Robert Gernhardt
Was das Gedicht alles kann: Alles
Texte zur Poetik
Herausgegeben von Lutz Hagestedt und Johannes Möller
FISCHER E-Books
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Alle Rechte S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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ISBN 978-3-10-401745-7
[Hans Magnus Enzensberger]: DAS WASSERZEICHEN DER POESIE. S. VI. – Hier und im folgenden haben wir bei Mehrfachnennungen jeweils Kurztitel aufgeführt. Die vollständigen bibliographischen Angaben finden sich in der Bibliographie (S. 648–655).
TEESTUNDE. A.a.O., S. 187.
Peter Rühmkorf: DAS LYRISCHE WELTBILD DER NACHKRIEGSDEUTSCHEN, S. 447.
Rühmkorf: DAS LYRISCHE WELTBILD, S. 454, 458.
Ebd., S. 472.
Ebd., S. 453, 455.
Ebd., S. 460f.
Robert Gernhardt: VON NICHTS KOMMT NICHTS, Düsseldorfer Fassung, nicht veröffentlicht, vgl. unsere Anmerkung S. 610 zu S. 11. Zur Betonung des Gedichts als Menschenwerk vergleiche auch Gernhardt: SCHMERZ LASS NACH (in diesem Band, S. 240).
Rühmkorf: DAS LYRISCHE WELTBILD, S. 464. Bei Gernhardt vergleiche: THESEN ZUM THEMA (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 14).
Die Zeile entstammt Gernhardts Gedicht RUHMESBLATT (in: SPÄTER SPAGAT, S. 95).
Rühmkorf: DAS LYRISCHE WELTBILD, S. 447f. Vgl. Gernhardt: WAS BLEIBT? (in diesem Band, S. 184).
Ebd., S. 453.
Ebd., S. 451.
Ebd., S. 449f., 454.
Ebd., S. 454. Vergleiche bei Gernhardt: WAS KANN ICH, WAS GOETHE NICHT KONNTE?, Einleitung, abgedruckt als Anmerkung zu SCHLÄFT EIN LIED IN ALLEN DINGEN? (in diesem Band, S. 621).
Vgl. Gernhardt: WAS BLEIBT? (in diesem Band, S. 183). – Eine weitere Bezugnahme auf Rühmkorfs Essay bietet EIN HOCH DEM FUFFZEHNTEN JULEI (in diesem Band, S. 391).
Rühmkorf: DAS LYRISCHE WELTBILD, S. 459.
Vgl. Gernhardt: WAS BLEIBT? (in diesem Band, S. 197).
Walter Höllerer: TRANSIT, S. XV.
Vgl. Gernhardt: ORDNUNG MUSS SEIN (in diesem Band, S. 81), WAS BLEIBT? (in diesem Band, S. 186), SCHMERZ LASS NACH (in diesem Band, S. 210), WARUM GERADE DAS SONETT? (in diesem Band, S. 455).
Vgl. Gernhardt: DIE MIT DEM HAMMER DICHTEN (in diesem Band, S. 37), WAS BLEIBT? (in diesem Band, S. 183) mit Anmerkung S. 622 zu S. 183, SIEBEN AUF EINEN STREICH (in diesem Band, S. 524).
Vergleiche Gernhardt: WAS WILL UNS DER MITHERAUSGEBER DES JAHRBUCHS DER LYRIK SAGEN? (in JAHRBUCH DER LYRIK 9, S. 123–128), wo allerdings die Kriterien sehr subtil benannt werden.
Gernhardt: WAS GIBT’S DENN DA ZU LACHEN?, S. 414.
Vgl. Gernhardt: ORDNUNG MUSS SEIN (in diesem Band, S. 105)
Vgl. Gernhardt: SEHR LANGSAM FALLENDER GROSCHEN, in ›K. West‹, Februar 2006 (Einleitung, insoweit hier nicht abgedruckt, vgl. Anmerkung S. 615 zu S. 96).
Die zwei Zeilen entstammen Gernhardts Gedicht KEINE KUNST OHNE KÜNSTLER (in KÖRPER IN CAFÉS, S. 106).
Karl Krolow: DIE LYRIK IN DER BUNDESREPUBLIK SEIT 1945, S. 152.
Krolow über Krolow: a.a.O., S. 77–82. Hier: S. 79.
Karl Krolow: DIE LYRIK IN DER BUNDESREPUBLIK SEIT 1945, S. 24.
Peter Hacks: DIE MASSGABEN DER KUNST II, S. 9.
Gottfried Benn: PROBLEME DER LYRIK, S. 40.
Erich Kästner: RINGELNATZ UND GEDICHTE ÜBERHAUPT, S. 226.
Ebd.
Vgl. Gernhardt: SCHMERZ LASS NACH (in diesem Band, S. 235).
[Hans Magnus Enzensberger]: DAS WASSERZEICHEN DER POESIE, S. Vf.
Charitas Jenny-Ebeling: GEDICHTELESEN ALS SPIEL, S. 37f.
Gernhardt: WAS EINER IST, WAS EINER WAR, BEIM SCHEIDEN WIRD ES OFFENBAR (in ALLES ÜBER DEN KÜNSTLER, S. 292).
Jörg Drews: SELBSTERFAHRUNG UND NEUE SUBJEKTIVITÄT IN DER LYRIK, S. 89–95.
Peter Wapnewski: GEDICHTE SIND GENAUE FORM, S. 453.
Christoph Derschau: GEDICHT-TITEL, S. 63.
Gernhardt: ZU PETER RÜHMKORFS AUFFANGPAPIEREN (in diesem Band, S. 567).
Peter Rühmkorf: EINFALLSKUNDE, S. 160. Vgl. Gernhardt: ZU PETER RÜHMKORFS AUFFANGPAPIEREN (in diesem Band, S. 567).
Peter Rühmkorf: DER REIM UND SEINE WIRKUNG, S. 181.
Gernhardt: THESEN ZUM THEMA (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 15).
Hans Bender: NACHWORT, S. 281.
Gernhardt: THESEN ZUM THEMA (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 14).
Ebd. (S. 15).
Gernhardt: SIEBEN AUF EINEN STREICH (in diesem Band, S. 524).
Ebd. (in diesem Band, S. 529).
Gernhardt: GOLDEN OLDIES ODER WO ZUM TEUFEL BLEIBEN EIGENTLICH DIE LYRIK-HÄMMER DER SAISON (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 78).
Gernhardt: WAS BLEIBT? (in diesem Band, S. 206).
Ebd. (in diesem Band, S. 206).
Gernhardt: SIEBEN AUF EINEN STREICH (in diesem Band, S. 524). Die Zahl »Sieben« bezieht sich auf die verschiedenen Arten von Anthologien, die Gernhardt herausbildet.
