, die Hell-Dunkel-Anpassung und das Farbensehen wird schlechter. Ab Mitte 60 können höhere Töne schlechter gehört werden. Ein Teil der Lungenbläschen wird abgebaut, der Rest wird weniger elastisch, was insgesamt den Gasaustausch und damit das Atmen erschwert. Die maximale Sauerstoffaufnahme sinkt um 60 bis 70 Prozent. Bedingt durch diese und weitere Veränderungen steigt die Wahrscheinlichkeit, im Alter eine Krankheit zu bekommen, erheblich.

Deutlich wurde dies etwa in der Berliner Altersstudie, einer der weltweit am breitesten angelegten und wichtigen Untersuchungen, die je mit alten Menschen gemacht wurde. Zwischen 1990 und 1993 unterzogen sich 516 männliche und weibliche Westberliner zwischen 70 und 100 Jahren einer Vielzahl von psychologischen und medizinischen Test, die bis heute sechsmal an den gleichen Versuchspersonen – so weit wie möglich – wiederholt wurden. Eins der zahlreichen Ergebnisse war, dass von den über 70-Jährigen 96 Prozent mindestens an einer, rund 30 Prozent sogar an mehr als fünf Krankheiten litten. Das ist insofern nicht verwunderlich, da Erkrankungen die Konsequenz der mit dem Alter zunehmenden gestörten zellulären oder extrazellulären biochemischen Prozesse sind.

 

Nüchtern betrachtet, birgt der körperliche Alterungsprozess folglich eine Vielzahl an Nachteilen. Deren Schrecken steigert sich noch einmal, bedenkt man, dass gerade die sichtbaren Zeichen des körperlichen Alterungsprozesses – hängende Lider, faltige Haut, unsicherer Gang – die Altersstereotype in den Köpfen der Mitmenschen aktivieren. Diese sind noch immer in der Mehrzahl negativ, egal, wie häufig man mittlerweile ältere Menschen in Talkshows, in der Werbung oder im Fitnessstudio sieht. In einer Studie des Anthropologischen Instituts der Universität Kiel bat man vor einiger Zeit Versuchspersonen, das fehlende Wort im Begriffspaar «alt und …» zu ergänzen. Die überwiegende Antwort lautete «alt und krank». Rund 90 Prozent der Jungen verbanden Alter zudem vorwiegend mit Armut, Gebrechlichkeit und Krankheit. In zahlreichen anderen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass diese Stereotype dazu führen, dass ältere Menschen automatisch behandelt werden, als seien sie weniger leistungsfähig oder unflexibler. Dabei sind es keineswegs nur die Jungen, die sich derart gegenüber den Alten verhalten. Im Gegenteil: Wissenschaftler fanden heraus, dass ältere Menschen geringfügige Veränderungen im Verhalten oder Aussehen ihrer Altersgenossen besonders hart beurteilen. Vermutlich, um sich von den Altersgenossen abzugrenzen, sind sie beispielsweise viel früher bereit, andere Alte als senil zu bezeichnen, wenn sie zum Beispiel einmal etwas vergessen haben.

Diese Stereotype haben nicht nur Schattenseiten. Schließlich gilt auch: Je negativer die Stereotype über das Alter sind, umso besser kommt man selber weg, wenn man sich mit den Stereotypen vergleicht. Dass von diesem Effekt vermutlich eine Mehrheit der Älteren profitiert, zeigte sich ebenfalls in der Berliner Altersstudie: Im Durchschnitt fühlten sich die 516 Teilnehmer um zwölf Jahre jünger, und sie hatten den Eindruck, um neuneinhalb Jahre jünger auszusehen, als sie laut Personalausweis waren. Je älter sie waren, umso deutlicher zeigte sich dieser Effekt.

Die Stereotype erzeugen daher sehr widersprüchliche Effekte: Zum einen heben sie das Selbstbewusstsein und die Zufriedenheit, zum anderen sorgen sie jedoch dafür, dass sich die ohnehin vorhandene Angst vor den körperlichen Abbauprozessen des Alters verstärkt.

