Grundrechte-Report 2014
Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland
Herausgegeben von Till Müller-Heidelberg und Elke Steven und Marei Pelzer und Martin Heiming und Heiner Fechner und Rolf Gössner und Ulrich Engelfried und Sophie Rotino
FISCHER E-Books
Redaktion: Ulrich Engelfried, Heiner Fechner, Martin Heiming, Martina Kant, Till Müller-Heidelberg, Marei Pelzer, Sophie Rotino, Elke Steven, Martin Stößel
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Umschlaggestaltung: Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg
ISBN 978-3-10-400239-2
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ISBN 978-3-10-400239-2
Namen geändert
Vorwort der Herausgeber
Das Ausmaß der Überwachung durch US-amerikanische und britische Geheimdienste haben sich viele nicht vorzustellen vermocht. Erst die mutigen Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden haben die »globale Massenüberwachung« – wie im Einleitungsbeitrag des diesjährigen Reports zutreffend formuliert wird – zutage gefördert. Was Datenschützer seit vielen Jahren, auch im Grundrechte-Report, beklagen – nämlich die allzu große Bereitschaft vieler, mit ihren Daten sorglos oder gar naiv umzugehen –, traf offenbar auch auf die Bundesregierung zu. Die Herausgeber des Grundrechte-Reports sehen sich indes in ihrer Kritik an Überwachungsstaat und Umtrieben der Geheimdienste bestärkt. »Wir brauchen eine breite gesellschaftspolitische Debatte über Transparenz, Kontrolle und Grenzen der Überwachung in einer Demokratie, über Existenzberechtigung und Legitimation geheimer, unkontrollierbarer staatlicher Institutionen« lautet das Resümee unseres Autors, der sich mit dem NSA-Skandal im Einleitungsbeitrag befasst.
In weiteren Beiträgen weist der Grundrechte-Report 2014 nach, dass die Überwachung der Bürgerinnen und Bürger durch »Verfassungsschutz« oder Polizei auch hierzulande nach wie vor an der Tagesordnung ist. Die alte Forderung nach Auflösung des Inlandsgeheimdienstes »Verfassungsschutz« bleibt hochaktuell. Der Grundrechte-Report befasst sich darüber hinaus in rund 40 Beiträgen mit den Bürger- und Menschenrechtsverletzungen des zurückliegenden Jahres und macht dabei deutlich, in welchen Bereichen staatliche Behörden Grundgesetz und Grundrechte immer wieder verletzen. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Proteste gegen staatliche Politik zunehmen. So demonstrierten Anfang November 2013 in Hamburg über 15000 Menschen für eine andere Flüchtlingspolitik, an unzähligen Orten gingen engagierte Bürgerinnen und Bürger gegen Nazi-Aufmärsche auf die Straße, Tausende solidarisierten sich mit den Opfern der europäischen Krisenpolitik. Wir begrüßen, dass in all diesen Protesten die Grundrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit mit Leben erfüllt werden. Dies ist für eine Demokratie geradezu ein Lebenselixier. Auf der anderen Seite stehen zahlreiche staatliche Repressionen und völlig unverhältnismäßige Polizeieinsätze, die an manchen Orten die Grundrechte praktisch ausgehebelt haben. Der Polizeieinsatz anlässlich der Blockupy-Demonstration in Frankfurt am 1. Juni 2013, bei dem unzählige Menschen durch das brutale Vorgehen der Polizei verletzt worden sind und eingekesselten Demonstranten der Zugang zu Rechtsschutz mutwillig verweigert worden ist, ist einer der Tiefpunkte in Sachen Versammlungsfreiheit im Berichtszeitraum.
Besonders von Grundrechtsverletzungen betroffen sind Asylsuchende und Migrant/innen. Während die zwei großen Bootskatastrophen mit über 500 Toten vor Lampedusa im Oktober 2013 die Öffentlichkeit schockierten, arbeitete die EU-Bürokratie in Brüssel hinter den Kulissen an weiteren Abschottungsstrategien. Statt zu verhindern, dass Jahr für Jahr Tausende Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer sterben, streiten sich die EU-Staaten über die Verantwortung für diese Schutzsuchenden. Aus menschenrechtlicher Sicht kritisiert der Grundrechte-Report, dass selbst die Flüchtlinge, die es nach Deutschland geschafft haben, kein Recht zu bleiben haben, sondern in Länder abgeschoben werden – wie Ungarn oder Bulgarien –, wo sie außer Elend und Obdachlosigkeit nichts zu erwarten haben. Wie bereits im letzten Jahr hat uns der grassierende Rassismus besonders beschäftigt.