Peter Rühmkorf: DAS LYRISCHE WELTBILD, S. 447.
DE PROFUNDIS, S. [7].
Gernhardt: WARUM GÜNTHER WEISENBORNS GEDICHT »AHNUNG« KEIN GUTES GEDICHT IST (in diesem Band, S. 425).
DE PROFUNDIS. Das Gedicht AHNUNG findet sich auf S. 452, die Kurzbiographie Weisenborns auf S. 450.
Scil. in Grolls DE PROFUNDIS (1946), in Altenbergs DEUTSCHE LYRIK (1947), in Manfred Schlössers AN DEN WIND GESCHRIEBEN (1960, ²1961) und in der Schulanthologie NEUE SILBERFRACHT (1965).
Gernhardt: WARUM GÜNTHER WEISENBORNS GEDICHT »AHNUNG« KEIN GUTES GEDICHT IST (in diesem Band, S. 427).
Gernhardt: ORDNUNG MUSS SEIN (in diesem Band, S. 89).
Vgl. Gernhardt: OTTO – DER NEUE FILM ODER: DER KOMIKKRITIKER SCHLÄGT ZURÜCK (in WAS GIBT’S DENN DA ZU LACHEN?, S. 433f.).
Gernhardt: DARF MAN DICHTER VERBESSERN? (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 63).
Jochen Vogt: DAS MUSS DER REIMREINBRINGER SEIN, S. 175.
Die Datenbank von Hans Braam ergibt 22 Belege in Anthologien des Zeitraumes 1962–2007.
Gernhardt: ZU INGEBORG BACHMANN: DIE GESTUNDETE ZEIT (in diesem Band, S. 423).
Peter Rühmkorf: DAS LYRISCHE WELTBILD, S. 458.
Ebd., S. 461.
Ebd., S. 460. Mit dieser ›Zwillingsformel‹ charakterisiert Rühmkorf den Schriftsteller Hans Egon Holthusen.
Hans Egon Holthusen: KÄMPFENDER SPRACHGEIST, S. 253.
Hilde Spiel: DAS NEUE DROHT, S. 160f.
Ebd., S. 160. H. E. Holthusen: KÄMPFENDER SPRACHGEIST, S. 275f.
Vgl. Gernhardt: KEIN WÖRTCHEN FÜR DEN WÖRTERSEE (in GESAMMELTE GEDICHTE 1954–2006. S. 1025–1028).
Vgl. Gernhardt: LEBEN IM LABOR (in diesem Band. S. 148).
Vgl. nur Gernhardt: SCHMERZ LASS NACH (in diesem Band. S. 240).
Vgl. Gernhardt: WAS BLEIBT? (in diesem Band, S. 193).
Ebd. (in diesem Band, S. 194).
Vgl. ebd. (in diesem Band, S. 195).
Ebd. (in diesem Band, S. 205).
Gernhardts Poem GESANG VOM GEDICHT erschien zuerst in IN EIGENER SACHE, dem Nachwort von IN ZUNGEN REDEN (in diesem Band, S. 539) und sodann mit dem expliziten Untertitel SIEBEN STROPHEN PRO DOMO in IM GLÜCK UND ANDERSWO. Wir haben uns bei der nun folgenden Auswahl von poetologischen Gedichten auf solche beschränkt, die Gernhardt nicht in seiner Essayistik zitiert.
Als Referat gehalten 1989, veröffentlicht 1990 in GEDANKEN ZUM GEDICHT.
Theodor W. Adorno: KULTURKRITIK UND GESELLSCHAFT (1951). Vgl. Petra Kiedaisch, LYRIK NACH AUSCHWITZ, S. 27–49. Der Band enthält und diskutiert neben Adornos Essay und Gernhardts FRAGE zahlreiche weitere Stellungnahmen aus der Debatte. Das Gedicht FRAGE erschien zuerst in DIE WAHRHEIT ÜBER ARNOLD HAU, S. 144.
Vgl. dazu Günter Scholdt: AUTOREN ÜBER HITLER sowie Gustav Seibt: ZWEITE UNSCHULD.
Es handelt sich um das vierte Gedicht im Zyklus WELT DER LITERATUR, der sich bemerkenswerterweise in der Abteilung UNTER GEIERN von WEICHE ZIELE findet und Texte auch »zum Literaturbetrieb« enthält.
Gernhardt: KANN ES DAS DICHTEN RICHTEN? Dort bemerkt Gernhardt ausdrücklich, daß er sich zehn Jahre vor dieser Rede (die er 2004 hielt, also 1994) nicht Heines Leidensgedichten gewidmet hätte, sondern seiner Komik (S. 13f.).
Vgl. etwa Gernhardts THESEN ZUM THEMA (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 9–17) und KEIN WÖRTCHEN FÜR DEN WÖRTERSEE (in GESAMMELTE GEDICHTE 1954–2006, S. 1025–1028).
Das Gedicht entstammt dem Zyklus LIED DER BÜCHER ODER JUNI MIT HEINE.
Es handelt sich um das dritte Gedicht des Zyklus MONTAIESER MITTAGSGEDICHTE.
Gernhardt: WINTERREISE in GESAMMELTE GEDICHTE 1954–2006, S. 1040ff.
Gernhardt: WAS EINER IST, WAS EINER WAR, BEIM SCHEIDEN WIRD ES OFFENBAR (in ALLES ÜBER DEN KÜNSTLER, S. 296).
Das Zitat ist, da wir kein Wortprotokoll bieten, sondern dem Vorlesungsmanuskript folgen, der im HörVerlag erschienenen CD (München 2010) zu entnehmen.
Die Zeile entstammt Gernhardts Gedicht DIE WELT UND ICH (aus WÖRTERSEE).
Vgl. Gernhardt: DARF MAN DICHTER VERBESSERN? (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 57f.). Gernhardts Kritik bezieht sich auf Kunerts VERLANGEN NACH BOMARZO, S. 29f. – Doch muß eingeräumt werden, daß in Kunerts »Erinnerungen« der »Parco dei Mostri« richtig geschrieben wird. Vgl. ders.: ERWACHSENENSPIELE, S. 322.
Peter Rühmkorf: RÜHMEN UND AM LATTENZAUN DER MARKTNOTIERUNG RÜTTELN.
Kurt Flasch: DAS SCHNABELTIER, S. 16–21. Das Gedicht entstammt dem Zyklus TIERWELT – WUNDERWELT aus DIE WAHRHEIT ÜBER ARNOLD HAU.
Gernhardt: THESEN ZUM THEMA (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 13).
Gernhardt: SCHLÄFT EIN LIED IN ALLEN DINGEN? (in diesem Band, S. 152).
Gernhardt: DIE MIT DEM HAMMER DICHTEN (in diesem Band, S. 69).
