Das Vermächtnis der Seherin

Christoph Lode

Das Vermächtnis
der Seherin

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Christoph Lode

Christoph Lode, geboren 1977, ist in Hochspeyer bei Kaiserslautern aufgewachsen und lebt heute mit seiner Frau in Mannheim. Er studierte in Ludwigshafen am Rhein und arbeitete in einer psychiatrischen Klinik bei Heidelberg. Heute widmet er sich ganz dem Schreiben. Bereits mit seinen ersten beiden Romanen, »Der Gesandte des Papstes« und »Das Vermächtnis der Seherin«, sorgte er ebenso für Furore wie mit der großen Fantasy-Trilogie »Pandaemonia«

Impressum

© 2021 Knaur Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Nele Schütz Design, München

ISBN 978-3-426-45875-4

Wer einen Spielmann hereinlegen will,

Sollte viel besser als dieser betrügen können;

Denn es kommt ausgesprochen häufig vor,

Dass derjenige ausgeschmiert wurde,

Der versuchte, einen Spielmann hereinzulegen,

Und deshalb seine Börse geleert fand.

Ich kenne keinen, dem das je geglückt wäre.

 

– Der französische Spielmann Rutebeuf, 13. Jahrhundert

Auf zweiunddreißig Pfaden hat Wunderwerke der Weisheit eingegraben Jah, der Ewige Zebaot, der lebendige Gott, der Hohe und Erhabene, der in Ewigkeit Thronende, des Name Heiliger ist, und hat seine Welt geschaffen in drei Formen: Zahl, Buchstabe und Rede.

 

– Aus dem Sefer Jezirah

Prolog

Rouen
Jüdisches Jahr 5017
Anno Domini 1256

Das Mädchen kauerte in der Fensternische und beobachtete die brüllende Menge vor Ben Ephraims Haus.

Dutzende von Menschen standen auf der Straße, und immer noch strömten von der Pforte des Judenviertels neue herbei. Bei den meisten handelte es sich um Handwerker aus der Rue St-Romain, aber es waren auch Leute darunter, die Rahel noch nie gesehen hatte: Tagelöhner mit verhärmten Gesichtern, Hausknechte und Mägde aus den Patrizierhäusern der Oberstadt, sogar zwei Mönche hatten sich dem Menschenauflauf angeschlossen. Sie alle drängten sich vor dem Gebäude zusammen, zertrampelten den Schnee zu Matsch und brüllten ihre Wut heraus.

Rahel legte sich auf den Bauch und kroch in der Nische so weit nach vorne, dass der eisige Wind ihre Nase kitzelte und ihr schwarzes Haar zerzauste. So etwas war im Viertel noch nie geschehen. Sie war fest entschlossen, nichts zu verpassen.

Es war ein gewöhnlicher Morgen gewesen, bis Louis, der Schuster, plötzlich mit seinen vier Söhnen vor dem Haus auf der anderen Straßenseite erschienen war und geschrien hatte, Ben Ephraim solle herauskommen. Der Geldverleiher hatte ihn zum Teufel gewünscht und die Tür und alle Fensterläden zugeschlagen. Daraufhin war der Schuster verschwunden, aber wenig später kam er mit den anderen Handwerkern der Rue St-Romain zurück, die ebenfalls wütend auf Ben Ephraim waren. Während Rahel noch darüber nachdachte, was Ben Ephraim getan haben könnte, das so viele Leute verärgert hatte, wurde die Menge immer größer. Offenbar war nicht nur die Rue St-Romain zornig auf den Geldverleiher, sondern die halbe Stadt.

Rahel mochte Ben Ephraim. Er war ein freundlicher älterer Mann, der einmal in der Woche zu Besuch kam und ihr stets Honiggebäck mitbrachte. Es war schwer vorzustellen, dass er etwas tat, das andere Menschen in Wut versetzte. Sie hatte ihre Mutter gefragt, aber keine Antwort bekommen. Das Haus war seit zwei Tagen voller Menschen. Leute, die ihr über den Kopf strichen und sagten, sie sei groß geworden seit dem letzten Mal, obwohl sie sich nicht daran erinnern konnte, auch nur einen von ihnen schon einmal gesehen zu haben. Von morgens bis abends saßen sie mit ihrer Mutter hinter verschlossenen Türen und redeten über Dinge, die eine Sechsjährige nichts angingen. Auch wenn ihre Mutter einmal nicht mit den Fremden zusammensaß, hatte sie so viel zu tun, dass sie für Rahels Fragen keine Zeit hatte. Inzwischen war Rahel davon überzeugt, dass man sie vergessen hatte. Es machte ihr nichts aus. Solange Mutter und Mirjam beschäftigt waren, schrieb ihr niemand vor, was sie tun sollte. Warum die Christen so zornig auf Ben Ephraim waren, fand sie schon selbst heraus. Wenn sie etwas wirklich wissen wollte, fand sie es immer heraus.

Der Lärm der Menge ließ nicht nach. Jemand schrie, Ben Ephraim sei ein gottloser Teufel, woraufhin Dutzende die Fäuste in Richtung der verrammelten Tür schüttelten. Ben Ephraim zeigte sich nicht. Mit klopfendem Herzen hoffte Rahel, dass er klug genug war, drinnen zu bleiben.

Die Fensternische im Dachstuhl war der beste Platz, um das Geschehen zu beobachten. Von hier aus konnte sie fast das ganze Viertel überblicken. Ihre Mutter war eine wohlhabende Händlerin und ihr Haus das größte der Straße. Zahlreiche Räume enthielt es sowie einen Keller voller englischer Wolle, die ihre Mutter zu feinen Stoffen verarbeiten ließ und nach Paris, Brabant und Lothringen verkaufte. Seit Rahels Vater vor zwei Jahren gestorben war und ihre Mutter die Geschäfte allein führte, herrschte in einigen Zimmern ein heilloses Durcheinander aus Pergamentstapeln und verstaubtem Plunder. Niemand setzte einen Fuß hinein, nicht einmal Mirjam, Mutters Gehilfin. Mirjams Reich umfasste die Küche und die Kräuterbeete im Innenhof, die das große Mosaik umgaben, auf dem der Lebensbaum abgebildet war. Manchmal war Rahel den ganzen Tag bei ihr und lauschte den abenteuerlichen Geschichten, die Mirjam mit rauer Stimme erzählte. Meistens jedoch saß sie hier im Fenster, ihrem Lieblingsplatz, und träumte vor sich hin.

Ein Gewirr aus Balken verlor sich im ewigen Halbdunkel; hier und da sickerte Licht durch Ritzen im Dachschiefer. Es roch nach feuchtem Holz und Moder, und es zog unentwegt, auch wenn das Fenster geschlossen war. Körbe, Fässer und muffige Wollsäcke, in denen Ratten nisteten, stapelten sich unter den Dachschrägen. Spinnen woben ihre Netze zwischen den Balken, schwarze Scheusale so groß wie ihr Handteller, mit haarigen Beinen. Obwohl der Dachstuhl ein unheimlicher Ort war, liebte sie ihn. Wenn man geduldig suchte, konnte man interessante Dinge finden. Im Frühjahr war sie auf ein Amselnest gestoßen, versteckt in einer Mauerritze. Jeden Morgen hatte sie nach den Jungvögeln gesehen – ein piepsendes Knäuel aus gierig aufgerissenen Schnäbeln, das alles verschlang, was sie mitbrachte –, bis sie eines Tages verschwunden waren. »Sie brauchen ihre Mutter nicht mehr«, hatte Mirjam erklärt. »Sie sind flügge geworden. So wie du eines Tages.« Rahel hatte nicht verstanden, was das bedeutete.

