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Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-14335-9

ISBN E-Book 978-3-688-10360-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-10360-7

Wie soll ich gut sein,

wo alles so teuer ist?

 

Die Guten

können in unserem Land

nicht lang gut bleiben.

Wo die Teller leer sind,

raufen sich die Esser.

Ach, die Gebote der Götter

helfen nicht gegen den Mangel.

 

Bert Brecht:

Der gute Mensch von Sezuan

Erstes Buch: Santa Rosa im Schlamm

1

Noris Luna wurde gezeugt, weil an einem Sonntag im April auf dem Rio Turbio eine Fähre ausfiel. Nur noch die uralte Julia fuhr schwerfällig von Ufer zu Ufer. Sie brauchte zwanzig Minuten zur Überquerung des Flusses und eine halbe Stunde, bis sie entladen und neu geladen hatte. Die Strömung machte ihr zu schaffen, denn das Wasser im Fluß stand hoch. An beiden Ufern stauten sich Reiter und Eseltreiber, Pferdefuhrwerke und Wagen, umschwärmt von Stechmücken und Straßenverkäufern. Über dem Fluß flimmerte die Luft vor Hitze.

Ein junger Geschäftsmann aus der Hauptstadt, ein gewisser Guido Soto Cascabel, mit einer blonden Strähne im Haar, weil seine Großmutter eine Deutsche gewesen war, starrte finster auf das andere Ufer, auf dem die große Stadt Providencia lag. Sie lag zum Greifen nahe, aber er wußte, daß er mit seinem Wagen noch zwei Stunden auf die Überfahrt warten mußte. Staubverkrustet, durstig und verschwitzt lümmelte er hinter dem Steuer und wedelte sich die Fliegen aus dem Gesicht. Er haßte dieses Küstengebiet, dieses unwegsame Tiefland, diesen Backofen. Es war ihm unbegreiflich, wie hier jemand auf die Dauer leben konnte. Und es war ihm vor allem unbegreiflich, wie der Mann, der neben ihm saß, in aller Ruhe schlafen, ja laut schnarchen konnte, ohne sich die Mücken aus dem Gesicht zu scheuchen. Nun ja, der war ein armer Teufel und an Mücken gewöhnt.

Schmutzige Kinder liefen hin und her und boten Wasser, Limonade und Bier an. Don Guido kaufte einen Eimer voll Wasser – es war trübes Flußwasser –, kletterte aus dem Wagen und schüttete es sich über den Kopf. Er triefte. Ein paar Zuschauer lachten. Andere machten es ihm nach.

Zu beiden Seiten der Straße, auf der eine hohe Staubschicht alle Spuren begrub, standen Bretterhütten Wand an Wand: buntgestrichene, aber verwitterte Hütten mit weit vorgezogenen Dächern, die Schatten warfen. In diesen Schatten tummelten sich Hunde, nackte Kinder und schwarzborstige Schweine, wiegten sich Männer in Schaukelstühlen, buken Frauen über offenem Feuer Maisgebäck, das ihre Kinder in Blechschüsseln oder flachen Körben den Wartenden mit schrillem Geschrei anboten.

Vor den Hütten wuchs kein Baum, kein Strauch, kein einziger grüner Halm, aber hinter ihnen wucherte feuchtes Dickicht, in dem es quakte und zirpte und in das die Mücken ihre Eier legten.

Don Guido blieb nicht lange naß. Je mehr er trocknete, um so mehr quälte ihn wieder die Hitze. Sein Wagen war erst bis zur fünften Hütte vorgerückt. Bis zum Ufer standen auf der rechten Straßenseite noch einundzwanzig, auf der linken noch sechsundzwanzig Hütten. Er zählte die Mücken, die er binnen einer Viertelstunde zu erlegen imstande war. Dann kaufte er drei Glas Limonade, obwohl er wußte, daß sie mit schmutzigen Händen und aus Flußwasser zubereitet worden war. Als sein Wagen die neunte Hütte erreicht hatte, stieß er eine Reihe von Flüchen aus, die er nicht von seinen Eltern gelernt hatte. Zwischen der zehnten und der zwölften Hütte war er damit beschäftigt auszurechnen, ob er mit der nächsten oder erst mit der übernächsten Ladung auf die Fähre käme, und kam zu dem Resultat, daß er noch Glück haben müsse, mit der übernächsten Ladung mitzukommen. Darauf trank er zwei Flaschen Bier.

