Barbara Wood
Wohin dein Traum dich führt
Roman
Aus dem Amerikanischen von Veronika Cordes
FISCHER E-Books
BARBARA WOOD ist international als Bestsellerautorin bekannt. Allein im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage ihrer Romane weit über 13 Mio., mit Erfolgen wie ›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Kristall der Träume‹ und ›Dieses goldene Land‹. 2002 wurde sie für ihren Roman ›Himmelsfeuer‹ mit dem Corine-Preis ausgezeichnet. Barbara Wood stammt aus England, lebt aber seit langem in den USA in Kalifornien.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Als die schöne New Yorker Erbin Elizabeth im Sommer 1920 bei der Schiffspassage in die Heimat auf Nigel, Baron Stullwood trifft, ist sie von ihm fasziniert: Man hat ihn zwar enterbt, aber er brennt vor Energie und Zuversicht, und er ist fest entschlossen, England mit all seinen beengenden Traditionen hinter sich zu lassen und aus eigener Kraft ein Imperium zu erschaffen. Elizabeth verliebt sich in ihn und seinen Traum von riesigen Palmenplantagen in der kalifornischen Wüste. Die wilde Landschaft begeistert und berührt sie zutiefst. Doch in Palm Springs, auf das gerade der Glanz von Hollywood und seinen Filmstars fällt, erlebt Elizabeth auch die dunkle Seite von Nigels Ehrgeiz und seiner Gier nach Geld und Einfluss. Kann sie wirklich ganz allein gegen die mögliche Zerstörung der fragilen Natur kämpfen – und sich gegen Nigel stellen? Wer wird ihr dabei helfen? Elizabeth muss entscheiden, ob sie ihrem eigenen Traum folgen darf.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© Barbara Wood 2016
Published by Arrangement with Barbara Wood
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung und -abbildung: bürosüd, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402789-0
Für meinen Mann Walt, in Liebe
Weit oberhalb des Mesquite Canyons, jenseits der Nebelschwaden und Regenbogen, im Schatten hoher Fächerpalmen und Schwarzpappeln, entlang eines rauschenden Flusses, aus dem Indianer seit Tausenden von Jahren ihr Trinkwasser schöpften, ging eine Frau ihrer Arbeit nach.
Sie war, was ihr Volk eine pul nannte, eine Schamanin, und gehörte zum Stamm der Cahuilla im Coachella Valley, Südkalifornien. Die weißen Männer hatten ihr gesagt, sie sei im Jahre 1860 geboren worden, noch ehe die Eisenbahn das Tal in zwei Hälften geteilt hatte. Ihr indianischer Name war Nesha, was in der Sprache der Cahuilla »Die Geheimnisvolle« bedeutete. Nicht dass sie selbst geheimnisvoll gewesen wäre. Luisa wusste, dass man sie Nesha genannt hatte, weil sie sich darauf verstand, geheime Botschaften zu deuten. Als sie noch klein war, waren katholische Priester von der Mission San Gabriel in Los Angeles gekommen und hatten sie auf den Namen Luisa getauft. Mit fünfzehn hatte sie José Padilla geheiratet und ihm viele Kinder geschenkt, von denen einige noch am Leben waren.
José war bereits gestorben. Er war von einer hohen Palme gestürzt, auf die er geklettert war, um Datteln zu stehlen.
Heute sammelte Luisa Schilf, das von ihrem Volk pa’ul genannt wurde, vom weißen Mann dagegen Binsen. Während sie die langen grünen Stängel zusammenraffte und zu einem Bündel band, das sie sich für den Transport auf den Rücken laden konnte, betete sie. Sie bat die Geister der Pflanzen, ihre Hände und ihre Arbeit zu segnen – sie hatte vor, einen heiligen Korb zu fertigen, dessen Muster sie noch in Gedanken entwerfen musste.
»Meyáwicheqa núkatmi pálpiyik me chéngeneqa, núkatmi; ívim pen metétewangeqa, pen mekwákwaniqa’ men me’ í’isneqa ívim«, trug sie leise singend die Geschichte vor, der zufolge die Mondgöttin, nachdem Menschen und Tiere erschaffen worden waren, alle Geschöpfe um sich versammelt und sie dann ans Wasser geführt und dort bemalt hatte. Deshalb waren Vögel und Schlangen und Eidechsen und Wildkatzen und Insekten so leuchtend bunt gefärbt und hübsch gemustert. Und da alles in der Wüste ein von der Mondgöttin aufgemaltes Muster aufwies, war die Wüste der schönste Platz auf Erden.
Auf ihrem Heimweg am Wasser entlang kam Luisa an einem wilden Mandelbaum vorbei, der ihr noch nie aufgefallen war. Seit weiße Männer diese Nussbaumart ins Tal gebracht hatten, waren die Samen von Wind und Vögeln weitergetragen worden, hatten hier und dort an besonders geschützten Stellen Wurzeln geschlagen. Luisa lächelte. Dieser Baum hier war eingehüllt in rosa Blüten, was eine reiche Ernte von süßen Mandeln versprach, während Mandelbäume, deren Blütenblätter an der Spitze fast weiß und am Ansatz rot waren, bittere Mandeln trugen. Anhand der äußeren grünen Schalen sah sie, dass diese hier bald reif waren; dann würde sie mit einem Korb wiederkommen und sie ernten, die Schalen knacken und sie in einem warmen Behälter aufbewahren, damit das Öl austrat.
Ihr Volk verwendete Mandelöl für vieles. Luisa hingegen dachte an etwas Bestimmtes. An ein Gleitmittel für das Liebesspiel. Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass kein Mann einer Frau widerstehen konnte, wenn sie ihre weiche t’pili in süßem Mandelöl gebadet hatte. Und auch für die Frau war es angenehm, wenn das Öl den steifen húyal ihres Ehemanns schön geschmeidig machte.
Als sie in einem Gebüsch einen Vogel tschilpen hörte, blieb sie stehen und lauschte. Luisa, Geist-Deuterin ihres Clans, empfing Botschaften aus der Welt der Geister, wenn Gefahr und Streit drohten. Meistens geschah dies, wenn sie arbeitete, weil dann ihr Verstand hellwach und sie empfänglich für Mitteilungen aus der anderen Welt war.
Der Vogel erzählte ihr von einem Sonnenaufgang. In Gedanken sah Luisa den östlichen Horizont vor sich, die golden strahlende Sonne, während im Westen noch Sterne blinkten. Je bildhafter die Botschaft, umso wichtiger war sie. Das hatte Luisa im Laufe der Jahre begriffen. Klare Botschaften erhielt sie, wenn die Geister in Sorge waren. Und diese Vision des Sonnenaufgangs, mit ihrer Klarheit und ihren leuchtenden Details, war wichtig, das wusste sie. Dringlich.
