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Die Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel «The BFG» bei Jonathan Cape, London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«The BFG» Copyright © 1982 by Roald Dahl Nominee Ltd.

Illustrationen Copyright © 1982 by Quentin Blake

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Umschlagillustration Quentin Blake

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-21748-7 (1. Auflage 2016)

ISBN E-Book 978-3-644-56761-0

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-56761-0

Für Olivia

20. April 1955–17. November 1962

In diesem Buch kommen folgende Personen vor:

Menschen

 

Die Königin von England

Mary, die Kammerzofe der Königin

Mister Tibbs, der Oberhofmeister

Der Oberkommandierende der Landstreitkräfte

Der Oberkommandierende der Luftstreitkräfte

und natürlich Sophiechen, ein Waisenkind

 

Riesen

 

Der Fleischfetzenfresser

Der Knochenknacker

Der Menschenpresser

Der Kinderkauer

Der Hackepeter

Der Klumpenwürger

Der Mädchenmanscher

Der Blutschlucker

Der Metzgerhetzer

und natürlich Der gute Riese GuRie

Geisterstunde

Sophiechen konnte nicht einschlafen.

Helles Mondlicht fiel schräg durch einen Spalt zwischen den Fenstervorhängen und schien direkt auf ihr Kopfkissen.

Die anderen Kinder im Schlafsaal schliefen schon seit Stunden tief und fest.

Sophiechen machte ihre Augen zu und lag ganz still da. Sie gab sich wirklich große Mühe, endlich einzuschlafen.

Aber es ging nicht. Der Mondstrahl war wie eine Schwertklinge aus Silber, die durch den Raum schnitt bis mitten auf ihr Gesicht.

Im ganzen Haus herrschte tiefstes Schweigen. Kein Stimmengewirr drang von unten herauf. Und von oben war auch nichts zu hören, nicht ein einziger Schritt.

Das Fenster hinter dem Vorhang stand weit offen, aber draußen auf der Straße war kein Mensch unterwegs. Nicht ein einziges Auto brummte vorüber. Es gab einfach überhaupt nichts zu hören, nicht einmal das allerleiseste Geräusch. So eine lautlose Stille hatte Sophiechen noch nie erlebt.

Vielleicht, dachte sie, ist das jetzt die Geisterstunde, von der ich schon mal gehört habe.

Die Geisterstunde, hatte ihr jemand ins Ohr geflüstert, das ist eine bestimmte Zeit um Mitternacht, wenn alle Kinder und alle Erwachsenen ganz tief schlafen. Dann kommen all die unheimlichen Wesen aus ihren Schlupfwinkeln hervor und bevölkern die Welt, als gehöre sie ihnen allein.

Der Mondstrahl war inzwischen noch heller geworden auf Sophiechens Kopfkissen. Sie wollte aufstehen und den Spalt zwischen den Vorhängen zuziehen.

Man wurde bestraft, wenn man nach dem Lichtausmachen noch außerhalb seines Bettes erwischt wurde. Es nützte gar nichts, wenn man dann sagte: Ich muss mal aufs Klo. Diese Entschuldigung wurde einem einfach nicht geglaubt, und man bekam seine Strafe trotzdem. Aber jetzt passte niemand mehr auf, das wusste Sophiechen genau.

Sie tastete mit der Hand nach ihrer Brille, die auf dem Tischchen neben ihrem Kopfende lag. Die Brille hatte ein Drahtgestell und sehr dicke Gläser. Ohne ihre Brille konnte Sophiechen fast gar nichts erkennen. Deswegen setzte sie sie sich auf, schlüpfte aus dem Bett und lief auf Zehenspitzen zum Fenster.

Als sie bei den Vorhängen angekommen war, hielt Sophiechen inne. Sie hatte plötzlich wahnsinnige Lust, unter dem Vorhang durchzutauchen und aus dem Fenster zu schauen. Wie wohl die Welt da draußen aussah, wenn die Geisterstunde gekommen war?

Sie strengte ihre Ohren an. Nichts. Alles lag totenstill da.

Nun konnte sie ihre Neugier nicht länger beherrschen. Sie musste einfach nach draußen gucken. Ruckzuck duckte sie sich unter dem Vorhang durch und beugte sich aus dem Fenster.

