Adriaan van Dis
Das verborgene Leben meiner Mutter
Roman
Knaur e-books
Adriaan van Dis wurde 1946 im nordholländischen Bergen geboren. Seine Eltern gehörten zu den Heimkehrern aus der Kolonie Niederländisch-Indien (heute Indonesien), die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder in der alten, neuen Heimat ansiedelten. Dis studierte »Afrikaanse« Sprache und Literatur an der Universität Amsterdam und verbrachte mehrere Monate in Südafrika, bis ihm bis 1990 der Aufenthalt verboten wurde. Ab 1974 arbeitete er als Redakteur für die renommierte Tageszeitung »NRC Handelsblad« und war Chefredakteur ihrer Samstagsbeilage sowie Redakteur bei der Literaturzeitschrift »De Gids«. Als Fernsehmoderator der preisgekrönten Literatursendung »Hier is … Adriaan van Dis« wurde er landesweit bekannt. 1984 erschien sein Erzählband »Nathan Sid«. Seitdem hat er zahlreiche Romane und Reisereportagen veröffentlicht. Van Dis wurde für sein Werk mit etlichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem »Gouden Ezelsoor« für das meistverkaufte literarische Debüt und der »Gouden Uil«. Für »Ik kom terug« erhielt er den Libris Literaturpreis 2015. Adrian van Dis lehrte als Gastdozent an der Freien Universität Berlin. Seit 2003 lebt er in Paris.
Die niederländische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Ik kom terug« bei Uitgeverij Augustus in Amsterdam.
© 2016 der eBook-Ausgabe Droemer eBook
© 2016 Adriaan van Dis
© 2016 der deutschsprachigen Ausgabe Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
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Redaktion: Mirjam Madlung
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ISBN 978-3-426-43997-5
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You must sacrifice your family on the altar of fiction.
David Vann
All sorrows can be borne if you put them into a story or tell a story about them.
Karen Blixen
Wir standen uns gegenüber, meine Mutter und ich. Sie auf der einen Seite der Truhe, ich auf der anderen. Und zerrten an den Griffen. Sie hatte Pantoffeln an, ich feste Schuhe. Sie rutschte weg, und ich keilte sie ein. Gewonnen.
Der Schlüssel steckte noch im Schloss. Er hatte darum gefleht, gestohlen zu werden, es war ein geheimer Schlüssel – aus verschnörkeltem Schmiedeeisen –, meine Mutter trug ihn an einer Silberkette um den Hals, wie ein Schmuckstück. Keines ihrer Kinder bekam je die Gelegenheit, ihn in der Hand zu wiegen.
An einem faulen Sonntag lag er auf ihrem Nachtschränkchen. Sie saß in der Wanne, der Boiler bollerte, und meine Hand schlich, wohin sie nicht durfte. Sie vermisste ihn erst, als sie sich anzog, stürmte im Morgenmantel nach unten und fand mich gekrümmt vor der Truhe, stochernd in dem rostigen Schloss.
So begann das Schubsen und Zerren.
Die Silberkette schlug gegen das Holz. Ich bückte mich wieder nach dem Schlüssel. Hab ihn – aber meine Mutter erwischte mein Handgelenk. Eisern umklammerten mich ihre Finger. Wie Stacheldraht.
Ich schrie auf und ließ den Schlüssel samt Kette in ihre mächtige Pranke fallen und sah ihn dann zwischen ihren dampfenden Brüsten verschwinden. Eine Demütigung, die mir so viel Kraft verlieh, dass ich die Truhe ächzend über das Linoleum zerrte – bis sich mindestens achtzig Kilo Mutter auf den Deckel warfen. »Das ist meine Truhe«, kreischte sie. Als ob ich das nicht wüsste, schließlich stand ihr Name auf dem Deckel, in tropfend weißen Lettern, sie hatte sie nach dem Krieg von Palembang mit in die Niederlande verschifft – zu klotzig für eine Dame, nur von Kulis zu stemmen, und auch das nur mit Peitsche dazu. Solange ich mich erinnern konnte, schmorte das Monstrum in einer Ecke des Esszimmers unter einem Batiktuch vor sich hin.
Der Griff knarrte vor Aufregung – oder war es ein Seufzer des Verlangens? –, ein Kupfernagel platzte ab. »Meine Truhe, du ruinierst meine Truhe!« Noch ein Ruck, das Leder riss. Ein Wölkchen wirbelte auf – brauner Staub. In der Schrecksekunde stieß ich meine Mutter zu Boden … und da lag sie, mit klapperndem Gebiss. Ihr Bademantel war aufgesprungen, der Schlüssel keuchte. Der nackte Schlüssel. Sie bedeckte sich, aber ihre Augen – braun, mit einer Spur Gelb – sprühten vor Zorn. Zwei große Tränen rollten an ihren Nasenflügeln entlang, links eine, rechts eine, in Zeitlupe – ein Bild, das sich in meine Netzhaut einbrannte: Meine Mutter konnte weinen!
Ich schlang die Arme um die Truhe, ich zerrte sie zu den Flügeltüren, schrammte über Linoleum und Teppich, aber der Teppich wanderte mit, der Tisch wanderte mit, Bücher fielen zu Boden. Meine Mutter rappelte sich auf und versperrte breitbeinig die Flügeltür zur Terrasse.
Ich trat einen Schritt zurück, rammte meinen Kopf in ihren Bauch, und da flog sie hin, klirrend durch die Bleiglasfenster. Und jetzt Bahn frei, Türen auf, über die Schwelle mit dem Ding, auf den Rasen (ihr ganzer Stolz, nicht das kleinste Moospölsterchen), Erde spritzte auf – ein Panzer war nichts dagegen. Die Schlacht meines Lebens! Ich hatte nicht gewusst, dass eine Frau so kreischen kann.