Das unvorstellbare Versagen staatlicher Behörden bei der Aufklärung der NSU-Morde zeigt, wie viel noch getan werden muss, um rassistische Strukturen in Staat und Gesellschaft zu überwinden. Das Grundgesetz proklamiert den Sozialstaat – doch gilt er auch für Unionsbürger, die neu nach Deutschland kommen? Dies ist eine der Fragestellungen, die heutzutage nicht mehr allein nach deutschem Verfassungsrecht zu beantworten sind, sondern bei denen die durch die EU verbürgten Rechte für Unionsbürger beachtet werden müssen. In diesem Sinne lotet der Grundrechte-Report anlässlich eines vielbeachteten EuGH-Urteils die Reichweite des Grundrechtsschutzes durch die EU-Grundrechtecharta im Verhältnis zum deutschen Grundgesetz aus. Für die Herausgeber des Grundrechte-Reports steht fest: Die Verteidigung der Grundrechte darf nicht an den Grenzen Deutschlands, aber auch nicht an denen Europas haltmachen. Die Globalisierung des Überwachungsstaates führt zu neuen Herausforderungen für die Bürgerrechtsbewegung: Auch sie muss verstärkt in internationalen Zusammenhängen denken und agieren, weshalb der Grundrechte-Report als »alternativer Verfassungsschutzbericht« die globalen Entwicklungen verstärkt in den Blick nimmt.
Einleitung
Rolf Gössner
Globale Massenüberwachung untergräbt Völker- und Menschenrecht, Rechtsstaat und Demokratie
2013 geht in die Geschichte ein als ein Jahr, in dem eine neue, bislang unvorstellbare Dimension geheimdienstlicher Überwachung und Kontrolle bekanntgeworden ist, die Hunderte Millionen, ja Milliarden von Menschen in aller Welt betrifft. Dieses Thema und die öffentliche Diskussion darüber dominierten alle anderen Bürger- und Menschenrechtsverletzungen, die im Grundrechte-Report 2014 behandelt werden.
Im Juni 2013 sind erstmals Unterlagen veröffentlicht worden, die eine umfassende Ausforschung von Telefonaten, SMS, Internet, E-Mails und Sozialen Netzwerken durch den US-Auslandsgeheimdienst National Security Agency (NSA) und den britischen Geheimdienst Government Communications Headquarters (GCHQ) belegen. Die historisch einmaligen Enthüllungen über globale Massenüberwachung basieren auf geheimen Dokumenten, die der nach Russland geflüchtete Ex-NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden über die internationale Presse veröffentlichen ließ und weiterhin lässt – es handelt sich um ca. 60000 Geheimdokumente, von denen 2013 erst ein kleiner Bruchteil veröffentlicht wurde. Fast täglich werden neue Spähprogramme wie Prism, Tempora oder XKeyscore sowie Überwachungsaktionen und -objekte bekannt. Snowden spricht von der »größten verdachtsunabhängigen Überwachung in der Geschichte der Menschheit«. Weil er sie für menschenrechtswidrig hält, sah er sich gezwungen, die NSA-Dokumente der öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen.
Die rasante Entwicklung der Informationstechnologie machte diese nationale Grenzen sprengende Überwachungsdimension erst möglich. Wir stehen vor einer gewaltigen Herausforderung, die uns das digitale Zeitalter und eine globalisierte Welt aufbürden: Was sind Datenschutz und Privatsphäre, Berufs- und Betriebsgeheimnisse, Meinungs- und Pressefreiheit noch wert unter den sich verselbständigenden Bedingungen von BigData, automatisierter Totalüberwachung und digitaler Durchdringung ganzer Gesellschaften – und was die Grundrechte auf Kommunikationsfreiheit und informationelle Selbstbestimmung? Und können sich Staaten, Bevölkerungen, ihre einzelnen Bürgerinnen und Bürger dagegen noch wirksam schützen?