Gernhardt: WAS EINER IST, WAS EINER WAR, BEIM SCHEIDEN WIRD ES OFFENBAR (in ALLES ÜBER DEN KÜNSTLER, S. 296).
Gernhardt: HERR GERNHARDT, WARUM SCHREIBEN SIE GEDICHTE? DAS IST EINE LANGE GESCHICHTE (in GEDANKEN ZUM GEDICHT, S. 18).
Gernhardt: unveröffentlichter Brief an Christoph Schröder (Frankfurter Rundschau) vom 3. 12. 2002.
Robert Gernhardt: HIER SPRICHT DER DICHTER, S. 91.
Gernhardt gab den Zuhörern als »Hausaufgabe« auf, weitere Variationen zu NACHT DER DEUTSCHEN DICHTER (in Frankfurt und Essen) beziehungsweise zu BILDEN SIE MAL EINEN SATZ MIT … (in Düsseldorf) zu schreiben und las die besten Einsendungen in einer der nächsten Stunden vor. Vgl. auch unsere Anmerkung S. 616 zu ORDNUNG MUSS SEIN. Über die Ergebnisse geben außer den im Hörverlag veröffentlichten Live-Mitschnitten im ersten Fall die Anmerkungen in GESAMMELTE GEDICHTE 1954–2006 (S. 1033ff.) Auskunft, im zweiten Fall Robert Gernhardt, Klaus Cäsar Zehrer (Hgg.): BILDEN SIE MAL EINEN SATZ MIT …, Frankfurt/M. (Fischer Taschenbuch) 2007.
Für Düsseldorf finden sich als Vorspann vor zu SCHMERZ LASS NACH – allerdings sehr lockere – Stichpunkte für die Vorstellung der Ergebnisse. Auch der Umstand, daß Gernhardt nach dieser Vorstellung noch einmal ganz neu mit der Vorlesung, einschließlich Begrüßung, ansetzt, belegt in unseren Augen die Richtigkeit, die ›Hausaufgabenbesprechung‹ als von der eigentlichen Vorlesung geschieden zu sehen.
Beispielsweise VON NICHTS KOMMT NICHTS (in diesem Band, S. 11) und LEBEN IM LABOR (in diesem Band, S. 112).
LEBEN IM LABOR (in diesem Band, S. 112).
Verehrte Anwesende, liebe Zuschauer,
was ich mich hier zu halten anschicke, ist die erste Poetik-Vorlesung meines Lebens, und ich kann sagen, daß ich mir mit dieser Feuertaufe Zeit gelassen habe.
Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal gefragt worden bin, ob ich das ehrenvolle Amt des Frankfurter Poetik-Dozenten schultern wolle – auf jeden Fall ist es Jahre her, so viele Jahre jedenfalls, daß ich leichthin antworten konnte: Noch bin ich nicht so weit, noch bin ich Lernender. Sprechen wir erneut darüber, wenn ich die 60 passiert habe; warten wir ab, ob ich dann zum Lehrenden gereift sein werde.
So etwas sagt sich leicht im zarten Alter von 50 oder 55 folgende – doch dann hatte ich die 60 passiert, dann wurde die Frage wiederholt, dann gab es keine Ausflucht mehr: Als 63jähriger trete ich vor Sie – allerdings weniger als Lehrender, denn als Entleerender – : Im Laufe der jahrzehntelangen Arbeit im Steinbruch der Sprache ist mir natürlich vieles um die Ohren geflogen, ist mir manches durch den Kopf gegangen, ist einiges darin hängengeblieben, und wes der Kopf voll ist, des geht der Mund über – : Hörnwerma, dannwermersehn.
Vor Jahren habe ich ein Gedicht geschrieben, das den Titel »Lesung« trägt. Setzt man vor »Lesung« ein »Vor«, dann wird »Vorlesung« daraus:
Menschen schauen mich an:
Da kommt der Gernhardt, Mann!
Menschen schauen mir zu:
Das ist der Gernhardt, du!
Menschen schauen mir nach:
Das war der Gernhardt, ach!
Menschen schauen sich an:
Der wird auch nicht jünger!
»Was das Gedicht alles kann: Alles«, lautet der Obertitel meiner mehrteiligen Überlegung – soeben haben wir eine der ungezählten Fähigkeiten des Gedichts erlebt: Es kann den Einstieg in ein solches Unternehmen erkennbar erleichtern.
Was es sonst noch so alles kann, das werde ich in den nächsten Wochen in zumindest groben Zügen darzulegen versuchen.
Das Gedicht kann alles, behaupte ich, zugleich aber muß ich fortwährend verbuchen, daß der Dichter heutzutage wenig, wenn nicht gar nichts gilt.
Als das ›F. A. Z.-Magazin‹ selig noch seine ganzseitigen Fragebögen veröffentlichte, da enthielt dieser auch die Frage: »Ihr Lieblingslyriker?«
Und betroffen bis bänglich nahm ich von Fall zu Fall wahr, wie Befragte nichts dabei fanden, diese Frage auszulassen oder sie mit einer Gegenfrage zu beantworten.
Nun gut: Daß der 1965 geborene Thomas Helmer, von Beruf Fußballspieler, der Frage nach dem Lieblingslyriker die Feststellung entgegenhält: »Ich bin leider kein Experte auf dem Gebiet der Lyrik!« – das mag am kunstfeindlichen Deutschunterricht der 68er-Deutschlehrer gelegen haben. Und wenn der Zehnkämpfer Frank Busemann, Jahrgang 1975, »Lieblings… was?« zurückfragt, dann mag das damit zu tun haben, daß in einem allzu gesunden Körper nicht immer der allerhellste Geist zu Hause ist.
Wenn aber der 1949 geborene Funkmoderator Elmar Hörig zum »Lieblingslyriker« lediglich zu sagen weiß »Nicht, daß ich auch nur einen wüßte«, wenn Tom Stromberg, Jahrgang 1960, Studium der Germanistik und Theaterwissenschaft, zehn Jahre lang Intendant des TAT Frankfurt, Leiter des Kulturprogramms der Expo 2000 in Hannover, zur Zeit Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg – wenn ein solch kapitaler Kulturmensch auf die Frage nach dem »Lieblingslyriker« nichts anderes zu entgegnen weiß, als einen vielsagenden Gedankenstrich »–«: das läßt tief blicken, fragt sich nur, in wen: In Tom Stromberg? Oder in die Situation der Lyrik hier und heute?
Lassen wir die Antwort offen, vermerken wir lediglich, daß besagter Fragebogen zwar nach dem plötzlichen Hinscheiden des ›F. A. Z.-Magazins‹ von der ›Frankfurter Sonntagszeitung‹ weitergeführt wird, seither jedoch seinen Beantwortern die Frage nach dem »Lieblingslyriker« nicht mehr zumutet bzw. erspart – was geht da vor? Anders gefragt: Geht da etwas den Bach runter? Beziehungsweise: Was geht da den Bach runter? Und seit wann?