Sie begann zu frieren. Sie wollte gerade nach unten laufen und ihren Umhang holen, als die Menge anfing, mit Unrat zu werfen. Sie vergaß die Kälte und beobachtete gebannt, wie ein Hagelschauer aus fauligen Rüben und stinkenden Fischabfällen gegen die Fensterläden prasselte. An der Tür zerplatzte ein Nachttopf und hinterließ einen braunen Fleck.

Ben Ephraim musste wirklich etwas sehr Schlimmes getan haben.

Erst jetzt fiel Rahel auf, dass auch die Fenster und Türen der Nachbarhäuser geschlossen waren. Ihre Hände umklammerten den Sims, während sie den Kopf weiter nach draußen reckte. Ja, sämtliche Häuser bis zur Mikweh am Ende der Straße waren verrammelt worden, als stünde ein schwerer Sturm bevor. Von den Bewohnern war niemand zu sehen, dabei hatte eben noch vor den Krämerstuben Gedränge geherrscht. Jetzt war die Gasse wie leer gefegt, abgesehen von der tobenden Menge vor Ben Ephraims Haus.

Rahels Herz klopfte schneller. Was hatte das alles zu bedeuten?

Die Christen hörten auf, Abfall zu werfen. Die Menge teilte sich und machte Louis Platz, der eine Axt in den Händen hielt. Er stieg die Stufen zum Hauseingang hinauf und hackte auf die Tür ein. Jubelrufe begleiteten jeden Hieb.

Rahel musste ihrer Mutter sagen, was draußen vor sich ging. Sie war so beschäftigt, dass sie es vielleicht nicht bemerkt hatte. Sie würde nicht zulassen, dass Ben Ephraim etwas zustieß. Sie war angesehen in der Gemeinde, sie kannte den Erzbischof und die Ratsleute des Magistrats. Sie würde Louis und den anderen sagen, dass sie aufhören sollten.

Rahel kroch rückwärts aus der Fensternische. Als sie sich umdrehte, stieß sie mit Mirjam zusammen.

»Was machst du hier?«, fragte die rothaarige Frau scharf.

»Ben Ephraim … die Christen … sie wollen ihm wehtun! Ich muss sofort zu Mutter!«, sprudelte es aus Rahel hervor. Sie wollte an Mirjam vorbeilaufen, doch die Magd hielt sie fest.

»Wieso bist du nicht in deiner Kammer, wie sie es dir gesagt hat?«

Alle waren so beschäftigt gewesen, dass sie gedacht hatte, niemandem würde es auffallen, wenn sie für eine Weile auf den Dachboden stieg. Aber natürlich hatte Mirjam es bemerkt. Ungehorsamkeiten bemerkte sie immer. Rahel blickte die Magd schuldbewusst an.

»Komm jetzt«, sagte Mirjam. »Deine Mutter will mit dir reden.«

Sie nahm Rahel an der Hand, während sie zur Leiter gingen. Mirjams Hände waren stark und schwielig von der Arbeit in der Küche und im Kräutergarten, ihr Haar hatte sie am Hinterkopf zusammengebunden. Allerdings waren die roten Locken widerspenstig; stets befreite sich eine aus dem Bändchen und fiel ihr ins Gesicht. Mirjam hatte die größten Brüste, die Rahel je gesehen hatte. Prall wölbten sie sich unter der Schürze. Rahel hoffte, dass ihre Brüste einmal nicht so groß werden würden. Es musste schrecklich unpraktisch sein, so große Brüste zu haben.

Mirjam war vor zwei Jahren zu ihnen gekommen, nach Vaters Tod, als Rahels Mutter sich um die Geschäfte kümmern musste. Anfangs hatte Rahel die Magd mit den grünen Augen nicht sonderlich gemocht. Mirjams laute Stimme hatte ihr Angst gemacht, außerdem war es unmöglich, etwas vor ihr zu verbergen. Rahel hatte versucht, sie zu vertreiben, indem sie Rattendreck und tote Fledermäuse in ihrem Bett versteckte. Aber sie hatte damit nur erreicht, dass Mirjam abfällig lachte und ihr Ratschläge gab, was man anstellen musste, wenn man jemanden wirklich ärgern wollte. Tue ihm Froschlaich in die Schuhe, hatte sie vorgeschlagen. Ratschläge für Streiche – und das aus dem Mund eines Erwachsenen! Unter diesen Umständen war ihr nichts anderes übrig geblieben, als sich mit Mirjam anzufreunden. Und das waren sie nun: Freunde.

Allerdings nicht in diesem Augenblick. Unsanft zerrte Mirjam sie zur Leiter.

»Au-aa!«, beschwerte Rahel sich.

»Geh schon. Na los«, sagte die Magd mit Nachdruck, »deine Mutter wartet.«

Sie kletterte die Leiter halb hinab und sprang dann, weil sie wusste, dass sie Mirjam damit ärgern konnte. Rahel lief zum Eingangsraum. Der Saal erstreckte sich über beide Stockwerke des Hauses, eine Treppe aus dunklem Kiefernholz führte vom Ober- zum Erdgeschoss. Auf der obersten Stufe blieb sie stehen. Die beiden Fenster und die Tür waren verrammelt wie bei den anderen Häusern der Straße, zwei Fackeln brannten, gedämpft drang das Grölen der Menge herein. Die Gäste ihrer Mutter standen herum, drei Männer und vier Frauen. Sie waren Juden und kamen aus der ganzen Normandie. Ihre Namen hatte Rahel schon wieder vergessen.

Sie entdeckte ihre Mutter und lief die Treppe hinunter. Keiner der Gäste schien sie zu bemerken. Aufgeregt redeten sie miteinander. Ihre Mutter sprach leise mit einer jungen Frau mit langem, blondem Haar und ernsten Augen, bis sie Rahel bemerkte.

»Dem Ewigen sei Dank, da bist du ja.«

»Du musst Ben Ephraim helfen!«, rief Rahel atemlos. »Sie haben einen Nachttopf gegen sein Haus geworfen! Und Louis schlägt seine Tür entzwei. Mit einer Axt!«

»Ich weiß«, erwiderte ihre Mutter traurig. Sie drückte Rahel an sich und strich ihr über das Haar.

Sie wusste es? Warum half sie Ben Ephraim dann nicht?

»Geh jetzt«, sagte ihre Mutter zu der blonden Frau. »Sag dem Erzbischof, dass ich dich geschickt habe. Aber nimm den Tunnel zur Mikweh, das ist sicherer.«

»Ja, Hohe Hüterin«, erwiderte die blonde Frau.

Welcher Tunnel?, dachte Rahel. Und was bedeutet »Hohe Hüterin«?

»Komm«, murmelte ihre Mutter. »Ich muss dir etwas sagen.« Sie ergriff Rahels Hand und führte sie zu einer offenen Tür.

Rahel war unbehaglich zumute, während sie den Saal durchquerten. Ihre Mutter öffnete die Tür zum Innenhof, und sie stapften den schneebedeckten Pfad zwischen Mirjams Kräuter- und Gemüsebeeten und dem Mosaik des Lebensbaums entlang zur Brunnenkammer. Kostbare Wandteppiche mit verschlungenen rot-grünen Mustern verhüllten die Wände. Auf einem Sockel gegenüber der Tür kauerte ein steinerner Seraph mit ausgebreiteten Schwingen. Ein leise plätschernder Strahl füllte ein Becken zu Füßen des Engels. Die Flammen des Kaminfeuers spiegelten sich auf dem dunklen Wasser.

