Dr. med. dent. Hubertus von Treuenfels

Gesund beginnt im Mund

Warum Zähneknirschen zu Rückenschmerzen führt und Lachen den Blutdruck reguliert

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Dr. med. dent. Hubertus von Treuenfels

Der europaweit renommierte systemische Zahn- und Kiefermediziner Dr. med. Hubertus von Treuenfels legt den ersten Gesundheitsratgeber über das faszinierende und weitgehend unbekannte Wechselspiel von Mund, Körper und Seele vor. Er lädt uns ein auf eine spannende Reise in dieses Schlüsselorgan, liefert anschauliche Erklärungen und schildert verblüffende Fallbeispiele aus seiner jahrzehntelangen Praxisarbeit. Damit gibt Hubertus von Treuenfels konkrete Hilfe zur Selbsthilfe und ein Werkzeug, um einen großen Teil seiner Gesundheitsfürsorge und Heilung selbst in die Hand zu nehmen.

Impressum

© 2017 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Mitarbeit: Susanne Rick

Illustrationen: Fabian Stoltz

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Covergestaltung: Claudia Sanna, München

Coverabbildung: Claudia Sanna, München

ISBN 978-3-426-44126-8

Hinweise des Verlags

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Wie alles begann – statt einer Einleitung

Als meine Mutter im siebten Monat mit mir schwanger war, landete sie mit dem Motorrad in einem Straßengraben. Während sie zahlreiche Prellungen davontrug, blieb ich in ihrem Bauch rein äußerlich unversehrt. Allerdings verlor meine Mutter bei dem Unfall fast das gesamte Fruchtwasser, was mein restliches Wachstum beeinträchtigte, so dass ich kleiner und leichter als andere Babys zur Welt kam. Aber damit nicht genug: Ich hatte gleich nach der Geburt Probleme mit dem Saugen und bekam deshalb anstelle der Mutterbrust recht schnell die Flasche. Doch auch das Trinken aus der Flasche will gelernt sein, und da ich dies nicht konnte, nuckelte ich, um irgendwie satt zu werden, ständig daran herum. Das wiederum reichte aus, um meinen Kiefer zu verformen und meiner Mutter große Sorgen zu bereiten. Keine günstigen Startbedingungen also, wie man sie sich für die Entwicklung eines kräftigen Kiefers und damit eines gesunden Kindes wünscht.

Auch meine Eltern selbst hatten als Flüchtlinge in den Nachkriegsjahren in Norddeutschland alles andere als günstige Startbedingungen für einen Neuanfang. Daher beschlossen sie, nach Brasilien auszuwandern, und das, obwohl meine Mutter hochschwanger und ich erst eineinhalb Jahre alt war. So wurde mein Leben in den folgenden Jahren vom Pioniergeist meiner Eltern bestimmt.

Das einfache Leben auf einer Kaffeeplantage inmitten von exotischen Pflanzen und Tieren und netten Farmerfamilien in der Nachbarschaft war geradezu prädestiniert, mir eine bilderbuchhafte Kindheit zu bescheren. Allerdings litt ich als zartes nordeuropäisches Kind in dem tropisch-heißen Klima an mehreren chronischen Erkrankungen, u.a. an Asthma und an nicht enden wollenden Durchfällen, die mich phasenweise derart schwächten, dass ich tagelang ans Bett gefesselt war. Meine besorgten Eltern fuhren mit mir zu diversen Ärzten, und da ich – obwohl ein guter Esser – sehr mager war, riet man mir, noch mehr zu essen. Trotz zusätzlich verabreichten Lebertrans und eines proteinhaltigen Pulvers zum Anrühren wurde ich kein bisschen dicker. Im Gegenteil: Sämtliche Maßnahmen förderten nur meinen Durchfall. Irgendwann hatte ich es satt, das alles und dazu noch viele Medikamente zu schlucken, darunter stärkste Antibiotika und Tabletten, die, wie ich später erfuhr, in Deutschland schon gar nicht mehr zugelassen waren.