Irgendetwas würde sich bei einem Sonnenaufgang ereignen.
»Wird das bald sein?«, fragte sie den kleinen braun und gelb gefärbten Vogel.
Sie lauschte seiner Stimme. Er wiederholte die Botschaft. Es war zweifellos eine ungemein wichtige Nachricht.
Vorsichtig kam sie näher. Als sie ein Zischeln hörte, blieb sie stehen und sah sich um. Dort, zwischen blühenden Kakteen, lag Mésax, die rotdiamantene Klapperschlange. Sie beobachtete das Tier. Hörte den Wind wispern und in den Palmwedeln über ihr sprechen. Sie schaute auf. Die Spitzen der grünen Blätter fingen das Funkeln des Sonnenlichts ein. Der Himmel darüber war tiefblau und öffnete sich ins Endlose.
Luisa wandte sich wieder der Schlange zu. Mésax war kräftig gebaut und trug auf seinem breiten Rücken ein Muster aus roten Diamanten. Er war nicht zusammengerollt und deshalb nicht auf Angriff aus. Aus perlenartigen schwarzen Augen starrte er sie an.
Sie hörte ihm zu.
Ein Sturm zieht auf …
»Aii Mukat«, flüsterte sie. »Aus welcher Richtung?«
Aus dem Osten. Der Sturm kommt mit der Eisenbahn …
Sie drückte die langen Schilfstängel an ihre Brust. Weiße würden kommen. Gefährliche Weiße.
»Der weiße Mann kommt bei Sonnenaufgang?«
Nein …
»Was wird bei Sonnenaufgang geschehen?«
Nicht der weiße Mann, nicht der Sturm …
Luisa runzelte die Stirn. Und dann wurde ihr bewusst, dass sie zwei getrennte Botschaften empfangen hatte.
»Aii!«, entfuhr es ihr. Es kam nur selten vor, dass die Geister sie derart verwirrten und um ihre Aufmerksamkeit wetteiferten. Denn jetzt hatten zwei Geister gesprochen, hatten auf kommende Ereignisse hingewiesen, von denen Luisa nur das zweite verstand. Die Bedeutung der ersten Botschaft war ihr entgangen.
»Was muss ich tun?«
Die neuen Weißen werden die heiligen Orte betreten. Die verbotenen Orte. Sie müssen daran gehindert werden. Geh rasch zurück ins Dorf und warne deinen Clan … Die Schlange zwinkerte mit ihren perlenartigen dunklen Augen, ehe sie langsam davonglitt.
»Was wird denn nun bei Sonnenaufgang geschehen?«, wollte sie von dem braungelben Vogel wissen. Aber er war verschwunden.
Rasch griff sie nach ihrem Bündel Schilfrohr und schlug den Pfad ein, der nach Hause führte, zum Fuß des Canyons. Ihr Herz hämmerte angstvoll. Dennoch war sie Mésax dankbar für die Warnung und nahm sich vor, ihm zu Ehren ihren neuen Korb mit dem rotdiamantenen Muster der Klapperschlange zu verzieren.
Ein Sturm! Stürme lösten bei ihrem Clan stets höchste Besorgnis aus. Die Wolken blieben hinter dem Berg verborgen, richteten auf den Gipfeln Verwüstungen an, von denen die Menschen im Tal nichts merkten. Und dann setzte ein Grollen ein, und eine tosende Wasserwand riss ihr Dorf und jeden mit sich, der es nicht schaffte, sich auf höher gelegenen Boden zu retten.
Deshalb war für Luisas Stamm ihr Amt als Deuterin der Botschaften der Geister so wichtig. Ihr Wirken als Schamanin entschied im wahrsten Sinne des Wortes über Leben und Tod.
Und jetzt hatte sie die Botschaft erhalten, dass dem Tal Unheil drohte. Unheil, das sich mit der Eisenbahn näherte …
Der Hengst preschte über das smaragdgrüne Gelände des Stullwood-Anwesens, seine donnernden Hufe rissen Erdbrocken und Grasbüschel aus dem Boden.
Das Pferd, ein lebhafter Brauner, hieß Blaze, weil eine weiße Blesse seinen Kopf zierte, von der Stirn bis zu den Nüstern. Sein Reiter, der Stiefel, Jodhpurs und ein Reitjackett aus Tweed trug, war der vierundzwanzigjährige Nigel Barnstable, der neben seinem bestechenden Äußeren der Erbe von Stullwood war und demnächst einer der reichsten Männer Englands sein würde.
Während er sein schäumendes Pferd zur Eile antrieb, fühlte Nigel sich innerlich eingeengt, so als spannte sich die Haut, als wäre er zu groß für seinen Körper. Genauso hatte es sich angefühlt, als er ein Junge gewesen war. Er erinnerte sich, wie er Stullwood Hall erkundet hatte, als wäre er ein Abenteurer in Afrika, der Zimmer um Zimmer voller Schätze entdeckte. Seine Mutter hatte den Vater gefragt, von wem der Junge wohl diese Energie geerbt habe. Nigel Barnstable war von Geburt an rastlos. Er war sogar drei Wochen vor der Zeit zur Welt gekommen, zappelnd und versessen darauf, dass es voranging, und dieses Zappeln und Fäusteballen hatte er auch zwei Jahrzehnte später noch nicht abgelegt, als sein Pferd im gestreckten Galopp dahinflog. Der Hengst war an die Launen seines Herrn gewöhnt, an seine Eile, an seinen Drang, schon wieder irgendwo anders zu sein, noch ehe er irgendwo angekommen war. Pferd und Reiter waren perfekt aufeinander eingespielt, selbst im Stall tänzelte und schnaubte das lebhafte Tier ungeduldig. Keiner von beiden ertrug die Ruhe. Ungeduld war ihr gemeinsames Merkmal.
Diesmal jedoch war Nigel tatsächlich in Eile. Der Notar musste jeden Augenblick eintreffen, und dann würde das Testament verlesen werden und Nigel offiziell zum neunten Baron Stullwood aufsteigen, und jeder einzelne dieser tausend Morgen mit seinen Farmen und Bewohnern und allem Bestand und selbst das Dorf Stullwood plus das Haus, das einem Palast glich, den Pferden und den Hunderten von Leuten, die auf dem Anwesen arbeiteten, und dazu die Millionen auf der Bank – dies alles würde ihm gehören.
