Grundrechte-Report 2017
Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland
Till Müller-Heidelberg / Elke Steven / Marei Pelzer / Martin Heiming / Cara Röhner / Rolf Gössner / Julia Heesen / Arthur Helwich (Hg.)
FISCHER E-Books
Ein Projekt der Humanistischen Union, des Komitees für Grundrechte und Demokratie, des Bundesarbeitskreises Kritischer Juragruppen, von PRO ASYL, des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und der Neuen Richtervereinigung
Im diesjährigen, insgesamt 42 Beiträge umfassenden Grundrechte-Report bilden der lange Sommer der Migration von 2015 und seine Auswirkungen einen wichtigen Schwerpunkt. Nora Markard kritisiert den EU-Türkei-Deal und zeigt, wie die Verantwortung für den Flüchtlingsschutz an autoritäre Regime ausgelagert wird. An einem Einzelfall zeigt Bernd Mesovic, auf welch skandalöse Weise die Asylanträge afghanischer Antragsteller abgelehnt werden.
Ein wiederkehrendes Thema im Grundrechte-Report sind die Skandale der deutschen Geheimdienste. Deren parlamentarische Kontrolle wurde durch das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum NSA-Untersuchungsausschuss deutlich geschwächt, wie Heiner Busch in seinem Beitrag feststellen muss. Britta Eder zeigt darüber hinaus, wie die Sicherheit von türkischen Gefangenen aufs Spiel gesetzt wird, weil ihre Verteidigerpost dem Zugriff des türkischen Geheimdienstes ausgesetzt ist.
Neben den klassisch rechtsstaatlichen Themen der Überwachung und des Versammlungsrechts bilden soziale Rechte einen weiteren Schwerpunkt im diesjährigen Report. Constanze Janda schreibt über das Existenzminimum von Unionsbürger*innen und Christoph Butterwegge über die Erbschaftssteuer. Kirsten Drenkhahn und Martin Singe berichten über die neue Gefangenengewerkschaft, die versucht, arbeitsrechtliche und soziale Mindeststandards hinter den Gefängnismauern durchzusetzen. Isabel Feichtner informiert über CETA und die demokratischen und sozialen Auswirkungen dieses Freihandelsabkommens.
Auch Geschlechtergerechtigkeit und Diskriminierungsverbote werden aus verschiedenen Blickwinkeln thematisiert. So schreibt Ulrike Lembke über die sexuelle Selbstbestimmung und die Reform des Sexualstrafrechts, Maria Wersig über das Prostituiertenschutzgesetz als Gängelung von Sexarbeiter*innen und Sophie Rotino über Racial Profiling durch deutsche Polizeibeamt*innen.
Informationen über die Herausgeber, die Autorinnen und Autoren, die Redaktion und Herausgeberorganisationen finden Sie im Anhang des Buches.
Redaktion: Julia Heesen, Marting Heimig, Arthur Helwich, Till Müller-Heidelberg, Maximilian Pichl, Cara Röhner, Maria Seitz, Elke Steven, Rosemarie Will
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
Coverabbildung: Christoph Hardt / picture alliance / Geisler-Fotopress
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490366-8
Gabriel, Sigmar: Offener Brief, 10. Oktober 2015, www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/M-O/offener-brief-sigmar-gabriel-ttip,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf
Vorwort der Herausgeber
Vor zwanzig Jahren veröffentlichten wir den ersten Grundrechte-Report, um den vom Staat und seinen Geheimdiensten entworfenen Schreckensbildern von verfassungsfeindlich gesinnten Bürger*innen und ihren extremistischen Organisationen, die ein Sicherheitsrisiko darstellten, eine nüchterne Analyse der Gefährdungen der Grund- und Freiheitsrechte durch den Staat entgegenzustellen. Demokratie und der demokratische Rechtsstaat leben von der Auseinandersetzung der Bürger*innen mit der Verfassung, vom Streit um politische Meinungen und Deutungen. Auch wenn sich im Verlauf der Jahrzehnte die staatlichen Feindbilder verändert haben, gilt bis heute, dass weder islamistische Organisationen noch Amoktäter*innen, weder nationalistische und rassistische Zusammenschlüsse noch Migrant*innen die freiheitliche demokratische Grundordnung bedrohen. Der Antrag auf Verbot der NPD scheiterte aus guten Gründen vor dem Bundesverfassungsgericht. Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, für den an Menschenrechte gebundenen Rechtsstaat und die Grundrechte gehen weiterhin von einer Regierung aus, die auf Straftaten mit dem gefährlichen Ausbau von Überwachungsmaßnahmen und mit neuen Eingriffsbefugnissen für Geheimdienste und Polizei reagiert.