WELCHEN SINN ANTI-AGING- UND PRÄVENTIONSMASSNAHMEN MACHEN

Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich mittlerweile eine ganze Industrie rund um das Thema Altersprävention und Anti-Aging gebildet hat. Deren Ratschläge und Methoden gehen weit über Empfehlungen zur gesunden Ernährung, den richtigen Sport oder einen schönheitschirurgischen Eingriff hinaus. Ansatzpunkt ist in aller Regel der beschriebene Alterungsprozess des Organismus. Das Ziel lautet: Schädigungen der Zellen so weit wie möglich zu verhindern, die zellulären Reparaturprogramme zu unterstützen und den genetisch festgelegten Alterungsplan zu beeinflussen. Negative Alterungsprozesse wie degenerativer Abbau oder Krankheiten sollen so von vornherein vermieden oder möglichst weit in den Bereich des maximalen Höchstalters von 120 Jahren verschoben werden. Schließlich, so schreiben die Ärztin Simone Homm und der Physiologe und Gerontologe Rüdiger Schmidt in ihrem Handbuch «Anti-Aging & Prävention» (S. 36): «Rein biologisch ist körperlicher und geistiger Abbau auch im hohen Alter keinesfalls zwingend. Und viele der Mechanismen, die diesen Abbau verhindern oder stark verzögern können, sind bereits entschlüsselt.» Ein tieferer Sinn faltiger Haut, schwindender Kraft oder zerbrechlicher Knochen, so die Autoren, hätte sich ihnen hingegen bisher noch nicht erschlossen.

Um die optimalen Anti-Aging-Effekte zu bekommen, wird meist neben gezielter körperlicher Betätigung eine Vielzahl an Nahrungsergänzungen empfohlen, angefangen bei der Aminosulfonsäure Taurin über Vitamin E bis zu Magnesium oder Fischöl. Schnell summieren sich diese auf deutlich mehr als täglich zehn einzunehmende Präparate.

Zudem wird immer wieder auf die Möglichkeit hingewiesen, durch reduzierte Nahrungsaufnahme und «kalorische Restriktion» das Leben zu verlängern: So wurden unter anderem Mäuse, denen Wissenschaftler in Versuchen zwischen 20 und 50 Prozent ihrer Nahrungsmenge strichen, im Schnitt 10 bis 15 Prozent älter. Offensichtlich funktioniert dieser Effekt auch beim Menschen, auch wenn nicht klar ist, ob die Zunahme an Lebenszeit immer prozentual ist oder es stets (wie im Fall der Mäuse) nur um einige Monate geht. Den Grund für diesen Zusammenhang zwischen Nahrungsmenge und Alter sehen Wissenschaftler in dem verringerten Stoffwechsel, der wiederum zur Folge hat, dass weniger der schädlichen freien Radikale produziert werden. Zu bedenken ist allerdings, dass auf der anderen Seite die Unterernährung auch schädliche Folgen haben kann. Ganz zu schweigen davon, dass es wohl den meisten von uns sehr schwerfallen würde, sich dauerhaft mit weniger Kalorien zu begnügen.

 

Alle Maßnahmen, die Anti-Aging-Experten entwickeln, haben gemeinsam, dass sie das Altern der Zellen verhindern bzw. aufhalten sollen. Verbunden sind sie oft mit dem Hinweis, dass die Erfolgsaussichten im Kampf gegen das Alter umso besser seien, je früher man ihn aufnehme. Laut Homm und Schmidt kann dies im Fall der freien Radikale bedeuten, dass Mütter bereits während der Schwangerschaft darauf achten können, erste Maßnahmen einzuleiten, um den Alterungsprozess ihres noch ungeborenen Kindes zu beeinflussen. Laut Homm und Schmidt scheint es so zu sein, dass fettreiche Nahrung während der Schwangerschaft den oxidativen Stress der Ungeborenen erhöht und dadurch später zu einer schnelleren Alterung des Nachwuchses führt.

Das klingt gewöhnungsbedürftig. Und sicherlich ist bedenklich, wenn suggeriert wird, dass jeder sein körperliches Altern in den Griff bekommen kann, wenn er sich nur genügend anstrengt. Im Extremfall führe das am Ende dazu, dass Menschen ihre sichtbaren Alterserscheinungen als persönliches Versagen auffassen, so der Münchener Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer.