Im silbrigen Mondlicht kam ihr die Dorfstraße, die sie ganz genau kannte, völlig verwandelt vor. Die Häuser sahen schief und krumm aus wie die Häuschen in Märchenbüchern. Alles sah so bleich aus, so gespenstisch und milchig weiß.

Auf der anderen Straßenseite konnte sie den Laden von Ellen Keller erkennen, wo man Sachen wie Knöpfe, Wolle und Gummiband kaufen konnte. Aber jetzt sah der Laden irgendwie komisch aus. Alles war so schummerig und so nebelschleierhaft da drüben.

Sophiechen ließ ihre Blicke weiter und immer weiter die Straße hinunterwandern.

Plötzlich bekam sie einen eisigen Schreck. Da kam etwas auf der Straße, drüben auf der anderen Seite, näher und näher.

Etwas Schwarzes kam da immer näher …

Etwas Großes und Schwarzes …

Etwas sehr Großes, sehr Schwarzes und sehr Dünnes …

Wer?

Ein Mensch war das nicht. Das war unmöglich ein Mensch. Es war nämlich viermal so groß wie der allergrößte Mensch, den es gibt. Es war so groß, dass sein Kopf höher war als die Fenster im ersten Stock der Häuser an der Dorfstraße. Sophiechen riss den Mund auf, um laut zu schreien, aber sie konnte keinen einzigen Ton herausbringen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und ihr ganzer Körper starr vor Schreck.

Es war ja doch die Geisterstunde!

Die große schwarze Gestalt kam auf Sophiechen zu. Sie bewegte sich, die lang gezogene Gestalt, ganz dicht an den Häusern auf der anderen Straßenseite entlang und versteckte sich in den schattigen Winkeln, wo das Mondlicht nicht hinkam.

Die Gestalt schlich sich immer näher und näher und näher heran. Aber sie kam nur ruckartig vorwärts. Sie hielt an, dann ging sie wieder ein Stückchen weiter, dann machte sie wieder halt.

Und was machte das große dunkle Ding da draußen?

Aha! Jetzt endlich konnte Sophiechen erkennen, was dieses Wesen da eigentlich trieb. Vor jedem Haus hielt es an und spionierte durch die Fenster in das obere Stockwerk. Es musste sich herunterbücken, um in die oberen Fenster hineinsehen zu können. So groß war dieses Wesen.

Das Wesen hielt vor einem Haus an und spionierte herum. Dann glitt es zum nächsten Haus und hielt wieder an und spionierte wieder herum. Und so ging es die ganze Häuserzeile entlang.

Mittlerweile war die Gestalt schon sehr viel näher gekommen, sodass Sophiechen sie etwas besser erkennen konnte.

Je mehr sie erkennen konnte, desto klarer wurde ihr: Es musste sich um eine Art von Lebewesen handeln. Zwar nicht um ein menschliches Lebewesen, das sah man deutlich. Aber ein Lebewesen war das auf jeden Fall.

Vielleicht war das ein RIESENLEBEWESEN!

Sophiechen spähte angestrengt über die neblige, mondscheinerleuchtete Straße hinüber. Der Riese (wenn man das, was da zu sehen war, einen Riesen nennen konnte), der Riese hatte einen langen SCHWARZEN MANTEL an.

In der einen Hand hielt er etwas, das sah aus wie eine sehr LANGE, DÜNNE TROMPETE.

In der anderen Hand trug er einen GROSSEN KOFFER.

Der Riese hatte jetzt gerade haltgemacht vor dem Haus von Herrn und Frau Ganting. Die Gantings hatten einen Gemüseladen an der Hauptstraße. Im ersten Stock über dem Laden lag ihre Wohnung. Die beiden Kinder der Gantings schliefen in dem Zimmer zur Straße hin. Das wusste Sophiechen.

Der Riese spähte durch das Fenster in das Zimmer, in dem Michael und Anne Ganting schliefen. Von der anderen Straßenseite konnte Sophiechen das genau beobachten – und hielt den Atem an.

Sie sah, wie der Riese einen Schritt nach hinten tat und seinen Koffer auf das Straßenpflaster stellte. Er bückte sich und klappte den Koffer auf. Er holte etwas daraus hervor. Das sah aus wie ein viereckiges Glasgefäß mit einem Deckel zum Zuschrauben. Der Riese schraubte den Deckel ab und kippte das Glas in den Trichter seiner langen Trompete.