Seit vielen Jahren beschäftigen uns immer wieder dieselben Themen. So warnen Bürgerrechtler*innen seit langem vor der immer weitergehenden Einschränkung von Freiheitsrechten zugunsten von vermeintlich mehr Sicherheit. Die Aufdeckung der NSU-Morde hat zudem gezeigt, dass die Gefahren zumindest auch auf die behördlich-ideologischen Scheuklappen zurückzuführen sind, die einer Aufdeckung von Straftaten mit nationalistisch-rassistischem Hintergrund im Wege standen. Racial Profiling – wie die Sortierung von Besucher*innen der Stadt Köln nach Phänotypen und vermeintlicher Herkunft (»Nafris«) in der Silvesternacht 2016/17 – ist rechtswidrig, da es gegen das Diskriminierungsverbot verstößt. Polizeiliches Handeln nach diesem Konzept trifft vor allem die Falschen, schadet mehr, als es nutzt und schürt Rassismus. Zwei Aufsätze in diesem Buch setzen sich mit den Implikationen und juristischen Fragen dieses Themenfeldes auseinander. Dem kurzen Sommer 2015 einer scheinbar freundlichen Begrüßung von Migrant*innen folgte umgehend eine neue Welle von Abwehr- und Abschottungsmaßnahmen. Tausende Flüchtlinge sterben im Mittelmeer, stranden vor den Toren Europas oder bleiben in Europa völlig unterversorgt. Sie werden abgeschoben, und der Familiennachzug wird menschenrechtswidrig »ausgesetzt«. Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wird einschränkend ausgelegt, die Rechte der Gegendemonstrierenden missachtet. Noch der geringste Schutz gegen polizeiliche Gewaltmittel wird auch vor Gericht als passive Bewaffnung interpretiert.
Die großen Entwicklungen spiegeln sich in den vielen konkreten und Einzelfragen betreffenden Eingriffen. Selbst beim Kauf von Prepaidkarten muss nun die Identität der Käufer*in geprüft werden. Unüberwachte Kommunikation wird so quasi unmöglich gemacht. Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander, und der Staat schützt einseitig die Interessen der Reichen. Die durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts notwendig gewordene Erbschaftssteuerreform schützt letztlich doch wieder die reichen Erben von Betriebsvermögen. Die »Überprivilegierten« haben den größeren politischen Einfluss. Auf der anderen Seite wurde noch im Dezember 2016 ein Gesetz zum Ausschluss hilfebedürftiger Unionsbürger*innen aus der sozialen Sicherung beschlossen. Der Zugang zu Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) II und zur Sozialhilfe wird drastisch eingeschränkt, Ausreise als Mittel zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit gesetzlich verankert. Die Schuldenbremse, die auch den Ländern zukünftig eine Neuaufnahme von Krediten verbietet, wird sich auf die Finanzautonomie der Kommunen auswirken. Leistungen im sozialen Bereich werden drastisch eingeschränkt werden. Das aber wird das Sozialstaatsgebot unmittelbar beeinträchtigen.
So muss dieser Verfassungsschutzbericht erneut erschreckende Gefährdungen des an die Menschenrechte gebundenen demokratischen Rechtsstaats durch staatliche Institutionen konstatieren.
Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Constanze Janda
Dass aus der Menschenwürdegarantie des Artikels 1 Absatz 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 GG ein Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz erwächst, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) seit langem etabliert. Das Grundrecht erschöpft sich nicht in der Sicherung des physischen Überlebens. Der Mensch existiert notwendig in sozialen Bezügen, so dass ihm auch soziale, kulturelle und politische Teilhabe zu ermöglichen ist – und zwar jederzeit und in vollem Umfang. Geschützt sind nicht nur Deutsche, vielmehr handelt es sich um ein Menschenrecht, das migrationspolitischen Erwägungen – etwa dem Ziel der Abschreckung von Zuwandernden – nicht zugänglich ist (Urteil v.18.7.2012, Az. 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11).
Trotz der menschenrechtlichen Ausprägung gilt dieses Recht nicht weltweit und nicht für jedermann, sondern setzt die Zugehörigkeit zur inländischen Solidargemeinschaft voraus. Diese hängt nicht von einem konkreten Aufenthaltsstatus ab, sondern ist aus den Umständen des Einzelfalls zu ermitteln. Wodurch die Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft begründet wird, ist schwer zu bestimmen. Dies zeigt nicht zuletzt die Diskussion um die Gewährung von Grundsicherungsleistungen an Unionsbürger_innen.