Ihre Mutter setzte sich. Sie war eine schöne Frau, groß, schlank, mit heller Haut, dunklen Augen und langem, schwarzem Haar, das glatt und seidig schimmernd die Schulterblätter bedeckte. Sie arbeitete jeden Tag außer am Shabbat von Sonnenaufgang bis spät in die Nacht und war immer müde. Heute wirkte sie erschöpfter denn je.

Sie nahm Rahel auf den Schoß. »Sag den Vers auf«, forderte sie ihre Tochter auf.

»Warum? Ich habe ihn doch erst heute Morgen aufgesagt.«

»Sag ihn auf. Bitte.«

Widerwillig gehorchte Rahel.

»Hamakom bo yikpotz ha’dolfin

Hamakom bo yipagschu nakhash we’drakon

Hamakom bo yischte Jokhanan Ben Zekharya

Hamakom bo kawur Oyand

Hamakom bo yischkon Gratyan

Yar’eka Aharon Ben Yischma’el ha’natiw la’or«

Sie lernte Hebräisch, seit sie drei Jahre alt war. Doch im Judenviertel wurde fast nur Französisch gesprochen, sodass ihr die ungewohnten Worte nur stockend über die Lippen kamen. Trotzdem machte sie keinen Fehler. Ihre Mutter hatte vor drei Wochen begonnen, ihr diesen seltsamen Vers beizubringen, und ließ Rahel ihn mehrmals täglich aufsagen. Inzwischen konnte sie ihn im Schlaf. Wenn sie nur gewusst hätte, was er bedeutete …

»Du darfst ihn niemals vergessen«, sagte ihre Mutter. »Versprich mir das.«

Da war etwas in ihrer Stimme, das Rahel nie zuvor gehört hatte. Ihre Mutter fürchtete sich. Dabei war sie es doch, die von allen um Rat gefragt wurde, die immer ein offenes Ohr für die Sorgen der Nachbarn hatte und stets wusste, was zu tun war. Sie hatte sich noch nie gefürchtet, nicht einmal an Vaters Totenbett.

Rahel bekam Angst.

Die Tür öffnete sich. Mirjam kam herein. »Ich fürchte, uns bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte sie.

Rahels Mutter streifte sich das Lederband mit dem Kami’ah über den Kopf. Das kupferne Amulett schimmerte im Feuerschein. Es war Mutters Glücksbringer. Sie trug es immer bei sich. »Hör mir jetzt gut zu, Rahel«, sagte sie eindringlich. »Das Judenviertel ist in großer Gefahr. Damit dir nichts geschieht, wird Mirjam dich in Sicherheit bringen. Es sind Gaukler in der Stadt. Sie werden sich um dich kümmern, bis die Gefahr vorüber ist. Ich möchte, dass du das Kami’ah trägst. In zwei Wochen komme ich dich holen. Wenn ich es nicht schaffe, gehst du zur Synagoge von Barentin. Dort waren wir im Sommer, weißt du noch? Du zeigst Rabbi Meir das Kami’ah. Er wird dich bei sich aufnehmen, wenn er es sieht. Zum Dank sagst du den Vers auf. Hast du das verstanden?«

Rahel konnte nicht sprechen. Ihr war, als hätte sie jedes Wort, das sie jemals gelernt hatte, auf einen Schlag vergessen.

»Wiederhole, was ich gesagt habe«, verlangte ihre Mutter.

»Ich will nicht fortgehen«, brachte Rahel hervor. »Ich will bei dir bleiben!«

»Es ist nur für zwei Wochen. Es muss sein.« Sie hängte ihr das Kami’ah um. »Es gehört dir. Es ist jetzt dein Glücksbringer.«

Mirjam trat vor. »Komm. Wir müssen gehen.«

Ihre Mutter schickte sie fort. Schickte sie einfach fort, mit nichts als diesem dummen Amulett. Rahels Augen füllten sich mit Tränen. Nein. Das würde sie sich nicht gefallen lassen.

Sie rutschte vom Schoß ihrer Mutter und lief los, vorbei an Mirjam, durch die Tür. »Bleib hier!«, rief die Magd. Doch sie lief weiter, durch den Innenhof, den Eingangsraum mit den Fremden; das Kami’ah hüpfte auf ihrer Brust. Sie würde sich verstecken, an einem Ort, wo weder ihre Mutter noch Mirjam sie fanden. Dort würde sie bleiben, bis die Gefahr vorüber war.

Niemand brachte sie von hier fort. Niemand.

Sie wollte zur Treppe laufen, überlegte es sich aber anders. Auf dem Dachboden würde man als Erstes nach ihr suchen. Sie kannte bessere Verstecke. Geheime Schlupfwinkel, in denen sie vor Entdeckung sicher wäre.

Vor der Kellertreppe befand sich eine Tür, die meistens verschlossen war. Rahel wusste jedoch, wo der Schlüssel aufbewahrt wurde: in einer Nische hinter einem dreiarmigen Kupferleuchter. Sie hatte Mirjam einmal dabei beobachtet, wie sie ihn dort versteckte. Doch zu ihrer Überraschung stand die Tür offen, als sie dort ankam. Fackellicht erhellte die schmale Treppe. Hatten Mirjam oder ihre Mutter vergessen, sie zu schließen? Was taten sie an einem Tag wie diesem im Wollkeller?

Rahel hörte Mirjam nach ihr rufen. Sie kümmerte sich nicht länger darum, warum die Tür offen stand, und lief die Stufen hinab.

Die Kellerräume waren bis zur steinernen Decke mit Wollballen gefüllt, sodass man nur einen Schritt hineingehen konnte, ehe man vor einer wollenen Wand stand. Doch es gab Spalten zwischen den Quadern, die Tunnel bildeten. Tiefe Tunnel, viel zu eng für einen Erwachsenen. Sollte Mirjam doch versuchen, sie da herauszuholen. Rahel stellte sich vor, wie die Magd sich fluchend und schimpfend durch die Spalten zwängte. Wäre sie nicht so verzweifelt gewesen, hätte sie darüber gekichert.

Ihre Mutter hatte erst vor einigen Tagen eine neue Lieferung bekommen, und die vorderen Gewölberäume waren übervoll, sodass die Lücken zwischen den Ballen selbst für Rahel zu eng waren. Sie lief tiefer in den Keller. Vor der hintersten Kammer blieb sie verblüfft stehen.

Jemand hatte die Ballen so aufeinandergestapelt, dass sie eine schmale Gasse bildeten, die zur Rückwand des Raumes führte. Dort befand sich eine offene Tür, aus der ebenfalls Fackellicht fiel.

Rahel hatte diese Tür noch nie bemerkt. Dabei hatte sie immer geglaubt, jeden noch so unzugänglichen Winkel des Hauses zu kennen.

Der Tunnel zur Mikweh!, durchzuckte es sie. Das also hat Mutter gemeint.

Angst und Verzweiflung waren plötzlich vergessen. Stattdessen war sie genauso aufgeregt wie bei der Entdeckung des Amselnests. Hier gab es ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das nur darauf wartete, von ihr ergründet zu werden.