Als ich im Alter von ungefähr sechs Jahren eines Abends allein zu Hause war – man hatte mir wieder einmal Bettruhe, Tee, Haferschleim und jede Menge Pillen verordnet –, ging gar nichts mehr. Obwohl es mir körperlich sehr schlechtging, waren mir die Medikamente so zuwider, dass ich mich weigerte, sie zu nehmen. Irgendetwas in mir sperrte sich mit aller Macht dagegen, und ich war mit einem Mal zutiefst davon überzeugt, dass mir die Tabletten nicht halfen, sondern schadeten. Also blieb ich einfach im Bett liegen, und wenn ich Durst bekam, trank ich ein wenig Wasser, Schluck für Schluck. Zu mehr war ich nicht fähig, mehr ging nicht in mich hinein. Ausgelaugt, matt und müde schlummerte ich irgendwann ein – und schlief zum ersten Mal seit langer Zeit die ganze Nacht durch, ohne schmerzende Bauchkrämpfe. Schon beim Aufwachen am nächsten Morgen spürte ich die untrüglichen Anzeichen einer Besserung und fühlte mich so kräftig wie lange nicht mehr, obwohl ich am Vortag nichts gegessen hatte. Also blieb ich erst einmal beim Wasser, ging ganz langsam zu Tee über und ergänzte meine Nahrung peu à peu um gekochten Reis, bis ich schließlich wieder ganz normal aß, was der ganzen Familie aufgetischt wurde. Allmählich lernte ich, besonders durch schmerzliche Rückschläge, auf meinen Bauch zu hören und zu unterscheiden, was meiner Gesundheit zuträglich war und was nicht. Noch viel wichtiger jedoch war die Erkenntnis, dass ich es durch mein Essverhalten selbst in der Hand hatte, für mein Wohlbefinden zu sorgen.

Diese erste Erfahrung der Selbstheilung sollte mir auch einige Jahre später weiterhelfen, als ich mir im Alter von sieben Jahren bei einem Sturz vom Fahrrad die oberen Schneidezähne verletzte und verschob. Die anschließende Behandlung bei unserem brasilianischen Zahnarzt empfand ich als traumatisches Erlebnis aus Schmerz und Ohnmacht, das mir über Jahre hinweg Angst einjagte, wenn ich auch nur daran dachte. Was jedoch noch schlimmer war: Die Behandlung konnte nicht verhindern, dass sich die Wurzelspitzen immer wieder entzündeten und allmählich der umgebende Kieferknochen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es sollte über zwanzig Jahre dauern, bis die Entzündung erfolgreich behandelt werden und vollständig ausheilen konnte.

 

Es ist noch nicht allzu lange her, dass sich auch in der westlichen Welt Erkenntnisse aus der traditionellen chinesischen Medizin durchgesetzt haben, die den zahlreichen energetischen Wechselbeziehungen zwischen den Organen einen entscheidenden Stellenwert bei der Behandlung von Krankheiten zuweisen. So können schon kleine Entzündungsherde gerade auch im Mund – wir sprechen in der systemischen Medizin heute von »stillen Störfeldern« – auf Dauer verheerende Auswirkungen auf andere Körperregionen und Organe haben, selbst wenn diese quasi am anderen Ende des Ursprungsortes liegen. In meinem Fall waren es die Nieren, die durch die dauerhaft entzündeten Schneidezahnwurzeln zunehmend belastet und geschwächt wurden. Und da die Nieren zentral für die Ausscheidung von Giften sind, war ich immer leicht vergiftet und dadurch geschwächt und anfällig für neue Erkrankungen.

Aber hatte ich mich nicht schon einmal in einer schier ausweglosen Lage befunden und mich letztlich selbst daraus befreit? So beschloss ich eines Tages, auch diesmal wieder zur Selbsthilfe zu greifen. Ich wollte lernen, den Teufelskreis aus Angst vor dem Zahnschmerz und vor dem Zahnarzt zu überwinden und mich meinem Zahnleiden furchtlos zu stellen. Also studierte ich Zahnmedizin.

Dass ich ein verstecktes Nierenleiden hatte, wusste ich damals noch nicht. Doch nach meinem Studium begegnete ich dem alternativen Zahnmediziner Augusto Beozzo, der mich lehrte, die systemischen Zusammenhänge von Zähnen, Mund und Körper zu erkennen. Seine Behandlungsmethoden elektrisierten mich förmlich, sah ich darin doch einen Weg, wie ich nicht nur mein eigenes Leiden heilen, sondern auch anderen Menschen helfen konnte.