Auf die Nachricht vom Tod seines Vaters hin hatte Nigel ehrerbietig das Hinscheiden des alten Herrn betrauert, gleichzeitig aber gespürt, wie in ihm neue Ziele Gestalt annahmen, prickelnd wie edler Champagner. Auch nachdem sein älterer Bruder in der Schlacht von Verdun gefallen war, hatte Nigel noch gedacht, sein Vater würde von seiner Stabsstelle unmittelbar hinter der Frontlinie heil nach Hause kommen. Nichts schien den Baron in die Knie zwingen zu können, nicht einmal ein Krieg, der alle Kriege beenden sollte. Deshalb hatte Nigel sich noch nicht so schnell als nächster Baron Stullwood gesehen, eigentlich auf Jahre hinaus noch nicht, zumal der alte Herr eine unverwüstliche Gesundheit zu haben schien.
Aber dann war sein Vater schwerverletzt mit dem Schiff zurück nach England transportiert und in einem Militärhospital stationiert worden, in dieser Übergangswelt, in der man zwischen Leben und Tod schwebt. Selbst als Nigel nach London gefahren war, um den Vater zu besuchen, hatte er noch geglaubt, der alte Herr würde durchkommen.
Aber die Spanische Grippe, die weltweit Millionen Opfer gefordert hatte, setzte dem Leben des alten Barons ein Ende, und unversehens sah Nigel sich mit der sagenhaften Erbschaft konfrontiert.
Deshalb hatte er am Vormittag den Wildpark des Anwesens inspiziert – ein von einem Graben sowie einer Steinmauer abgetrenntes Waldgebiet. Einlässe für das Wild aus extern angebrachten Schrägen und inneren Gräben waren hier vor langer Zeit angelegt worden und erlaubten dem Wild, in den Park zu gelangen, hinderten es aber daran, ihn wieder zu verlassen. Da wegen des Kriegs dieser Teil des Parks vernachlässigt worden war, beabsichtigte Nigel, ihn so bald wie möglich wieder instand zu setzen.
Als er sich den Stallungen näherte, sah er, dass der Anwalt noch nicht eingetroffen war. Er zügelte sein Pferd und saß ab. »Reib ihn gut trocken, Mac«, sagte er und übergab Blaze dem Stallburschen.
»Mach ich, Euer Lordschaft.«
Nigel klopfte den Dreck von seinen Stiefeln ab, betrat das Haus, zog seine Handschuhe aus und warf sie auf einen Spiegeltisch in der Halle. Ein Dienstmädchen erschien, um sein Tweedjackett entgegenzunehmen und ihm in die passende Tagesjacke zu helfen. Sie deutete mit einem schüchternen Lächeln einen Knicks an und eilte wieder davon. Dass sich ihre Wangen rötlich verfärbt hatten, war Nigel nicht entgangen. Er wusste, dass er gut aussah, bei Frauen Eindruck machte. Auch wenn er sich nichts darauf einbildete. Dass er gut aussah, war etwas, das er seiner Abstammung zu verdanken hatte, genauso wie sein dichtes welliges Haar und das Lächeln, das sowohl blendete als auch einlud.
Er trat in den Salon, wo bereits seine Großmutter und sein jüngerer Bruder Rupert warteten. In diesem Augenblick schlug das Wetter um, die ersten Regentropfen prasselten an die jahrhundertealten Sprossenfenster. »Es geht los«, sagte er und goss sich am Getränkewagen einen kleinen Whiskey ein. »Hoffentlich erwischt es Radcliffe nicht.« Radcliffe war der Anwalt, der mit dem Testament des alten Herrn zu ihnen unterwegs war. Nigel kippte seinen Drink auf einen Satz hinunter. Er konnte es nicht erwarten, mit den Veränderungen auf dem Stullwood-Anwesen zu beginnen.
Das Licht begann zu flackern. Ihre Ladyschaft, die verwitwete Baronin und Großmutter von Nigel und Rupert, zog an einem Klingelstrang, worauf ein Diener erschien – ein junger Mann in schwarzem Schoßrock und gestärktem weißem Hemd über einer schwarzen Weste. »Jawohl, Euer Ladyschaft?«
»Sorgen Sie bitte dafür, dass in allen Räumen Öllampen und Streichhölzer bereitstehen, für den Fall, dass die Generatoren für die Elektrizität ausfallen.«
»Sehr wohl, Euer Ladyschaft.«
Für die verwitwete Baronin ging das moderne Zeitalter keineswegs mit hochzupreisenden Annehmlichkeiten einher. In Stullwood Hall gab es zwar bereits ein Telefon, was einiges durchaus erleichterte, aber die Baronin vertrat die Meinung, dass dadurch die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht behindert werde. Und dass man bald nur noch telefonieren würde, anstatt sich zu besuchen.
Die Hände fest ineinander verschlungen, saß sie steif und kerzengerade in einem Queen-Anne-Sessel. Es graute ihr vor der Verlesung des Testaments ihres Sohnes, das seinen Tod endgültig besiegelte. Für sie war es ein unerträglicher Gedanke. Innerhalb von drei Jahren hatte sie ihren einzigen Sohn und ihren ältesten Enkel verloren – in einem sinnlosen Krieg, ganz egal, wie andere dazu standen. Aber trotz ihres Unbehagens vor diesem unvermeidlichen Akt wünschte sie, der Anwalt möge die Angelegenheit für alle so rasch wie möglich erledigen.
Endlich traf Radcliffe ein und wurde in den Salon geführt, ein gedrungener, gepflegter Mann, der sofort seine Unterlagen auf einem Mahagonischreibtisch ausbreitete und sich dabei so häufig räusperte, dass Ihre Ladyschaft den Diener leise bat, ihm ein Glas Wasser zu bringen.
Nigel nahm Platz. »Keine Bange, alter Knabe«, sagte er zu seinem jüngeren Bruder, »ich werde dir gestatten, weiterhin hier zu leben. So lange du willst. Auch deine Braut darfst du mitbringen, solltest du dich jemals aufraffen, ein Auge auf die holde Weiblichkeit zu werfen.«
Rupert erwiderte nichts. Er wünschte sich, dass Nigel sein blasiertes Verhalten wenigstens in dieser ernsten Situation der Trauer ablegen würde. Nichts schien er ernst zu nehmen. Zweifellos war er bei dem alten Wildgehege gewesen und hatte kostspielige Pläne für dessen Wiederbelebung geschmiedet.
Mr. Radcliffe räusperte sich erneut und begann mit der Verlesung. Die ersten Seiten enthielten einen mit juristischen Fachbegriffen gespickten Text, den die Zuhörer an sich vorbeirauschen ließen. Aufmerksamer wurden sie erst, als er zu einzelnen Vermächtnissen kam. Der Butler und die Haushälterin wurden bedacht, ebenso der getreue persönliche Diener des verstorbenen Barons, der ihm zur Armee gefolgt war und den Krieg überlebt hatte. Auch die Verantwortlichen für die Stallungen und Jagdhunde erhielten Legate.