Das hatte zur Folge, daß ihm die Negerin auffiel, die vor der zwölften Hütte Arepa buk. Sie war kein Kind mehr, aber noch schlank. Er kaufte ihr eine Arepa ab, an der er sich die Finger verbrannte. Sie reichte ihm ein Stück Zeitungspapier, das ihn vor dem heißen Fett schützen sollte, und lächelte ihn hintergründig an – so, daß sie sich nichts vergab, und doch so, daß er ihr sofort mit einer kleinen Geste antwortete, zu der sie nickte. Während sie in einem rostigen Kübel die Hände wusch und dann aus der Hütte eine alte Frau herbeirief, die weiterbuk, warf Don Guido schnell einen Blick auf die endlose Reihe der Wartenden. Die Julia legte eben ab. Es würde also noch eine Stunde dauern, bis sie wieder da war. Er trank noch schnell eine dritte Flasche Bier, um Abstand zu dem Schmutz zu bekommen, dem er begegnen würde, dann folgte er dem Wink der Negerin.

Hinter der Hütte in einem Verschlag, in den die Wildnis hineinwucherte, liebten sie sich auf dem bloßen Lehmboden, der wunderbar kühl war. Wohl stand da eine Art Bett mit ein paar zerrissenen Decken. Aber der Mann ekelte sich vor ihnen und zog die Frau deshalb hinunter auf den gestampften Lehm.

Sie zierte sich nicht. Sie begegnete ihm mit der größten Selbstverständlichkeit, und er merkte, daß sie nicht vom Arepabacken allein lebte. Ihre Kleider waren schmutzig, auch ihre bloßen Füße, aber sie schwitzte nicht. Sie roch nach frischer Arepa. Es ekelte ihn nicht vor ihr. Daß ihr vor ihm ekelte, verriet sie mit keiner Miene. Sie tat ihr Bestes. Er fragte nicht nach ihrem Namen und sie nicht nach seinem. Er sprach kein einziges Wort mit ihr. Nicht einmal bei dem Kauf der Arepa war ein Wort zwischen ihnen gefallen. Er hatte nur den Daumen hochgereckt: eine Arepa! Die bezahlte er zusammen mit dem Aufenthalt in dem Verschlag, mit einem Geldschein, der ihm reichlich genug für beides erschien. In angeheitertem Zustand pflegte er großzügig zu sein.

Er zahlte gleich, nachdem er Noris gezeugt hatte. Dann streckte er sich auf dem Lehmboden aus und schlief ein. Hier gab es nicht einmal Mücken. Nichts störte ihn. Die Negerin, höchst zufrieden mit der Entlohnung, zog sich an und ging wieder vor die Hütte, um Arepas zu backen. Was kümmerte es sie, daß Don Guidos Gefährte, der nun hinter dem Steuer saß, nervös umherschaute und hupte? Was kümmerte es sie, daß die Fähre kam, entlud und lud, und daß Don Guidos Wagen aus der vorrückenden Schlange ausscheren mußte, weil Don Guido nicht erschien? Die Fähre fuhr ab, Don Guidos Mann lief aufgeregt an der Häuserreihe entlang und fragte. Erst kurz bevor die Fähre zurückkehrte, sah sie Don Guido aus dem Schatten ihrer Hütte herausstürzen und nach seinem Wagen suchen. Dann verlor sie ihn aus den Augen und vergaß ihn, denn der Maisteig war ihr ausgegangen, und gerade an diesem Nachmittag florierte der Arepaverkauf wie selten. Und so borgte sie sich bei ihren Nachbarinnen Zutaten zusammen und knetete sie zu neuem Teig.

An diesem Abend summierte sie stolz die Einnahmen des Tages: Ihre beiden Söhne, zwei und drei Jahre alt, brauchten eine Sonntagshose, denn sie waren schon zu groß, um auch an den heiligen Sonn- und Feiertagen nackt herumzulaufen. Die kleine Tochter, ein Jahr alt, mußte getauft werden. Nun konnte sie die Taufgebühren bezahlen. Und vielleicht, wenn die zweite Fähre lange genug außer Betrieb blieb – hoffentlich noch eine ganze Woche! – konnte sie es schaffen, sich auch noch das feuerrote Kleid zu kaufen, das ihr eine Nachbarin billig angeboten und eine Woche für sie zurückgelegt hatte. Freilich, es war nicht mehr ganz neu, dieses Kleid, aber noch gut erhalten, und man sah ihm an, daß es nicht aus einem armen Haus gestohlen worden war. Es roch vornehm und hatte die Nähte sorgfältig umstochen. Und es paßte ihr genau!

Wenn nur eine einzige Fähre in Betrieb ist, dachte sie, bekomme ich vielleicht noch diesen oder jenen reichen Mann in meinen Verschlag. Wenn ich erst das feuerrote Kleid habe, wird das viel leichter sein. Ich werde schon von weitem auffallen und aussehen, als ob ich etwas Besseres sei.