Wir wohnten in einem Außenbezirk, die Weißdornhecke war noch jung, der breite, langgestreckte Garten ging in einen Wald über – man konnte tun und lassen, was man wollte. Die Zeitungen waren gerade voll von einem Mordfall, ganz in der Nähe, ein paar Jungs aus gutem Haus, die ich aus der Tanzstunde kannte, hatten die Leiche eines lästigen Kumpels in einem Brunnen entsorgt – erst nach einem Jahr wurde sie entdeckt. Wir hatten keinen Brunnen, allerdings einen Komposthaufen mit einer tiefen Grube, in der es gärte vom gemähten Gras. Doch so weit kam ich nicht, beim Fliederbusch blieb ich stecken. Meine Mutter klammerte sich an meinen Rücken, aber ich schüttelte sie ab und sprang auf die Truhe. Kippe an und in aller Ruhe rauchen, auf Lunge. Reinziehen, rausblasen. Mein Kriegssignal. Mit sechzehn.
Komm doch, wenn du dich traust.
Eines Nachmittags, als eine Unterrichtsstunde ausgefallen war, hatte ich sie an der Truhe erwischt. Ich kam zufällig an der Terrassentür vorbei und sah ihren Kopf über den geöffneten Deckel ragen. Sie kniete, mit dem Po auf den Fersen und kerzengeradem Rücken – ja, ich hatte damals eine Yogamutter, stark und biegsam. Ihre Hände durchwühlten Papiere, sie hob einen Ordner hoch. Durch das bunte Bleiglas konnte ich nicht erkennen, was er enthielt. Ihre Lippen bewegten sich, und sie riss etwas in Fetzen. Fühlte sie meinen Schatten? Oder meine brennende Neugier … mit einem Mal drehte sie sich um und sah mich dort stehen, ich winkte verlegen, aber sie ignorierte mich und klappte den Deckel zu. Als ich ins Haus kam, lag das Batiktuch wie immer darauf, die Trockenblumen im Ingwerpott zitterten nach – die einzige Erschütterung im Zimmer –, meine Mutter saß seelenruhig am Tisch, die Nase in einem Buch. Kein Wort über das, was ich gesehen hatte. Die Truhe existierte nicht. Sie war ein Beistelltisch, an Geburtstagen ein Hocker, notfalls eine Fußbank, aber nichts, worüber man sprach, einfach ein Ding, das für mich auf ewig verschlossen blieb.
»Ich hasse die Truhe, ich hasse die Truhe, ich hasse die Truhe.« Das war mein Mantra an dem Tag im Garten, und ich wusste verdammt gut, was ein Mantra war. Du musst es nur tausendmal aufsagen, dann hebst du ab. IchhassedieTruheIchhassedieTruheIchhassedieTruheIchhassedieTruheIchhassedieTruheIchhassedieTruhe.
Bis ich heiser war, und high.
Lamentierend lief meine Mutter zum Schuppen und kam mit einem Beil zurück. »Runter von der Truhe.« Ich lachte sie aus, sprang herunter und schubste sie in den Flieder. (Es braucht nur eine Dolde, und ich rieche diesen Tag.) Her mit dem Beil. Ich riss es ihr aus der Hand und hämmerte damit auf den Deckel. Erst mit der stumpfen Seite, und noch ein Hieb mit der scharfen. Das Tropenholz splitterte. Meine Mutter sprang mir auf den Rücken.
»Ich enterbe dich! Du wirst enterbt!«
Sie schlug mir die Fingernägel in Nacken und Hals. Die Tigerin.
Meine Lunge fiepte.
Sie gewann.
Die Truhe wurde wieder ins Haus gezerrt.
Tuch drüber.
Einen Monat nach dem Tod meines Vaters machte meine Mutter Großputz. Sein Geruch musste weggeschrubbt werden, sein Geist verscheucht. Sie schleppte die Matratze seines Krankenlagers nach draußen und vermöbelte sie tüchtig mit dem Teppichklopfer.
Rasierpinsel, Nagelbürste, Zahnbürste, Kleiderbürste – ins Feuer mit ihnen, sie mussten brennen, geläutert werden und die Reste in einem tiefen Loch begraben – kein Haar, kein Schüppchen von ihm durfte zurückbleiben. Nach einem Tag Durchzug, der die Fenster in ihren Haken klappern ließ, entzündete sie eine Kerze, und wir schritten zusammen dreimal mit einem Zitterflämmchen um das Haus, um so die negativen Kräfte, die uns umzingelten, endgültig zu veröden. Von nun an würde seine Wut unsere Haustür nicht mehr finden können und sein Geschrei uns nicht mehr aus dem Schlaf reißen. So trieb sie meinen jähzornigen Vater aus – mit Feudel, Schrubber, Teppichklopfer und Zündhölzern. Und indem sie den Tisch so nah an die Wand rückte, dass nur noch sie am Kopfende Platz hatte.
Danach war ich an der Reihe, der Sohn, infiziert von der bösen Galle meines Erzeugers. Eine Reinigungsdiät sollte mir helfen: Rohkost, Weizenkeime, mit Bierhefe verstärkter Yoghurt, Gurkenbouillon, geriebene Kurkumawurzel und literweise Rote-Bete-Saft. So spülte ich mein Gedärm, pisste mich rein und wuchs über mein niederes Ich hinaus.