Sophiechen sah alles mit an und zitterte vor Aufregung.

Sie sah, wie der Riese sich wieder aufrichtete und dann das Trompetendings in das offene Fenster hineinschob, hinter dem die Gantings-Kinder schliefen. Sie sah, wie der Riese ganz tief Luft holte und Pffffffff in die Trompete hineinpustete.

Es war kein Ton zu hören, aber Sophiechen konnte sich denken, dass jetzt das, was vorher in dem Glas gewesen war, durch die Trompete mitten in das Kinderschlafzimmer der Gantings hineingeblasen worden war.

Was das wohl sein mochte?

Als der Riese seine Trompete aus dem Fenster wieder herauszog und sich nach seinem Koffer bückte, drehte er zufällig den Kopf herum und warf einen Blick über die Straße.

Im gleißenden Mondlicht erkannte Sophiechen blitzschnell ein ellenlanges, bleiches, runzliges Gesicht mit ungeheuer großen Segelohren. Der Nasenrücken war scharf wie eine Messerklinge, und rechts und links von der Nase funkelten zwei Augen hervor. Und diese Augen richteten sich haargenau auf die kleine Sophie. Das sah irgendwie unheimlich aus, als wären es Teufelsaugen.

Sophiechen schrie auf und flüchtete sich weg vom Fenster. Sie flitzte quer durch den Schlafsaal, hechtete in ihr Bett und krabbelte unter die Decke. Da ringelte sie sich zusammen, mucksmäuschenstill, und zitterte und bibberte.

Grapsch!

Sophiechen lag unter ihrer Bettdecke und wartete.

Nach ungefähr einer Minute hob sie die Decke ein ganz klein bisschen hoch und linste nach draußen.

Zum zweiten Mal in dieser Nacht erstarrte ihr das Blut in den Adern, und sie wollte losschreien. Aber sie brachte keinen Pieps heraus. Da drüben am Fenster, wo jetzt die Vorhänge beiseitegeschoben waren, da zeigte sich das ellenlange, bleiche, runzlige Gesicht des gigantischen Wesens und starrte herein. Die blitzenden schwarzen Augen waren genau auf Sophiechens Bett gerichtet.

Und schon schob sich eine unheimlich große Hand mit bleichen Fingern wie eine Schlange durch die Fensterhöhle.

Dahinter kam ein Arm, so dick wie ein Baumstamm. Und der Arm, die Hand und die Finger reckten und streckten sich quer durch den Saal nach dem Bett von Sophiechen aus.

In dieser Sekunde musste Sophiechen wirklich losschreien, aber nur einmal und ganz, ganz kurz, weil nämlich die unheimlich große Hand sofort die Bettdecke zusammenkrallte, wodurch der Schrei erstickt wurde.

Sophiechen, die ja doch unter dieser Bettdecke lag, fühlte plötzlich, wie kraftvolle Finger sie packten, wie sie mit der Decke und allem Drum und Dran aus dem Bett hochgehoben und durch das Fenster nach draußen geholt wurde.

Mitten in der Nacht auf diese schaurige Weise aus seinem eigenen Bett herausgerissen zu werden – kann man sich überhaupt etwas Entsetzlicheres vorstellen?

Das Furchtbare war, dass Sophiechen ganz genau wusste, was mit ihr passierte, obwohl sie gar nichts sehen konnte. Sie wusste, dass ein Monster (oder ein Riese) mit einem ellenlangen, bleichen, runzligen Gesicht und mit unheimlichen Augen sie aus ihrem Bett herausgegrapscht hatte mitten in der Geisterstunde und nun in einem Bettdeckenknäuel durchs Fenster nach draußen holte.

Und dann passierte Folgendes: Als der Riese Sophiechen draußen hatte, zupfte er die Bettdecke so zurecht, dass er sie mit einer Hand an den vier Zipfeln anfassen konnte, und Sophiechen war in ihrer Decke wie in einer Hängematte gefangen. Mit der anderen Hand griff er sich den Koffer und das lange Trompetendings und rannte davon.

Sophiechen zappelte und turnte so lange in dem Bettdecken-Beutel herum, bis sie mit Ach und Krach durch eine Ritze direkt unter der Hand des Riesen nach draußen gucken konnte. Sie schaute nach links und nach rechts.