Im August 1797 besucht Johann Wolfgang Goethe nach langer Abwesenheit seine Geburtsstadt Frankfurt am Main und berichtet darüber in Briefen an den in Jena zurückgebliebenen Friedrich Schiller.
»Sehr merkwürdig ist mir aufgefallen wie es eigentlich mit dem Publiko einer großen Stadt beschaffen ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das was wir Stimmung nennen, läßt sich weder hervorbringen noch mittheilen. Alle Vergnügungen, selbst das Theater, sollen nur zerstreuen und die große Neigung des lesenden Publikums zu Journalen und Romanen entsteht eben daher, weil jene immer und diese meist Zerstreuung in die Zerstreuung bringen.
Ich glaube sogar eine Art von Scheu gegen poetische Produktionen, oder wenigstens in so fern sie poetisch sind, bemerkt zu haben, die mir aus eben diesen Ursachen ganz natürlich vorkommt. Die Poesie verlangt, ja sie gebietet Sammlung, sie isoliert den Menschen wider seinen Willen, sie drängt sich wiederholt auf und ist in der breiten Welt (um nicht zu sagen in der großen) so unbequem wie eine treue Liebhaberin.«
Diesen Befund teilt Schiller, doch setzt er dem Goetheschen Bild der Poesie als unbequemer, weil getreuer Liebhaberin zwei andere, grellere Bilder entgegen:
»So viel ist auch mir […] klar geworden, daß man den Leuten, im ganzen genommen, durch die Poesie nicht wohl, hingegen recht übel machen kann, und mir däucht, wo das eine nicht zu erreichen ist, da muß man das andere einschlagen. Man muß sie inkommodieren, ihnen ihre Behaglichkeit verderben, sie in Unruhe und in Erstaunen setzen. Eins von beiden, entweder als ein Genius oder als ein Gespenst muß die Poesie ihnen gegenüber stehen. Dadurch allein lernen sie an die Existenz einer Poesie glauben und bekommen Respekt vor den Poeten.«
Im Verlauf des Frankfurt-Aufenthalts besucht Goethe übrigens neben anderen von Schiller protegierten Jungdichtern wie Siegfried Schmidt und – doch den verfehlt er leider – Hauptmann Steigentesch auch einen gewissen Hölderlin, dem er rät, »kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen«.
Folgt man Goethe, so hatte Hölderlin eine andere Vorstellung von dem ihm gemäßen Gedicht. Bedauernd vermerkt der Besucher: »Er schien eine Neigung zu den mittleren Zeiten zu haben, in der ich ihn nicht bestärken konnte.«
Wie wir wissen, hat Hölderlin die Ratschläge des Poeten Goethe nicht respektiert, im Gegenteil: Statt sich »kleiner Gedichte« zu befleißigen, weitete er auch die »mittleren Zeiten« zu langen, großen und folgenreichen Gesängen – von diesen Folgen später. Halten wir für den Moment lediglich fest, daß die »Poesie« laut Kronzeuge Johann Wolfgang Goethe bereits vor zweihundert Jahren keine allzu gefragte Gebieterin war, nicht zuletzt hier in Frankfurt, und fahren wir fort mit der Frankfurter Poetik-Vorlesung des Jahres 2001 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, versuchen wir, auf die Reihe zu bringen, was bisher noch reichlich undefiniert und herzlich ungeregelt im Raum steht, fragen wir uns, was das eigentlich ist: das Gedicht, die Poesie, die Lyrik.
Schauen wir zunächst dem Volk aufs Maul. Vielleicht gibt es Antwort:
Der Satz »Dieser Kuchen ist ja ein Gedicht!« meint einen eindeutig positiven Befund.
Der Satzanfang »Um es mal poetisch auszudrücken …« signalisiert Beschönigung, wenn nicht Schönfärberei.
Der Ansatz »Nun werden Sie bloß nicht lyrisch …« unterstellt dem Gesprächspartner unzulässige, ja verwerfliche Weltfremdheit.
Gedicht – Poesie – Lyrik – : Belassen wir es nicht beim Plebiszit, schauen wir einmal nach, wie die Wissenschaft diese Begriffe definiert, blicken wir in ein germanistisches Standardwerk, öffnen wir Gero von Wilperts »Sachwörterbuch der Literatur«.
Zu »Gedicht« lesen wir die prosaische Auskunft: »jede Erscheinungsform der Dichtung in Versen, besonders aber für die s. Lyrik.«
Zum Stichwort »Poesie« stoßen wir auf einen ebenfalls sachlich kargen Eintrag:
»Dichtung allg., im engeren Sinn die in gebundener Rede im Ggs. zur s. Prosa.«
Halten wir fest: Fünf Zeilen weiß Gero von Wilpert zum Stichwort »Gedicht« zu sagen, sechs Zeilen zur »Poesie« – viereinhalb Seiten aber widmet er dem Begriff »Lyrik«, einen regelrechten Gesang stimmt er an, der mit den Worten anhebt:
Lyrik, die subjektivste der drei Naturformen (s. Gattungen) der Dichtung; unmittelbare Gestaltung innerseelischer Vorgänge im Dichter, die durch Weltbegegnung (s. Erlebnis) entstehen, in der Sprachwerdung aus dem Einzelfall ins Allgemeingültige, Symbolische erhoben werden und sich dem Aufnehmenden durch einfühlendes Mitschwingen erschließen.
Wenn das das Wesen der Lyrik ausmacht – innerseelische Vorgänge, gemüthafte Weltbegegnung, einfühlendes Mitschwingen – was ist dann das hier:
Ein Hündchen wird gesucht,
Das weder murrt noch beißt,
Zerbrochne Gläser frißt
Und Diamanten …
Ja – was ist das? Offenkundig doch ein Gedicht, allerdings bar jeder Weltbegegnung und auch ohne einfühlendes Mitschwingen verständlich – : Offenbar verhält es sich also so, daß es laut Gero von Wilpert Gedichte gibt, die nicht zur »Lyrik« zu rechnen sind. Da es andererseits lediglich drei Naturformen der Dichtung gibt – außer der Lyrik noch das Epos und das Drama – , und da besagter Vierzeiler weder zur Gattung der »Ilias« noch zu der des »König Ödipus« gerechnet werden kann, bleibt lediglich der Schluß, daß er überhaupt nicht zur Dichtung gehört. Was aber sucht er dann in »Goethes Werken in vierzig Bänden« des Deutschen Klassiker Verlags, Band Gedichte 1800–1832, Seite 728 unter der Überschrift »Annonce, Den 26. Mai 1811« – ?