Nach dem Körper der Geist. Mir wurde eine neue Lebensweise auferlegt. Um meinen Jähzorn zu zügeln, vertiefte sich meine Mutter in den schriftlichen Kurs Praktische Hypnose. Negative Gedanken vertreiben, überall und jederzeit einsetzbar. Anhand von Anleitungen wollte sie versuchen, mein Unterbewusstsein zu Gelassenheit zu bewegen – eine bewährte Methode in ihrem okkulten Freundinnenkreis. Der Energiefluss zu meinem höheren Selbst war blockiert, und wenn ich nur meinen Geist öffnete, kämen die positiven Energien ganz von selbst wieder zurück.
Beim Essen redete sie Kurssprache: Der magnetische Zentralblick ist der Sender des Verstands …
Nach einer Woche des Studierens gebot sie mir, mich ihr direkt gegenüber zu setzen, und legte mir die Hände feierlich auf die Schultern. Mich zu sträuben war zwecklos, ich war es gewohnt, ihr Versuchskaninchen zu sein. Bevor wir zu einer beruhigenden Hypnose übergingen, mussten zuerst unsere Energieströme ineinanderfließen – je weniger Widerstand, desto besser. Ihre Ärmel kitzelten mich an der Wange. Das Hypnoseheft lag neben ihr auf dem Tisch. Mit Holzkohle malte mir meine Mutter einen Punkt auf die Nasenwurzel. Ich sah zu ihr auf und zählte die Fältchen um ihren Mund, die Furchen, die Sorgen. Sie gab sich größte Mühe, mich »tief und innig« anzusehen, aber mittendrin driftete ihr Blick in die Anleitungen.
»Deine Augen sollten sich jetzt von selbst schließen.«
Ich kniff sie fest zusammen.
»Denk positiv«, sagte sie mit schwerer Stimme.
Ich gab mir größte Mühe, an Bumsen zu denken – ein Flüsterwort aus der Schule.
»Lass dich fallen.«
Ich biss die Zähne zusammen, konnte das Lachen nicht verkneifen.
Emsiges Rascheln. »Du guckst mich an, das darfst du nicht.« Der magnetische Zentralblick ließ ihre Augen tränen, aber bei mir tat sich nichts. »Pure Widerspenstigkeit.«
Aber bei der Katze klappte es. Tiere waren sehr leicht zu hypnotisieren, Vögel, Schlangen, »alles wissenschaftlich erwiesen«. Sie hatte im Garten eine Maus aus den Krallen der Katze befreit – allein durch Anstarren. Die beleidigte Unschuld kam sogar ganz gegen ihre Gewohnheit und gab demütig Köpfchen. Meine Mutter hätte gleich beim Zirkus anheuern können.
Neue Bücher kamen auf den Tisch: über Heilmagnetismus, positives Denken, das sympathische Nervengewebe. Ihr Lesen wurde zum Studium. Sie machte Notizen und tippte sie nach dem Abendessen auf einer lindgrünen Schreibmaschine mit zweifarbigem Band ab. Nach ein paar Tagen hatte sie die Diagnose: Ich ließ mich zu leicht ablenken.
Wir verlegten uns auf Konzentrationsübungen. Uhr auf den Tisch und nur den Sekundenzeiger anschauen, sich nur auf diesen einen Zeiger richten und jedes Mal, wenn die Gedanken abirrten, einen Strich machen. Man musste lange üben, um unter fünf Striche pro Minute zu kommen; wenn es gelang, war man auf dem richtigen Weg. Sie lehrte mich, in die Stille hineinzugehen, indem ich mich nur auf mein Atmen konzentrierte und so die Geräusche ausblendete. Praktisch beim Hausaufgabenmachen und beim Lesen. In dem selbstgeschaffenen Kokon aus Stille war es nur ein kleiner Schritt, Dinge zu sehen, die nicht da waren. Jetzt, wo ihre Töchter aus dem Haus waren – zwei von ihnen hatten sogar das Land verlassen –, sah sie die Gelegenheit gekommen, auch mich in die Kunst des Schwebens einzuweihen.
Sie lehrte mich Kartenlegen, wir schlugen zusammen im I Ging nach und gingen wöchentlich meine Zukunft durch. Bedenklich, sehr bedenklich, aber noch war nicht alles verloren. Sie zog mich immer tiefer in ihre Welt hinein. Ich wollte es und wollte es nicht. Sie hielt mich in ihrem Bann. Wir begannen zusammen zu beten. Nein, wir quatschten nicht mit Gott, dafür brauchten wir keine Bibel. Gott war in uns. Wir beteten um Kraft. Ich, um mich zu wappnen, gegen Lust und Ungeduld, gegen meine dünnhäutige Wut und gegen Bosheit und Klatsch. (»Wir sind anders, sei stolz darauf!«) Und in dieser Wappnung musste man Frieden suchen, mit sich, mit seinen Nächsten. Das klingt widersprüchlich, aber damals nicht (und ich erkenne noch immer die Logik in ihrer Unlogik).
Vor dem Schlafengehen pressten wir unsere Fingerkuppen aneinander, eine nach der anderen. Ich spürte die Wärme ihrer trockenen Hand und die Schrunden von der Gartenarbeit. Unsere Finger atmeten – »Friede ein, Friede aus« –, und so verbannten wir die negative Energie. Dann rief sie die Flüsse zu Hilfe, um unseren inneren Schmutz abzuleiten, das Wasser strömte in einen See, und um diesen See lag der Dschungel (den ich schwarz-weiß aus dem Fotoalbum kannte). Ich musste mir die orangerote Glut einer untergehenden Sonne vorstellen – Orange über viel Grün.