Deutschland ist das am stärksten überwachte Land der EU und war es, unter anderen technischen Bedingungen, bereits in Zeiten des Kalten Krieges – ein veritabler Überwachungsstaat, wie der Historiker Josef Foschepoth feststellt. Trotzdem rührt sich nur wenig Protest und Widerstand. Zwar zeigen sich viele Menschen besorgt angesichts der Ausforschung ihres Kommunikationsverhaltens durch ausländische Geheimdienste. Weil aber alle gleichermaßen betroffen scheinen, fühlt man sich in einer Art auswegloser Schicksalsgemeinschaft. Und es fehlt das Bewusstsein individueller Betroffenheit, weil man ja nichts spürt. Die digitale Durchleuchtung der Privatsphäre und ganzer Gesellschaften wirkt abstrakt, erzeugt Ohnmachtsgefühle und Resignation. Dabei stellt sie alle Betroffenen millionenfach unter Generalverdacht, führt zu massenhafter Verletzung von Persönlichkeitsrechten, stellt verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie in Frage.
Gemessen daran fielen die offiziellen Reaktionen auffallend zögerlich aus – und man fragt sich, warum die Bundesregierung den betroffenen Bürgern (und auch Unternehmen) so lange jeglichen Schutz verwehrte.
Nach und nach stellte sich heraus, dass nicht allein US-, britische und andere ausländische Geheimdienste in den globalen Massenüberwachungsskandal involviert sind, sondern dass auch deutsche Geheimdienste an dem Geheimverbund partizipieren. So arbeitet der Bundesnachrichtendienst (BND) mit der NSA intensiv zusammen: Er profitiert von überlieferten Daten und übermittelt Kommunikationsdaten aus Deutschland – etwa Verdachtsdaten aus der strategischen Kontrolle des Fernmeldeverkehrs ins und vom Ausland auf der Suche nach bestimmten verdächtigen Begriffen oder Stimmen, die in wechselnden »Wortbanken« gespeichert sind (§ 7a G-10-Abhörgesetz). Auch der Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« (VS) und der Militärische Abschirmdienst (MAD) gehören zum transatlantischen Datenübermittlungsverbund und zu den Nutznießern: Auch sie dürfen personenbezogene Verdachtsdaten nach den VS- und MAD-Gesetzen an Dienststellen der Stationierungsstreitkräfte und andere ausländische Stellen übermitteln. Die enge Datenaustauschpraxis basiert auch auf alten bilateralen Verträgen mit den Westalliierten und dem Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut (Artikel 3), die die Souveränität Deutschlands bis heute beschränken (vgl. Dieter Deiseroth in diesem Band, S. 28ff.). Ebenfalls eingebunden in die globale Geheimdienstarbeit sind große internationale Internet-Unternehmen wie z.B. Microsoft, Google, Facebook, deren Server und Kundendaten für Geheimdienste von höchstem Interesse sind.
Wie sich 2013 nach investigativen Recherchen von »NDR« und »Süddeutscher Zeitung« bestätigte, ist Deutschland integraler Bestandteil der US-Sicherheitsarchitektur und des »Kriegs gegen den Terror«. Von hier aus organisier(t)en die USA Entführungsflüge, Folter und Hinrichtungen von Terrorverdächtigen. Deutsche Agenten und solche alliierter Partnerdienste forschen verdeckt über die BND-Tarnbehörde »Hauptstelle für Befragungswesen« jährlich Hunderte Flüchtlinge und Asylbewerber aus – eine missbräuchliche Instrumentalisierung schutzsuchender Menschen. Ausgeforscht und gesammelt werden dabei auch kriegsrelevante Informationen, um verdächtige »Zielpersonen« ausfindig zu machen und mutmaßliche Terroristen mit bewaffneten Kampfdrohnen zu ermorden. Über solche extralegalen Hinrichtungen wird seit 2007 im AFRICOM-Regionalkommando der US-Streitkräfte in Stuttgart und auf der US-Militärbasis Ramstein entschieden.