Endlich kam das zur Verlesung, worauf die drei noch lebenden Barnstables gewartet hatten: »Meine Mutter soll weiterhin und so lange sie es wünscht, auf Stullwood Hall wohnen; die ihr bislang gezahlte Apanage bleibt erhalten und wird sukzessive den Lebenshaltungskosten angeglichen. Meinem Sohn Nigel hinterlasse ich einhunderttausend Pfund. Mein übriger Besitz, die Ländereien, verschiedene Einkommen sowie das Familienvermögen, geht in seiner Gesamtheit an meinen jüngsten Sohn Rupert.«
Der Regen rann über die Fensterscheiben, im Kamin knisterte das Feuer. Drei versteinerte Gesichter starrten Mr. Radcliffe an, der den Blick abgewandt hatte.
»Sie haben sicherlich die Namen verwechselt, guter Mann«, warf Ihre Ladyschaft schließlich ein. »Es ist Rupert, der die Summe erhalten soll, während Nigel das Anwesen erbt.«
Mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich machte, dass dies der Punkt war, vor dem ihm gegraut hatte, und dass er jetzt lieber weit weg wäre, räusperte sich der Anwalt. »Nein, Euer Ladyschaft, mir ist kein Fehler unterlaufen. Wenn Sie wünschen, steht es Ihnen frei, das Dokument einzusehen.«
»Ich für meinen Teil möchte einen Blick darauf werfen.« Nigel eilte zum Schreibtisch und riss Radcliffe die Unterlagen aus der Hand. Er überflog die Papiere und lachte dann spöttisch auf. »Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein!«
»Das ist es nicht, Euer Lordschaft.«
»Aber … aber …«, stotterte Nigel, was für ihn äußerst ungewöhnlich war. »Das kann auf keinen Fall rechtsgültig sein!«
Um Nigel nicht in die Augen schauen zu müssen, fuhr Mr. Radcliffe mit den Fingern an den Kanten der vor ihm liegenden Papiere entlang und vergewisserte sich, dass sie perfekt ausgerichtet waren. »Ich versichere Ihnen, Euer Lordschaft, alles ist rechtsgültig.«
Nigel reagierte herablassend. »Gegen Ende hatte Vater große Schmerzen und von den vielen Infektionen hohes Fieber. Dazu die Influenza. Er war nicht mehr bei Sinnen.«
Radcliffe räusperte sich abermals, so dass die anderen Anwesenden sich schon fragten, ob derlei Beschwerden auf das jahrelange Verlesen von Testamenten zurückzuführen sei, deren Inhalt nicht alle Erbberechtigten zufriedenstellte. »Euer Lordschaft, dieses Testament wurde verfasst, bevor der verstorbene Baron zur Armee ging.«
Er ließ die Großmutter und die beiden Enkel eine Weile diese bittere Pille verdauen, was sie in eisiger Stille auch taten, und sagte dann: »Da wäre noch ein weiteres Dokument. Ein Brief.«
Drei Augenpaare durchbohrten Radcliffe. Ein Brief! Das Herz der alten Baronin machte einen Satz. Die letzten Worte ihres Sohnes! Es war fast, als wäre Harold zu ihr zurückgekehrt. Einen Augenblick lang empfand sie unbeschreibliche Freude.
»Er ist an Sie gerichtet«, sagte der Anwalt mit Blick auf Nigel. Die kurze Freude der Witwe wandelte sich in Groll auf den Enkel. Eine seltsame Mischung aus Gefühlen brachte sie kurzfristig aus dem Gleichgewicht – einerseits liebte sie Nigel, andererseits neidete sie ihm das, was sie sich selbst so sehr wünschte: die letzten Worte ihres Sohnes.
Als Nigel den Brief entgegennehmen wollte, wurde Radcliffe blass und verzog das Gesicht wie jemand, der mit dem Gedanken spielt, den Beruf zu wechseln – was der Anwalt bei ähnlichen Anlässen tatsächlich schon überlegt, aber immer wieder verworfen hatte. Er liebte seinen Beruf, in dem er gut verdiente, schon weil er meistens erfreuliche Nachrichten überbrachte und dann von reichen Häusern wie diesem hier gut behandelt wurde.
»Ich habe die Anweisung, den Brief vorzulesen«, sagte er knapp. »Ihnen dreien.« Er wartete ab, bis der hochgewachsene und achtunggebietende Nigel Barnstable zu seinem Sessel zurückgekehrt war, wo er körperlich weniger bedrohlich wirkte.
Dann räusperte er sich zwei weitere Male, wobei er es vermied, auf die Uhr zu schauen und sein Unbehagen zu zeigen, und fing an vorzulesen: »Lieber Nigel, es schmerzt mich, getan zu haben, was ich tun musste. Ich liebe Dich, mein Sohn, ich bin stolz auf Deine vielen Eigenschaften. Du bist intelligent und klug und man fühlt sich in Deiner Gegenwart wohl. Kurz gesagt, mein Sohn, Du bist ein Charmeur. Aber Du bist auch impulsiv, und wenn Du Deinen Willen nicht durchsetzen kannst, neigst Du dazu, irrational und unüberlegt zu handeln. Diese Charakterzüge, die mir Sorgen bereiten, gilt es zu bedenken, wenn das Wohlergehen von Stullwood Hall und der Name unserer Familie auf dem Spiel stehen. Noch besorgniserregender ist Dein Ehrgeiz, Nigel. Du warst bereits als Kind ehrgeizig, und jetzt, da du ein Mann bist, wirst Du vom Ehrgeiz geradezu beherrscht. Übertriebene Ambitionen führen zu Ungeduld, und der Ungeduldige ist ein schlechter Planer, der unweigerlich scheitern wird. Meiner Meinung nach besitzt Du durchaus die Intelligenz und das Geschick, das Anwesen zu leiten; andererseits steht zu befürchten, dass Du es mit Deinem Ehrgeiz in den Ruin treibst. Auf Stullwood darf es keine Veränderungen geben. Ich kann nicht zulassen, dass Du das Land für abstruse Träume zerstückelst. Rupert dagegen halte ich für gradlinig und von Grund auf traditionsverbunden. Deshalb bin ich überzeugt, dass er dafür Sorge tragen wird, dass es auf Stullwood so weitergeht wie seit Hunderten von Jahren. Dafür wirst Du, mein Sohn, der neunte Baron Stullwood. Trage den Titel in Ehren. Es ist mein sehnlichster Wunsch, dass Du, Nigel, es irgendwann schaffst, Deinen Ehrgeiz zu zügeln, und Dich auf Deine Pflichten als Barnstable und Herr über die Menschen auf unserem Anwesen zu besinnen. Ich bin überzeugt, dass Du in diesem Bemühen uns allen zum Stolz gereichen wirst.«
Radcliffe legte das Schreiben ab und gab seinen drei Zuhörern Gelegenheit, den Inhalt zu verdauen.