Während sie das Loblied auf ein friedliches Leben anstimmte, sah ich auf meinem Schlafzimmerschrank den Fluchtkoffer liegen – verschossenes Segeltuch, mit Kupferecken, die glänzten, wenn das Mondlicht durch den Vorhangspalt hereinblinzelte. Gefüllt mit Notgepäck, mit Sunlichtseife, Desinfektionsalkohol für wenn der Krieg kam. Erwähnte der Nachrichtensprecher im Radio sowjetische Panzer in Ungarn, dann holte sie den Koffer vom Schrank und füllte ihn mit verderblicheren Gütern: Kakaopulver, Traubenzucker, Aspirin, Lebertran, einer Dose Nivea. »Da denkt man nicht als Erstes dran, aber der Krieg ist schlecht für die Haut.«
Sie impfte mir unsichtbare Panoramen ein, fruchtbar, üppig und sicher: »Grün, grün. Orange, orange.« Aber ich, das Versuchskaninchen, sah ein anderes Grün: meine aus einer Militärjacke geschneiderte kurze Hose, kratzig und steif, bis zur ersten Schneeflocke zu tragen, um mich abzuhärten. Bereit für die Russen. Gestählt für Sibirien. Und ich sah ein anderes Orange: das der Medaillenbänder für Tapferkeit, Besonnenheit und Treue für Königin und Vaterland, die mein dekorierter Vater nach einer schlaflosen Woche mit den Zähnen zerrissen und mir nach einem irren Salut auf den Schlafanzug geheftet hatte. Meine Mutter hörte keinen Schrei. Sie lief aus dem Zimmer, fort vom Blut auf meiner Brust – erfüllt von einem höheren Frieden.
Zermalme die Wut. Lechze nach Läuterung. Lass das Positive triumphieren. Ramm es hinein. Wir spielten Hammer und Amboss und fanden uns in der Kraft des anderen.
Mit neunzehn verließ ich mein Elternhaus und leckte die Wunden der Mutterliebe. Seither blieb ich auf Distanz, denn wenn ich etwas von ihr gelernt hatte, dann sicher das. Sie sträubte sich nicht, ihre Pflicht war erfüllt – ich war geformt. Außerdem handelte ich völlig in Übereinstimmung mit meinen von ihr erstellten Horoskopen. Der Pfeil des Schützen schießt am eigenen Hof vorbei. Ab und zu ein Anruf, das reichte, und dreimal im Jahr ein Besuch.
Nach ihrem fünfundachtzigsten zog meine Mutter in einen altmodischen Ruhesitz unweit der Küste. Vielleicht kam es durch meinen Umzug nach Paris oder durch die vielen Reisen, aber sie in ihrer neuen Bleibe zu besuchen, schaffte ich fast nie, und ich fühlte mich auch nicht schuldig; die wenigen Male, die ich kurz bei ihr vorbeischaute und sie mir lauen Tee vorsetzte, sah sie kaum von ihrem Buch auf. Ich schien zu stören. Sie kam prima allein zurecht. Zwei Töchter begraben und eine im Ausland – nie eine Klage. (»Nein, wirklich, ihr braucht nicht zu kommen, ich hab selbst viel zu viel zu tun. Schaut einfach, wie’s passt.«) Klar im Kopf und nach eigener Aussage »nicht totzukriegen«. Wer hat schon so eine tolle Mutter. Nein, Ansprüche stellte sie keine. Bis zu dem Tag, an dem sie mich anrief: »Wann bist du wieder mal in Holland? Du musst was für mich tun.«
Sie hatte sich nicht groß verändert, als sie mir die Tür öffnete, war höchstens ein bisschen geschrumpft. Sie hinkte gottserbärmlich, schwankend suchte sie am Türgriff und am Handschuhschränkchen Halt. In der Ecke der hall stand ein Rollator – die Scheuerleisten und der alte Perser im Wohnzimmer zeigten Spuren schleifender Räder. Kein Stuhl war leer, außer ihrem, einem Thron aus Holz, mit einem welken Kissen – jeder Sitzplatz war von Büchern und Zeitungen besetzt. (»Besser ein Buch zu Gast als ein Mensch« – einer ihrer Lieblingssprüche.) Der große Esstisch war übersät mit Büchern und Papieren, die Hälfte davon aufgeschlagen und mit aufgerissenen Briefumschlägen gespickt, Stiftbecher standen links und rechts von ihrem Stuhl, ein Obstkorb, eine Jadeschale, gefüllt mit Halbedelsteinen, und eine Hasenpfote gegen Rheuma – in Griffweite ein Knotenstock, krumm wie ein Säbel. Er war ein Erbstück, aus eigenem Baumholz geschnitzt, in meinen Knabenjahren ließ sich damit noch gut schlagen, doch seit dem Umzug ins Seniorenheim diente er vor allem als Stampfstock gegen taube Nachbarn, die den Fernseher zu laut dröhnen ließen – so war es bei früheren Besuchen. Jetzt diente er ihr beim Gang in die Küche. Sie ging gebeugt, sah ich, und hielt beim Gehen einen dicken Bauch in Schach – etwas, wie eine Geschwulst. »Was hast du denn da?«, fragte ich. »Nichts, die mästen mich hier.« Ich wollte sie stützen. Nein, kein Arm. »Tapfer sein, tapfer sein.« Ihr Stock machte Überstunden (»Ein guter Stock kennt keinen Ruhestand«). Stolz zeigte sie mir, wie man mit der Spitze eine zu Boden gefallene Zeitung aufheben konnte, ohne sich zu bücken, wie sich ein zwischen Kühlschrank und Fliesenwand gefallener Löffel herausschieben ließ und wie man mit diesem dritten Arm das hohe Küchenfenster öffnen und schließen konnte. Siehst du wohl, sie brauchte niemanden! Auch wenn die Teekanne, die sie von der Spüle schlurfend zum Tisch trug, garantiert ein bisschen Spüli vertragen hätte, das Wedgwood-Porzellan – so alt wie sie – war schwarz von den Teelichtern, und an der Tülle klebte der Wasserstein … aber, ein Glück, der Tee war lau. Immer lau. Ich hatte schon befürchtet, sie hätte ihre alten Gewohnheiten abgelegt.