Die Leistungsberechtigung nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II/»Hartz IV«) setzt voraus, dass man erwerbsfähig und hilfebedürftig ist. Außerdem muss ein sog. gewöhnlicher Aufenthalt in der Bundesrepublik bestehen, d.h., die Umstände dürfen nicht auf einen nur vorübergehenden Aufenthalt hindeuten. Auch ausländische Arbeitnehmer_innen oder Selbständige können unter diesen Bedingungen (ergänzend zu ihrem Erwerbseinkommen) Leistungen nach dem SGB II beziehen.
Alle übrigen Ausländer_innen müssen weitere Anforderungen erfüllen, um Leistungen nach dem SGB II beziehen zu können. Zunächst haben sie nach ihrer Einreise eine dreimonatige Wartefrist zu absolvieren. Darüber hinaus sind solche Ausländer_innen dauerhaft vom Leistungsbezug ausgeschlossen, deren Aufenthaltsrecht allein auf dem Zweck der Arbeitssuche beruht. Dieser Leistungsausschluss für Arbeitssuchende trifft (fast) ausschließlich Unionsbürger_innen, weil nur ihnen ein solches Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche überhaupt zusteht – während Drittstaatsangehörige nicht das Recht haben, allein zu diesem Zweck einzureisen.
Die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses für arbeitssuchende Unionsbürger_innen mit Europarecht wurde kontrovers diskutiert, vor allem im Hinblick auf die Unionsbürgerfreizügigkeit und das daran gekoppelte Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die deutsche Vorschrift 2015 für zulässig erklärt (Urteil v.15.9.2015, Rs. C-67/14, Alimanovic). Der EuGH folgt nicht der Ansicht, dass die EU-Verträge jede Diskriminierung von Unionsbürger_innen beim Zugang zu Sozialleistungen verbieten. Vielmehr stellt er allein auf die sog. Unionsbürgerrichtlinie (RL 2004/38 EG) ab. Diese regelt die Freizügigkeit innerhalb der Union näher und enthält ein sozialrechtliches Gleichbehandlungsgebot nur für diejenigen Unionsbürger_innen, die sich rechtmäßig in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten. Nach der Unionsbürgerrichtlinie haben aber nur jene ein Aufenthaltsrecht, die ihren Lebensunterhalt selbst sichern können, ohne öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen, oder die – im Fall der unverschuldeten Arbeitslosigkeit – mit einiger Aussicht auf Erfolg nach Beschäftigung suchen. Beide Voraussetzungen hat die Familie Alimanovic, über deren Ansprüche der EuGH zu entscheiden hatte, nicht erfüllt.
War nun der europarechtliche Zugang zu den Leistungen nach dem SGB II verschlossen, gab das Bundessozialgericht (BSG) der Diskussion im Dezember 2015 eine neue Wendung (Urteil v.3.12.2015, Az. B 4 AS 44/15 R). Aus dem Grundrecht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz leitete das Gericht her, dass – wenn schon die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II nicht in Betracht komme – zumindest Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII) zu erbringen sei. Anders als das SGB II enthält das SGB XII nämlich keinen ausdrücklichen Leistungsausschluss. Das BSG entnimmt dem SGB XII einen Anspruch auf Sozialhilfe, wenn sich der Aufenthalt der hilfebedürftigen Person verfestigt habe. Dies sei in der Regel nach einem tatsächlichen Aufenthalt von mehr als sechs Monaten anzunehmen. Zwar bewirke die Arbeitssuche während dieses überschaubaren Zeitraums noch nicht die Zugehörigkeit zur inländischen Solidargemeinschaft. Auch ende das Aufenthaltsrecht arbeitssuchender Unionsbürger_innen nach sechs Monaten; allerdings sind Unionsbürger_innen nach deutscher Rechtslage erst dann zur sofortigen Ausreise verpflichtet, wenn die Ausländerbehörden den Verlust des Aufenthaltsrechts formell feststellen. Ohne eine förmliche Verlustfeststellung führe schon die tatsächliche Fortsetzung des Aufenthalts zu seiner Verfestigung. Dies genüge, um den Zugang zur Sozialhilfe zu eröffnen. Differenzierungen seien allenfalls bei unterschiedlichen Bedarfen zulässig, für die aber keine Anhaltspunkte bestehen.