Da sah sie, wie zu beiden Seiten die Häuser des Dorfes vorüberflitzten. Der Riese rannte die Hauptstraße hinunter. So schnell rannte er, dass sein schwarzer Mantel hinter seinem Rücken wie die Flügel eines Vogels flatterte. Ein einziger Schritt von ihm war so groß, wie ein Schwimmbecken lang ist. Das Dorf war bald zu Ende, und schon sausten die beiden quer über die mondhellen Felder. Die Büsche und Bäume zwischen den Feldern waren keine Hürde für den Riesen. Er sprang einfach über sie hinweg. Ein breiter Fluss kam ihm in den Weg – ein Satz, und er war drüben. Sophiechen kuschelte sich in ihre Decke und guckte nach draußen. Hin und wieder pendelte sie gegen das Bein des Riesen wie ein Sack mit Kartoffeln. Es ging über Felder und Wälder und Büsche und Flüsse im Sauseschritt immer weiter und weiter. Bis nach einer Weile ein grauenhafter Verdacht bei Sophiechen auftauchte. Der Riese rennt so schnell, sagte sie sich, weil er Hunger hat. Darum will er so schnell wie möglich nach Hause, und da wird er mich dann zum Frühstück auffressen.

Die Höhle

Der Riese rannte und rannte. Aber mit einem Mal wurde die Art und Weise, wie er rannte, irgendwie anders. Es war so, als ob er einen höheren Gang eingelegt hätte. Seine Geschwindigkeit wurde immer schneller, immer schneller, und dann ging es so schnell vorwärts, dass die Umgebung nur noch vorüberhuschte. Der Fahrtwind tat ihr im Gesicht weh. Sophiechens Augen tränten. Ihr Kopf wurde nach hinten gedrückt, in den Ohren sauste und fauchte es. Sie merkte nichts mehr davon, dass die Füße des Riesen den Boden berührten. Sie hatte das unheimliche Gefühl, dass sie durch die Luft flogen. Ob unter ihnen festes Land war oder das Meer, konnte man nicht sagen. Dieser Riese musste Zauberbeine haben. Aber nun wurde der Wind richtig schmerzhaft im Gesicht, sodass Sophiechen sich niederduckte in ihrer Bettdecke, damit ihr der Kopf nicht weggeweht wurde.

Ob sie wohl wirklich übers Meer hinwegflogen? Für Sophiechen fühlte sich alles genau danach an. Sie kuschelte sich in die Decke und lauschte auf das Brausen des Windes. Stundenlang ging das so, schien es Sophiechen.

Auf einmal ließ das Brausen des Windes nach. Das Tempo wurde langsamer. Sophiechen spürte, wie der Riese jetzt wieder mit den Füßen auf den Erdboden stampfte. Sofort streckte sie ihren Kopf oben aus der Decke heraus und guckte sich um. Sie waren in ein Land gekommen, in dem es undurchdringliche Wälder gab und rauschende Flüsse. Der Riese war nun ganz deutlich langsamer geworden und lief jetzt ziemlich normal, obwohl «normal» ein verrückter Ausdruck ist, um damit einen rasenden Riesen zu beschreiben. Er sprang über ein Dutzend Flüsse hinweg. Er preschte prasselnd durch einen großen Wald, dann nach unten in ein Tal und wieder nach oben und über eine felsige, baumlose Gebirgskette hinweg, und dann rannte er durch eine so gottverlassene Gegend, wie es sie auf Erden gar nicht geben konnte. Topfeben war das Land und hatte eine blassgelbe Farbe. Überall lagen große Felsbrocken verstreut, und die waren blau. Allenthalben ragten abgestorbene Bäume empor wie bleiche Skelette. Inzwischen war der Mond längst untergegangen, und das Morgengrauen dämmerte zögernd herauf.

Sophiechen, die immer noch oben aus ihrer Bettdecke herauslugte, erblickte plötzlich vor sich einen hohen Felsenberg. Dunkelblau war dieser Berg, und darüber funkelte und glitzerte ein leuchtender Himmel. Goldene Pünktchen schimmerten zwischen hauchzarten, schneeweißen Schäfchenwolken. Und da brach an einer Stelle die Morgensonne hervor – eine feurige Kugel so rot wie Blut.