Doch dass Menschen ihre Schönheit bewahren, sich vor dem körperlichen Verfall schützen und Funktionseinbußen aufgrund von Krankheiten vorbeugen wollen, ist verständlich und legitim. Anti-Aging ist daher in erster Linie eine Frage des persönlichen Geschmacks, der Finanzen und der Leidensfähigkeit. Zumal heute niemand bezweifelt, dass es bei einer konsequenten Einhaltung aller Anti-Aging-Maßnahmen tatsächlich möglich ist, die Alterung der Zellen zu verlangsamen – auch wenn nicht klar ist, in welchem Umfang. Dies kann bedeuten, dass Falten später auftauchen, Muskeln kräftiger bleiben oder das Gehör langsamer nachlässt. Aufhalten kann das körperliche Altern hingegen niemand.

 

Betrachtet man allerdings all die von Anti-Aging-Experten empfohlenen Maßnahmen sowie schönheitschirurgische Möglichkeiten mit einem gewissen Abstand, bleibt vor allem ein beeindruckendes Maß an Anstrengung, das für die Umsetzung der Maßnahmen nötig ist.

Lohnt sich diese Anstrengung? Könnten die Aufmerksamkeit und die Energie, die jemand in den Anti-Aging-Kampf gegen das äußerliche Alter investiert, an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt werden? Gibt es überhaupt einen Zusammenhang zwischen unserem körperlichen Zustand und unserer Zufriedenheit im Alter?

WIE WIR UNS AN VERÄNDERUNGEN IM ALTER ANPASSEN

«Fast jede Frau über 50, die einen glatten Hals hat, ist operiert», sagt Christa Höhs in den Büroräumen ihrer Agentur Seniormodels im Souterrain eines Wohnhauses in München. Die 67-Jährige sitzt mit halblangen grauen, zurückgekämmten Haaren, eleganten Goldohrringen und einem legeren blauen Hemd in ihrem Schreibtischstuhl. Sie lacht häufig herzhaft und sympathisch. Immer wieder richtet sie ihren Blick auf die Bilder der Setkarten, die sie auf ihrem Computerbildschirm aufgerufen hat. Zwischen 30 und 93 Jahre sind die zu einem Drittel männlichen und zu zwei Drittel weiblichen Models, die Höhs unter Vertrag hat. Deren Anzahl ist seit der Gründung der Agentur 1995 auf rund 900 gestiegen.

Damals, vor mehr als 13 Jahren, war sie von einem zweijährigen Auslandsaufenthalt in New York zurückgekehrt. Sie hatte schmerzlich erfahren müssen, dass sie mit Mitte 50 kaum noch gefragt war auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Aus der Not machte sie eine Tugend: In den USA hatte sie selber als Senior-Model gearbeitet. Und weil sich auch hierzulande der demographische Wandel andeutete, machte Höhs sich als Erste in Deutschland Mitte der 90er Jahre, auf der Höhe des Jugendwahns, mit einer Agentur für ältere Models selbständig. Die Medien stürzten sich damals auf ihre ungewöhnliche Geschäftsidee. Schnell wurden Höhs und ihre Agentur bekannt. Und es gelang ihr, innerhalb weniger Monate rentabel zu wirtschaften.

Bis heute betreibt sie gemeinsam mit einer Mitarbeiterin ihre Agentur, die ihre Models längst nicht mehr nur an den «Zipperlein-Markt» (Höhs), sondern an Unternehmen aus fast allen Branchen, angefangen bei Versicherungen über Kosmetikfirmen bis hin zu Nahrungsmittelkonzernen, vermittelt. Sie hat miterlebt, wie im Verlauf der vergangenen 13 Jahre Unternehmen damit begonnen haben, statt mit Anti-Aging mit Pro-Aging zu werben, und wie sich die Anfragen der Kunden verändert haben – «heute ruft kaum noch jemand an und fragt, ob wir die Agentur sind, die Greise vermittelt». Sie weiß, wie sich Marketingleiter den idealen Alten vorstellen, was er unbedingt mitbringen sollte und wie er auf keinen Fall sein darf. Und sie hat viele ihrer Models selber beim Altern begleitet. Täglich bewerben sich zwischen zehn und zwölf ältere Menschen bei Höhs. Oft sind es ehemalige Models, die einen Wiedereinstieg in den Beruf versuchen. Immer wieder sind es aber auch 60-Jährige, die laszive Bilder von sich auf ihrem Satinbett mitschicken.