Bedächtig folgte sie der Gasse. Ein Luftzug ließ die Fackel flackern. Je näher sie der Tür kam, desto stärker roch es nach Moder. Doch da war noch ein anderer Geruch, bei dem sie an hohe Festtage denken musste, an Chanukka und Purim, an köstliche Speisen und Abende im Kerzenschein: der Duft von verbranntem Sandelholz.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie durch die Türöffnung schlüpfte. Vor ihr lag ein Raum, ein Saal beinahe, so groß war er. Der Fackelschein fiel auf einen Tisch. Ein Bild des Lebensbaumes befand sich an der Decke darüber, viel größer und prachtvoller als das Mosaik im Garten. Die Wand zu ihrer Rechten war mit einem gewaltigen Doppeldreieck versehen, einem Davidstern wie auf dem Kami’ah.

Was war das für ein Ort? Warum hatte Mutter ihn ihr nie gezeigt?

Mit angehaltenem Atem betrat Rahel das Gewölbe und hatte dabei das wohlig-schaurige Gefühl, etwas Verbotenes zu tun.

Kostbare Teppiche zierten die Steinmauern. Kupferbeschlagene Truhen und vielarmige Leuchter mit armdicken Talgkerzen standen davor. Auf dem Tisch, in zwei Schalen, lagen die verkohlten Reste von Sandelholz. Jemand hatte die Stühle verschoben. War ihre Mutter mit ihren Gästen hier gewesen?

An der gegenüberliegenden Wand entdeckte sie eine weitere Tür. Rahel war davon überzeugt, dass sich dahinter der geheimnisvolle Tunnel zur Mikweh befand. Sie durchquerte den unterirdischen Saal, um nachzusehen.

»Rahel!«

Erschrocken fuhr sie herum. Mirjam stand in der Tür, mit wütender Miene und einem Beutel in der Hand.

Schlagartig kehrte die Verzweiflung zurück. Warum hatte sie sich nicht versteckt, als sie noch die Gelegenheit dazu gehabt hatte? Jetzt war es zu spät. Alles nur wegen ihrer dummen Neugierde.

Mirjam versperrte ihr den Weg zurück in den Keller, also blieb ihr nur die andere Tür. Sie versuchte, den Türknopf zu drehen, doch er bewegte sich nicht. Wütend rüttelte sie daran.

»Nein!«, schrie sie, als Mirjam sie hochhob. »Ich will nicht. Lass mich runter. Ich will zu Mutter!«

»Sei nicht kindisch. Du hast doch gehört, was sie gesagt hat.« Die Magd schulterte den Beutel und nahm sie auf den Arm. Rahel wehrte sich, doch Mirjams Griff war unnachgiebig. Mit der freien Hand holte sie einen Schlüssel aus ihrer Schürze und schloss die Tür auf. Dahinter erstreckte sich ein Gang, der sich nach wenigen Schritten in der Dunkelheit verlor.

Rahel gab die Gegenwehr auf. Gegen Mirjam kam sie nicht an. Schluchzend vergrub sie ihr Gesicht in deren Halsbeuge, obwohl sie Mirjam in diesem Moment hasste wie niemals zuvor. Warum tat ihre Mutter das? Es gab doch keinen Ort auf der Welt, wo Rahel sicherer gewesen wäre als an ihrer Seite.

»Schsch, alles wird gut«, flüsterte Mirjam. Sie strich Rahel über den Kopf, während sie dem dunklen Tunnel folgte.

Nein, gar nichts wird gut!, wollte Rahel rufen, doch die Wut in ihr war Erschöpfung gewichen. Sie fühlte sich so einsam wie beim Tod ihres Vaters.

Bald lichtete sich die Finsternis. Rahel hob den Kopf. Sie hatten das Ende des Tunnels erreicht. Trümmer bedeckten den Boden, die Reste einer Mauer, die einst den Gang verschlossen haben musste. Mirjam stieg über die Steinbrocken. Durch eine offene Tür am oberen Ende einer kurzen Treppe fiel schwaches Tageslicht.

»Wo sind wir?«

»Unter der Mikweh. Du musst jetzt leise sein, hörst du?«

Mirjam setzte sie ab, nahm ihre Hand und stieg mit ihr die Stufen hinauf. Hinter der Tür befand sich das Wasserbecken der Mikweh. Es füllte den Boden eines runden Schachtes aus, in dem sich eine Treppe nach oben wand. Rahel war zum letzten Mal vor einigen Wochen hier gewesen, als Judith, Ben Ephraims Tochter, sich am Vorabend ihrer Hochzeit gereinigt hatte. Wie bei jedem Besuch des rituellen Badehauses hatte sie sich gefragt, was sich hinter der Tür befand, die niemals geöffnet wurde.

Ben Ephraim … Ihr fiel wieder ein, was gerade in der Straße geschah. Gleichzeitig nahm sie das Gebrüll von draußen wahr, das gedämpft zum Grund des Schachtes drang. Ihr Griff um Mirjams Hand wurde fester.

Sie gab keinen Laut von sich, während sie die Treppe emporstiegen. Mit jeder Stufe wurden die Schreie lauter. Das konnte nicht die Menge vor Ben Ephraims Haus sein. Das Anwesen des Geldverleihers war viel zu weit weg. Gab es etwa noch eine Meute?

Über dem Schacht der Mikweh stand ein schlichtes Gebäude mit einem hölzernen Dach. Mirjam ließ Rahels Hand los, ging seitlich an eines der Fenster heran und spähte vorsichtig hinaus. Rahel lief der Magd nach und stellte sich auf die Zehenspitzen, um über den Fenstersims blicken zu können.

Die ganze Straße war voller Christen. Sie waren ins Tanzhaus eingedrungen und schleuderten Stühle und Musikinstrumente aus den Fenstern. Eine andere Gruppe bewarf die Synagoge mit Steinen und Unrat. Die Männer brüllten Rabbi Abrahams Namen und forderten ihn auf, herauszukommen, damit er den Dreck von ihren Stiefelsohlen leckte, wie es einem Judenschwein gebührte. Rahel entdeckte Noah, den Fleischer. Die Christen zerrten ihn aus seinem Haus und zwangen den wimmernden Alten auf die Knie, während ein Mann ihm ein Kruzifix vors Gesicht hielt. »Küss das Kreuz, du Hund!«, brüllte der Christ. »Küss es, oder wir schneiden dir die Lippen ab!«

»Gerechter Herr aller Himmel«, flüsterte Mirjam. Ein harter Zug lag um ihren Mund, ihre grünen Augen schienen zu glühen.

Rahel ergriff ihre Hand. »Warum tun sie das?«, fragte sie leise. »Warum tun sie Noah weh?«

»Weil sie voller Hass sind. Geh vom Fenster weg.« Mirjam drückte Rahel an sich. Mehr zu sich selbst sagte sie: »Hoffentlich hat Ruth es noch rechtzeitig geschafft.«

Ruth musste die blonde Frau sein, die ihre Mutter zum Erzbischof geschickt hatte, begriff Rahel. Plötzlich wurde ihr die gefährliche Lage bewusst, in der sie steckten. Mirjam wollte sie fortbringen, aber ein Tor des Judenviertels befand sich nicht weit von Ben Ephraims Haus und das andere gleich neben der Mikweh. Andere Wege gab es nicht. Sie mussten an den brüllenden Christen vorbei.

Schluchzend flehte Noah um Gnade. Die Männer schrien. Rahel hielt sich die Ohren zu, bis Mirjam ihr die Hände wegnahm. Die Magd ging vor ihr in die Hocke.