Am Fuße des Berges machte der Riese halt. Er schnaufte gewaltig. Sein mächtiger Brustkasten pumpte und keuchte. Er brauchte dringend eine Verschnaufpause.

 

Genau vor ihnen lag, wie Sophiechen erkennen konnte, ganz dicht an der Flanke des Berges ein wuchtiger runder Stein. So groß wie ein Haus war der. Der Riese streckte die Hand aus und rollte den Stein so leicht auf die Seite, als ob es ein Fußball wäre: Wo vorher der Stein gelegen hatte, tat sich nun ein ungeheures schwarzes Loch auf. Das Loch war so groß, dass der Riese nicht einmal den Kopf einziehen musste, als er da hineinging. Er schritt in die schwarze Öffnung hinein und hatte noch immer in der einen Hand das Bündel mit Sophiechen und in der andern die Trompete und den Koffer.

Kaum war er drinnen, machte er kehrt und wälzte den großen Stein wieder an die alte Stelle zurück, sodass der Eingang zu seiner versteckten Höhle von außen nicht zu entdecken war.

Jetzt war der Höhleneingang dicht zugeschlossen. Im Bauch des Berges herrschte kohlrabenschwarze Nacht. In der Höhle war es vollkommen dunkel.

Sophiechen merkte, wie sie auf den Boden niedergelassen wurde. Dann ließ der Riese die Deckenzipfel ganz los. Seine Schritte entfernten sich. Sophiechen saß im Dunkeln da und zitterte vor Angst.

Jetzt wird er mich gleich auffressen, sagte sie sich. Wahrscheinlich verschlingt er mich roh, grad so wie ich bin.

Oder kocht er mich vorher?

Oder brät er mich etwa? Wirft er mich etwa wie eine Bratwurst in seine riesige Pfanne, in der das brutzelnde Fett nur so zischt?

Plötzlich ging das Licht an. Alles war hell erleuchtet, sodass Sophiechen blinzeln musste.

Schließlich konnte sie erkennen, wo sie war. Sie sah eine gigantische Höhle, die hoch, hoch oben eine Decke aus Felsgestein hatte.

Ringsherum an den Wänden standen endlose Regale, und auf den Regalen standen endlose Reihen von Gläsern. Gläser, Gläser, überall Gläser. In den Ecken waren ganze Türme von Gläsern aufgestapelt. In jeder Ecke, in jedem Winkel standen sie.

Mitten in der Höhle erhob sich fast vier Meter hoch ein klobiger Tisch und daneben ein ebenso klobiger Stuhl.

 

Der Riese zog seinen schwarzen Mantel aus und hängte ihn an die Wand.

Sophiechen sah, dass er unter seinem Mantel so etwas wie ein Hemd ohne Kragen anhatte, darüber eine gammelige alte Lederweste, die anscheinend sämtliche Knöpfe verloren hatte. Seine Hose war wohl einmal grün gewesen und hing viel zu kurz an seinen Beinen herunter. Seine nackten Füße staken in völlig verrückten Sandalen, die aus irgendeinem Grunde auf beiden Seiten Löcher hatten und vorne ein großes Loch, aus dem die Zehen herausschauten. Sophiechen hockte in ihrem Nachthemd auf dem Höhlenboden und starrte durch ihre dicke Nickelbrille den Riesenkerl an. Sie zitterte am ganzen Leib wie Espenlaub, und ein eisiger Schauder kroch ihr den Rücken hinauf und hinunter.

«Ha!», brüllte der Riese, kam näher und rieb sich die Hände. «Was ist das da?» Seine dröhnende Stimme brach sich an den Wänden der Höhle wie Donnergrollen.

Der GuRie

Der Riese schnappte sich mit einer Hand die bibbernde kleine Sophie, trug sie quer durch die Höhle und legte sie auf den Tisch.

Jetzt ist es so weit, jetzt frisst er mich auf, dachte Sophiechen. Der Riese setzte sich auf den Stuhl und besah sich Sophiechen ganz genau.

Er hatte wirklich wahnsinnig große Ohren. So groß wie das Rad eines Lastwagens. Und anscheinend konnte er sie nach vorne und nach hinten klappen, wenn er wollte.

«Hunger!», brüllte der Riese. Ein Grinsen verzog sein Gesicht und ließ starke breite Zähne aufblitzen. Diese Zähne waren sehr weiß und sehr breit und bevölkerten seinen Mund wie riesengroße Toastbrotscheiben.