Wenn ein Gedicht und eine Definition zusammenstoßen und es hohl klingt, so muß das nicht immer am Gedicht liegen. Und da der Lyrik-Anthologist Karl Otto Conrady der Gero-von-Wilpertschen Lyrik-Definition so lapidar wie nachvollziehbar widersprochen hat, in seinem Vorwort zur letzten Ausgabe seines »Großen deutschen Gedichtbuchs«, kann ich mir eine eigene Begriffserklärung sparen:
Zur Lyrik gehören alle Gedichte, und Gedichte sind sprachliche Äußerungen in einer speziellen Schreibweise. Sie unterscheiden sich durch die besondere Anordnung der Schriftzeichen von anderen Schreibweisen, und zwar durch die Abteilung in Verse […]. Der Reim ist für die Lyrik kein entscheidendes Merkmal.
Mit »Sammlung« und ›Isolation‹ hatte Goethe die Poesie in Verbindung gebracht, von ›Innerseelenraum‹ und »Einzelfall« war bei Wilpert im Zusammenhang mit »Lyrik« die Rede gewesen – zweihundert Jahre Poesieverklärung und Lyrikverdunkelung konnten nicht ohne Folgen bleiben, bis hinein in die mens sana des Zehnkämpfers Frank Busemann: »Lieblings … was?«
»Warum kommt es uns manchmal so vor, als hafte der ganzen Sache, der ›Lyrik‹, etwas Trübes, Zähes, Dumpfes, Muffiges an?« fragt der Lyriker Hans Magnus Enzensberger im Vorwort seiner Gedichtsammlung »Das Wasserzeichen der Poesie«, und er hakt nach: »Aber war da nicht irgendwann, irgendwo was Anderes? Ein Lufthauch? Eine Verführung? Ein Versprechen? Ein freies Feld? Ein Spiel?«
Zu einem Spiel gehören in der Regel mehrere, und von einer Dichtung, die nicht isoliert, sondern das Gegenteil bewirkt, weiß auch der Poet Peter Rühmkorf ein Lied zu singen, wenn er im Vorwort seiner Erich-Kästner-Auswahl für die Bibliothek Suhrkamp feststellt, daß »die Poesie von ihren psychosozialen Funktionen her ein Gesellungsmedium für aus der Bahn getragene und verstreute Einzelne ist«.
Was also ist sie, die Poesie? Sprechen Poeten von ihr, so reden sie – wir haben es gehört – gerne in Bildern. Nicht anders will ich es halten. Ja – mein Poetenehrgeiz geht sogar so weit, ein Bild für die Poesie zu finden, das geräumig genug ist, all die anderen Bilder, von denen bereits die Rede war, unter einem Dach zu beherbergen.
Durch ein Haus der Poesie will ich Sie führen, durch ein Gebäude mit Räumen ohne Zahl, in welchem Platz ist für einen lauschigen Erker für Goethes Poesie als treue Liebhaberin, Raum für einen Tempel für Schillers Poesie als Genius sowie für ausgedehnte Katakomben für seine Poesie als Gespenst, ein Haus mit Spielzimmern für Enzensbergers Lyrik als Spiel und Gesellschaftsräumen für Rühmkorfs Poesie als Gesellungsmedium, mit einem Elfenbeinturm für Gero von Wilperts gemüthafte Weltbegegnung schließlich – und damit noch längst nicht genug. Am Haus der Poesie hat immerhin der geduldigste und erfahrenste aller Baumeister gearbeitet, die ganze Menschheit. Von ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag hat sie errichtet, angebaut, umgebaut, abgerissen, umfunktioniert – mit dem Ergebnis, daß kein Sterblicher den vollständigen Bauplan der Anlage kennt und kein Aufrichtiger behaupten darf, er könne durch mehr als einen Bruchteil des Gebäudes führen.
Sterblich und aufrichtig, wie ich nun mal bin, will auch ich nicht zuviel versprechen. Ich werde mich auf jene Räume beschränken, die ich einigermaßen aus eigener Anschauung kenne, sei es durch Lektüre, sei es durch Tun, und ich werde recht häufig den Bogen vom Selbstgelesenen zum Selbstgedichteten schlagen.
Peter Sloterdijk hat die Philosophie einmal als Kettenbrief bezeichnet, an dem von Generation zu Generation weitergeschrieben werde; die Poesie könnte man mit dem Namen eines Kinderspiels als »Stille Post« bezeichnen, die von Dichtermund zu Dichterohr wandert, um sodann – aber halt! Metaphernsalat droht. Zurück zum Haus der Poesie – blicken wir kurz, aber scharf in das erste der Zimmer, die wir aufsuchen wollen: Es ist die Krabbelstube.
Als Peter Rühmkorf 1980 an dieser Stelle stand und seine Poetik vortrug, hat er sich mit besonderer Gründlichkeit gerade in diesem Raum umgeschaut – nachzulesen in einem Buch, das seine Beobachtungen zusammenfaßt. Es heißt »agar agar zaurzaurim«, trägt den Untertitel »Zur Naturgeschichte des Reims und der menschlichen Anklangsnerven« und macht als Ursache des ersten Gedichts des Menschen den Schmatzlaut des Neugeborenen aus:
»Die erste mit Sinn belebte kindliche Lautkombination ist für unsere Breiten zweifellos das Allwort Mama. Es leitet sich her aus dem schmatzenden Saugen des Kindes an der Mutterbrust, durch phonetische Zeichen kaum noch wiederzugeben, mit dem genügenden Einfühlungsvermögen aber doch als ein Schmatzschmatz oder auch Hamschmam zu verstehen und mit ein bißchen Abstraktionssinn zu hamam/amma-/mamam zu stilisieren, fraglosem Lustlaut des Säuglings, aber auch der Mutter, der das Kind beim Trinken unverwandt-vertrauensselig in die Augen blickt, und aus dieser allgemeinen Rührung folgert zwanglos der erste rührende Reim einer menschlichen Naturpoesie.«
Ma-ma – das ist doppelt gereimt und somit doppelt geleimt: Der Stabreim M-M und der Endreim a-a sorgen für größtmögliche Eingängigkeit und Haftfähigkeit, und nicht anders verhält es sich bei allem, was Baby sonst noch bewegt und beschäftigt, bei Papa und Kaka, bei Wauwau und Pipi.
Babymund ist auch die Lautverdoppelung Dada, und das ist nicht zufällig zugleich der Name einer Kunstbewegung, die in Gedichten ihrer Freude an Regression und Kindlichkeit freien Lauf ließ, als Beispiel mögen einige Zeilen aus Richard Huelsenbecks Gedicht »Ebene« genügen:
Arbeit
Arbeit
brä brä brä brä brä brä brä brä brä
sokobauno sokobauno sokobauno
Schikaneder Schikaneder Schikaneder
dick werden die Ascheneimer sokobauno sokobauno
[…]
Bier bar obibor
baumabor botschon ortitschell seviglia o ca sa ca ca sa ca ca sa
ca ca sa ca ca sa ca ca sa
Und auch in einem meiner früheren Gedichte zittert noch der erste Lustlaut des Säuglings nach, gepaart mit ungebrochener Kindlichkeit im Detail:
Mama –
kein einziges Wort auf der Welt
das so viele Mas enthält
wie Mama.