Was in den Augen der Kunden auch heute noch gar nicht gehe, so Höhs, sei ein zu faltiger Hals. Den müsse sich jemand, der nach 50 als Model im Geschäft bleiben wolle, wegoperieren lassen. Das Gleiche gelte für hängende Lider. Oder Tränensäcke unter den Augen. Was hingegen mittlerweile akzeptiert und durchaus gefragt sei, seien weiße Haare, kombiniert mit einem schönen Gesicht. «Lebensbejahend, fröhlich aussehend, angenehm anzuschauen, mit positiver Ausstrahlung», sagt Höhs, lautet der Wunsch der meisten Kunden, wenn sie heute ältere Models für ihre Kampagnen buchen. Dabei gilt die Faustregel: Die Models sollten mindestens zehn Jahre jünger sein als die zu bewerbende Zielgruppe.

Drei Viertel der Models bleiben bis zum Ausbruch einer Krankheit oder ihrem Tod in Höhs’ Kartei. Spannend dabei ist, dass die Weiterbeschäftigung der alternden Models längst nicht nur von den rein optischen Kriterien abhängt. Die Agenturchefin weiß von Männern und Frauen zu berichten, die partout nicht körperlich altern wollen. Manche beginnen, sich Botox in ihre Stirn spritzen zu lassen, um sie von Falten zu befreien. «Das geht so lange gut, bis sie irgendwann keinen Ausdruck mehr im Gesicht haben», so Höhs. Wie versteinert ist dann ihre Mimik, und es fällt ihnen zunehmend schwer, die vom Fotografen gewünschten Gesichtsausdrücke zu produzieren. Ähnliche Schwierigkeiten bereiten männliche Models, weißhaarig und über 60, die sich weigern, sich aus Imagegründen mit ergrauten Frauen fotografieren zu lassen. Höhs kann dann die Models kaum noch weiterbeschäftigen.

Doch die Agenturchefin kennt auch Geschichten, die genau umgekehrt verlaufen. So war eines ihrer über 60-Jährigen weiblichen Models zwei Jahre lang an Krebs erkrankt. Anschließend wollte das Model nicht mehr zum alle drei Jahre fälligen Bewertungstermin, bei dem neue Fotos gemacht werden, in der Agentur erscheinen. Sie sei durch die Krankheit zu alt, zu faltig, zu fahl geworden. Höhs überredete sie, vorbeizukommen. Gemeinsam vereinbarten sie, dass das Model sich seine grauen Haare kürzer schneiden lassen sollte, dann fing sie wieder an, für Höhs zu arbeiten: optisch zwar tatsächlich gealtert, aber «mit einem lebendigen Glanz in den Augen, der sich mit jedem Shooting noch intensivierte», so Höhs.

«Dieser Glanz in den Augen, darauf kommt es für ein Model neben einigen optischen Grundvoraussetzungen an», so Höhs. Er habe wenig mit der Menge der Falten auf der Stirn zu tun. Vielmehr sei er Ausdruck von etwas, «das sich unabhängig von dem körperlichen Alterungsprozess, im Inneren abspielt».

WIE WIR PSYCHISCH ALTERN

Tatsächlich haben Wissenschaftler herausgefunden, dass wir psychisch deutlich anders als körperlich altern. Eins der bemerkenswertesten Ergebnisse der Berliner Altersstudie war, dass die 70- bis 100-jährigen Studienteilnehmer zwar zahlreiche gesundheitliche, funktionale oder soziale Verluste hinnehmen mussten. Sie hatten Freunde verloren, konnten sich schlechter bewegen, mussten Hobbys aufgeben oder waren an ihre Wohnungen gebunden. Ihre Lebenszufriedenheit schätzten sie aber dennoch als mindestens so hoch ein wie in ihren jungen Jahren. Dieses Ergebnis, das Wissenschaftler «Paradox der Lebenszufriedenheit im hohen Alter» nennen, wurde mittlerweile in zahlreichen Untersuchungen bestätigt: Obwohl sich ihre objektiven Lebensumstände im Alter teilweise deutlich verschlechtern, fühlen sich ältere Menschen oft dennoch gut bis sehr gut.