»Hör zu«, sagte sie ernst. »Du musst allein zu den Gauklern gehen. Sie sind am Marktplatz in einem alten Lagerhaus hinter einer Schenke, der ›Tanzenden Jungfer‹. Weißt du, welche ich meine?«

Rahel verstand kein Wort. »Ich soll allein gehen?«

»Zu zweit schaffen wir es nicht.«

»Was ist mit dir?«

»Ich lenke die Christen ab, damit du zum Tor laufen kannst.«

»Aber ich will nicht ohne dich gehen!«

»Du musst. Ich öffne jetzt die Tür, laufe nach draußen und mache tüchtig Lärm. Wenn alle in meine Richtung schauen, läufst du, so schnell du kannst, zur Pforte und weiter zur ›Tanzenden Jungfer‹. Der Anführer der Gaukler heißt Yvain. Er erwartet dich. Hier sind deine Kleider.«

Rahel nahm den Beutel entgegen. Abermals stiegen ihr die Tränen in die Augen, doch diesmal kämpfte sie dagegen an. Sie wollte nicht weinen. Sie wollte mutig sein, so mutig wie Mirjam.

»Deine Mutter hat den Erzbischof verständigt. Sie hofft, dass er uns hilft, aber wenn du mich fragst, wird der fette Pfaffe keinen Finger für uns krumm machen. Wir sind auf uns gestellt. Deshalb musst du alles so machen, wie ich es dir gesagt habe. Also, wohin gehst du, wenn die Christen fort sind?«

»Zur ›Tanzenden Jungfer‹«, wiederholte Rahel folgsam. »Zu Yvain.«

Mirjam strich ihr lächelnd über die Wange. »Du schaffst das, ich weiß es. Du bist ein kluges Mädchen.« Sie richtete sich auf und legte die Hand auf den Riegel. Holte tief Luft und öffnete die Tür. »Ihr Christenschweine!«, brüllte sie mit ihrer rauen Stimme, die für Beschimpfungen wie geschaffen war. »Ihr verkommenen Feiglinge und stinkenden Aasfresser! Kommt her, wenn ihr euch traut!«

Für einen Herzschlag setzte das Gebrüll der Meute aus. Dann rief jemand: »Schnappt euch das Weib!« Überall brach wütendes Geschrei los.

Rahel kauerte zitternd neben der Tür. Sie wagte nicht, daran zu denken, was mit Mirjam geschehen würde, wenn die Meute sie ergriff. Vorsichtig lugte sie am Türpfosten vorbei. Sämtliche Christen schwenkten Heugabeln, Sensen und Äxte, während sie die Magd verfolgten.

Rahel wäre am liebsten wieder die Treppe hinuntergelaufen, durch den Tunnel, zurück nach Hause. Aber sie wollte, dass Mirjam und ihre Mutter stolz auf sie sein würden. Deshalb durfte sie jetzt nicht ängstlich sein. Sie würde all ihren Mut zusammennehmen und tun, was Mirjam gesagt hatte.

Sie stand auf und rannte auf die Straße.

Die Pforte des Judenviertels bestand aus einem Torbogen zwischen zwei Häusern. Dahinter lag der Marktplatz, auf dem sich gerade eine neue Menge sammelte. Mit Äxten, Messern und Sicheln in den Händen strömten die Christen aus den Gassen und scharten sich um einen mageren, bärtigen Mann, der ein schimmerndes Kruzifix in die Höhe reckte und immer wieder schrie: »Seid Werkzeuge unseres Herrn! Straft die Mörder Seines Sohnes!«

Rahel presste sich den Beutel an den Bauch und lief noch schneller. In der Mitte der Straße jedoch blieb sie ruckartig stehen.

Zwischen den zertrümmerten Stühlen und Musikinstrumenten aus dem Tanzhaus kauerte Noah. Der alte Fleischer atmete schwer und presste sich eine Hand auf den Bauch; sein faltiges Gesicht war grau. Er wandte den Kopf in ihre Richtung.

Rahel fürchtete sich ein wenig vor Noah. Mirjam ging einmal in der Woche zu ihm, um koscheres Fleisch zu kaufen. Er mochte keine Kinder und bedachte Rahel stets mit einer finsteren Miene, wenn die Magd sie in den Laden mitnahm.

Nun lag keinerlei Abneigung in seinem Blick. Seine Augen waren wässrig und trüb. »Bei allen Höllen, was machst du hier?«, krächzte er, hustete und schwenkte die Hand. »Lauf, Kind! Lauf um dein Leben!«

Da war etwas in seiner Stimme, das sie mit Grauen erfüllte. Sie lief los, rannte schneller als je zuvor in ihrem Leben, ihre kurzen Beine trugen sie zur Pforte, unter dem Torbogen hindurch, auf den Marktplatz. Hinter einem Karren versteckte sie sich und beobachtete die Menschenmenge. Der bärtige Alte hielt sein Kruzifix wie ein Feldzeichen in die Höhe. Vor ihm erhob sich ein Wald aus Sensen, Forken und Dreschflegeln.

Zur »Tanzenden Jungfrau« und zu den Gauklern, deren Anführer Yvain hieß, hatte Mirjam gesagt. Rahel versuchte, sich zu erinnern, wo genau sich die Schenke befand. In einer Seitengasse des Marktplatzes, aber das war alles, was ihr einfiel.

Sie schlüpfte in die nächstbeste Gasse – Hauptsache, fort von der Meute. Ihr begegnete keine Menschenseele, auch dann nicht, als sie in eine breitere Straße einbog, die von Läden und Weinstuben gesäumt wurde. Alle Christen mussten zum Marktplatz gegangen sein, wo sie in das Geschrei des Alten mit dem Kruzifix einstimmten.

Ihre Finger wurden taub, die Zehen auch. Geschmolzener Schnee hatte ihre Schuhe durchgeweicht. Bei jedem Schritt gaben sie schmatzende Geräusche von sich. Als sie »Die tanzende Jungfer« endlich fand, klapperten ihre Zähne.

Ein Schild hing über dem Torbogen, der zum Hof der Schenke führte. Die grüne Farbe war abgeblättert, und man konnte nicht mehr erkennen, was es darstellte. Erleichtert folgte Rahel einer engen Gasse, die an dem Gasthaus vorbeiführte. Da – das musste die alte Lagerhalle sein, in der die Gaukler wohnten: ein flaches Gebäude mit Wänden aus Holzbalken.

Rahel fand eine Tür, die schief in den Angeln hing. Mirjam hatte gesagt, Yvain erwarte sie, also wäre es wohl am besten, sie klopfte an. Von der Eiseskälte waren ihre Hände jedoch so schwach, dass sie nur ein jämmerliches Pochen zustande brachte. Als sie schon davon überzeugt war, dass niemand es gehört hatte, erklangen drinnen Schritte. Ein Türflügel öffnete sich knarrend, und ein Mann erschien. Seine Hosen und das Wams bestanden aus bunten Flicken.

Unverwandt starrte er auf sie herab. »Wer bist du?«, fragte er mit einer Stimme, die sich, davon war sie überzeugt, noch besser zum Fluchen eignete als Mirjams.

Sie sagte ihren Namen, aber durch das Zähneklappern klang er wie kkk-Ra-kk-he-kk-el-kkk. Trotzdem schien der bunte Mann sie zu verstehen, denn er brüllte über die Schulter:

»Yvain! Das Kind ist da!«

Rahel versuchte, mit dem Zähneklappern aufzuhören, aber je mehr sie sich bemühte, desto schlimmer wurde es. Ein zweiter Mann erschien in der Tür, älter als der erste und weniger bunt.