Eine Vielzahl von Sozialgerichten schloss sich der Argumentation des BSG jedoch nicht an. Ansprüche für erwerbsfähige Personen folgten ausschließlich aus dem SGB II, für diese Personengruppe sei jeder Rückgriff auf die Sozialhilfe nach dem SGB XII systemwidrig. Das BVerfG habe migrationspolitische Erwägungen überdies allein im Hinblick auf die Höhe der Leistungen verboten, nicht aber im Hinblick darauf, ob diese überhaupt gewährt werden. Es bestünden keine Bedenken gegen den »grundsicherungslosen Zustand« hilfebedürftiger Unionsbürger_innen, denn die Rückkehr erweise sich als geeignetes Mittel der Selbsthilfe. Mit der Zumutbarkeit der Ausreise im Einzelfall haben sich die Gerichte – soweit ersichtlich – freilich nicht auseinandergesetzt.
In Reaktion auf die Entscheidung des BSG, Unionsbürger_innen nach sechs Monaten einen Anspruch auf Sozialhilfe zuzusprechen, hat der Gesetzgeber im Dezember 2016 – nicht zuletzt aufgrund der Kritik der für die Finanzierung der Sozialhilfe zuständigen Kommunen – beschlossen, die Ausreise als Mittel zur Beendigung der Hilfebedürftigkeit gesetzlich zu verankern. Der Zugang zu Leistungen nach dem SGB II und Sozialhilfe wird drastisch eingeschränkt: Personen ohne Aufenthaltsrecht können erst nach fünfjährigem Aufenthalt in Deutschland Sozialhilfe beziehen. Wer schon vorher hilfebedürftig wird, kann innerhalb von zwei Jahren einmalig für maximal vier Wochen Übergangsleistungen in Anspruch nehmen. Diese sollen die Zeit bis zur freiwilligen Ausreise überbrücken und beschränken sich auf die Sicherung der physischen Existenz und eine medizinische Notversorgung. Die Kosten der Ausreise werden darlehensweise gewährt.
Das Recht auf menschenwürdige Existenz wird also nicht länger in vollem Umfang gewährt, sondern auf die zum Überleben notwendigen Leistungen beschränkt. Alle auf soziokulturelle Teilhabe – die keineswegs mit dem überaus vagen Begriff der »Integration« gleichzusetzen ist! – gerichteten Leistungen werden den Betroffenen vorenthalten. Und nicht einmal die physische Existenz wird jederzeit, sondern nur einmalig für vier Wochen gesichert. Der Gewährleistungsgehalt des Menschenrechts wird damit entgegen den Vorgaben des BVerfG vom aufenthaltsrechtlichen Status abhängig gemacht. Zudem stellt sich der Gesetzgeber gegen den vom BVerfG determinierten persönlichen Schutzbereich des Grundrechts. Er nimmt es nicht hin, dass der (nicht nur vorübergehende) Aufenthalt in der Bundesrepublik die Zugehörigkeit zur Solidargemeinschaft begründet, sondern begründet die fehlende Zugehörigkeit mit der faktischen Möglichkeit der Ausreise. Damit ignoriert er, dass das Ausländerrecht die zwangsweise Beendigung des Aufenthalts für die betroffenen Personen nicht ohne weiteres ermöglicht. Das Ziel der Ausreise soll also durch restriktive Ausgestaltung des Sozialhilferechts erreicht werden. Die Neuregelung ist folglich klar von migrationspolitischen Erwägungen getragen. Dem Recht auf Sicherung einer menschenwürdigen Existenz wird sie nicht gerecht.
Art. 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Ulrike Lembke
Sexuelle Selbstbestimmung wird umfassender geschützt
Das Grundrecht der sexuellen Selbstbestimmung schützt die Entscheidung darüber, ob überhaupt, in welcher Weise, unter welchen Umständen und mit wem sexuelle Handlungen stattfinden sollen. Sexuelle Handlungen ohne das wirksame Einverständnis einer beteiligten Person sind sexuelle Übergriffe. Die Sexualwissenschaften sprechen vom »Verhandlungsparadigma«: ohne gegenseitiges Einverständnis kein Sex. Am 7. Juli 2016 hat der Bundestag den Grundsatz »Nein heißt Nein!« im Strafrecht umgesetzt. Zuvor waren sexuelle Übergriffe oftmals auch dann nicht strafbar, wenn der Täter sich bewusst über den entgegenstehenden Willen der Betroffenen hinwegsetzte. Die Rechtsprechung hatte den einschlägigen § 177 Strafgesetzbuch immer enger ausgelegt und zudem systemwidrig ein ungeschriebenes Erfordernis der »Gegenwehr« hineingelesen. Dabei war seit langem durch Forschung belegt, dass Gegenwehr keine verbreitete oder gar natürliche Reaktion auf sexualisierte Gewalt ist, sondern ein opferfeindlicher Mythos. Strafprozesse wurden ein Martyrium für die Betroffenen, die Verurteilungsquote fiel auf 13 Prozent, die Anzeigenquote stagnierte bei 5 bis 10 Prozent. Sexualisierte Gewalt war eine weitgehend straflose Menschenrechtsverletzung.