Mit dieser engen deutsch-amerikanischen Kooperation dürfte die Zurückhaltung der Bundesregierung nach Snowdens Enthüllungen zu erklären sein. Angesichts bilateraler Abkommen, Partizipation und Duldung völker- und menschenrechtswidriger Strukturen und Aktionen hält man sich lieber bedeckt und beschwichtigt. Die (alte schwarz-gelbe) Bundesregierung tat jedenfalls nichts, um ihre Bürger zu schützen, obwohl es zu ihren Kernaufgaben gehört, diesen Schutz zu gewährleisten und der Erosion des demokratischen Rechtsstaates und der Bürgerrechte Einhalt zu gebieten. Strenggenommen: ein Fall für den »Verfassungsschutz« …
Von dieser informationellen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und westlichen Geheimdiensten zu unterscheiden ist die eigenmächtige Telekommunikationsüberwachung durch ausländische Geheimdienste: Bei der größten globalen Überwachungsorgie der Geschichte, die von Snowden enthüllt wurde, handelt es sich um eine flächendeckende, anlasslose, verdachtsunabhängige, also zunächst ungezielte Erfassung, Speicherung und Auswertung des internationalen und bundesdeutschen Telekommunikations- und Internet-Verkehrs durch US- und britische Geheimdienste – unter Ausnutzung der Glasfaser-, Unterseekabel- und Satelliten-Infrastruktur, von Software-Sicherheitslücken im Internet und der Nutzerdaten großer Internetkonzerne. Auch Handy- und Smartphone-Nutzer sind rund um die Uhr, rund um den Globus den Angriffen der NSA ausgesetzt: Dabei werden täglich fünf Milliarden Ortungs- und Meta-Datensätze von Hunderten Millionen Nutzern gesammelt und in gigantischen Datenspeichern angehäuft.
Die zunächst anlasslose, verdachtsunabhängige Überwachung ganzer Bevölkerungen ist noch keine gezielte Ausforschung einzelner Personen oder Gruppen. Man kann das Ganze bis hierher als riesige Vorratsdatenerfassung und -speicherung begreifen. Erst danach kommt es zu einer Art Schleppnetz- und Rasterfahndung auf der Suche nach Abweichendem, Auffälligem, Verdächtigem, potentiell Gefährlichem. Die vorsorglich gespeicherten Massendaten werden dazu mit Spezialprogrammen nach gewissen Kriterien (Rastern, Schlüsselwörtern) automatisch durchforstet, um »Sicherheitsrisiken«, also verdächtige Personen oder Gruppen, aus den Datenmassen herauszufiltern. Mit Hilfe der Verkehrs- oder Metadaten, die in Kombination oft mehr aussagen als Gesprächsinhalte, lassen sich Kontakt-, Kommunikations- und Bewegungsprofile erstellen, zwischenmenschliche Beziehungsgeflechte (re-)konstruieren und Inhalte erschließen. Wer hat wann von wo mit wem an welchem Ort wie oft und wie lange kommuniziert?
Die ursprüngliche »Verdachtsschöpfungsstrategie«, die alle Teilnehmer an Kommunikationsprozessen unter Generalverdacht stellt und zu gläsernen Menschen macht, geht also über in eine »Verdachtsverdichtungsstrategie«. Wer dabei als »vorverdächtig« im Raster hängen bleibt, wird genauer unter die Lupe genommen. Erst dann wird aus flächendeckender Registrierung gezielte Ausforschung: Dann wird individuell ermittelt, geortet und observiert, werden V-Leute oder Verdeckte Ermittler eingesetzt, Computer verdächtiger Zielpersonen und ihres sozialen Umfelds mit Schadsoftware infiziert, Wohnräume überwacht oder Mobiltelefone in Abhörwanzen verwandelt.
Am Ende solcher Ermittlungen kann eine verweigerte Einreise in die USA stehen, wie im Fall des Schriftstellers Ilija Trojanow, der die US-Überwachungsorgie kritisiert hatte, oder aber im Extremfall ein Drohnenbeschuss »Terrorverdächtiger«. Dazwischen ist manche Unannehmlichkeit, Schikane oder Tortur denkbar – von verschärften Grenzverhören, Nachforschungen beim Arbeitgeber über Staatstrojaner im PC, die Aufnahme in US-No-Fly- oder -Terrorlisten bis hin zu Verhaftungen oder Folter in Spezialgefängnissen; um am Ende vielleicht zu erfahren, dass man Opfer einer Verwechslung ist wie Khaled El Masri, der mit einem »Terroristen« verwechselt und von CIA-Agenten nach Afghanistan verschleppt und monatelang gefoltert wurde; oder dass man zur falschen Zeit am falschen Ort war wie Murat Kurnaz, der aufgrund von Geheimdienst-Informationen als angeblicher »Terrorverdächtiger« für viereinhalb Jahre im US-Gefangenenlager Guantánamo verschwand.