»Herrgott, Copin, warum hast du sie nicht hereingelassen? Das Kind friert sich ja zu Tode.«

Eine Entschuldigung brummend, verschwand der Buntgekleidete im Innern des Lagerhauses. Yvain lächelte sie freundlich an. »Komm mit mir. Wir haben schon auf dich gewartet.« Raue Finger schlossen sich um ihre Hand. Der alte Gaukler führte sie hinein und schloss die Tür. »Warum bist du allein? Wo ist Mirjam?«

Rahel hörte die Frage nicht. Gebannt betrachtete sie die Gestalten, die um die Feuerstelle kauerten. Sie hatte schon oft Gaukler gesehen; an hohen Festtagen waren immer welche im Viertel und machten im Tanzhaus Musik. Es waren lustige Gesellen, die unzählige Lieder kannten, waghalsig mit Fackeln und Messern jonglierten und immer schaurige Geschichten auf Lager hatten. Die Männer und Frauen am Feuer jedoch sahen alles andere als lustig aus. Sie hatten schmutzige Gesichter und schlechte Zähne, einer kratzte sich unentwegt, ein anderer schabte sich mit der Messerspitze den Dreck unter den Fingernägeln weg. Alle starrten Rahel an. Sie bekam wieder Angst und wünschte sich zum hundertsten Mal zurück nach Hause.

»Warum nehmen wir sie mit?«, rief jemand aus dem Halbdunkel. »Sie wird uns nur Ärger machen.«

»Jetzt fang nicht wieder damit an«, erwiderte Yvain. »Wir waren uns doch einig.«

»Das war, bevor diese Verrückten auf die Juden losgegangen sind.«

»Ich habe mein Wort gegeben, Gaufrey. Jetzt will ich nichts mehr davon hören.«

Yvain brachte sie zu einer Frau am Feuer. Er legte Rahel die rauen Hände auf die Schultern und sagte: »Sieh zu, dass sie trockene Kleider bekommt, Sorgest. Ich will, dass ihr einigermaßen warm ist, wenn wir aufbrechen.«

»Gewiss.« Die Frau war unglaublich dick und trug mehrere Röcke und ein geschnürtes Mieder, das aussah, als könnte es jeden Moment platzen. Ihre kurzen schwarzen Haare standen in alle Richtungen ab, ihre Wangen glänzten, und sie stank nach ranziger Butter. Wenigstens lächelte sie freundlich. »Du bist Rahel, nicht wahr?«

Rahel nickte. Ihre Zähne klapperten noch immer.

»Sind das deine Kleider?«

Sie nickte erneut.

Sanft nahm ihr die Frau den Beutel aus den zitternden Händen. »Bei allen Heiligen, du frierst ja wie ein geschorenes Lamm. Hier, nimm die Decke und setz dich ans Feuer.«

Auch die Decke stank. Wuschen diese Leute nie ihre Sachen? Die Frau hielt ihr Zögern für Begriffsstutzigkeit, nahm ihr die Decke wieder aus der Hand und wickelte sie darin ein. »Jetzt setz dich schon ans Feuer, Kindchen, sonst holst du dir noch das Fieber.«

Noch nie hatte sie jemand »Kindchen« genannt. Was war das überhaupt für ein albernes Wort? Sie setzte sich. Die Frau zog ihr die durchgeweichten Schuhe aus und rieb ihre Füße mit einem Tuch trocken. Es kribbelte in ihren Zehen, als die Taubheit nachließ. Die Frau öffnete den Beutel und schüttelte die Kleider heraus. Anschließend zog sie Rahel Wollstrümpfe an und forderte sie auf, ihren Überwurf abzulegen. Fassungslos starrte Rahel sie an. Sie sollte sich vor allen Leuten entkleiden? War die fette Frau verrückt geworden?

Die Gauklerin schien ihre Gedanken zu lesen und lachte fröhlich. »Daran gewöhnst du dich besser, Kindchen. Wir sind keine feinen Leute wie deine Mutter. Wir haben keine Vorhänge und Ankleidekammern.«

Am Feuer lachten einige. Rahel spürte, wie sie rot wurde, halb vor Scham und halb vor Zorn. An gar nichts würde sie sich gewöhnen! Mit einer Hand hielt sie die Decke um ihren Leib fest, während sie mit der anderen den Überwurf abstreifte.

»Ganz schön gelenkig«, sagte die Frau anerkennend. »Wir sollten eine Fesselakrobatin aus dir machen.«

Wieder lachten die Gaukler. Rahel verstand nicht, was daran so lustig gewesen sein sollte. Sie streifte die Decke erst ab, als sie ein Unterkleid anhatte, zog ein Gewand aus Leinen darüber und schlüpfte in trockene Schuhe. Endlich wurde ihr warm.

Während sie sich umgezogen hatte, war Unruhe unter den Gauklern ausgebrochen. Sie stopften ihre Habseligkeiten in Beutel, warfen sich Mäntel über und fluchten darüber, dass sie hinaus in die Kälte mussten. Die fette Frau führte Rahel zu drei Planwagen im hinteren Teil der Lagerhalle. Die Gaukler spannten Pferde ein.

»Wohin gehen wir?«, fragte Rahel beunruhigt.

»Wir verlassen Rouen«, antwortete Sorgest. »Und dann … Ich weiß nicht, welche Pläne Yvain hat. Vielleicht fahren wir nach Paris.«

Rouen verlassen? Davon hatte ihre Mutter nichts gesagt. Rahel blieb stehen. »Ich will nicht nach Paris.«

Seufzend ging Sorgest in die Hocke und legte ihr die Hände auf die Oberarme. »Aber in Rouen kannst du nicht bleiben, Kindchen. Das verstehst du doch. Es ist ja nicht für immer. Komm, ich will dir jemanden vorstellen, den du mögen wirst.« Sie nahm Rahel auf den Arm und trug sie zu den Wagen. Rahel fühlte sich hilflos und kämpfte mit den Tränen. Warum kümmerte es niemanden, was sie wollte?

Sorgest setzte sie auf dem mittleren Wagen ab. Unter der Plane herrschte ein Durcheinander aus Kästen, Säcken, Musikinstrumenten und seltsamen Gerätschaften. »Bren!«, rief die Gauklerin. »Sag unserem Gast Hallo.«

Zwischen den Kisten voller Plunder erschien ein Junge. Er war blass und mager und so schmutzig wie die Erwachsenen. Er mochte etwas älter als Rahel sein und hatte dunkelblondes Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte.

»Das ist Rahel«, stellte Sorgest sie vor. »Sie bleibt ein paar Tage bei uns. Zeig ihr deine Puppe.«

Jemand rief: »Sorgest!« Die Gauklerin strich Rahel über den Kopf, bevor sie davoneilte.

Der Junge musterte sie schweigend – ob neugierig oder misstrauisch, vermochte sie nicht zu sagen.

Yvain kletterte auf den Wagenbock, ließ die Leine knallen und rief »Ho!«. Ruckelnd setzte sich der Karren in Bewegung. Rahel fiel beinahe herunter. Sie hielt sich an den Kisten fest, stieg über das Gerümpel und setzte sich zu dem Jungen auf die Pritsche.