Der Schutz der sexuellen als zutiefst persönlicher Integrität ist Basis für den Genuss aller anderen Rechte, für Teilhabe am öffentlichen Leben und für die Möglichkeit von Geschlechtergerechtigkeit. Die Änderung von § 177 Strafgesetzbuch, wonach nun auch sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person ohne weitere Voraussetzungen die Strafbarkeit begründen, setzt zunächst die Anforderungen aus Artikel 36 der sog. Istanbul-Konvention (Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) um. Zugleich wird eine verfassungsrechtliche Schieflage korrigiert: Im Gegensatz zu anderen Grundrechten war die sexuelle Selbstbestimmung bisher nur defizitär strafrechtlich geschützt. So dürfte noch nie eine Verurteilung wegen Raubes an fehlender Gegenwehr des Opfers gescheitert sein. Vor allem aber gibt es bei Eigentum (Diebstahl, schwerer Diebstahl und Raub) und körperlicher Unversehrtheit (einfache, gefährliche und schwere Körperverletzung) einen den Unrechtskern erfassenden Grundtatbestand und Strafschärfungsgründe; bei der sexuellen Selbstbestimmung waren nur besondere Verletzungen erfasst (sexuelle Nötigung, Vergewaltigung), ein Grundtatbestand fehlte.
Die Sonderstellung der sexuellen Selbstbestimmung in Bezug auf die Erfüllung staatlicher Schutzpflichten ist nicht zufällig, sondern Ausdruck patriarchaler Gesellschaftsverhältnisse. Lange Zeit war überhaupt nur der »erzwungene außereheliche Beischlaf mit einer Frau« strafbar – ein sehr kleiner Ausschnitt der Menschenrechtsverletzungen durch sexualisierte Übergriffe. Ab 1997 erfasste der Tatbestand der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung auch die »Vergewaltigung in der Ehe« (vgl. Christa Stolle, Grundrechte-Report 1998, S. 60ff.) und sexuelle Übergriffe jenseits des »Beischlafes«, war geschlechtsneutral gefasst und anerkannte mit der Tatbegehung durch Ausnutzen einer schutzlosen Lage, dass die Strafbarkeit nicht von der aktiven Gegenwehr der Betroffenen abhängig sein kann. Doch waren damit keineswegs die Vergewaltigungsmythen und Geschlechterstereotype beseitigt, welche schon zuvor die Strafverfolgung behindert hatten.
Auch die Diskussionen um eine bedingungslose Strafbarkeit nicht einverständlicher sexueller Handlungen, also sexueller Übergriffe, waren und sind geprägt von patriarchaler Abwehr. Immer wieder wird sexualisierte Gewalt als irgendwie dem Bereich der (staatsfreien) Intimität zugehörig verharmlost. Zwischen sexueller Interaktion und sexuellem Übergriff besteht aber ein kategorialer Unterschied, der sich auch nicht durch eine Entpolitisierung des Privaten auflöst. Fundamentale Strafrechtskritik sollte sich lieber auf §§ 103, 173, 218ff., 265a Strafgesetzbuch fokussieren. Auch geht es bei § 177 Strafgesetzbuch nicht um Moralfragen, sondern um Grund- und Menschenrechte. Wer gegen einen strafrechtlichen Schutz sexueller Selbstbestimmung keine Argumente mehr hat, fabuliert über Falschanzeigen, während reale Quoten nach älteren Studien zwischen 2 und 8 Prozent, nach neueren zwischen 3 und 7,3 Prozent liegen. Doch: »No myth is more powerful in the tradition of rape law than the myth of the lying women.« (Estrich, S. 11). Wenn Rechtsmobilisierung auch bisher Ausgeschlossenen zugänglich gemacht wird, ist der präventive Vorwurf des Rechtsmissbrauchs so üblich wie perfide. Das Festhalten am defizitären Schutz der sexuellen Selbstbestimmung stellt sich in eine lange patriarchale Tradition.
Die seit 2011 intensivierte Kampagnenarbeit für ein adäquates Sexualstrafrecht wurde nicht nur patriarchal attackiert, sondern auch 2015161842016