«B… b… bitte, bitte, friss mich nicht auf!», stotterte Sophiechen.

Der Riese brach in krachendes Lachen aus. «Weil ich ein Riese bin, denkst du, ich bin ein Menschenfresser, ich bin ein Kanniballer, denkst du», schrie er. «Hast recht! Riesen sind alle Kanniballer, sind alle richtige Totmacher! Ja, sie fressen würglich menschliche Leberwesen. Wir sind jetzt im Riesenland! Hier ist alles voll von Riesen! Draußen da ist ein Riese mit dem bekannten Namen Knochenknackerriese! Der Knochenknackerriese knackt jeden Abend zwei leckrige schleckrige menschliche Leberwesen. Das Krachen tut weh in den Ohren! Das Krachen vom Knochenknacken, immer kchch, kchch, kannst du von ganz weit weg hören!»

«Ojemine!», sagte Sophiechen.

«Der Knochenknackerriese mag nur menschliche Leberwesen aus Spanien», sagte der Riese. «Jede Nacht geht der Knochenknackerriese galoppgalopp nach Spanien und holt sich Spanier.»

Sophiechen fühlte sich plötzlich in ihrer Ehre gekränkt durch diese Worte. Beleidigt platzte sie heraus: «Wieso Spanier? Und warum nicht wir?»

«Der Knochenknackerriese sagt, Spanier schmecken immer viel mehr saftig und delikatessbar. Der Knochenknacker sagt, spanische Leberwesen haben einen ersteklasse Geschmack. Er sagt, Spanier schmecken nach Spanferkel.»

«Sehr wahrscheinlich schmecken sie wirklich so», sagte Sophiechen.

«Na klar tun sie das!», brüllte der Riese. «Alle menschlichen Leberwesen sind verschieden. Manche sind schleckerlecker, und manche sind igittigitt. Griechische Leberwesen sind voll mit Igittigitt. Kein Riese mag griechische Leberwesen fressen. Niemals.»

«Und warum nicht?», fragte Sophiechen.

«Griechische Leberwesen aus Griechenland schmecken grässlich nach Griebenschmalz», sagte der Riese.

«Ja, das könnte wohl so sein», sagte Sophiechen.

Insgeheim fragte sie sich (und zitterte dabei), warum der Riese so viel über Menschenfresserei redete und was er damit am Ende im Sinn hatte. Aber egal, was kam – sie musste einfach mitmachen bei allem, was dieser komische Riese tat, und musste seine Witze witzig finden.

Aber waren seine Witze denn überhaupt witzig gemeint? Und was, wenn der große Kerl andauernd vom Essen redete, um Appetit zu kriegen?

«Das sage ich dir», fuhr der Riese fort, «alle menschlichen Leberwesen haben verschiedene Geschmäcker. Zum Beispiel schmecken menschliche Leberwesen aus Panama ganz doll nach Strohhut.»

«Warum das denn?», fragte Sophiechen.

«Du bist aber nicht sehr viel klug», sagte der Riese und wedelte dabei mit seinen gewaltigen Ohren. «Ich hab immer gedenkt, alle menschlichen Leberwesen sind voll Grips. Aber dein Kopf ist leer wie ein Luftballon.»

«Magst du Kinder gern?», fragte Sophiechen und wollte ganz vorsichtig das Gespräch auf weniger gefährliche Dinge bringen.

«Du willst ja nur von was anderem reden», sagte der Riese tadelnd. «Wir diskutieren jetzt das interessante Thema: Wie schmecken menschliche Leberwesen? Ob ich Kinder gern mag, hat doch damit nichts zu tun, wie menschliche Leberwesen schmecken!»

«Aber Kinder sind doch auch menschliche Lebewesen», sagte Sophiechen.

«Aber nie im Leben sind Kinder menschliche Leberwesen!», sagte der Riese. «Menschliche Leberwesen sind doch viel größer als Kinder.»

Sophiechen sagte jetzt lieber nichts mehr. Denn in Wut bringen wollte sie den Riesen auf gar keinen Fall.

«Menschliche Leberwesen», fuhr der Riese fort, «gibt es in tausend Millionen Geschmäckern, und alle sind verschieden. Zum Beispiel sind menschliche Leberwesen aus Berlin schön weich und fett und haben innen drinnen einen Klacks rote Mammilade. Berliner sind ganz was Süßes.»