Kurioserweise sollte mich dieser Weg (1976) wieder zurück nach Deutschland führen. Denn dort, in Bonn, lehrte bis zu seinem Tod in den frühen 1960er Jahren ein Prof. namens Wilhelm Balters, der als Begründer der ganzheitlichen Kieferorthopädie in die Geschichte der Zahnheilkunde eingegangen ist. Berühmtheit erlangte er insbesondere durch seine Erfindung des Bionators, eines kieferorthopädischen Geräts, mit dessen Hilfe es den Patienten selbst gelingt, durch die Kraft ihrer Mundbewegungen ihre Kieferanomalien zu regulieren. Bei Balters’ Nachfolger Fritz Bahnemann, der sein Meisterschüler gewesen war, ließ ich mich in den Folgejahren ausbilden. Außerdem ließ ich meine chronisch entzündeten Schneidezähne operativ entfernen, wodurch endlich das Störfeld beseitigt wurde, das meine Nieren so sehr beeinträchtigt hatte. So konnte ich mich endlich einer Gesundheit erfreuen, die mir Stärke und Widerstandskraft verlieh und ungeahnte Energien in mir freisetzte.

Auf diese Weise wurde ich selbst zu einem Beispiel dafür, was man mit einer schlechten Zahnheilkunde versäumen und durch eine gute wiedererlangen kann. Die Erfahrung, wie es sich anfühlt, von einem Leiden befreit zu werden, war der Beginn meines leidenschaftlichen Interesses für die ganzheitliche Zahnheilkunde. Bis zum heutigen Tag begegne ich meinen Patienten als Arzt, der sich in ihre Leiden und Ängste aufgrund eigener Erfahrungen gut hineinversetzen kann.

 

Wie sehr in unserem Organismus das eine mit dem anderen verwoben ist, erkannte ich erst im Laufe der Jahre. Und so fand ich auch erst viel später eine Erklärung für jenes seltsame Phänomen, das ich in meiner Kindheit erlebt hatte. Die Episode stammt aus einer Zeit, in der wir Kinder in der Schule vor den berühmt-berüchtigten Killerbienen gewarnt wurden, die sich damals über ganz Brasilien ausbreiteten. Es handelte sich dabei um die Kreuzung einer afrikanischen Biene mit einheimischen Arten, deren erste Tochtergeneration so aggressiv und angriffslustig war, dass wir aus Radio und Zeitung des Öfteren von totgestochenen Haustieren und gelegentlich sogar von getöteten Kleinkindern erfuhren. Daran erinnerten sich mein Bruder und ich, als uns eines Tages ein riesiger Bienenschwarm attackierte und uns mit zahlreichen Stichen übersäte, bevor wir in letzter Minute auf unseren Fahrrädern flüchten konnten. Zu Hause versorgte unsere Mutter uns mit Alkoholkompressen und Medikamenten. Mehrere Tage lang litten wir an hohem Fieber, und es dauerte eine geraume Zeit, bis wir wieder aus unseren zugeschwollenen Augen schauen konnten. Aber mit mir passierte noch etwas ganz anderes: Mein Durchfall, den ich in diesen Tagen trotz aller Vorsichtsmaßnahmen beim Essen nie ganz losgeworden war, hatte sich mit dieser Bienenepisode schlagartig in Luft aufgelöst.

Jahre später las ich in einem Buch über Homöopathie, dass der Organismus in extremen Stresssituationen wie z.B. bei Lebensgefahr oder sportlichen Wettkämpfen nicht nur Adrenalin, sondern auch andere Hormone ausschüttet, so dass auch noch an anderen Baustellen im Körper Reparaturprozesse in Gang gesetzt werden. Offensichtlich war dieser Angriff der Bienen, diese Ausnahmesituation, der Schrecken, die Angst und das Gift genau das gewesen, was mein geschwächter Körper gebraucht hatte, um eine Art Gegengift bereitzustellen. So wurde mir gleich im doppelten Sinne eingeimpft, was die körpereigene Abwehr durch Immunisierung alles leisten kann.