Sie hatte Glück: Erst nach sechs Tagen fuhren wieder beide Fähren. Sie konnte sich das feuerrote Kleid am Abend des sechsten Tages kaufen. Sie schwamm in Freude, denn das Geld reichte auch noch für eine Madonnenfigur, auf der ihre Mutter bestand. Denn die Gipsmadonna, die früher auf dem Altärchen in der einen Ecke der Hütte gestanden hatte, war herabgefallen und in Stücke zersprungen, und die Alte fürchtete um das himmlische Wohlwollen.

Die junge Negerin konnte das feuerrote Kleid aber vorerst nur knappe fünf Monate tragen. Dann begann es in den Nähten zu krachen.

„Schon wieder!“ schimpfte ihre Mutter, die krumme Alte. „Glaubst du etwa, ich habe sieben Leben wie eine Katze? Merkst du nicht, daß mir schon die drei zu viel sind? Den ganzen Tag soll ich sie versorgen, während du Arepa bäckst. Dabei brauchte ich jemand, der mich selbst versorgt! Kannst du nicht besser aufpassen?“

„Ich muß sie nehmen, wann sie kommen“, antwortete die Tochter, „denn ich brauche sie. Man muß für das Alter vorsorgen, das weißt du genauso gut wie ich. Man muß damit rechnen, daß die meisten sterben, bevor sie so alt sind, daß sie einen erhalten können. Wenn ich nur drei hätte, bliebe mir also vielleicht nur eines, und wer weiß, ob es imstande wäre, mich zu ernähren. Das ist mir zu unsicher. Je mehr ich habe, um so sorgloser kann ich alt werden.“

„Gott schlage dich mit vielen Enkeln, die du von morgens bis abends versorgen mußt“, keifte die Alte, während sie das kleine dunkelhäutige Mädchen zärtlich auf ihren Armen wiegte.

Die junge Negerin buk bis kurz vor der Entbindung Arepas. Als sie fürchten mußte, das Kind neben der glühenden Asche und zwischen den herumstreunenden Hunden und Schweinen zu verlieren, hieß sie ihren ältesten Sohn die Glut mit Flußwasser löschen und wankte in die Hütte. Die Alte jagte die Kinder hinaus und scheuchte die Fliegen von den zwei Eimern voll Flußwasser, die sie für die Entbindung bereithielt.

Und da war es auch schon, ein kleines Mädchen, das die Mutter Noris nannte, nach der Alten, um sie versöhnlich zu stimmen. Denn wie konnte sie den ganzen Tag Arepas backen, wenn ihr die Mutter nicht die Kinder versorgte?

Zu ihrem Erstaunen war Noris sehr hell ausgefallen. Zwar nicht gerade weiß, aber doch so, daß sie von der übrigen Familie abstach. Daran erkannte sie, wer der Vater gewesen sein mußte. Denn die anderen drei Männer, mit denen sie in jenen Tagen geschlafen hatte, waren dunkelhäutig gewesen. Sie konnte sich nur noch sehr undeutlich an den Mann mit der blonden Strähne erinnern. Und wozu sollte sie sich auch an ihn erinnern? Aber an das feuerrote Kleid, das sie mit seiner Hilfe erworben hatte, erinnerte sie sich noch bis in ihr spätes Alter, als es schon längst dahin war.

Oft, wenn sie Noris stillte, mit müdem Rücken und nach heißem Fett riechend, betrachtete sie das Kind voller Staunen: Wie war es nur möglich, daß sie, die Negerin, ein so helles Geschöpf zustande gebracht hatte? So hell waren Negerkinder doch eigentlich erst dann, wenn sie Engel geworden waren! Sie fand es deshalb begreiflich, daß ihr das Kind genommen wurde, noch bevor es zwei Jahre alt geworden war: Es war zu hell für diese Welt, es war so hell wie die Reichen. Das konnte ja nicht gutgehen.

2

Sie verlor es, kurz nachdem ihr auch das andere Mädchen an Keuchhusten gestorben war. (Sie sollte noch drei Söhne, aber keine Tochter mehr bekommen, und von den Söhnen starben zwei, bevor sie, die Mutter, alt war.)