Nur mit solchen Methoden könne man Terroranschläge verhindern, behaupten die Protagonisten der Massenüberwachung, was auch schon passiert sein soll – eine Behauptung, die aus Geheimhaltungsgründen jedoch nie wirklich überprüfbar war. Belegbar hingegen ist, dass sich das globale System geheimdienstlicher Kommunikationsüberwachung im Namen der »Sicherheit« abseits demokratischer Legitimation und parlamentarischer Kontrolle und jenseits von Völkerrecht und Menschenrechten entwickelt hat.
Sofern ausländische Geheimdienste Überwachungsmaßnahmen direkt in Deutschland gegen deren Bürger durchführen, gibt es dafür keine Rechtsgrundlage – vielmehr gilt für sie prinzipiell die Pflicht, bundesdeutsches Recht zu achten. Sollte es zu Rechtsverstößen kommen, müssten diese hierzulande geahndet werden; allerdings kann die Staatsanwaltschaft gemäß § 153d StPO von der Verfolgung aus politischen Gründen absehen, etwa dann, wenn angeblich »schwere Nachteile« für die Bundesrepublik drohen.
Werden die Daten dagegen außerhalb Deutschlands – etwa über Glasfaserkabel, Satelliten oder internationale Internetserver – abgefangen, so liegt nach herrschender Auffassung kein (Völker-)Rechtsverstoß vor, denn bloße »Fernaufklärung« sei kein unzulässiger Eingriff in die inneren Angelegenheiten eines überwachten Staates – obwohl doch systematische Menschenrechtsverstöße zu beklagen sind: gegen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 12), den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Artikel 17, 19), die Europäische Menschenrechtskonvention (Artikel 8, 10), das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung in der Europäischen Grundrechtecharta (Artikel 7, 8, 11) und im Grundgesetz (Artikel 1 Absatz 1, Artikel 2 Absatz 1) sowie gegen das Grundrecht der Post- und Fernmeldefreiheit (Artikel 10 GG). Unter den Bedingungen globaler Kommunikation und Überwachung im IT-Zeitalter verkommen diese Menschenrechte zur Makulatur, falls nicht unverzüglich internationale Abhilfe geschaffen wird.
Im Dezember 2013 hat ein US-Bundesrichter in einem ersten (vorläufigen) Urteil entschieden, dass die NSA-Massenüberwachungspraxis eine missbräuchliche und willkürliche »Invasion in das Privatleben« der betroffenen Bürger darstelle und »im Kern verfassungswidrig« sei; im Übrigen sei es der Regierung nicht gelungen, auch nur einen einzigen dadurch verhinderten Terroranschlag darzulegen. Ein anderes Bundesgericht kam demgegenüber Ende 2013 zu dem Ergebnis, die Überwachung sei rechtens.
Die Bundesrepublik ist, wie bereits erwähnt, Partnerstaat im großen aggressiven Spiel westlicher Geheimdienste. Sie ist aber auch Angriffsziel: So ist Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) per Handy-Überwachung gezieltes Opfer jahrelanger NSA-Ausforschung geworden, also Opfer eines klassischen Spionageakts in Friedenszeiten. Schließlich interessieren sich die USA für deutsche Außen- und Handelspolitik, Fragen wirtschaftlicher Stabilität, Gefahren für die Finanzwirtschaft, Rüstungsexport, neue Waffentechnologien. Der »Verfassungsschutz«, zu dessen Aufgaben die Spionageabwehr gehört, hat davon offenbar nichts mitbekommen – geschweige denn diesen Lauschangriff verhindert. Nach dessen Aufdeckung zeigten sich Merkel und ihre Regierung wegen der »völlig neuen Qualität« richtig erbost, denn: »Abhören von Freunden, das geht gar nicht.«
Also: Nicht die massenhafte Ausspähung der Bevölkerung, nicht die Sorge um deren Schutz, sondern erst dieser unfreundliche Akt und Hinweise auf Wirtschaftsspionage führten endlich zu Reaktionen gegenüber den Auftraggebern im Weißen Haus. Aber es kam noch dicker: CIA und NSA belauschen auch EU- und UN-Institutionen sowie deutsche Regierungsstellen und Botschaften. Auch Regierungschefs anderer Staaten sollen Opfer gezielter NSA-Überwachung geworden sein, ebenso wie Papst Franziskus.