Die Baronin war schockiert, dass ihr Sohn harsche Kritik an Nigel übte, viel schlimmer traf sie jedoch, dass er sie, seine Mutter, mit keinem Wort erwähnt hatte. Rupert dachte ähnlich, fand den Brief höchst eigenartig und versuchte, ihn in den Rahmen seines neuen Lebens einzufügen. Und als ihm die volle Bedeutung der Worte von Barnstable Senior klarwurde, erschrak er und war gleich darauf gekränkt, dass sein Vater ihm das Anwesen weniger übergeben als es vielmehr Nigel weggenommen hatte. Jegliches Gefühl, diese Übergabe sei eine Belohnung oder ein Vertrauensbeweis für ihn selbst, schwand auf der Stelle; irgendwie kam er sich mit einem Mal elend vor.
Nigels Gedanken wirbelten durcheinander.
Er konnte es nicht glauben. Im Beisein seiner Großmutter, seines Bruders und dieses Anwalts hatte ihm der Vater eine Standpauke gehalten. Warum sonst hatte Radcliffe den Brief vorlesen müssen? Wollte ihn der Vater demütigen? Nein, Nigel kannte ihn besser. Der alte Herr war niemals einer gewesen, der jemanden absichtlich demütigte. Vielmehr musste es sich so verhalten, dass der Alte annahm, seine Worte würden, wenn sie öffentlich und mit lauter Stimme verlesen wurden, mehr Wirkung zeigen, seine Ansichten umso deutlicher zu erkennen sein. Und um Großmutter mit Munition zu versorgen, damit sie Nigel künftig immer wieder daran erinnerte, was sein Vater über ihn gesagt hatte. Was sie und Rupert im Grunde zu Hütern über Nigels Persönlichkeit und Lebensplanung machte.
Radcliffe, der vor vielen Wohlhabenden zahlreiche Testamente verlesen hatte, verstand sich darauf, Streitigkeiten vorherzusehen. Die Atmosphäre im Salon war derart spannungsgeladen, dass er beinahe schon den Blitz von der Zimmerdecke herabfahren sah. Um dem wütenden Gesichtsausdruck des ältesten, enterbten Sohnes zu entgehen – regelrecht mordlüstern sah Nigel aus, Radcliffe kannte diesen Blick nur zu gut –, raffte er seine Unterlagen zusammen und murmelte: »Den Brief lasse ich hier, ich muss mich beeilen, um noch den Zug nach London zu erwischen«. Dies war, wie er wusste, ein feiger Rückzug. Aber er hatte nicht die Absicht, bei dem Wutausbruch, der sich spürbar zusammenbraute, als Zielscheibe zu dienen.
»Wir würden uns freuen, wenn Sie noch blieben, wenigstens bis das Gewitter vorüber ist«, sagte die Baronin so liebenswürdig wie möglich und bemühte sich, den Anwalt nicht merken zu lassen, wie schockiert sie war.
»Ich habe in der Stadt zu tun. Aber danke für das Angebot, Euer Ladyschaft.« Damit eilte er hinaus.
Nach Radcliffes Abgang breitete sich im Salon erneut Schweigen aus. Die drei Stullwoods saßen derart überrascht da, dass keiner sprechen konnte. Bis Nigel fast atemlos vor Wut sagte: »Großmutter, wusstest du davon?«
Sie war kreideweiß geworden. Die letzten Worte ihres Sohnes, die letzten, die sie je von ihm vernehmen sollte, waren nicht an sie gerichtet gewesen. »Nein, ganz und gar nicht. Aber Harold hatte seine Gründe und wusste, was er tat.«
Nigel stand auf und ging zum Schreibtisch, auf dem der Brief mit der ihm so vertrauten Handschrift lag. Seite um Seite waren keinerlei zittrige Buchstaben auszumachen. Der Anwalt hatte die Wahrheit gesagt. Sein Vater hatte den Text verfasst, bevor er in den Dienst der Armee getreten war.
Noch nie war Nigel derart erschüttert gewesen, nicht einmal damals, als seine Mutter gestorben war. Obwohl der Vater gesagt hatte, sie würde nicht mehr nach Hause kommen, weigerte sich der siebenjährige Nigel verbissen, ihm zu glauben, hatte wochenlang am Fenster gesessen und auf die Rückkehr ihrer Kutsche gewartet. Nicht anders erging es ihm jetzt. Er hoffte, Radcliffe würde jeden Augenblick zurückkommen und das Ganze als Schabernack enttarnen. Aber auch Radcliffe ließ sich nicht mehr blicken. »Das war’s dann also?«, fragte er schließlich. »Das ist alles, was ich bekomme? Einen Titel und eine Abfindung?«
Er erhielt keine Antwort. Das Schweigen im Salon war derart lähmend, dass es einen schier betäubte.
»Tut mir leid, alter Knabe«, raffte sich Rupert auf zu sagen und erhob sich kurz, nur um sich gleich wieder hinzusetzen, so als wäre allein diese Bewegung zu viel für ihn. »Ich hatte keine Ahnung, dass Vater das so handhaben würde. Aber …« Er beschäftigte sich mit seinen Fingernägeln, wie er das immer tat, wenn er um freundliche Worte rang, um etwas Unangenehmes zu äußern. »Aber ich stimme ihm durchaus zu. Du interessierst dich nicht dafür, Pachten einzutreiben oder Cottages auf dem Anwesen instand zu halten. Wenn es darum geht, mit Pächtern einen Streit zu schlichten, fährst du lieber nach London und triffst dich mit einem Architekten. Anstatt die Farmen zu inspizieren, steckst du Flächen für von dir geplante Golfplätze ab. Stullwood braucht eine tatkräftige Leitung.« Und ja, wollte er hinzufügen, wenn es nicht so läuft, wie du dir das vorgestellt hast, kehrst du den verzogenen Bengel raus. Nur wusste er, wann es ratsam war, den Mund zu halten.
Nigel starrte seinen Bruder an, als sei der ein Geist, dann trat er ans Fenster. Der Regen ließ bereits nach. Der Himmel schien nur zum Verlesen des Testaments seine Schleusen geöffnet zu haben, die Wolken hatten sich verzogen. So ist das also, überlegte Nigel. Mein jüngerer Bruder erhält den Familienbesitz, während ich, der rechtmäßige Erbe, mit einem … Scheck abgespeist werde.
Er wandte sich der alten Dame und dem jungen Mann von zweiundzwanzig Jahren zu. Wie er sie in diesem Augenblick verachtete. Die strenge Matriarchin, die sich, wie Nigel gelegentlich mutmaßte, für eine Reinkarnation von Queen Victoria hielt – ständig in Schwarz gekleidet und das Korsett so fest geschnürt, dass sich ihr praller Busen fast bis zum Kinn wölbte! – hatte Nigel nie besonders gemocht. Und Rupert, der kleine Bruder, konnte das Wort Ehrgeiz nicht einmal buchstabieren, geschweige denn, dass er welchen besaß.