Wie ist das möglich? Eine der schlüssigsten und anerkanntesten Erklärungen für dieses erstaunliche Phänomen hat der Entwicklungspsychologe und Professor an der Universität Trier, Jochen Brandtstädter, mit seinem «Zwei-Prozess-Modell» der Akkommodation und Assimilation geliefert. Um dieses besser zu verstehen, lohnt es sich, ein bisschen weiter auszuholen.

WELCHE ROLLE UNSERE PERSÖNLICHEN ZIELE FÜR DEN ALTERUNGSPROZESS SPIELEN

Brandtstädters Erklärung basiert auf der Annahme, dass Menschen im Leben Ziele verfolgen. Diese Ziele entwickeln sich aus einem Zusammenspiel zwischen unseren Genen und den Umweltbedingungen, auf die wir treffen – angefangen bei den Erfahrungen aus allerfrühester Kindheit über die Werte, die uns im Elternhaus vermittelt wurden, bis hin zu den Erlebnissen, die wir im späteren Leben in Schule, Beruf oder in unseren Beziehungen machen. Sie sind uns daher auch zum Teil bewusst, wobei einige Wissenschaftler unsere unbewussten Ziele auch «Motive» nennen, worauf wir an dieser Stelle der Einfachheit halber verzichten.

Unsere Ziele sind der Hauptmotor für unsere Entwicklung. Wichtig ist, dass nicht alle Ziele die gleiche Bedeutung für uns haben. Vielmehr sind die Ziele hierarchisch aufgebaut, ähnlich einer Pyramide. Ganz oben stehen die Oberziele, beispielsweise «unabhängig sein», «geliebt werden» oder «leistungsfähig sein». Diese Oberziele sind für uns besonders wichtig, da sie eng mit unserer Identität verknüpft sind. Diese Ziele versuchen wir durch eine Vielzahl von Unterzielen zu erreichen. So könnte für das Oberziel «unabhängig sein» ein Unterziel lauten «in einem eigenen Haus leben». Um das zu gewährleisten, braucht man jedoch einen Beruf, bei dem man viel Geld verdient. «Einen lukrativen Job ausüben» könnte daher ein Ziel auf einer noch tieferen Hierarchieebene sein. Wobei der lukrative Job nicht nur helfen kann, das Ziel «unabhängig sein» zu erreichen, sondern er kann auch noch andere, höhere Ziele wie «attraktiv sein» oder «geliebt werden» bedienen. Jeder von uns hat also ein ganzes Netz von teilweise miteinander verwobenen Ober- und Unterzielen in seinem Kopf.

Dabei gilt: Ziele sind umso wertvoller für uns, je höher sie in der Hierarchie stehen, je mehr Energie wir bereits in ihre Verfolgung investiert haben und mit je mehr anderen Zielen sie verknüpft sind. Je wertvoller ein Ziel, umso schwerer geben wir es auf, umso hartnäckiger halten wir an ihm fest. Was jedoch gleichzeitig bedeutet: Unser Zielsystem ist keinesfalls starr. Im Gegenteil: Es ist dynamisch, flexibel und kann bis ins höchste Alter verändert werden.

 

Um unsere Ziele zu erreichen und um uns rechtzeitig von ihnen wieder zu lösen, besitzen wir laut Brandtstädter zwei grundlegende Mechanismen: die sogenannten assimilativen und die akkommodativen Prozesse. Erstere sind dafür verantwortlich, dass wir unsere Ziele fokussieren und verfolgen. Letztere hingegen unterstützen uns dabei, uns von Zielen, die wir nicht erreichen können, zu lösen.

Stellen wir uns beispielsweise vor, wir haben das für uns sehr wichtige Oberziel «Freisein», welches wir unter anderem über das Unterziel «Harley-Davidson fahren» zu erreichen versuchen. Stellen wir uns weiter vor, im Zuge unseres Alterungsprozesses fällt es uns zunehmend schwerer, die verschiedenen Eindrücke, die im Straßenverkehr auf uns eintreffen, adäquat zu verarbeiten. Außerdem gelingt es uns aufgrund unserer geschwundenen Muskelkraft an Armen und Beinen nicht mehr, das schwere Motorrad so sicher zu halten wie früher. Auf längeren Strecken schmerzen zudem unsere Gelenke.