Fast alle Staaten spionieren andere Länder aus, um Staats- und Wirtschaftsgeheimnisse auszukundschaften – in Friedenszeiten geschieht dies im rechtsfreien Raum, denn als »zweitältestes Gewerbe der Welt« ist Spionage praktisch Völkergewohnheitsrecht. Werden fremde Spione jedoch erwischt, dann müssen sie sich in dem ausspionierten Land strafrechtlich verantworten: »Wer für den Geheimdienst einer fremden Macht eine geheimdienstliche Tätigkeit gegen die Bundesrepublik Deutschland ausübt«, wird hierzulande mit bis zu fünf, in schweren Fällen bis zu zehn Jahren Haft bestraft (§ 99 StGB »Geheimdienstliche Agententätigkeit«). Erfolgen Spionage und Abhöraktionen allerdings aus Botschaften heraus, so ist dies zwar völkerrechtswidrig – doch der besondere Schutz diplomatischer Vertretungen verhindert in solchen Fällen strafrechtliche Aufklärung und Ahndung.
Es geht bei dieser Ausforschungsarbeit auch und gerade um die Sicherung politischer, ökonomischer und militärstrategischer (Hegemonial-)Interessen in einer nach Ende des Kalten Krieges nicht mehr bipolaren Welt, sondern unsicheren Welt(un)ordnung – mit unkalkulierbaren »asymmetrischen« Krisen, Konflikten und Kriegen. Weltmächte, die auch künftig ihre Hegemonie absichern wollen, trachten mit allen Mitteln nach weltweiter informationeller Vorherrschaft.
Das Szenario von Digitalspionage und Massenüberwachung macht deutlich: Wir befinden uns in einem geheimen »Informationskrieg« – oder anders ausgedrückt: in einem permanenten präventiven Ausnahmezustand, der seinen Ausnahmecharakter längst verloren hat und zum rechtlichen Normalzustand geworden ist. Ausgestattet mit einem geheimdienstlich-informationstechnisch-militärischen Komplex, mit Vorratsgesetzen und Notstandsinstrumenten zur grenzüberschreitenden Überwachung und Intervention; und dem Ziel globaler Krisenverhütung und -bewältigung, präventiver und repressiver Kriminalitäts- und Terrorbekämpfung überall auf der Welt.
Oder aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: Es geht um präventive Vormacht- und Herrschaftssicherung in Zeiten verschärfter ökonomischer Krisen, sozialen Niedergangs, drohender Rohstoffknappheit und wachsender »Flüchtlingsströme«. Schließlich gilt es, Staat, Staaten oder Gemeinschaften nicht etwa nur vor Terror und Gewalt zu schützen, sondern auch gegen mögliche soziale Unruhen und militante Aufstände, gegen Ressourcenmangel, unkontrollierte (Ein-)Wanderungsbewegungen vorsorglich zu wappnen. Diese Vorsorgeentwicklung vollzieht sich im Schatten des Rechtsstaats und trägt totalitäre, ja paranoide Züge. Die Präventivlogik hat auch in Europa und Deutschland, verstärkt nach Nine-Eleven, einen gehörigen Wandel im Staatsverständnis bewirkt: vom demokratischen Rechtsstaat zum entgrenzten Präventionsstaat, in dem die Eingriffsschwelle immer mehr herabgesenkt wird, Informationen und unkontrollierbare Geheimdienste als Macht(sicherungs)instrumente eine immer größere Rolle spielen.