Mit einem gemurmelten »Einfach lachhaft« stürmte er Hals über Kopf aus dem Salon, griff sich seine Reitpeitsche vom Tisch in der Eingangshalle und eilte über regennassen Kies auf die Stallungen zu. »Hol Blaze«, wies er den Stallburschen an. »Sattle ihn.«
»Ich habe ihn grade trocken gerieben, Euer Lordschaft.«
»Tu, was ich sage!«
Zwischen den klammen Boxen auf- und ablaufend, schlug er sich mit der ledernen Reitpeitsche, einem Geschenk des Earl of Shrewsbury zu seinem achtzehnten Geburtstag, an den Schenkel, so heftig, dass er sie durch den Stoff seiner Reithose spürte. Draußen nieselte es inzwischen wieder, und ein kalter Wind kam auf. Obwohl er sein Jackett im Haus gelassen hatte, fror Nigel nicht. Was er empfand, war ausschließlich Zorn, der wie ein dicker, schwerer Mantel auf ihm lastete.
Einen Titel – mehr hat er mir nicht hinterlassen, dachte er. Einen Titel mit nichts dahinter. Zu einer Galionsfigur hat er mich degradiert. Lachen wird man über mich und hinter meinem Rücken Grimassen schneiden. Ich werde der Pächter meines eigenen Zuhauses sein, auf einem Anwesen, wo eigentlich ich das Sagen haben sollte. Kastriert hat er mich, impotent gemacht.
Als er aufsaß, drückten ihn weitere Lasten nieder – Verbitterung, das Gefühl, betrogen worden zu sein, selbst ein gerüttelt Maß an Sturheit –, so dass er Blaze am langen Zügel und mit Einsatz seiner Sporen über die Parklandschaft jagte. Am Morgen noch hatten ehrgeizige Pläne und Ziele wie Sekt in seinen Gedanken geperlt, jetzt brodelten in ihm heiße und dunkle Gefühle wie ein See vulkanischer Lava.
Er ritt zurück in den Wildpark, so als hätte er dort etwas vergessen. Vielleicht hatte er das auch. Er, der bisher als ungemein wohlhabender Mann mit großen Ländereien, als Erbe des Stullwood-Anwesens und seiner Millionen, durch den Wald geprescht war, kam jetzt als Erbe von weiter nichts als einem inhaltslosen Titel und lächerlichen hunderttausend Pfund zurück. Eine Witzfigur! Warum hat der alte Baron so verfügt?, würden sich die Leute fragen. Was stimmt nicht mit dem ältesten Sohn, dass man ihm nicht das Anwesen übertragen hat?
Nigel trieb Blaze gnadenlos an, setzte immer wieder die Peitsche ein, preschte durch den Regen, so dass sowohl die Mähne des Pferdes als auch sein eigenes dichtes Haar vor Nässe trieften. Am liebsten hätte er laut geschrien, seine Entrüstung gen Himmel geschleudert, Rupert umgebracht. Mit schäumendem Maul galoppierte das Pferd dahin, wieder und wieder bekam es die Peitsche zu spüren, weil Nigel seine Wut und seinen Groll an einem Tier ausließ, das nicht verstand, was es falsch gemacht hatte, aber nicht wagte, seinem Reiter den Gehorsam zu verweigern.
Endlich im Wildpark angekommen, ließ Nigel das Pferd in Schritt fallen, um seine verworrenen Gedanken zu sortieren. Dort, wo Rehe und Hirsche in die Falle tappten und nur so lange lebten, bis Kugeln ihnen ein Ende setzten.
Er merkte, dass er seinen Zorn durch den schnellen Ritt hinter sich gelassen hatte. Stattdessen hüllte kalter Nebel seinen Verstand ein, der feuchte und kühle Dunst Englands, den er gelegentlich im Blut verspürte.
Ich bin John Lackland, stellte er verwundert fest. Ein Edelmann ohne Land – ein Mann ohne Macht.
Er schämte sich ein wenig, obwohl er nichts falsch gemacht hatte.
Dadurch, dass ich von Geburt an ehrgeizig bin, habe ich mich versündigt, sinnierte er. Weil ich unbedingt etwas verändern, wachsen und gedeihen lassen möchte und bestrebt bin, das, was vorhanden ist, so zu verändern, wie es sein sollte.
Wie seinerzeit jener vielgeschmähte König, der sein Land verloren und Armeen in Marsch gesetzt hatte, um es zurückzugewinnen, wollte Nigel sich mit seiner Niederlage nicht abfinden. Ja, aus seiner Sicht war es sehr wohl eine Niederlage, die auch unter seinesgleichen als solche gewertet werden würde. Er spürte, wie Kampfeslust in ihm hochstieg, rebellische Gefühle gegen die Ungerechtigkeit, die ihm angetan worden war.
Während der Hengst keuchend und schnaubend über den durchnässten Boden trottete, merkte Nigel, wie plötzlich ein seltsamer Frieden über ihn kam. Ganz kurz nur, war es nicht etwa eine Kapitulation, sondern ein Umdenken, das in ihm stattfand.
John Lackland, König von England, sagte er sich abermals. Johan sanz Terre in normannischem Französisch. Mir fehlt es an Land. Ich bin ohne Land …
Im leichten Nieselregen begann sich der Nebel in seinem Kopf zu lichten. Nichts störte die Stille des Wildparks, außer das Rasseln der Kandare im Maul des Hengstes, das Knarzen des Sattels und das Plätschern der Regentropfen auf den Blättern. Und dann fühlte Nigel, wie sich eine seltsame Erregung in ihm ausbreitete. Ein plötzliches Hochgefühl. Eine Erregung, die stärker war als damals, als er als Kind zum ersten Mal an einer Fuchsjagd teilnehmen durfte. Der zehnjährige Nigel war schier vor Stolz geplatzt, als der Meister der Jagd ihm das Blut des zur Strecke gebrachten Fuchses auf Wangen und Stirn geschmiert hatte. Eine noch stärkere Erregung – was mochte das bedeuten?
Er schaute über das sanft geschwungene grüne Land, wo bodennahe weiße Nebelschwaden um die Stämme stattlicher Eichen waberten. Er sah hinüber zu dem kompakten großen Gebäude, das aus smaragdgrünen Wiesen herausstach, sich majestätisch und eindrucksvoll gegen den grauen Himmel abzeichnete, als etwas Merkwürdiges passierte. Es war, als würde er sein Zuhause zum ersten Mal wahrnehmen, als hätte man seine Augen aus ihren Höhlen gestohlen und ihm dafür ein anderes Paar eingesetzt.