Das Tischtuch war fleckig. Vor allem vor ihrem Sitzplatz konnte ich sehen, wo sie sich hochstemmte, wo sie das Platzdeckchen auffaltete, wo sie täglich die Tarotkarten legte und kupferne I-Ging-Münzen warf – auch die Zukunft hinterlässt Spuren. Vor allem war es ihr Leseplatz, mit Verschleißspuren von Spannung und Langeweile: Sie las noch immer drei, vier Bücher pro Woche. Auch das war eine liebe Gewohnheit.
Nach einer Runde um den Tisch bestieg sie mühsam ihren Thron, legte das Kissen vor ihren Bauch und gebot mir, mich »doch endlich mal« zu setzen. Ich räumte einen Stuhl neben ihr frei – »nein, nicht neben mir, gegenüber, und schau mich nicht so an.«
»Ja, Mammie.«
Sie zupfte ihre schafwollene Weste zurecht und richtete die Kette auf ihrer Brust – sorgfältig aus ihrer Sammlung ausgewählt. Jedes Leiden, jeder Tag, jede Aktivität brauchte einen speziellen Stein. Diesmal hatte sie eine Halskette aus versteinertem Ostseeharz herausgefischt, obwohl sich das Goldgelb mit dem Rot ihrer Bluse biss: Bernstein war ihr Reisestein.
Und das wollte sie, reisen. Seit Wochen trug sie die Idee mit sich herum, und jetzt musste es heraus, ohne Wenn und Aber: »Ich will mein Elternhaus noch einmal sehen. Und zwar bald.«
Sie polierte den Bernstein. »Die Zeit drängt.«
»Was ist denn los?«, fragte ich besorgt.
»Nichts, aber meine Hände sehnen sich nach Lehm, und ich möchte so gern auf den Deich.«
»Aber du kannst kaum gehen.«
»Dann schiebst du mich eben.«
»Und damit kommst du jetzt an. Du wolltest doch nichts mehr von den Bauern wissen?«
»Ich träume vom Fort. Die Soldaten sind auf unseren Hof marschiert.«
»Krieg«, seufzte ich, »ist ja mal ganz was Neues.«
»Es wird meine letzte Reise.«
»Und wieso?«
»Es wurde mir angekündigt.« Sie sah mich triumphierend an, fast nötigend.
»Angekündigt, angekündigt, von wem denn, vom Arzt?«
»Nein, Stimmen, alte Stimmen.« Ach, wann war sie zum letzten Mal da gewesen, vielleicht vor fünfzig, sechzig Jahren?
»Schau mal, neue Schuhe, extra angeschafft.« Zwei Klettverschlusstreter quietschten unter dem Tisch. Ich schlug vor, das nächste Mal meinen Laptop mitzubringen und mit Google Earth über dem Bauernland zu schweben. Und Lehm konnte ich überall ausgraben.
Ihr Gehstock schlug auf den Tisch. »Nein, du verstehst das nicht, dort liegen Schritte von mir, mein frühestes Ich, mein erster Krieg …« Sie brach den Satz ab und blätterte ungestüm durch ihren Kunstkalender. Der Reisetag war bereits angekreuzt: ihr Geburtstag.
»Aber das ist ja schon bald, da kann ich nicht.«
»Na hör mal, einen Tag für deine alte Mutter. Ich werde achtundneunzig, verflixt noch mal.«
Wir kabbelten noch ein bisschen herum, aber ich hatte nichts zu melden (»Was machst du dort eigentlich, in Paris?«). Ein besserer Reisetag war auch auf absehbare Zeit nicht in Sicht. Sie hatte die Ephemeriden genauestens daraufhin nachgeschlagen – das hellblaue, kleine Buch mit dem täglichen Gestirnestand lag als Beweis auf dem Tisch –, ein Rollstuhl war schon organisiert.
Jahre war sie nicht von ihrem Tisch wegzuprügeln, wollte nichts von einem Ausflug wissen, und jetzt hörte sie nicht auf davon, wie wir fahren sollten, und wie lange und wie weit. Ja, wir würden uns einen schönen Tag machen, fern von unerbetenen Festlichkeiten, dem Glückwunschgeschwätz der Direktorin und dem Geburtstagskuchen im Aufenthaltsraum.
»Du denkst doch nicht, dass ich meinen Geburtstag unter lauter Alten feiere.«
Es nieselte, als ich sie eine Woche später abholte. Die Seniorenresidenz roch nach Kaffee, die Morgenzeitungen lagen aufgeschlagen auf dem Lesetisch neben dem Empfang, irgendwo, weit weg, hörte man ein Klavier, und Damen mit Betonfrisur schoben behende ihren Rollator zum Aufenthaltsraum – ihre Steuerkünste rührten mich, einst waren sie rollernde kleine Mädchen gewesen, man sah es an ihren Pranken. Aber wo waren die Männer, wurden hier nur Witwen verwahrt? Ich hatte meine Mutter schon einmal danach gefragt. »Frauen halten mehr aus«, gab sie zurück, »das weißt du doch?« Sie machte sich immer über die Männer lustig: »In der Gefangenschaft gingen sie auch als Erste drauf.« Ich dachte an meine Kondition und nahm die Treppe.
Im oberen Flur war es schwül und beengt, alle Fenster waren geschlossen. Einige Bewohner hatten Bilder in ihren Vorraum gehängt, viel Landschaften, Kunst, mit der man niemand beleidigen konnte, außer den guten Geschmack – Visitenkarten der Anständigkeit. Auf jedem Fußabstreifer stand ein kleiner Müllsack, offenbar wurde der Abfall an diesem Morgen abgeholt. Ein säuerlicher Geruch hing vor den Türen. Tropfenfänger, der Geruch des Alters.