Den Durchfall war ich los, nicht aber das Asthma, das mich, als ich wieder einmal glaubte, ersticken zu müssen, mit meinen Eltern ins Krankenhaus führte. Cortison gab es damals noch nicht, und so blieb den Ärzten nichts anderes zu tun, als mir ein Mundspray zu verabreichen und mich während des Asthmaanfalls im Auge zu behalten. Als dieser vorüber war, nahm mich der behandelnde Arzt beim Abschied beiseite, packte mich an den Schultern und schüttelte mich einmal kräftig durch. Nanu, dachte ich, will er mich jetzt ausschimpfen oder was? »Merk dir eines«, sagte er mit donnernder Stimme zu mir, »wenn du anfängst zu rauchen, du mit deiner schwachen Brust, und wenn du dir nicht genug frische Luft holst, indem du abends das Fenster aufmachst, und wenn du dich nicht genug bewegst und was für deine Atmung tust, dann wirst du dein blaues Wunder erleben mit deinem Asthma. Aber: Du kannst etwas dagegen tun.« Das hat mich damals so tief beeindruckt, dass ich mich bis zum heutigen Tag an seine Ratschläge halte: Ich rauche nicht, ich schlafe bei offenem Fenster und bleibe immer in Bewegung. Und heute gehört meine Lunge mit zum Besten, was ich habe. So lehrte mich mein Körper durch Asthmaanfälle buchstäblich das freie Atmen.

1. Der Mensch und sein Mund

Kein anderes Organ ist gleichzeitig an so vielen Funktionen des menschlichen Organismus beteiligt wie der Mund. Er spielt eine zentrale Rolle beim Atmen, beim Essen und beim Sprechen. Doch wie groß der Einfluss ist, den der Mund auf Körper und Seele hat, ist den wenigsten bewusst.

Deshalb möchte ich Sie zu einer spannenden Reise in dieses Schlüsselorgan einladen, auf der wir zunächst der Frage nachgehen, warum unser Mund genau so und nicht anders aussieht und welche entscheidenden Vorteile die Evolution der Menschheit damit verschafft hat. Wir sehen zu, wie der Mund im Mutterleib Gestalt annimmt und sich schon beizeiten auf den ersten Schrei vorbereitet. Sie erfahren – nicht zuletzt durch verblüffende Fallbeispiele aus der eigenen Praxis –, wie unsere Vitalfunktionen Atmung, Ernährung und Motorik durch unseren Mund bestimmt und geprägt werden. Etwa, wie sich die Tätigkeit des Unterkiefers auf die gesamte Körperhaltung auswirkt und welche gravierenden Folgen eine falsche Atmung für unsere Gesundheit haben kann. Die Einsicht in diese Wechselwirkungen ist zugleich der Schlüssel zu einer gesunden Lebensweise.

Mit einfachen Übungen, die Sie problemlos in Ihren Alltag einbauen können, möchte ich Ihnen am Ende des Buchs konkrete Anleitungen zur Selbsthilfe geben. Es sind Übungen, die Sie am eigenen Leib erleben lassen, wie unser Körper wirklich tickt. Mit ihrer Hilfe können Sie tatsächlich besser atmen, saugen, kauen und schlucken lernen. Denn gerade diese Grundfunktionen des Mundes haben einen ganz entscheidenden Anteil an unserem Wohlbefinden und damit an unserer Lebensqualität.

Wer denkt schon bei körperlichen Beschwerden an seinen Mund?

Natürlich geht nicht jedes Unwohlsein von unserem Mund aus. Doch es lohnt sich, immer auch im Mund nachzuschauen, wenn Sie sich nicht richtig gesund fühlen oder Beschwerden haben. Wichtig ist dabei zweierlei: Zum einen sollten Sie auch banale, scheinbar unwichtige Beschwerden ernst nehmen. Sie erschweren uns nicht nur das tägliche Leben, sondern schädigen vielleicht sogar unseren Körper oder schlagen sich in zermürbender Weise auf unser Gemüt. Zum anderen denken wir zu selten und oft viel zu spät an unseren Mund, an unsere Zähne, Kieferknochen und Gelenke, wenn wir morgens kaum aus den Federn kommen. Oder an einen Zusammenhang zwischen Zunge, Gaumen, Rachen und nächtlichen Atemaussetzern mit Tagesmüdigkeit und dem gefährlichen Sekundenschlaf am Lenkrad. Viele Menschen leiden unter ständigen Kopfschmerzen und lästigen Verspannungen im Kiefer-Gesichts-Bereich. Diese Beschwerden können zu Schmerzen in Hals, Nacken und Schultern, zu Wirbelsäulen- und Rückenschmerzen, Ohrgeräuschen, Hörschwäche, Atemproblemen und Verdauungsstörungen führen. Manche plagen sich mit anfallartigen Schwindelzuständen, Schlafmangel und Bluthochdruck. Diese Symptome sind nicht nur lästig und bedrückend, sondern oftmals auch Vorboten für ernsthafte Erkrankungen. So können etwa Schlafmangel und Bluthochdruck im Extremfall zum Erschöpfungssyndrom mit bedrohlichem Leistungsabfall führen, besser bekannt unter dem Modebegriff Burn-out. Und für all das lassen sich nur allzu oft im Mund die Ursachen finden.