Im assimilativen Modus neigen wir dazu, unsere Fähigkeiten zu überschätzen. Alternative Möglichkeiten, um unser Oberziel zu erreichen, kommen uns (noch) nicht in den Sinn. Und kritischen Einwänden schenken wir weniger Aufmerksamkeit, erinnern sie schlechter oder schreiben sie gleich in unserem Gedächtnis in positive Nachrichten um. Gleichzeitig suchen wir verstärkt Situationen auf, in denen die Richtigkeit unserer Ziele bekräftigt wird – etwa ein Harley-Treffen, wo mehrere Fahrer jenseits der 70 sind. Das alles macht Sinn, schließlich können wir nur dann unsere Ziele erreichen, wenn es uns gelingt, sie zu fokussieren.

Problematisch wird es jedoch, wenn die Zeichen, dass wir nicht mehr so wie früher Harley fahren können, immer massiver werden. Nun müssen wir – zumindest im Normalfall – erkennen, dass wir unser Unterziel nicht mehr erreichen können.

Vielleicht versuchen wir nun zunächst, unser Unterziel nur begrifflich umzudeuten, damit es uns erhalten bleibt. Wir könnten uns etwa sagen: «Um sich auf einer Harley frei zu fühlen, muss man ja nicht notgedrungen selbst am Lenker sitzen.» Eine andere Möglichkeit wäre es, die Referenzgruppe zu ändern. Nun heißt es nicht mehr: «Ein echter Harley-Fahrer muss mehr als eine Stunde auf einem Motorrad sitzen können.» Sondern wir sagen: «Da in meinem Alter fast niemand mehr auf einer Harley sitzen kann, ist eine Stunde Motorradfahren schon eine beachtliche Leistung.»

Aus körperlicher Sicht ist das Alter von Abbau und Funktionseinbußen bestimmt: Wir können uns nur noch eingeschränkter bewegen. Wir müssen vielleicht auf das Motorrad- und Fahrradfahren verzichten. Vielleicht müssen wir sogar unsere Wohnung verlassen. Zusätzlich verändern sich auch noch Umweltbedingungen: Der Partner wird krank, Freunde versterben, finanziell geht es uns schlechter. Gleichzeitig verfügen wir Menschen jedoch über erstaunliche psychische Anpassungsprozesse. Je älter wir werden, umso besser werden sie. Insbesondere unsere akkommodativen Fähigkeiten helfen uns, eigene Veränderungen und Veränderungen in unserer Umwelt abzufedern. Erst in der «terminalen Lebensphase» (Brandtstädter), also im höchsten Lebensalter unmittelbar vor dem Tod, wenn Stärke und Anzahl der Belastungen noch einmal deutlich zunehmen, stößt unser Assimilations- und Akkommodationssystem offenbar an seine Grenzen, und die Lebenszufriedenheit sinkt.

 

Dass sich unsere Fähigkeiten wandeln, geschieht nicht im Verborgenen: «Die Veränderungen des Alters zeigen sich darin, dass ein Mensch spürt, dass er mehr kompensatorische Kräfte nötig hat, um Defizite auszugleichen, als für ihn leicht mobilisierbar sind», sagt Frieder R. Lang, Professor für Psychologie und Direktor des Instituts für Psychogerontologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Mit anderen Worten: Die Grenzen des Alters zeigen sich, z. B. in Form von erhöhtem Herzschlag oder schnellerer Erschöpfung bei einer früher mühelosen Aktivität. In einem schlechteren Gehör. Oder in der Tatsache, dass einen der Straßenverkehr zunehmend überfordert. Wer die Grenzen ignoriert und versucht, seine gewohnten Fähigkeiten auf gleichem Niveau aufrechtzuerhalten, spürt, wie aus einstiger Kompetenz langsam Stress, aus Wissen Ignoranz oder aus sinnvoller Aktivität Aggression wird: Man stemmt nun im Fitnessstudio verbissen die Hanteln; nicht, um gesund oder sportlich zu sein, sondern um gegen die offensichtlichen, unumkehrbaren Zeichen des Alters zu kämpfen. Fatalerweise werden die eigenen Grenzen umso deutlicher für Dritte erkennbar, je härter wir gegen sie anarbeiten.