»Ich heiße Brendan. Aber du kannst Bren zu mir sagen«, stellte er sich vor. »Das ist der Einarmige Saladin.« Er nahm eine Gliederpuppe in die Hände. Sie stellte einen Sarazenenkrieger dar, mit purpurnem Rock, einem Säbel am Gürtel, spitzem Kinnbart und schwarzen Knopfaugen. »Willst du mit ihm spielen?«

Der blasse Junge hielt ihr die Puppe hin, deren Arme und Beine hölzern klapperten. Zögernd nahm Rahel sie und setzte sie sich auf den Schoß.

Schweigend saßen sie sich gegenüber, während der Wagen durch die Gassen rumpelte, gefolgt von den beiden anderen Fuhrwerken, auf denen der Rest der Gauklerschar saß. Das Spital La Madeleine zog an ihnen vorbei, der Bischofspalast und schließlich das Stadttor.

Sie verließen Rouen. Rahel begann wieder zu frieren, und diesmal war die Kälte von einer Art, die kein Feuer dieser Welt vertreiben konnte. Sie presste die Puppe an sich und betrachtete die Stadt, die langsam in die Ferne rückte. Als sie die Hügel erreichten, sah sie Rauch über den Dächern: eine schwarze Säule, die himmelwärts stieg und sich mit den Wolken vereinte.

Der Junge setzte sich neben sie. »Ist das dein Haus, das brennt?«

Rahel wusste es nicht. Tränen rannen über ihre Wangen.

Brendan nahm ihre Hand in seine.

Kapitel 1

Vierzehn Jahre später

Es schneite den ganzen Morgen. Erst gegen Mittag, als sie ein schmales Flusstal erreichten, wurde es wärmer. Die Schneeflocken verwandelten sich in wässrige Klumpen, die die Segeltuchplanen der beiden Wagen durchweichten. Die Räder hinterließen schlammige Furchen in der weißen Landschaft.

Rahel saß neben Brendan auf dem Bock des vorderen Wagens und hatte wie der Bretone die Umhangkapuze tief ins Gesicht gezogen. Es half kaum etwas; die Nässe fand einen Weg durch den Filzmantel, sodass es inzwischen kaum noch eine Stelle ihres Körpers gab, die nicht feucht und klamm war. Sie sehnte sich nach einem Feuer, nach heißem Wein und einem Schlaflager aus trockenem Stroh. Nicht gerade drei unerfüllbare Wünsche, hatte sie bis vor zwei Stunden gedacht. Aber da hatte Brendan auch noch nicht die falsche Abzweigung genommen.

»Es war die richtige Abzweigung«, hatte er gesagt. »Ich erinnere mich genau. Letztes Jahr sind wir auch an den drei Fichten vorbeigekommen.«

»Letztes Jahr sind wir überhaupt nicht durch dieses Tal gefahren«, hatte Rahel erwidert. »Wir sind von Süden gekommen. Von Limoges. Die drei Fichten bildest du dir ein.«

»Ich bilde mir überhaupt nichts ein. Das ist der richtige Weg.«

»Ist er nicht. Wir halten an und fragen Schäbig. Er erinnert sich bestimmt.«

»Wenn sich Schäbig überhaupt an etwas erinnert, dann höchstens an sein letztes Bier. Wir fahren weiter. Bourges taucht jeden Moment hinter der Hügelkette auf, du wirst schon sehen.«

Aber Bourges war nicht aufgetaucht – ebenso wenig eine andere Stadt oder wenigstens ein Gehöft. Die Gegend schien menschenleer zu sein. Rahel fror erbärmlich und flehte Brendan an, umzukehren, woraufhin sich das Gespräch fast wortwörtlich wiederholte, allerdings mit anderem Ausgang: Sie nannte ihn einen bretonischen Steinschädel, einen blinden Esel und einen Tölpel von einem Spielmann, riss ihm die Zügel aus den Händen und hielt den Wagen an. Schäbig kam vom hinteren Wagen angelaufen und wollte wissen, was los sei. Rahel erklärte es ihm. Schäbig nickte zustimmend und sagte, der Weg sei ihm auch schon merkwürdig vorgekommen. Schließlich hatten sie die Wagen gewendet – ein mühseliges Unterfangen auf dem verschneiten Pfad – und waren zurückgefahren. Seitdem schwieg Brendan beleidigt.

Es verging keine Woche, in der sie sich nicht in die Haare gerieten – sowohl Bren als auch Rahel waren ausgeprägte Hitzköpfe –, aber so oft wie in den letzten Tagen hatten sie sich noch nie gestritten. Die Stimmung in der sechsköpfigen Gauklerschar war schlecht.

Seit einem Monat verfolgte sie das Pech. Angefangen hatte es in einem kleinen Nest bei Chartres, wo sie zum Namenstag von Baron Abuillon auftreten sollten. Kaum waren sie in der Ortschaft angekommen, wurden sie von einer aufgebrachten Menge davongejagt. Rahel vermutete, dass die Dörfler von den Predigern, die seit einiger Zeit durch das Land zogen, aufgehetzt worden waren und ihre Wut in Ermangelung von Juden am fahrenden Volk ausließen. In Montargis wurde es nicht besser. Es hatte die Aussicht bestanden, auf dem dortigen Adventsmarkt zu spielen, doch bei ihrer Ankunft stellte sich heraus, dass bereits zwei andere Gauklergruppen in der Stadt waren und für eine dritte kein Bedarf bestand. Dann, auf dem Weg nach Orléans, verendete plötzlich eines ihrer Pferde. Sie waren auf beide Wagen angewiesen, also mussten sie ein neues Pferd beschaffen. Der Kauf verschlang fast ihr gesamtes Silber. Vom kümmerlichen Rest erstanden sie Vorräte, die inzwischen fast aufgebraucht waren. Noch zwei, höchstens drei Tage, und sie konnten anfangen, ihre Stiefelsohlen zu kochen. Und das im härtesten Winter seit zwanzig Jahren.

»Ich hab’s nicht so gemeint«, sagte Rahel nach einer Weile. »Tut mir leid, Bren.«

»Schon vergessen«, erwiderte er aus dem Schatten seiner Kapuze. Der Bretone mochte stur und eitel sein, nachtragend war er nicht.

Es rumorte im Innern des Wagens. Die Plane wurde zur Seite geschlagen, und Joanna streckte ihren blonden Schopf heraus. Sie hatte sich kurz nach Rahels und Brendans Streit hingelegt und wirkte verschlafen. »Na, vertragt ihr euch wieder?«

»Nein«, antwortete Brendan. »Der Zweikampf ist im Morgengrauen.« Er küsste Joanna auf den Mund. Sie blieb hinten auf der Pritsche, denn auf dem Kutschbock war zu wenig Platz für drei. Sie schlang die Arme um Brendans Schultern, als er sich wieder nach vorne umwandte.

»Wie weit ist es noch?«

»Ein paar Wegstunden, schätze ich«, erwiderte Rahel.