Natürlich wollen wir Menschen nicht leiden. Wir wollen der Ursache auf den Grund gehen, und wir wollen gesund werden. Also lassen wir uns untersuchen, begeben uns in Therapien und nehmen Medikamente. Doch lassen wir uns dabei zu oft von der Position des Schmerzes leiten. Und leider verorten auch viele Therapeuten und Mediziner eine Beschwerde oder eine Erkrankung dort, »wo es weh tut«. Also lassen wir uns den Rücken massieren, wenn wir Rückenschmerzen haben, oder nehmen ein Schmerzmittel, wenn Kopf oder Bauch weh tun. Aber keine unserer Körperregionen existiert separat. Alle sind miteinander verbunden. Und so bekämpfen wir mit lokalen Maßnahmen oftmals nicht die Ursache, sondern nur das Symptom.

Doch wie, fragen Sie mit Recht, gelangen Patienten, Ärzte und Therapeuten an die eigentlichen Ursachen von Leiden und Beschwerden? Genau hier kommt dem Mund-Nasen-Rachen-Raum eine entscheidende Bedeutung zu. Denn im Mund findet in jedem Moment unseres Lebens über die Atmung, die Verdauung und die Bewegung der umfangreichste Austausch zwischen außen und innen statt.

Wenn wir verstehen, wie unser Oronasalraum, diese Schleuse zwischen innen und außen, funktioniert, und wenn wir lernen, diese aktiv zu steuern und zu pflegen, dann können wir auch ganz gezielt Beschwerden und Erkrankungen im gesamten Körper vorbeugen und heilen.

Die gestörte Mundfunktion und ihre Folgen

Welchen Einfluss eine gestörte Mundfunktion auf unsere Gesamtgesundheit hat, lässt sich eindrücklich am Fall einer fünfundvierzigjährigen Patientin illustrieren. Sie litt an Bluthochdruck. Dagegen hatte ihr der Hausarzt Betablocker verschrieben. Leider hatte er weder nach ihren Lebensgewohnheiten, ihrem Ess- und Trinkverhalten noch nach ihren körperlichen Aktivitäten und anderen Dingen gefragt, die den Kreislaufbefund hätten erklären können. Die Folge war, dass die Patientin sich immer schwächer fühlte und mit der Zeit massiv unter Schlafproblemen litt. Ich lernte sie kennen, als ihr Mann sie eines Tages entnervt und sorgenvoll in meine Praxis bugsierte. Durch Zufall hatte er erfahren, dass mit systemischen Methoden auch Schlafstörungen behandelt werden können. »Meine Frau schnarcht schon lange, aber seit sie die Betablocker nimmt, ähnelt ihr Schnarchen eher dem Grunzen eines Wildschweins«, sagte er mir noch vor unserem Anamnesegespräch. Als die Frau mir dann berichtete, dass sie auch häufig Atemaussetzer habe, schrillten bei mir die Alarmglocken.

Durch die sogenannte temporäre Schlafapnoe gelangt zu wenig Sauerstoff ins Blut. Da der Sauerstoff aber essenziell für den Stoffwechsel unserer Zellen ist (auch in der Nacht), reagiert der Körper sofort, indem er die Kreislauftätigkeit erhöht. Einfach ausgedrückt: Die Blutzirkulation fährt ihre Leistung hoch, um den wenigen Sauerstoff pro Atemzug so gut wie möglich zu verteilen. So reguliert unser Körper nach Kräften alle Beeinträchtigungen von außen, in diesem Fall mit dem Ergebnis Bluthochdruck. Durch die medikamentöse Senkung ihres Blutdrucks konnte der Patientin allerdings nicht geholfen werden. Denn dadurch wurde eine Art von Teufelskreis vorprogrammiert: Sie wachte jeden Morgen wie gerädert auf und hatte tagsüber keine Energie mehr. Die Situation war im Übrigen auch für ihren Mann unerträglich, der jede Nacht befürchtete, sie könnte ersticken. So fand auch er oft keinen Schlaf, wofür er insgeheim sie verantwortlich machte, was dann auch noch zu einer Ehekrise führte.