Doch das Erkennen der Veränderungen bei uns und in unserer Umwelt ist genauso wie das Anpassen an diese Veränderungen ein Prozess, den wir nur teilweise willentlich beeinflussen können.

Auf der anderen Seite verstärken negative Vorstellungen über das Alter, genährt durch Stereotype, ein zu langes Festhalten an nicht mehr erreichbaren Zielen: Je dramatischer das Alter gezeichnet wird, umso unkontrollierbarer seine Verluste erscheinen, umso mehr Angst haben wir, selbst alt zu werden.

Je mehr Einsichten und Wissen wir zudem über uns, unsere Mitmenschen, unsere Umwelt und den Umgang mit schwierigen Fragen des Lebens haben, umso besser können wir die Dinge, die um uns herum geschehen, einordnen. Dies ist nicht nur eine wichtige Voraussetzung, um den richtigen Punkt zum Loslassen von Zielen zu finden. Es ist auch die Grundlage, auf der sich das entwickeln kann, was Wissenschaftler unter Weisheit verstehen. Schließlich ist Weisheit mehr als nur ein reiches Faktenwissen oder praktische Intelligenz. Weisheit, so der US-amerikanische Psychologe Robert J. Sternberg, ist auf eine Balance zwischen eigenem Interesse, Fremdinteressen und Kontexterfordernissen gerichtet. Das für die Weisheit notwendige Wissen über sich und andere kann jedoch nur bekommen, wer auch widersprüchliche Informationen an sich heranlassen kann. Dies gelingt nur, wenn das Anpassungssystem breit aufgestellt und begrifflich flexibel gestaltet ist.

Nun werden nach Schätzungen von Wissenschaftlern nur maximal fünf Prozent aller Menschen im Alter weise. Dennoch gelingt es auch dem überwiegenden Teil des Rests, sich irgendwann von den alten Zielen, die nicht mehr erreichbar sind, zu lösen. Die bemerkenswerteste Nachricht ist, dass dies den meisten von uns so gut gelingt, dass wir auch im Alter bis mindestens zum 80. Geburtstag eine Lebenszufriedenheit verspüren werden, die es mit der in jungen Jahren aufnehmen kann. Und die eben sogar zu leuchtenden Augen bei älteren Models führen kann. Dass dies für jüngere Menschen teilweise schwer vorstellbar ist, liegt wohl vor allem daran, dass sie das Leben der Älteren anhand ihrer eigenen, noch zu ihrem Leben passenden Zielstruktur bewerten. Sie sehen das Alter schlichtweg aus einer anderen, jüngeren Perspektive.

Besonders erfolgreich gestaltet die Anpassung, wer sich am S-O-K-Modell des ehemaligen Leiters des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, des 2006 verstorbenen Altersforschers Paul Baltes, orientiert. Dies besagt, dass wir besonders dann zufrieden altern, wenn wir uns auf die Aufgaben konzentrieren, die wir besonders gut können, beziehungsweise auf die Ziele, die uns besonders wichtig sind (S wie selektieren). Wenn wir diese Aufgaben anschließend besonders durch Training zu optimieren trachten (O wie Optimieren). Und gleichzeitig unsere Defizite in anderen Bereichen so weit wie möglich kompensieren (K wie kompensieren). Als Paradebeispiel diente Baltes der gealterte Ausnahme-Pianist Leonard Bernstein. Als seine Fingerfertigkeit im Alter nachließ, verzichtete er darauf, besonders schnelle Stücke zu spielen. Die verbleibenden Stücke aus seinem Repertoire trainierte er dafür umso intensiver. Und schließlich spielte er die Stücke insgesamt etwas langsamer, damit Änderungen der Geschwindigkeit relativ erhalten bleiben konnten.

WAS WIR IM ALTER DAZUGEWINNEN KÖNNEN

 

   

Wir haben also die Gabe, uns an die zahlreichen Veränderungen des Alters auf erstaunliche Weise anzupassen. Dadurch bleiben wir allerdings nicht nur im Alter zufriedene Menschen. Wir verändern uns auch im Zuge des Anpassungsprozesses.