»Was machen wir, wenn wir in Bourges wieder kein Glück haben?«

Ich weiß es nicht, wäre die Antwort gewesen, die der Wahrheit entsprach. Aber Rahel wollte Joanna nicht entmutigen. »Dann fahren wir weiter bis Limoges. Dort hatten wir bisher immer Glück.«

»Aber Limoges ist sechs oder sieben Tagesreisen entfernt. So lange reichen unsere Vorräte nicht.«

»In Bourges gibt es ein Armenhaus. Ich habe mich letztes Jahr dort umgesehen. Die Brüder weisen Fahrende nicht ab. Sicher geben sie uns Brot, das für ein paar Tage reicht.«

Das schien Joanna zu beruhigen, und sie plapperte munter drauflos. So war es immer: Die ganze Schar mochte noch so tief in Schwierigkeiten stecken, sobald Rahel ihnen sagte, was zu tun war, hörten sie auf, sich Sorgen zu machen. Sie war die unumstrittene Anführerin der Gruppe, obwohl niemand sie je gewählt hatte. Aber wer hätte es sonst werden sollen? Brendan interessierte sich nur für Joanna und Joanna nur für Brendan, Vivelin und Kilian wollten nichts als Musik machen, und Schäbig war laut eigener Aussage schlicht zu faul dafür. Also traf Rahel alle wichtigen Entscheidungen, und die anderen hörten auf sie – meistens wenigstens.

Gegen Abend erreichten sie endlich Bourges. Die Stadt war klein, bemerkenswert allein wegen der gewaltigen Kathedrale, die zwischen den zahlreichen Holz- und wenigen Steingebäuden emporragte wie ein gestrandetes Schiff aus einer anderen Welt. Der Schnee war weggeräumt worden und bildete schmutzig weiße Haufen vor den Häusern. Da Bourges abseits der wichtigen Handelsrouten lag, bekamen die Bewohner nicht oft Fahrende zu Gesicht. Während die beiden Wagen über die Hauptstraße rumpelten, blieben die Leute am Wegesrand stehen und begafften die sechs Gaukler in ihren bunten Kleidern. Die meisten Blicke galten Rahel, die selbst für eine Fahrende auffällig aussah. Brendan hatte einmal gesagt, beim Anblick ihrer olivfarbenen Haut, der mandelförmigen Augen und der schwarzen Locken denke man an glühende Sonne, an Paläste im Wüstensand, rätselhafte Gärten und verschleierte Tänzerinnen. Dabei war sie in Frankreich geboren, als Kind französischer Juden. Die Locken trug sie kurz wie ein Mann, denn wer auf einem gespannten Seil in zehn Klaftern Höhe mit Fackeln jonglierte, wusste Haare zu schätzen, die nicht bei einer falschen Bewegung in Flammen aufgingen. Damit nicht genug, auch ihre Kleidung war nicht gerade das, was man von einer Frau erwartete: Stiefel, ein zerschlissener brauner Mantel, darunter ein Hemd und – Herr, sei uns gnädig! – Hosen.

Brendan dagegen wäre auf der Straße kaum aufgefallen. Das kinnlange, dunkelblonde Haar hatte er zu einem Zopf gebunden. Mit seinen einundzwanzig Jahren hatte er den Bartwuchs eines Jünglings; obwohl seine letzte Rasur schon zwei Wochen zurücklag, bedeckte lediglich heller Flaum das Kinn. Seine Haut war sommers wie winters blass, das hagere Gesicht und seine magere, feingliedrige Gestalt verstärkten den Eindruck von Kränklichkeit noch. Dabei war er kerngesund und konnte Unmengen essen. Im Grunde unterschied er sich nur durch die schwarz-rot gestreiften Beinlinge, das beige und rostrot karierte Wams und die Laute auf seinem Rücken von den Leuten am Wegesrand.

»Fahren wir zum Armenhaus?«, fragte er, als sie sich der Kathedrale näherten.

»Zur Herberge, in der wir letztes Jahr waren«, antwortete Rahel.

»Ich dachte, wir haben kein Geld mehr.«

»Ein paar Deniers sind noch übrig. Sie sollten reichen, dass man uns im Stall schlafen lässt.«

Sie hielten vor einem einstöckigen Gebäude mit grauen Steinmauern und einem hölzernen Dach. Rahel und Brendan fanden den Wirt im Schankraum, wo er gerade frische Binsen ausstreute. Er überließ ihnen den Stall für zwei Deniers am Tag und das Versprechen, dass sie seine Gäste jeden Abend mit Musik unterhielten. Das war mehr als letztes Jahr, aber Rahel war zu müde und durchgefroren für langwierige Verhandlungen und nahm an.

Als sie zu den Wagen zurückgingen, sprach Joanna gerade mit einem Mann, der von Kopf bis Fuß Schwarz trug.

»Wer ist das?«, fragte Brendan argwöhnisch. Er mochte es nicht, wenn Joanna von fremden Männern angesprochen wurde.

Rahel kannte ihn nicht. In diesem Moment deutete Joanna mit dem Finger auf sie und sagte: »Da. Das ist sie.«

Der Fremde wandte sich um. Er war jung, höchstens siebzehn Jahre alt, trug ein Schwert am Gürtel und kostbare Ringe an den blassen Fingern. Auf seinem Wams prangte ein silberner Greif. Er musterte Rahel mit der Herablassung eines Edelmanns. Sie machte sich auf Schwierigkeiten gefasst. Bei allem, was in den letzten Wochen geschehen war, fehlte es noch, dass sie sich Ärger mit einem Edlen eingehandelt hatten.

»Du bist die Anführerin dieser Spielleute?«, sprach der Jüngling sie an. Seine Stimme war zu hell, um so arrogant zu klingen, wie er es vermutlich gerne gehabt hätte.

»Schon möglich«, antwortete Rahel vorsichtig.

»Ich bin Marbod de Corbeil, Knappe von Gilbert de Villon, Kreuzritter unseres geliebten Königs. Mein Herr will seine Heimkehr nach Frankreich feiern. Er wünscht, dass ihr seine Gäste mit Musik und Gaukelspiel erfreut.«

Ihre Gefährten hörten der Unterhaltung mit gespannten Gesichtern zu. Rahel mochte es nicht, bei Verhandlungen beobachtet zu werden. »Geht schon hinein«, sagte sie zu Brendan. »Ich komme gleich nach.«

Die Gaukler kletterten auf die Wagen und fuhren zum Stalltor. Rahel wandte sich wieder an den Knappen. »Wir hatten nicht vor, lange in Bourges zu bleiben«, log sie. »Wann ist dieses Fest?«

»Am Tag der heiligen Barbara.«

Das war übermorgen. »Eigentlich wollten wir morgen nach Montargis aufbrechen. Dort ist Adventsmarkt, auf dem wir jedes Jahr auftreten.«

»Mein Herr ist ein großzügiger Mann. Er wird euch angemessen entlohnen, wenn ihr stattdessen auf seinem Fest auftretet.«

Waren sie etwa die einzigen Gaukler in Bourges? Rahel konnte es kaum fassen. »Daran zweifle ich nicht«, sagte sie bedauernd. »Allerdings rechnet der Bischof von Montargis fest mit uns. Es würde ihn verärgern, wenn wir nicht kämen.«

Anstelle einer Antwort zog der Knappe einen klimpernden Lederbeutel hinter dem Gürtel hervor. »Das bekommt ihr, wenn ihr bleibt und für meinen Herrn spielt. Wenn er zufrieden mit euch gewesen ist, verdoppelt er euren Lohn.«

Rahel öffnete den Beutel. Darin war mehr Silber, als sie seit Wochen gesehen hatte. Ihr Gesicht blieb unbewegt. »Wenn er zufrieden ist, bekommen wir noch mal so viel, sagt Ihr?«

Der Jüngling nickte. »Also nimmst du sein Angebot an, Gauklerin?«

Rahel verneigte sich. »Richtet Eurem Herrn aus, dass wir ihm am Tag der heiligen Barbara zu Diensten sein werden, mit Musik und Gaukelspiel, wie er es so bald nicht wieder erleben wird.«