Die medizinische wie emotionale Situation der Frau schien ausweglos. Daher war sie sichtlich verwundert, als ich ihr statt neuer Medikamente nur eine vergleichsweise unauffällige Zahnspange für die Nacht anpasste und sie bat, die Dosis ihres blutdrucksenkenden Mittels in Rücksprache mit ihrem Hausarzt allmählich zu reduzieren. Ich erklärte ihr, dass der zierliche Apparat im Schlaf gezielte Reize setzt, sobald er bestimmte Mundbereiche berührt, mit dem Effekt, dass dadurch Saugreflexe ausgelöst werden. Und da der Mund auch in der Nacht etwa beim Schlucken nie länger stillsteht, funktioniert dieser Reiz-Reaktions-Mechanismus meistens auch gegen das Schnarchen. Denn wer saugt, sorgt dafür, dass die Zunge automatisch den hinteren Gaumen abschließt, die Nasenatmung aktiviert und auf diese Weise das Schnarchen verhindert. So bedienen wir uns der angeborenen Reflexe, ohne die wir bereits als Säuglinge ziemlich arm dran wären und die uns bis ins hohe Alter erhalten bleiben.

Der Patientin ging es bereits nach der ersten Nacht deutlich besser. So konnte die körpereigene Regulation genutzt werden, um ihre Heilkräfte zu entfalten. In diesem Fall war es der schlichte Saugreflex. Auf die Dauer sorgte die Spange, die diesen auslöste und so das Schnarchen verhinderte, tatsächlich auch für eine Senkung des krankhaft erhöhten Blutdrucks.

Der Mund als Spiegel des Lebens

Eine asiatische Weisheit besagt, dass der Kranke durch seine Beschwerde die Lösung seines Problems bereits in sich trägt. Denn durch die Beschwerde, sei es ein akuter Schmerz oder ein chronisches Unwohlsein, signalisiert uns unser Körper, dass etwas nicht in Ordnung ist. Der erste Schritt auf dem Weg der Heilung besteht daher darin, die Beschwerde bzw. die Symptome zu registrieren und ernst zu nehmen. Denn ganz gleich ob wir an Aphthen leiden, kleinen schmerzhaften Bläschen im Mund, oder ob wir uns ständig müde und schlapp fühlen, weil wir in den Nächten, meist ohne es selbst zu merken, mit den Zähnen knirschen: Die Symptome, nicht zu verwechseln mit der Krankheit selbst, wollen uns etwas sagen. Beides sind weit verbreitete Beschwerden mit starkem Hinweischarakter. Aphthen weisen in aller Regel darauf hin, dass wir an einer Übersäuerung, einem nicht ausgeglichenen Säure-Basen-Haushalt leiden, auf den die Schleimhaut mit brennenden Bläschen reagiert. Und nächtliches Zähneknirschen signalisiert, dass wir chronisch angespannt sind und uns – aus welchen Gründen auch immer – im wahrsten Sinne des Wortes »durchbeißen«.

Schaue ich in den Mund eines Patienten, so schaue ich immer auch schon ein Stück weit in sein Leben hinein. Denn im Mund spiegelt sich vieles wider, was mir zeigt, wie dem jeweiligen Menschen dies oder jenes zusetzt, woran er zu kauen hat und was ihm Schaden zufügt. So versuche ich seit vielen Jahren, diese Zeichen zu deuten und die Beweggründe des Patienten herauszufinden, auf diese oder jene Art und Weise zu reagieren.

So fiel mir bei einem meiner langjährigen Patienten auf, dass sich seine Schneidezähne zusehends fächerartig nach vorne schoben. Erleichtert wurde dieser Prozess durch einen Knochenabbau im Zahnhalteapparat, sicheres Indiz für eine schon länger bestehende Parodontose. Tatsächlich bestätigte der Patient meine Vermutung, dass er hauptsächlich nachts, aber auch tagsüber auf erdrückenden Problemen herumkaute. Und irgendwann erzählte er mir vom Scheitern seiner Ehe und von zusätzlichen Schwierigkeiten an seinem Arbeitsplatz. Natürlich war es mir nicht möglich, seine privaten und beruflichen Probleme zu lösen, aber ich konnte ihn vor den negativen Auswirkungen dieser Belastungen auf sein Gebiss bewahren. Ich passte ihm eine funktionelle Spange an, die ihn vor einem schmerzhaften Zahnverlust bewahrte und die groteske Fehlstellung der Zähne rückgängig machte. Und mir fiel bei dieser Geschichte ein, was einmal eine meiner Kolleginnen bemerkt hatte: »Wenn der Zahn wackelt, wackelt die Seele.«