Ja –
Kaktushecke hat mehr Kas
Braunbärbabies hat mehr Bes
Erdbeerbecher hat mehr Es
Schamhaaransatz hat mehr As –
Aber Mas?
Koblenz hat keine Ma
München hat so gut wie keine Ma
Mannheim hat nur eine Ma
doch welche Stadt hat zwei Ma?
Na?
Göttingen
Ja!
Denn dort wohnt meine
Mama.
Wir verlassen die Krabbelstube und stehen – erwartungsgemäß – im Kinderzimmer.
Auch diesen Raum hat Peter Rühmkorf vermessen und inventarisiert, in seinem Buch »Über das Volksvermögen. Exkurse in den literarischen Untergrund.«
Diese Sammlung von unzensierten Kinderversen erschien erstmals 1969 und war – unter anderem – die Antwort auf eine 1962 erschienene Sammlung vergleichbaren Anspruchs, jedoch ganz anderen Inhalts. Rühmkorf sagt dazu:
»In diesen Zusammenhang gehört wohl oder übel ein Buch, das […] im Jahre 1962 bei Suhrkamp herauskam. Sein Titel: ›Allerleirauh‹. Sein Untertitel: ›Viele schöne Kinderreime‹. Sein Verfasser (und hier wollen sich alle bösen Verdächte eigentlich von selbst erübrigen): Hans Magnus Enzensberger, also ein Autor, dessen ideologische Unbestechlichkeit nahezu sprichwörtlich. Aber Enzensberger, wie sehr er sich auch in einer beigefügten Leseanweisung um ein Publikum sagen wir mit freiem Kopf und unvernebeltem Bewußtsein bemüht, scheint diesmal selbst zu tief in den Bann allgegenwärtiger Vorurteile geraten, als daß sich der Geist ästhetisierender Verklärung a posteriori hätte aus der Welt disputieren lassen. Was sich uns darbietet ist nicht, wie das Nachwort meint, ›Poesie am grünen Holz‹, sondern Poesie aus jenem (Nürnberger) Spielwarenmuseum, das zeitgenössischer Sentimentalität das wahre Naturreich scheint.«
Ich erinnere mich der Enzensbergerschen Sammlung und der Tatsache, daß ich das mit anrührend altertümlichen Holzschnitten aus der Werkstatt des Engländers Bewick ausgestattete Buch so lieb fand, daß ich es einer Freundin schenkte. Das Rühmkorfsche »Volksvermögen« dagegen habe ich nie verschenkt, jedoch gelesen. Das letzte Mal las ich es, als ich mich auf diese Vorlesung vorbereitete, und dabei machte ich zwei Erfahrungen.
Die erste hat mit den ersten Versen aus meiner Feder zu tun, an die ich mich noch erinnern kann. Aber hören wir zunächst Peter Rühmkorf:
»Während das Bild der Eltern eindeutig geschlechtstypisch geprägt ist, […] zeigt das Bild der Großeltern fast immer Züge einer anal präokkupierten Komik. Der Großvater und die Großmutter sind, und das im Gegensatz zu ihren Namen, nicht gerade Großfiguren, gegen die man sich mit Zähnen und Klauen zur Wehr setzen muß. […] Etwas taprig und etwas blöde, etwas kindisch und etwas verrückt, werden sie mit einer Entwicklungsstufe identifiziert, die die Viertel- und Achtelwüchsigen längst glauben hinter sich zu haben, und über die sie sich mokieren mit allem Hochgefühl der frisch erworbenen Fertigkeit.«
Dazu zitiert Rühmkorf eine ganze Reihe von Belegversen, darunter auch:
Grootmudder kann ehr Bett nich finn’
Fallt vör Schreck in’ Pißpott rin
Auf vergleichbarem Niveau habe auch ich einmal angefangen. Es war in der fünften oder sechsten Klasse der Göttinger Felix-Klein-Oberschule. Wir hatten im Englischunterricht vom angelsächsischen Halloween-Brauch erfahren und waren aufgefordert worden, das Gelernte auf Deutsch und in Schriftform wiederzugeben. Mich stach der Hafer, ich wählte die Gedichtform, und mir gelangen dabei zwei Zeilen, die ich noch heute aufzusagen weiß. Die Kinder haben den ausgehöhlten, in ein Gesicht verwandelten Kürbis auf die Gartenmauer gestellt, sie haben die Kerze im Kürbis entzündet, der nun als grinsender Geisterkopf in die Dunkelheit leuchtet, sie schreiten zur lausbübischen Tat:
Die Kinder läuten, dann laufen sie weg.
Großpapa fällt in Ohnmacht vor Schreck.
Die zweite Lesefrucht jüngster »Volksvermögen«-Lektüre aber bezieht sich auf eine volkstümliche – nein: nicht Antirauch-, vielmehr Zigarettenwerbungsverarschungskampagne, von der Rühmkorf einige Beispiele anführt:
Siehst du die Gräber auf der Höh
Das sind die Raucher von HB
Siehst du die Kreuze dort im Tal
Das sind die Raucher von Reval
Siehst du die Kreuze am Waldesrand
Das sind die Raucher von Stuyvesant
Alles nach dem gleichen, leicht durchschaubaren Muster gestrickt – und schon spürte ich beim Wiederlesen den Ruck an der Angel, hörte ich im Ohr die Botschaft der Stillen Post, juckte es mich in den Fingern, den Kettenbrief der toten Raucher um einige neuere Zigarettenmarken zu komplettieren:
Siehst du die Gräber im Gewächs
Das sind die Raucher von R6
Siehst du die Kreuze aus Asbest
Dort ruhn die Raucher von der West
Siehst du die Gräber hinterm Deich
Das sind die Raucher vom Glücklichen Streich
– oder von Lucky Strike, um ganz korrekt zu sein.
Unlängst referierte Rühmkorf über seine Sammeltätigkeit während der 60er Jahre und konstatierte wehmütig, er sei vermutlich so etwas wie ein Bruder Grimm des unangepaßten Kinderreims gewesen, einer, der sich gerade noch rechtzeitig umgehört hätte, bevor diese Mitteilungsform von der Eule der Minerva verspeist bzw. von der Furie des Verschwindens ausgelöscht worden sei: »Ich weiß von keinen neuen Kinderreimen«, hörte ich den Sammler klagen.