Die Wohneinheit meiner Mutter ging auf den Garten hinaus. Man musste Remonstrant sein, um so schön wohnen zu dürfen, eine Hürde, die sie mit links nahm: Sie war Mitglied von mindestens fünf Religionsgemeinschaften, obwohl sie nie zur Kirche ging. (»Um Gott zu finden, brauche ich keinen Pfarrer.«) Die Tür war angelehnt, sie saß bereits in der Diele und erwartete mich, reisefertig, in ihrem Rollstuhl vom Heim – Mantel zugeknöpft, Tasche auf dem Schoß, Stock in der Hand. Ich brauchte sie nur noch hinauszuschieben, bitte durch den Lieferanteneingang und nicht am Empfang vorbei – sie wollte einen großen Bogen um die Direktorin machen.
Der Rollstuhl passte kaum in den Kofferraum, die Mutter ins Auto zu verfrachten war noch vertrackter. Der Sicherheitsgurt drückte. »Was für ein Unsinn, das ist ja die reinste Zwangsjacke.«
»Es ist Vorschrift, Mammie.«
»Ich erklär das schon dem Polizisten.«
Erleichtert fuhren wir vom Parkplatz. Torte und Reden entwischt. So, jetzt konnte sie los und ledig Geburtstag feiern, im klobigen Tweedmantel, Spazierstock zwischen die Knie geklemmt und Tasche auf dem Schoß.
»Leg den Stock auf den Boden.«
»Nein.«
»Dann stell die Tasche runter.«
»Nein.«
»Und nimm den hässlichen Schal ab.« Na gut, weil du keine Ruhe gibst.
Nach einer Stunde knöpfte sie endlich ihren Mantel auf und breitete ihn halb über die Gangschaltung. Sie konnte sich nicht sattsehen an den Verkehrsschildern über der Straße und zupfte mich ständig am Arm, um mich auf verwirrende Autobahnkreuze hinzuweisen. Wir fuhren an neuen Vorstädten vorbei, an Industriegebieten, an Reihen aus Beton und Glas, nirgendwo noch ein Stückchen freier Horizont. »Es ist schon arg voll geworden«, sagte sie enttäuscht.
Nach Jahren in Paris musste auch ich mich an die bauwütigen Niederlande gewöhnen. Der Ballungsraum Randstad im Westen war fast geschafft, nur noch ein paar Kilometer Lärmschutzwall drum herum, dann konnte der Deckel drauf. Ich hatte gerade in der Zeitung gelesen, dass die Niederländer nach den Dänen das glücklichste Volk in Europa seien. Die Franzosen hatten viel schlechtere Ergebnisse, die schluckten massenhaft Beruhigungspillen.
»Oft bleibt einem nichts anderes übrig, als sich glücklich zu lügen.« Meine Mutter sagte es leise, fast nebenbei, sie suchte etwas in ihrer Tasche.
»Bist du glücklich?«, fragte ich. Sie drehte sich mir erstaunt zu. »So was fragt man eine Mutter nicht.«
»Und einen Sohn?«
»Du hast doch nichts zu klagen?«
Sie erwartete keine Antwort, der Inhalt ihrer Tasche war wichtiger, ein brauner Ledersack, an dem die Katze noch ihre Krallen geschärft hatte – eine Katze, die seit zwanzig Jahren tot war. Wo war diese verdammte Karte nur abgeblieben?
Puh, da ist sie ja, nach langem Wühlen kam sie ans Licht. Sie faltete sie über dem Knie und dem Lenkrad auf. Nicht ein Teilstück, das ganze Land, voll roter Schlängelstraßen, die sie vor sechzig Jahren mit einer Solex befahren hatte. Der Abschlussdeich war gerade noch drauf, aber die neuen Polder und die Deltawerke hatten es nicht mehr geschafft. Ich stieß Südholland von mir weg. Ihre Finger suchten die Straßen von einst (»Wo fahren wir gerade? Wo sind wir?«) – sie hatte eine andere Karte im Kopf.
Wir rasten über eine Brücke, kilometerlang (»Das hieß bei uns Meer, zu meiner Zeit war das eine Tagesreise«), und nahmen die neue Straße nach Süden (»quer über unser Land, verdammt noch mal«).