Ein solches Präventionssystem wittert in jedem Menschen, in jedem Gedanken eine potentielle Bedrohung. Niemand soll sich vor Überwachung sicher sein können. Doch ein Mensch, der unter Überwachung steht, ist niemals frei, wie Ende 2013 Hunderte international bekannter Autoren in ihrem Aufruf »Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter« schreiben. Überwachte Menschen sind in ihrem Kommunikationsverhalten, ihrer privaten Lebensgestaltung betroffen, allenfalls noch »frei« als Konsumenten. Schon wer sich nur überwacht und beobachtet fühlt, verändert sein Verhalten, wird unsicher, entwickelt Ängste, was den demokratischen Rechtsstaat schädigt, wie das Bundesverfassungsgericht bereits vor dreißig Jahren in seinem Volkszählungsurteil festgestellt hat. Selbstkontrolle, vorauseilender Gehorsam und Selbstzensur machen Menschen zu Spitzeln ihrer selbst – ein tödlich wirkendes Gift für eine offene, freiheitliche demokratische Gesellschaft.
Der digitale NSA-Datenexzess ist logische Folge einer aggressiven Politik, die Kriminalitäts- und Terrorabwehr zum Zweck der Sicherheit über alles stellt – frei nach Ex-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), der verbriefte Grund- und Freiheitsrechte einem frei erfundenen »Supergrundrecht Sicherheit« unterordnet. Diese verfassungswidrige Sicht führt in einen entfesselten Präventionsstaat im permanenten Ausnahmezustand, in dem rechts- und kontrollfreie Räume gedeihen, Persönlichkeitsrechte erodieren, Rechtssicherheit und Vertrauen verlorengehen. Dieser Angriff auf Substanz und Selbstverständnis freiheitlicher Demokratien erfolgt nicht etwa von außen, von »extremistischen« oder terroristischen Kräften, sondern aus dem Inneren des Systems – wie eine aggressive Autoimmunerkrankung, eine überschießende Reaktion des Immunabwehrsystems, das zerstört, was es doch schützen sollte: Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte.
Wir brauchen dringend eine Abrüstung des Geheimdienstkomplexes, denn in Demokratien bilden Geheimdienste ein intransparentes, schwer kontrollierbares und damit demokratiewidriges Parallel-Universum. Auch in Demokratien neigen sie zu Skandalen, Verselbständigung, Machtmissbrauch und Willkür – und tatsächlich haben sie sich als erhebliches Gefahrenpotential für Demokratie und Verfassung erwiesen. Die einzig funktionierende Kontrolle von Geheimdiensten besteht in deren Auflösung (vgl. Martin Kutscha in diesem Band, S. 148ff.).
Mit einem womöglich geheimen »No-Spy-Abkommen« zwischen Deutschland/EU und USA wäre es nicht getan. Zu sehr hat die Geheimdienst-Connection krakenartig die Welt umspannt, als dass bilaterale Abkommen mit den üblichen Ausnahmeregelungen deren menschenrechtswidrigen Machenschaften Einhalt gebieten könnten. In allererster Linie sind Offenlegung, unabhängige Aufklärung und Ahndung zu fordern (vgl. dazu auch die Forderungen von Dieter Deiseroth in diesem Band, S. 28ff.).
Die Legalisierung der Vorratsdatenspeicherung, also einer anlasslosen, verdachtsunabhängigen Speicherung aller Telekommunikationsdaten, wie sie die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD Ende 2013 beschlossen hat, würde den Überwachungskosmos hierzulande noch gehörig erweitern, anstatt ihn, wie dringend geboten, wirksam einzuschränken und zu lichten; abgesehen davon ist dieses Projekt schon einmal vor dem Bundesverfassungsgericht weitgehend gescheitert, und der EU-Generalanwalt hat im Dezember 2013 vor dem Europäischen Gerichtshof die zugrunde liegende EU-Richtlinie für unvereinbar mit der EU-Grundrechtecharta erklärt.
Wir brauchen eine breite gesellschaftspolitische Debatte über Transparenz, Kontrolle und Grenzen der Überwachung in einer Demokratie, über Existenzberechtigung und Legitimation geheimer, unkontrollierbarer staatlicher Institutionen. Und gerade hier haben Edward Snowden, Bradley (Chelsea) Manning, Julian Assange (WikiLeaks) und andere Whistleblower im digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt sensationelle Pionierarbeit geleistet und enormen Mut bewiesen. Das Whistleblowing hat unter diesen Bedingungen eine weit größere Bedeutung gewonnen und muss endlich wirksam geschützt werden. Snowden hat seine Freiheit riskiert, um die unsere zu schützen. Solchen Whistleblowern muss für ihren Einsatz für Transparenz im Allgemeininteresse und für Menschenrechte besonderer Schutz vor straf-, arbeits-, dienst- und zivilrechtlichen Konsequenzen gewährt werden. Wir müssen eine Kultur des Whistleblowing entwickeln, die es in der Bundesrepublik leider noch nicht ansatzweise gibt.