Unser Körper reguliert sich selbst

Symptome werden im Allgemeinen als Krankheitszeichen gesehen. Wir können in ihnen jedoch auch einen durchaus gesunden Abwehrmechanismus erkennen. Denn der Körper will grundsätzlich gesunden und tut dafür, was er kann. So gesehen sind Symptome nicht nur eine angemessene Reaktion auf einen Angriff, auf eine Erkrankung, auf schädliche Bakterien, sondern immer auch ein willkommenes Zeichen der Orientierung, wie wir den Organismus in seinem eigenen Sinne therapieren können. Haben wir eine Infektion, so fangen wir in vielen Fällen an zu fiebern. Auf diese Weise wehrt sich der Organismus gegen schädliche Bakterien, und das Fieber zeigt, dass der Körper noch etwas in Reserve hat, womit er dagegenhalten kann. Nach Hippokrates hat die Natur das Bestreben, die Gesundheit wiederherzustellen. Das drückt sich gerade in jenen Reaktionen aus, die wir als Krankheitssymptome bezeichnen. Dabei sind es tatsächlich Gesundungszeichen.

Unser Körper ist ständig dabei, sich in weiser Voraussicht auf das vorzubereiten, was vermutlich kommen mag. Sitzen wir zu lange in der Sonne, so rötet sich unsere Haut, sitzen wir vor dampfenden Schüsseln, produziert er vermehrt Speichel, stehen wir dagegen auf einem Podest vor vielen Menschen, um eine Rede zu halten, haben wir eher einen trockenen Mund. Stattdessen bilden sich Schweißperlen auf unserer Stirn, die uns davor bewahren, vor lauter Aufregung zu überhitzen. Gut also, wenn da ein Glas Wasser auf dem Rednerpult steht.

Ein charakteristisches Organisationsmerkmal aller Lebewesen, also auch unseres menschlichen Körpers, besteht darin, dass sich unser Organismus in einem dauerhaften Prozess der Selbsterschaffung und Selbsterhaltung befindet. Das heißt, unser Körper ist ständig dabei, zu regulieren. Damit befasst sich die sogenannte Regulationsmedizin, deren Prinzip es ist, mit der Selbststeuerung des Körpers zu arbeiten und nicht dagegen. Wie tickt unser Körper? Wie stellt er sich jeweils darauf ein, was gerade mit ihm geschieht, und wie steuert er das? Das sind die Fragen, die sich die Regulationsmedizin stellt. Wenn wir als Ärzte helfen wollen, steigen wir auf das Prinzip der Selbstregulierung ein, um dem Patienten besser helfen zu können. Denn dann unterstützen wir ihn bzw. seinen Körper auf seine eigene Weise, so wie dieser selbst das am besten kann.

Wie so eine Selbstregulierung angestoßen werden kann, hat der eingangs erwähnte systemische Zahnheilkundler Wilhelm Balters mit der Erfindung des Bionators gezeigt. Der Bionator ist eine Art Gymnastikgerät zur Zahn- und Kieferregulierung. Entscheidend ist, dass das (herausnehmbare) und lose sitzende Gerät selbst keine Kräfte auf die verformten Kiefer ausübt, sondern stattdessen in erster Linie die Kraft des Trägers nutzt, indem sie dessen Mundbewegungen steuert und besonders dafür sorgt, dass mit jedem Schluckvorgang und auch beim Sprechen die Mundfunktionen reguliert werden. Auf dieser Weise kann der Patient seine Zahn- und Kieferfehlstellung weitgehend aus sich selbst heraus korrigieren.

Alles, wirklich alles, was wir für oder gegen unseren Organismus tun, durchläuft den Weg der Instanzen unserer großen Regulationssysteme. Diese steuern und kontrollieren alle Lebensfunktionen, ihre Anpassungs- und Ausgleichsprozesse im Stoffwechsel, den Blutdruck ebenso wie den Atemrhythmus, die Muskelaktivitäten und Nervenimpulse.