Wir bogen ab und fuhren langsamer durch verschlafene Dörfer, oft nicht breiter als ein morastiger Weg mit links und rechts ein paar Landarbeiterhäuschen. Die Zuckerrüben reckten schon fleißig die Köpfe, da und dort lagen Felder brach, Wasser glänzte in den Furchen. Ja, manchmal musste der Boden ruhen, wusste meine Mutter. Ein schmaler Weg, dunkel glänzend vom nassen braunen Lehm, führte uns an einem Grenzstein mit verwittertem Wappen entlang, das Kraut schlug gegen die Räder, aus Respekt vor den Pflanzen musste ich die Geschwindigkeit drosseln (ein Befehl!), Schritttempo musste ich fahren. Aber ich konnte nicht schalten, wieder war ihr Mantel im Weg, und nach einem Rippenstoß und Herumgefuchtel mit dem Stock ragte plötzlich eine grüne Wand auf – Erdwälle, verfallene Festungsanlagen und ein Kopf aus Stein. Schau, das war das Fort – hoch war es, damit man Angst bekam. Sie versuchte, die Karte zu falten und gleichzeitig hinauszusehen. Aufgeregt knüllte sie den Polder zusammen. Mein Gott, war das verfallen. Sie deutete auf zwei leere Augen. Dort, dort hatte früher der Lauf geschwenkt, der von der IJzer, so hieß die Kanone. Zu ihrer Zeit knallte man noch, um Eindruck zu schinden. Zu ihrer Zeit zeigte der Lauf nach Süden, um die vorstoßenden Deutschen hinter der belgischen Grenze abzuschrecken. »Wir mussten unsere Neutralität schützen. Die Niederlande waren feige und unparteiisch, aber der Krieg konnte im Nu hier sein.«
Sie vermisste die Flaggen, die Fahnen am Tor, und die schönen Weiden: alle umgehackt. Zu ihrer Zeit … Sie wollte das Beifahrerfenster öffnen. (»Wie geht das auf?«) Ich ließ es hinunter, ein Schwall Nieselregen schlug herein, der Wind plättete ihr dünnes Haar, aber sie atmete lachend den Dunst ein von der Erde und vom Meer hinter dem Deich. »Riechst du das?«
Ihr Vater wirtschaftete zwischen Rüben und Soldaten, aber die Soldaten sangen nicht mehr. Im Ersten Weltkrieg waren Aberhunderte im Fort. Männer, die ihr zuwinkten, die für sie die Zugbrücke herunterließen, wenn sie dem Kommandanten vor Einbruch der Dunkelheit eine Flasche Schnaps brachte, mit den Empfehlungen ihres Vaters. Einmal holte sie den Sanitäter, als sich ein Knecht schlimm verletzt hatte, und an ihrem achten Geburtstag bekam sie vom Heerlagerschneider einen Matrosenanzug, und die Köchinnen kochten Suppe für die belgischen Flüchtlinge. Sie hatten daheim eine ganze Scheune voll. Meine Mutter schwatzte immer weiter, erfüllt von ihrer Kindheit auf dem Land. Ich hatte sie noch nie so über den Polder reden hören. Komisch auch, wie ein alter Krieg Kontur bekam, während sie diese Zeit in früheren Erzählungen über ihre Familie als vages Abenteuer abgetan hatte.
Ein Knopfdruck, und die Fenster summten wieder zu. Wir fuhren langsam am Fort entlang, auf der Suche nach ihrem Elternhaus – es musste in der Nähe sein, sie war ein Kind gewesen, ein junges Mädchen, als ihr Vater den ganzen Kram verpachtete und sich in sein hohes Haus neben der Kirche zurückzog –, weit weg von Morast und Mist.
Schau, dort, dort, über den Deich war sie gelaufen, als er noch leer war und gerade, und nicht so breit vielleicht. Jeden Tag sechs Kilometer zur Schule, auch bei Schnee. Auf Holzpantinen. Damit haute sie den katholischen Jungs auf den Kopf. Und wenn es irgendwie ging, eine halbe Pfanne Aal zum Frühstück, nie mit leerem Magen losgehen. Ihr Vater fing sie eigenhändig in den Wassergräben um den Hof. Das Lebendhäuten erledigten sie zusammen – es macht einen stark.
Sie hatte noch immer stramme Waden vom Laufen, stolz waren Kinn und Hals. Ich suchte das Landleben im Craquelé ihrer wettergegerbten Haut, in den tiefen Furchen um ihren scharfen Mund. So nah hatte ich seit Jahren nicht neben meiner Mutter gesessen. Ich wollte sie anfassen, aber sie rückte näher zur Tür und stellte ihre Tasche zwischen uns.
Sie sah es. Sie sah es nicht.
Meine hochgezogenen Knie streiften ihren Mantel, in den Kurven auf den abgesackten Polderwegen war Kontakt unvermeidlich. Wir suchten das Gleichgewicht, unsere Schultern berührten sich, erschraken, und als ich meine Arme neben ihren sah, unsere grobschlächtigen Arme, wurde mir einmal mehr bewusst, dass ich ihren Körperbau hatte – die Bauernknochen. Wie gedrungen wir auch waren, auf dieser Reise wurden wir beide zu Kindern …
Ich schlich wieder durchs Haus meines Großvaters – groß und imposant, mit einer breiten Treppe und Geheimzimmern, wo Stühle und Sofas mit Laken verhängt waren. Mein Großvater lachte selten. Nach der Geburt seines Sohnes trauerte er ein Leben lang seiner im Kindsbett gestorbenen Frau nach, eine für mich unbekannte Oma, von der ich nie je ein Foto gesehen hatte.
Großvaters Horizont war so starr wie der Deich. Ein feststehender Rhythmus bestimmte sein Tun und Lassen: kalte Dusche bei Sonnenaufgang, Radionachrichten um zwölf und um sechs, warme Mahlzeit zu Mittag, kleine Runde um drei Uhr, und Punkt fünf der erste Kurze. Im Sommer wohnte er auf der Schatten-, im Winter auf der Sonnenseite. Der Umzug war im Kalender angekreuzt. Und immer ging er in dreiteiligem Schwarz. Geharnischt durch die vier R in seinem Leben: Regelmäßigkeit, Ruhe, Reinheit und Rendite – ein echter Kuponschneider. Er hatte Anteilscheine an allem und nahm nirgendwo Anteil. Auf dem hohen Holzstuhl (den später seine Tochter erben sollte) las er rauchend die Zeitung, in einem totenstillen Haus, ohne mich eines Blickes zu würdigen, doch wenn ich es wagte, mit dem Fuß zu wippen, hörte ich ihn knurren. Ich durfte mich nicht rühren. Über seinem Kopf lauerte ein gehässiger Frauenkopf von Rembrandt: Das Bild für den Sommer war noch gruseliger als das für den Winter.