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abg. Jan Korte u.a. und der Fraktion Die Linke – BT-Drs. 18/39 – Aktivitäten der Bundesregierung zur Aufklärung der NSA-Ausspähmaßnahmen und zum Schutz der Grundrechte, BT-Drucksache 18/159 v.12.12.2013
Appelbaum, Jacob u.a., NSA: Die Klempner aus San Antonio, in: Der Spiegel 1/2014, S. 100ff.
Beckedahl, Markus/Meister, Andre, Überwachtes Netz, Berlin 2013
Foschepoth, Josef, Überwachtes Deutschland, Göttingen 2012
Fuchs, Christian/Goetz, John, Geheimer Krieg, Reinbek 2013
Schmidt-Radefeldt, Roman, Nachrichtendienstliche Überwachung in Deutschland auf der Grundlage des NATO-Stationierungsrechts, Wissenschaftlicher Dienst Dt. Bundestag, WD 2-3000-087/2013
Wahlen, Dierk, Rechtsgrundlagen der informationellen Zusammenarbeit zwischen deutschen und ausländischen Nachrichtendiensten, ebd., WD 3-3000-207/2013
Weichert, Thilo, Prism, Tempora, Snowden …, in: Datenschutz-Nachrichten 3/2013, S. 109ff.
USA: Codename »Apalachee«, in: Der Spiegel 35/2013, S. 85ff.
Art. 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
Dieter Deiseroth
Die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden haben weltweit wichtige Debatten über die Aktivitäten des US-Auslandsgeheimdienstes NSA und anderer Nachrichtendienste angestoßen. Zu Recht wird nun nach den Rechtsgrundlagen für das Ausspähen und den politischen Verantwortlichkeiten gefragt. Der Bundestag sollte unverzüglich einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, um eigenständig zur Sachverhaltsklärung beizutragen. Aufgabe der Zivilgesellschaften ist es, für Veränderungsdruck zu sorgen, damit grundsätzliche Konsequenzen gezogen werden. Dazu werden hier sieben Forderungen aufgestellt.
Wir brauchen völkerrechtliche und innerstaatliche Regelungen zur Förderung und zum Schutz von Societal Verification. Notwendige Schutzregelungen müssen u.a. die Aufnahme von Whistleblowern wie Edward Snowden in ein Zeugenschutzprogramm, die Garantie eines gesicherten Aufenthaltsstatus (z.B. nach § 22 AufenthaltsG), den Schutz vor Auslieferung, die Sicherung des Existenzminimums und Hilfen bei der gesellschaftlichen Integration gewährleisten. Das sollte in internationalen Abkommen zur Sicherung der Kommunikationsfreiheiten, zum Datenschutz und ähnlichen völkerrechtlichen Verträgen sowie in den jeweiligen nationalen Ausführungsgesetzen garantiert werden.
Die Altlasten des nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 15. März 1991 aufgehobenen sogenannten Deutschlandvertrages vom 23. Oktober 1954 (DV), auf dessen Grundlage zahlreiche Regierungs- und Verwaltungsvereinbarungen abgeschlossen worden sind, müssen beseitigt werden. Die »Überwachungs- und Geheimdienstvorbehalte«, zu denen nicht veröffentlichte völkerrechtlich verbindliche diplomatische Noten ausgetauscht wurden, betreffen u.a. den nicht näher definierten »Schutz der Sicherheit dieser Streitkräfte«. Dazu wurde nicht nur der sog. Notstandsfall (Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 DV), sondern u.a. die »Kontrolle von Postsendungen und Überwachung von Fernmeldeverbindungen« (Artikel 5 Absatz 2 Satz 3 DV; Artikel 4 Absatz 1 und 2 TV) sowie eine »Geheimdienst-Regelung«, z.B. im Zusatzabkommen zum NATO-Truppenstatut, verankert.
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