Mitten in tausend Morgen perfekter Parklandschaft stand da ein altes Herrenhaus wie ein dicker Klotz, zwei Stockwerke hoch, um das Dach herum wie eine Festung mit Zinnen bestückt, mit einer griechisch anmutenden Kuppel, von der eine Fahne wehte. Das Anwesen verfügte über neunzig Zimmer und ebenso viele zugige und undichte Stellen. Das hier war beileibe nicht Stullwood, nicht aus diesem neuen Blickwinkel. Vertraut und doch wieder nicht. Er rieb sich die Augen. Spielten sie ihm, während die Sonne sich abwechselnd hinter dunkle Regenwolken verkroch und wieder hervorkam, einen Streich? Wenn man in einem Haus aufwächst und es als sein Zuhause ansieht, wenn es das einzige Heim ist, das man kennt, wird man sehr vertraut damit. Warum wirkte Stullwood Hall dann jetzt so befremdend?
Es ist nicht das Haus, das sich verändert hat, überlegte er. Und kaum hatte sich dieser Gedanke zu seiner Wahrnehmung gesellt, erwog er ihn für eine Weile von allen Seiten, um ihn zu analysieren und abzuwarten, was dabei herauskam. Wenn sich das Haus nicht verändert hat, fragte er die Bäume im Wildpark, was dann? Dieses wuchtige alte Gemäuer aus gelbem Backstein war ihm jedenfalls nicht länger vertraut.
»Du hast zu viel Ehrgeiz«, hatte der Vater gesagt. Was aber war ein Mann ohne Ehrgeiz? Ehrgeiz war, was das Blut in den Adern eines Mannes pulsieren ließ. Ehrgeiz ließ Träume wach werden, die wiederum Energie freisetzten. Einem Mann sollte man Träume nicht auf einem silbernen Tablett servieren; er musste sie erschaffen, sie verfolgen, an ihnen arbeiten, sonst schöpfte er keine Energie daraus.
Die Männer der Barnstables, mit Ausnahme von Nigel, waren bekannt dafür, nicht ehrgeizig zu sein. Vielleicht war er ja gar kein Barnstable. Was für ein Gedanke! Vielleicht hatte seine Mutter vor fünfundzwanzig Jahren einen ehrgeizigen Besucher empfangen, während Vater geschäftlich in London weilte. Ein abwegiger Gedanke, natürlich. Nigels Ähnlichkeit mit dem achten Baron Stullwood war der beste Beweis dafür. Ein paar Minuten lang dennoch eine amüsante Träumerei – sich auszumalen, wie ein hochgewachsener Mann, ein Titan mit viel Ehrgeiz, nach Stullwood gekommen war, Mutter sich ihm hingegeben hatte und er, Nigel, das Ergebnis war. Denn jetzt bekannte er sich voll und ganz zu diesem Ehrgeiz – ihn auszutoben, dafür war er geboren.
Er fing an zu lachen. John Lackland, dachte er wieder. Das war ein Zeichen. Ein Wendepunkt. Einer dieser entscheidenden Momente im Leben eines Mannes, wenn er sich bewusst wird, dass das Schicksal ihm ein Zeichen gegeben hat. Was er noch vor einer Stunde als bittere Niederlage gewertet hatte, als einen Schlag ins Gesicht, sah er jetzt als verheißungsvoll schimmernde Chance. Ich besitze kein Land, überlegte er, als er seinem Pferd die Sporen gab und es heimwärts trieb, aber nur deswegen nicht, damit ich freie Hand habe, Land zu erwerben.
Als er auf Stullwood Hall zuritt, führte er in Gedanken einen Dialog mit seinem Vater. Auf die Worte des alten Barons: »Der Ungeduldige ist ein schlechter Planer, der unweigerlich scheitern wird«, antwortete Nigel: »Der Ungeduldige treibt die Realisierung von Vorhaben an und wird Erfolg haben.«
Als er den Salon betrat, fand er seine Großmutter und Rupert noch immer in Schockstarre in ihren Sesseln vor, ganz so, als wäre die Zeit stehen geblieben. Als warteten sie darauf, dass Nigel ihnen wieder Leben einhauchte.
Wortlos ging er auf den Schreibtisch zu, griff zum Entsetzen der beiden anderen nach dem Brief des Vaters und warf ihn ins Feuer, wo ihn die Flammen erfassten und zu schwarzer Asche verschrumpeln ließen. Er sah Großmutter und Bruder an, als erwartete er, man würde ihm das Recht absprechen, einen an ihn adressierten Brief zu vernichten.
»Tut mir ehrlich leid, alter Knabe«, kam es nach einer kurzen Stille nicht gerade überzeugend von Rupert.
Nigel starrte ihn an, und erneut spielten ihm seine Augen einen Streich. So, wie er über die grünen Wiesen zu einem ihm nicht vertrauten Haus geblickt hatte, sah er jetzt einen völlig Fremden vor sich. Wenn er ihn hätte identifizieren sollen, hätte er zwar gesagt: »Das ist mein Bruder Rupert.« Aber auf einer tieferen Bewusstseinsebene hatte er keine Ahnung, wer dieser Kerl war. Er sah ihn zum ersten Mal, so wie er kurz vorher Stullwood Hall zum ersten Mal gesehen hatte, und stellte fest, dass Rupert die typischen Gesichtszüge der Barnstables aufwies – gerade Nase, eckiges Kinn –, aber gedrungen war. Außerdem einen bereits zurückweichenden Haaransatz hatte – mit zweiundzwanzig! –, weiche Hände und die schlaffe Haltung eines leicht zu bezwingenden Gegners.
Über Ruperts Eigenschaften nachzusinnen war für Nigel eher unerfreulich. Seine lässige Art, seine fast gleichgültige Einstellung zum Leben. Was als »wohlhabender Müßiggang« bezeichnet wurde, hatte sein Rückgrat ausgesaugt, nicht die Spur von Ehrgeiz, der sich vielleicht hätte entfalten können, wenn Rupert eine Chance bekommen hätte. Stattdessen wurde sein Leben von Geld und Annehmlichkeiten bestimmt.
Meins aber auch, gestand Nigel sich ein, dennoch verblüfft, wie die Natur zwei derart unterschiedliche Geschwister hatte erschaffen können. Er war ebenfalls in Luxus und Bequemlichkeit aufgewachsen, hatte nie arbeiten, nicht einmal in den Krieg ziehen müssen – obwohl er sich, sobald er achtzehn war, hätte einziehen lassen; aber der Vater hatte darauf bestanden, dass er in Stullwood blieb, während er selbst mit seinem Ältesten am Krieg teilnahm. Und doch besaß er Ehrgeiz und Unternehmungsgeist. Wie kommt das?, fragte er sich.