Erst später begriff ich, dass diese furchterregenden Bilder Kopien aus dem neunzehnten Jahrhundert waren, aber sie galten als echt. Irgendwann würden wir den ganzen kostbaren Krempel erben und nicht nur von ihm: Jedes Jahr wurde ich zu zwei alleinstehenden Tanten mitgeschleppt, denen ich mich von der besten Seite zu präsentieren hatte, und meine gewienerten Schuhe, den sauberen Kragen und meine guten Manieren. »Sag nicht oje, für sie ist das ein Fluch.« Schade, dass sie mütterlicherseits so schrecklich alt wurden.
Wir erkundeten den Horizont des Polders, flach und weit, mit Reihen von Pappeln in den Kulissen. Wo stand denn dieses Elternhaus? Konnten wir nicht auf den Deich, um weiter zu sehen? Wir suchten nach einer Treppe oder einem Aufgang und hielten an einer Traktorspur. Es fisselte noch immer, laue Spritzer, doch das hielt uns nicht davon ab, den Rollstuhl aufzuklappen. Die Tasche musste mit. »Her mit dem Ding.« »Nein!« Wie bekam ich sie dort hinauf? Sie lehnte sich nach hinten, schaute zu den grauen Wolken, und die Tropfen liefen ihr über die Wangen. Gut für die Haut. Früher drehte sie sich tanzend im Regen, jetzt drehten sich die Rollstuhlräder. Das Gras glitschte.
Ein Bauer auf einem Traktor mit Mistanhänger sah uns herumstümpern und brachte die Rettung, indem er Rollstuhl samt Mutter hinaufschleppte, ohne zu keuchen, obwohl auch er nicht mehr der Jüngste war. Oben auf dem Deich stieg sie aus und benutzte den Mann als Spazierstock. Er lachte darüber: »Ich hab auch so ’ne Mutter.« Sie warf einen vorsichtigen Blick nach unten und zeigte auf die Traktorspuren im Lehm. »Wir hatten früher einen roten McCormick, den ersten Rübenroder im Polder.«
»Ja, das hat bestimmt was gebracht«, sagte der Bauer, »in der Erntezeit hat man ja immer zu wenig Hände.« Er sprach den Dialekt meines Großvaters, aber seine Stimme war leise, freundlich, und er trug eine Jeans – kein Mann der Vatermörder und pfaffenschwarzen Strümpfe.
Der Acker zog, meine Mutter bückte sich vor, auf seinen Arm gestützt, als wollte sie zum Boden sprechen: »Der McCormick hat grober geköpft, echt, das hat viele Rüben gekostet. Die Knechte und Mägde waren an die Messer gewöhnt und die Köpfschippe, als Kind bin ich in ihren Fußstapfen gelaufen.«
»Ja, ja, aber sie standen schon den ganzen Tag mit krummem Buckel.«
Menschen oder Maschinen, sie wurden sich nicht einig. Die letzte Ernte wurde durchgekaut, der Zuckerpreis, der Winterschaden und der verschlammte Weg nach der Rübenkampagne. Die beiden verstanden sich. Meine Mutter sprach mit Akzent, ich hatte nicht einmal gewusst, dass sie das konnte. Die weichere Aussprache gab ihr wieder ein Lächeln.
Mit Kennerblick betrachteten sie das wogende Rübenkraut und verfolgten einen Krähenschwarm bis ans Ende des Ackers. Meine Mutter zeigte auf einen Bauernhof, hinter einem Pappelhag versteckt. Die Fassade war weiß verputzt, aber das Dach … Sie war geschrumpft, war das früher nicht größer gewesen? Aber wer sonst hatte so ein breites Dach, höher als der Deich. Ach, das Fenster im Obergeschoss gab es ja auch noch. Ja, das musste ihr Elternhaus sein. »Wenn ich früher eine Kieke vors Fenster stellte, konnte ich das Meer sehen und die braunen Segel der Kutter.«
Der Bauer legte seinen Arm um sie und schob mich sanft beiseite. »Jetzt sieht man vom Fenster aus die Coasters fahren.« Er strahlte.
Meine Mutter klatschte vor Verblüffung in die Hände. Kannte er das Haus denn von innen?
Na und ob, er wohnte schließlich dort, er war der Enkel des ersten Pächters!
Meine Mutter trat einen Schritt beiseite und betrachtete ihn noch einmal genau. Verdammt, das spitze Kinn, die hohe Stirn: ein echter Hopstake.
Das Zuckerland war klein, der Polder war klein. Namen fielen, von Nachbarn, entfernten Onkeln, Tanten und Cousins, die mit Cousinen verheiratet waren. So blieb das Land in einer Familie. Auch die Pächter hingen am Land, Generation auf Generation, bis sie Geld leihen und es kaufen konnten. »Zins für Stolz«, sagte der Bauer.
Mein Großvater kam zur Sprache, sein Name hatte im Polder noch einen Klang. Der Zähe wurde er genannt, jung verwitwet, und er schwamm in Land. Der Bauer machte eine ausholende Armbewegung, bis weit hinter den Schlafdeich. Solche Großbauern gab es nicht mehr. Sein Vater hatte zweimal im Jahr zum Hohen Haus (ich hörte die großen Anfangsbuchstaben in seiner Stimme) gemusst, um die Pacht zu bringen, ins Prunkzimmer, für jeden Hunderter ein Klarer. Pachttag war Blautag. Er kam immer mit Geschichten zurück.
»O ja?« Meine Mutter sah verdrießlich drein.
»Erster Pächter, da gehört man schon fast zur Familie«, sagte der Bauer.
So war das. Und ich stand daneben und konnte nicht mitreden, obwohl ich einen Bauernnamen trug. Dieser Mann an ihrem Arm hätte ihr Sohn sein können, so vertraut wie sie da gingen. Die Verzweiflung meiner Knabenjahre schlug wieder zu.
Der Idiot im Bade.