«Ach, du meinst Berliner Pfannkuchen!», sagte Sophiechen. «Die Berliner sind aber doch nicht dasselbe wie die Leute aus Berlin!»

«Berlin bleibt Berlin, und Berliner bleibt Berliner», sagte der Riese. «Du redest Quatsch und Quark. Jetzt gebe ich dir aber ein anderes Beispiel. Menschliche Leberwesen aus Salzburg sind nicht süß wie Berliner, sondern schmecken entsalzlich nach Setz.»

«Entsetzlich nach Salz, meinst du», sagte Sophiechen. «Die Salzburger schmecken salzig.»

«Wieder Quatsch und Quark, was du da redest!», rief der Riese aus. «Das darfst du nicht! Dieses Thema ist sehr, sehr ernst und sehr, sehr wichtig. Darf ich vielleicht mal zu Ende reden?»

«Oh, aber bitte!», sagte Sophiechen.

«Hamburger aus Hamburg schmecken nach Frikadelle», sprach der Riese.

«Das musste ja kommen», seufzte Sophiechen. «Hämbörger schmecken nach Buletten, natürlich.»

«Falsch!», brüllte der Riese und klatschte sich auf die Schenkel. «Hamburger aus Hamburg schmecken nach Frikadelle, Schluss, aus, basta, Punkt!»

«Und wonach schmecken die Frikadellen?», fragte Sophiechen.

«Hack!», rief der Riese. «Nach Hackfleisch!»

«Genau wie Buletten», sagte Sophiechen.

«Nein, gar nicht wie Toletten!», sagte der Riese. «Hamburger schmecken gar nicht wie Briketten, sondern wie Fregatten!»

«Bringst du da nicht etwas durcheinander?», fragte Sophiechen.

«Ja, ich bin ein ganz durcheinanderer Riese», sagte der Riese. «Aber ich gebe mir die größte Mühle. Die anderen Riesen sind noch viel, viel durcheinanderer als ich. Einen Riesen kenne ich, der rennt jeden Tag sogar bis nach Tunisch zum Armbrot.»

«Tunisch?», fragte Sophiechen. «Wo liegt Tunisch?»

«Du hast aber im Kopf keinen Grips, sondern Gips!», sagte der Riese. «Tunisch liegt doch in Afrika. Und die Leberwesen in Tunisch schmecken ganz warmsinnig schleckerlecker, sagt der Tunischesser-Riese.»

«Und wonach schmecken die Menschen aus Tunisch?», fragte Sophiechen.

«Nach Thunfisch», sagte der Riese.

«Natürlich», sagte Sophiechen. «Hätte ich mir wirklich selber denken können. Aus Tunis – also nach Thunfisch. Aus Frankfurt – also nach Frankfurter Würstchen. Aus Wien – also nach Wiener Würstchen. Aus Linz nach Linsen. Aus Rumänien nach Rum. Aus Bern nach Himbeern. Aus Sylt nach Sülze. Aus der Schweiz nach Käse. Und aus Leipzig nach allerlei.»

Sophiechen wollte den Bogen nicht überspannen und hörte lieber auf. Das Gespräch mit dem Riesen zog sich schon lange genug hin. Wenn sie unbedingt aufgefressen werden sollte, dann sollte das nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden, sondern möglichst sofort geschehen. So etwas sollte man immer ruckzuck hinter sich bringen und nicht erst lange drum herum reden. «Welche Sorte isst du denn am liebsten?», fragte sie und zitterte dabei.

«Ich?», brüllte der Riese so laut, dass die Gläser auf den Regalen klirrten und klingelten. «Ich und Leberwesen essen? Das tue ich nie! Die andern: ja! Die anderen Riesen fressen jede Nacht menschliche Leberwesen. Aber ich nie und nimmer nicht! Ich bin ein komischer Riese. Ich bin ein lieber und freundlicher Riese. Ich bin der einzige liebe und freundliche Riese in Riesenland. Ich bin der GUTE RIESE. Ich heiße GuRie. Und wie heiß bist du?»

«Ich heiße Sophiechen», sagte Sophiechen und konnte kaum glauben, was sie soeben vernommen hatte, so freute sie sich darüber.

Die Riesen