»Es tut dir nicht leid, Rupert.« Obwohl Nigel wütend war, gelang es ihm, ruhig zu bleiben. Vielleicht war er in erster Linie nur gereizt. »Du hast doch das große Los gezogen. Also, alter Knabe, ich hoffe, du hast Freude dran, wenn du jetzt über alles ganz allein schalten und walten kannst.«
Wenn er angenommen hatte, kerzengerader könnte die Baronin nicht dasitzen, sah er jetzt, wie sie auffuhr. »Nigel, was willst du damit sagen?«
»Ich gehe, Großmutter«, gab er zurück und freute sich diebisch, Entsetzen auf diesen normalerweise selbstgefälligen Gesichtern hervorzurufen. Ja, er genoss es regelrecht. »Ich verlasse Stullwood und England.«
Die Großmutter keuchte und prustete, man konnte die Stangen ihres Korsetts ächzen hören. »Was soll das! Welch grotesker Gedanke! Du kannst nicht gehen. Du bist Herr über das Anwesen. Du bist Stullwood verpflichtet.« Sie schaute Rupert an, schaute auf die Porträts an den Wänden, suchte irgendwo Rückhalt. »Also sei nicht albern. Überhaupt: Wohin willst du denn? Du bist hier zu Hause. Wir sind deine Familie. Dein Vater hat dir eine hübsche Abfindung vermacht, auch wenn sie nicht ewig reicht, jedenfalls nicht, wenn du auf eigenen Beinen stehen musst. Hier auf Stullwood kannst du angenehm leben.«
Die Baronin wurde von einer Panik erfasst, dass sich ihr Rückgrat krümmte, von einer schneidenden, eiskalten Angst, wie sie sie noch nie verspürt hatte. Gewiss, sie hatte Angst gehabt, als Vater und Sohn in den Krieg zogen, aber da hatte sie um deren Sicherheit gebangt, um deren Leben. Was sie jetzt erfasste, war eine noch größere Angst. Es war, als hätte der Krieg mehr angerichtet, als Soldaten zu töten. Er hatte dem Gesellschaftsgefüge Schaden zugefügt. Junge Männer waren gefallen, und mit ihrem Tod hatte die seit Jahrhunderten verwurzelte Lebensweise der englischen Gesellschaft begonnen, sich langsam aufzulösen. So wie Samson die Säulen des Tempels der Philister niedergerissen hatte. Für die Baronin ruhte England auf bröckelnden Säulen.
Sie öffnete die Augen und richtete sie auf ihren älteren Enkel. Eigensinnig, ehrgeizig, ungeduldig. Ja, das waren seine Schwächen. Ja, er hätte Stullwood nicht gut verwaltet. Schon viele Familien waren von rücksichtslosen Männern, die nur an ihre eigenen ehrgeizigen Vorhaben dachten, in den Ruin getrieben worden.
Zufällig dachte ihr älterer Enkel in etwa die gleiche Richtung. »Du hast es besiegelt, Großmutter, mit deinen eigenen Worten«, sagte er. »Aber auch wenn du überzeugt bist, dass ich wiederkomme, sollst du wissen, dass ich, wenn ich einmal fort bin, auch fortbleibe.«
»Also wirklich, Rupert«, äffte Nigel den Bruder nach, »ich habe zwar keine Ahnung, was Vater bezweckte, als er mir mein Geburtsrecht ab- und dir zusprach, Bruder, aber jetzt habe ich andere Pläne.«
Angewidert sah er sie an. Mit einem Mal kam ihm das Herrenhaus trotz seiner Größe klein vor. Es war der Geist, der hier herrschte, der es so klein erscheinen ließ.
»Wie wäre es, wenn du bei einer Tasse Tee alles nochmals mit uns besprichst, Nigel?«, fragte Großmutter gerade noch rechtzeitig, um einen Blick von ihm aufzufangen, der sie in die Defensive drängte. Nigel war stets ein rastloser Geist gewesen, und jetzt, da er Stullwood verloren hatte, rastloser denn je. Aus irgendeinem Grund schien er etwas gegen Tee und Zuckerwürfel zu haben. Was hatte er von ihr erwartet? Dass sie schreiend herumlaufen würde? Sie hatte eben erst die letzten Worte ihres einzigen Sohns vernommen, verlesen von einem Londoner Anwalt, der sich viel zu oft geräuspert hatte. Sie musste darüber nachdenken, was Harold gesagt und getan hatte. Sie brauchte etwas, woran sie sich festhalten konnte, sonst würde sie vielleicht tatsächlich noch schreiend herumlaufen. Der Nachmittagstee war immer der Nachmittagstee gewesen und hatte einen Abschnitt im Tagesablauf gekennzeichnet, war ein Ritual, eine Verbindung über die Jahre hinweg zu ihrer eigenen Mutter und Großmutter. Wieso gönnte Nigel ihr nicht diesen kleinen Trost, während sie über die letzten Worte ihres einzigen Sohns nachdachte?
Nigel sah ihr in die Augen. Sie glaubt mir nicht, erkannte er. Sie und Rupert nehmen mich nicht ernst. Dabei ist es mir nie ernster gewesen.
Vielleicht nach Ostafrika, überlegte er. Viele einfallsreiche Köpfe gehen dorthin. Im Hochland von Kenia Land erwerben und Kaffee anbauen. Valentine Treverton ist mit seiner Familie dorthin ausgewandert. Ich könnte das Gleiche machen.
Auf dem polierten runden Tisch lag die zusammengefaltete London Times, eigens übergebügelt für Großmutters Teestunde. Eine Schlagzeile oberhalb des Knicks lautete: Senat der Vereinigten Staaten verabschiedet Gesetz zum Frauenwahlrecht.
Vielleicht war es Zeit, den Begriff »neu« in sein Leben zu integrieren. Sein Blick blieb wie ein Schmetterling auf einer Blume an den Worten Vereinigte Staaten haften. Unsere unechten Vettern, befand er. Eine gemischte Rasse undankbarer Gesellen, die Mutter England eine lange Nase gezeigt, ihren eigenen Weg zum Glück eingeschlagen und sich nicht einmal bei ihr für die ihnen mitgegebene Sprache, Kultur und Geschichte bedankt hatten.
Neue
werdewerde
»Du wirst zurückkommen«, meinte Rupert ganz plötzlich von oben herab zu dem Bruder, dem er sich zweiundzwanzig Jahre lang unterlegen gefühlt hatte. »Lange wirst du nicht wegbleiben.«
»Wir werden dir fehlen«, erwiderte Rupert, ohne auf die brüderliche Schmähung einzugehen. »Denk an meine Worte. Dir wird dieses Haus fehlen, und auch wir werden dir fehlen.«