Ich bin da weniger pessimistisch. Ich glaube fest an das Vermögen, ja an das tiefsitzende Bedürfnis des kleinen und auch des reiferen Volkes, das Erhabene in den Schmutz zu ziehen, und ich weiß von jüngeren Belegen: Als die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten mit dem Spruch warben »Bei ARD und ZDF sitzen Sie in der ersten Reihe«, da dauerte es nicht lange, bis sich das Volk einen zumindest inhaltlichen Reim auf diese frohe Botschaft gemacht hatte: »Bei ARD und ZDF reihern Sie in den ersten Sitzen.«
Nächste Tür, nächstes Glück, und wir stehen in einer Art Schulzimmer des Hauses der Poesie, in einem Raum, in welchem Schüler unaufhörlich murmelnd und gemeinsam skandierend die verschiedensten Materien zu memorieren suchen: Geographie, Geschichte, Latein, Religion, Alkoholismus, Sexualkunde …
Ich bin noch groß geworden mit Merkversen wie »drei-drei-drei – Issus Keilerei«, das bezieht sich auf die Schlacht bei Issus, oder »sieben-fünf-drei – Rom kroch aus dem Ei«, womit die Gründung der Stadt im Jahre 753 vor Christus gemeint ist. Und zusammen mit Pit Knorr habe ich über den Hessischen Rundfunk in den 70er Jahren für weitere historische Merkhilfen gesorgt, etwa für die folgende: »neunzehnhundertneunzehn – Lenin will sein’ Freund sehn«. Das all denen ins Stammbuch, die sich partout nicht merken können, wann Lenin seinen Freund sehen wollte.
Ein dezidierter Freund solcher Merkverse war übrigens der bereits mehrfach erwähnte Frankfurter Poet Goethe, der sich in »Dichtung und Wahrheit« der Gedächtnisstützen seiner Jugend erinnert:
»So hatten wir auch eine Geographie in solchen Gedächtnisversen, wo uns die abgeschmacktesten Reime das zu behaltende am besten einprägten, zum Beispiel: Ober-Yssel; viel Morast / Macht das gute Land verhaßt.«
Eine klare Sache, dieser Morast bei Ober-Yssel, doch sind mir auch Merkverse begegnet, die durch dunklen Nonsens bezauberten. Jedenfalls hielt ich das für Nonsens, was mir während des Kunststudiums in den 60er Jahren zu Ohren kam: »Als Ausnahmen merk dir genau: der Milchmann, doch die Eierfrau.«
Zwanzig Jahre später setzte ich diesen Spruch neben zwei anderen meinem Gedichtband »Wörtersee« voran, und weitere zehn Jahre später fragte mich ein Arzt aus Niedersachsen, ob ich denn den vollständigen Wortlaut dieses Merkverses kenne. Er lautete in seiner Version:
Maskulina sind auf -ac:
Arrak, Cognac, Hodensack.
Feminina sind auf -itze:
Ritze, Zitze, Tripperspritze.
Als Ausnahmen merk dir genau:
Der Milchmann, doch die Eierfrau.
Ich überspringe weitere gereimte Mitteilungen überpersönlicher Machart und personenübergreifenden Inhalts wie Wetterregeln, Wirtinnenverse, Leberreime und Limericks, um endlich aus den Kinderstuben in den Erwachsenenflügel des Hauses der Poesie zu gelangen, ich verharre vor einer Tür, die mit »Clubraum« beschriftet ist, ich öffne sie, und siehe da: Wir blicken in einen Clubraum.
»Club der toten Dichter« hieß vor Jahren ein überraschend erfolgreicher Film, in dem Robin Williams einen poesiebegeisterten Lehrer spielte, der es verstand, das Feuer seiner Passion auf die Schüler überspringen zu lassen.
In unserem Clubraum jedoch scheinen die Dichter höchst lebendig. In Zweier-, Dreier- und Vierergruppen schreiben und lesen sie, wenn sie nicht aufeinander einreden, um im Zwie-, Drei- und Viergespräch die schlüssigste Formulierung, den glänzendsten Reim und die griffigste Pointe zu erarbeiten, das Poeten-Duo Schiller und Goethe, das Dichter-Trio Ludwig Rubiner, Friedrich Eisenlohr und Livingstone Hahn, die dadaistische Dame Klarinetta Klaball, zusammengesetzt aus Hugo Ball, Klabund und Maria Kirndörfer sowie all die Renshi-Kettendichter, die es nicht unter vier Mitwirkenden tun, eine im alten Japan entwickelte Form geselligen Dichtens, die auch in Deutschland zu den verschiedensten Zeiten an den verschiedensten Orten die verschiedensten Dichter zu gemeinsamem Tun vereint hat, 1988 beispielsweise H. C. Artmann, Makoto Ooka, Oskar Pastior und Shuntaro Tanikawa, und zehn Jahre später Uli Becker, Hugo Dittberner, Günter Herburger und Steffen Jacobs.
Einer importierten Gedichtform bedienten sich bereits Goethe und Schiller, als sie Ende des 18. Jahrhunderts nach dem Vorbild des Römers Martial so um die tausend »Xenien« verfaßten, sogenannte »Gastgeschenke« also, zweizeilige Distichen, die den Empfängern freilich nicht nur Freude bereiteten. Der Weimarer Literat Böttiger beispielsweise bekommt das hier aufgetischt:
Kriechender Efeu, du rankest empor an Felsen und Bäumen,
Faulen Stämmen; du rankst, kriechender Efeu, empor.
Neben solch speziellen Invektiven stehen »Xenien«, die mehr in und auf das Allgemeine zielen:
»Warum sagst du uns das in Versen?« Die Verse sind wirksam,
Spricht man in Prosa zu euch, stopft ihr die Ohren euch zu.
Dieses lyrische »Du« meint Schiller und Goethe, und ihre gemeinsam verfaßten Verse stellen die Herausgeber gesammelter Werke vor ungewohnte Probleme. Einer von ihnen, Karl Eibl, gibt uns in seinen Anmerkungen zu Band I von Goethes Gedichten in der Bibliothek Deutscher Klassiker eine Vorstellung davon, wie wir uns solch gemeinsames Dichten vorzustellen haben:
»Eine Sonderung ist ohnedies eine mit vielen Hypothesen belastete Spezialaufgabe, selbst bei jenen Versen, die mit Namen gekennzeichnet bzw. von Goethe oder Schiller in die Werkausgaben aufgenommen wurden. Einige Distichen wurden sogar von beiden aufgenommen. Nicht einmal Handschriften-Befunde sind völlig zuverlässig. Denn angesichts der Art der Zusammenarbeit ist es durchaus möglich, daß z.B. beim Zusammensitzen der eine den Einfall des anderen niederschrieb oder daß ein von der Hand des einen überliefertes Distichon die verbesserte Fassung eines Einfalls des anderen ist. ›Wir haben viele Distichen gemeinschaftlich gemacht, oft hatte ich den Gedanken und Schiller machte die Verse, oft war das Umgekehrte der Fall, und oft machte Schiller den einen Vers und ich den andern.‹ (Goethe zu Eckermann, 6. 12. 1828).«
Was Goethe nicht ahnen konnte, war, daß sich rund zweihundert Jahre später ein Dritter in den Xenien-Bund der beiden einschleichen würde.