Jeglicher Eingriff und jede Maßnahme, ganz gleich ob pharmakologischer oder chirurgischer Art, steht und fällt mit der Fähigkeit jedes lebenden Systems, sich bei ausreichender Versorgung selbständig und in eigener Regie zu erschaffen, erneuern und zu erhalten.

Die Theorie von der Autopoiesis, der zufolge jede einzelne Zelle zugleich als Produkt und Produzent am Ganzen teilhaben kann, stammt von den chilenischen Wissenschaftlern Humberto Maturana und Francisco J. Varela. Ihre Erkenntnisse bilden bis zum heutigen Tag die Basis aller Lebenswissenschaften und der modernen Komplementärmedizin, die davon ausgehen, dass Behandlungsmaßnahmen ohne die Beachtung und Nutzung dieser körpereigenen Gesetzmäßigkeiten nicht nur zwecklos, sondern in aller Regel auch schädlich sind.

Schulmedizin und Naturheilkunde ergänzen sich

Natürlich müssen wir auf akute Erkrankungen anders reagieren als auf chronische. So muss bei einer weit fortgeschrittenen Zahnkaries, die bereits das Zahninnere, die sogenannte Pulpa, erfasst hat, der Zahn geöffnet und saniert werden, ebenso wie ein entzündeter Blinddarm entfernt werden muss, bevor er gravierende Folgeschäden anrichten kann. Deswegen bin ich in vielen Fällen für eine gute, knallharte Schulmedizin. Wenn es jedoch um chronische Beschwerden geht, kann eine weitblickende, umfassende Naturheilkunde oder Komplementärmedizin nachhaltigere Erfolge erzielen.

Leiden wir beispielsweise an einer Infektion, die unsere Bronchien bedroht, so treten bei einer guten Immunlage sofort alle Abwehrkräfte auf den Plan, das heißt, wir husten und bekommen Fieber. Beides sind gute Symptome: Der Husten ist ein gesunder Abwehrreflex gegen die Reizung unserer Bronchialschleimhaut und dient der Reinigung unserer Atemwege. Das Fieber hat die Funktion, unseren Kreislauf »anzuheizen«, und unterstützt die Abwehrvorgänge unseres Körpers, indem es jene biochemischen Reaktionen beschleunigt, die zu unserer Genesung nötig sind.

Wenn wir das Fieber jedoch durch senkende Mittel drosseln, so stören wir den Organismus in seiner Fähigkeit, selbst mit dem Problem fertig zu werden. Unser Immunsystem wird dadurch verwirrt. So sind wir zwar kurzfristig wieder leistungsfähiger, wenn wir das Fieber unterdrücken, brauchen aber unter Umständen länger, um den Infekt ganz zu überwinden. Das heißt, wir sind über einen längeren Zeitraum nicht ganz gesund. Wird dieser Zustand chronisch, dann plädiert der Naturheilkundler dafür, das Fieber zu unterstützen, damit der Heilungsprozess tatsächlich alle notwendigen Stadien der Krankheit durchlaufen und den Körper richtig auskurieren kann.

Schon Hippokrates, der Begründer und Urvater der abendländischen Medizin, hat vor über zweitausend Jahren die Selbstheilungskräfte des menschlichen Organismus erkannt und basierend auf dieser Erkenntnis eine Jobbeschreibung des Arztberufs angelegt, die bis heute ihre Gültigkeit hat. Die Aufgabe des Arztes besteht, so Hippokrates, darin, »die Natur in ihrem Bestreben, die Gesundheit wiederherzustellen, zu unterstützen«. Dazu muss der Arzt »je nach Natur und Ursprung der Krankheit bald durch das Gegenteilige, bald durch das Gleichartige einwirken«. Konkret heißt das: Manchmal müssen wir mit Gegenmitteln (z.B. Antibiotika, Antidepressiva) gegen die Symptome vorgehen, manchmal aber auch gerade das Symptom für die Heilung nutzen.

Im Falle der Kieferorthopädie setzt man etwa bei Zahnfehlstellungen feste Spangen ein, um gegen das Symptom zu wirken, während funktionelle, d.h. bewegliche Spangen in der Regel mit der Körperregulation wirken.

Grüße aus dem Pleistozän