Klaus Cäsar Zehrer heißt er, noch muß man ihn nicht kennen, noch studiert er Germanistik in Bremen, doch schon denkt und dichtet er, und da wir uns über meine Vorlesungspläne ausgetauscht haben, erfuhr ich neben hilfreichen Hinweisen auch von seinem kleinen Gedichtzyklus »Klassiker fragen, Zehrer antwortet«.
Ihm nämlich war aufgefallen, daß eine Reihe von Xenien in Frageform abgefaßt sind, was ihn zu Antworten inspiriert hat.
Schiller und Goethe fragen:
Blinde, weiß ich wohl, fühlen, und Taube sehen viel schärfer;
Aber mit welchem Organ philosophiert denn das Volk?
Zehrer antwortet:
Das Organ nennt sich BILD, das Blatt für gefühlstaube Blinde.
Wer ist der Wütende da, der durch die Hölle brüllet
Und mit grimmiger Faust sich die Kokarde zerzaust?
Nun, es handelt sich hier vermutlich um Willi, den Wüter,
Den man in Fachkreisen auch Kokardenzerzauserer nennt.
Schiller – Goethe – Zehrer: Ein geisterhafter Dreibund, dem ich ein deutsches Dichter-Trio aus Fleisch und Blut folgen lassen will. Damit meine ich die drei Verfasser der Kriminalsonette, entstanden im Paris des Jahres und mit folgender Widmung in die noch Vorkriegswelt entlassen:
widmet seinen lieben Freunden
LUDWIG RUBINER
Friedrich Eisenlohr und Ludwig Rubiner
Ludwig Rubiner und Livingstone Hahn
crime
wird in einem braunen Tabakballen
Dort schläft er, bis die Schiffsuhr zwölf geschlagen.
Läßt er den kleinen Mörtelfresser nagen,
Dann lädt er Gold in einen Grünkohlwagen.
Doch dort verraten ihn zwei blanke Barren.
Da sitzt DER FREUND in hoher Eberesche
Man sieht drei Männer sich zusammenrotten.
Die Feder wühlt in ungeheuren Dingen.
Revolver. Damenpreise. Sturmflugschwingen.
Gift. Banken. Päpste. Masken. Mördergrotten.
Gefängnis. Erben. Alte Meister. Flotten.
Agaven. Bettler. Knallgebläse. Schlingen.
Eilzüge. Schmöcke. Perlen. Todesklingen.
Sprengstoff. Lawinen. Kieler Kindersprotten.
FRED surrt auf kleinen Röllchen nach dem Pol;
DER FREUND, am andern, sitzt auf allen Vieren.
Sie spiegeln sich als deutsches Volksidol.
Zum Affenhause wird der ganze Kies.
Greiff (Meisterdetektiv) geht drin spazieren.
Man wundert sich. Und draußen liegt Paris.
Als sich Rubiner, Eisenlohr und Hahn zusammentaten, hatte einzig Rubiner die dreißig bereits überschritten.
Nicht vom schlichten gemeinsamen Dichten
will ich an dieser Stelle berichten –
von einer wahrhaft besternten Stunde
tu ich als Zeuge aller Welt Kunde – :
ich
1966VW
1988ELCHESELBER WELCHE
Über:
geben sich nur selten Mühe.
Die ärgsten Kritiker der Qualle
haben sie selber nicht mehr alle.
Die dicksten Kritiker der Pferde
passen nicht mehr in die Herde.
– will er nach weiteren Versuchen mit Maus, Meise, Hecht und Hirsch endlich ans Ziel gelangt sein:
waren früher selber welche.
»Gernhardt zog damals gleich nach und spielte die Molche aus:
waren früher ebensolche;
Ist es, Fritz, weshalb auch ich von Molchkritik nichts weiter zu berichten weiß. Stattdessen will ich in gebotener Eile bilanzieren, welche Fähigkeiten des Gedichts wir beim ersten Rundgang durch das Haus der Poesie kennengelernt haben: Das Gedicht kann Mama sagen, Großeltern verlachen, Werbung verscheißern, Inhalte aller Art memorieren, Dichter sozialisieren und Elchkritiker kritisieren. Zudem aber möchte ich mit zwei Vierzeilern jener Nachtfahrt, diesmal aus meinem Munde, belegen, daß das Gedicht auch dem Mann und der Frau auf der Straße dabei helfen kann, etwas Glanz und etwas Skepsis in seinen, respektive ihren Beziehungsalltag zu bringen, vorausgesetzt, das Volk hört auf seine Dichter:
Der Nasenbär sprach zu der Bärin:
Worauf er ihr ins Weiche griff
Die Dächsin sprach zum Dachsen:
»Mann, bist du gut gewachsen!«
Der Dachs, der lächelte verhalten,
denn er hielt nichts von seiner Alten.
Seit der Mitte der 90er Jahre treten wir hin und wieder vor die Öffentlichkeit, um Fragen der Lyrik zu verhandeln; »Wein, Weib und Gesang« ist der Vorgang überschrieben, und ein Gesprächspunkt ist auch die Tatsache, daß Apoll oder wer sonst für die Versendung erster Gedichtzeilen verantwortlich ist, seine Geschenke manchmal falsch adressiert.
Gedacht – getan: Politycki und ich tauschten solche Gedichtanfänge aus. Er erhielt von mir – beispielsweise – die Zeilen:
wie ne gesengte Sau dahinzurasen.
Schön ist, Mutter Natur,
deiner Erfindungen Pracht.
Aber was, Mutter Natur,
hast du dir dabei gedacht:
Die Zeit der reinen Jamben ist vorüber
Ach immer ach nur möchte ich sagen
Fünfhebig die eine Zeile, vierhebig die andere – : Würde es mir gelingen, so fragte ich mich, sie beide unter den Hut eines Gedichts zu bringen, wobei die eine Zeile den Anfang machen, die andere die Schlußzeile bilden sollte – ?
Die Zeit der reinen Jamben ist vorüber
Fünfhébig schritten sie einst durch die Zeilen.
Geschíckt der fálschen Bétonúng ausweíchend.
Heuté ist’s ánders. Víer Hebér
Sind schón der Géfühlé höchstés
Hebúngen, díe gleich Géschossén
Den eínstigén Wohlkláng zerschlágen:
Ach immer ach nur möchte ich sagen!