In den Tagen, bevor sie Noris verlor, gingen einige Wolkenbrüche kurz hintereinander über dem Oberlauf des Rio Turbio und seinen Nebenflüssen nieder. Der Fluß stieg über die Ufer und umspülte die Hütten an der Fähre. Der Fährverkehr stockte, die Straße war unpassierbar geworden. Hunde und Schweine ertranken. Die Bewohner der Hütten trockneten mit Geschrei und erregten Gebärden ihre nassen Habseligkeiten auf den Dächern. Die Kinder wimmelten nackt im brusthohen Wasser herum und kreischten vor Vergnügen. Noris’ ältester Bruder hockte im hölzernen Teigtrog und stakte mit einem Besenstiel, beneidet von denen, die kein so herrliches Boot besaßen. Als ihn seine Mutter rief und ihm auftrug, die Kleine zu hüten, die auf dem Tisch saß – dem einzigen trockenen Platz in der Hütte –, gehorchte er nur widerwillig, denn er fürchtete, inzwischen werde ihm jemand den Trog entwenden. Kaum waren Mutter und Großmutter in die Nachbarhütte gewatet, wo es galt, irgendein Möbelstück, das den Besitzern teuer war, auf ein anderes, weniger empfindliches emporzuwuchten, hob der Junge die kleine Schwester vom Tisch herab, watete mit ihr zur Hütte hinaus und setzte sie in den Trog. Nur so konnte er zu gleicher Zeit das Kind hüten und Boot fahren.

Er stakte zu seinem Bruder hinüber, der im Geländer des Landestegs herumkletterte. Die Plattform des Landestegs war unter dem Wasserspiegel verschwunden. Es ließ sich nicht genau erkennen, wo der Uferhang sich in das Flußbett hinabsenkte. Bis fast zum Horizont war das ganze Land eine einzige Wasserfläche.

Als der Besenstiel plötzlich keinen Grund mehr fand, verlor der Junge das Gleichgewicht und kippte aus dem Trog. Er konnte noch nicht schwimmen. Er schlug um sich und versank, tauchte aber gleich danach wieder auf. Das gellende Geschrei des jüngeren Bruders am Geländer des Landestegs alarmierte zwei Männer aus den nächsten Hütten. Sie zogen ihn aus dem Fluß, schleppten ihn in eine Hütte, hoben ihn an den Füßen hoch und versohlten ihn. Auf diese Weise erbrach er das Wasser, das er geschluckt hatte, in den Kreis der Gaffer.

Eine gute Weile später erinnerten sich die Brüder an den Trog, in dem die kleine Schwester saß. Niemand hatte auf ihn geachtet. Er war erst langsam, dann immer schneller im Sog der Strömung fortgetrudelt und schwamm nun schon weit draußen auf dem Fluß, längst unerreichbar. Ein schreiender Kinderschwarm watete zur Hütte, in der die Mutter an dem störrischen Möbel herumzerrte. Als sie begriff, was geschehen war, stürzte sie sich ins Wasser und watete mit irren Augen auf das Flußufer zu. Aber sie fand nichts als eine gleichgültige, glitzernde Wasserfläche, die Treibgut mit sich führte: entwurzelte Bäume, Bretter, zerschlagene Möbel, Tierkadaver. Man hinderte sie gewaltsam, sich in den Fluß zu werfen. Ein Mann gab ihr ein paar Ohrfeigen.

„Denk dran, daß du noch zwei andere Kinder hast“, rief er und schüttelte sie. „Und du kannst ja noch mehr haben, wenn du willst!“

„Aber sie war mir das liebste!“ heulte sie und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Bis zum Nabel stand sie im Wasser, in ihrem feuerroten Kleid, mitten in einem scheuen Kreis Neugieriger.

„Und die Haie!“ schrie sie auf. „Die Haie an der Mündung!“

„Bis dorthin kommt sie gar nicht erst“, sagte der Mann, der sie festhielt. „Der Trog ist ja längst gekippt, und das Kind ist ertrunken. Das geht schnell.“

Die junge Frau drehte sich plötzlich um und watete auf ihre Hütte zu, vor der ihr ältester Sohn zitternd im Wasser stand. Sie packte ihn an den krausen Haaren und schlug seinen Kopf gegen die Hüttenwand. „Du Sohn einer Hündin!“ schrie sie, „du hundsgemeiner Mörder!“

Der Junge schrie nicht. Erst als ein paar Männer seine Mutter festhielten und in die Hütte hineinstießen, wo die Alte laut heulte, begann er zu schluchzen. Er kletterte auf das Dach des Verschlags, wo schon sein Bruder saß. Dort hockten sie eng aneinandergeschmiegt, nackt und zitternd wie zwei Äffchen, bis es finster wurde. Dann schlüpften sie in die Hütte einer Nachbarin und krochen zwischen deren Kinder, die auf Kisten und Tischen schliefen. Noch die halbe Nacht gellte das Geheul der Negerin und ihrer Mutter über das Wasser.

 

Der Trog kippte nicht. Er war schwer, er war aus einem Stück Stamm geschnitzt. Die Kleine staunte. Der Trog drehte sich um sich selbst und wiegte sich auf den Wellen. Es störte Noris nicht, daß die pralle Sonne auf sie fiel. Sie war es ja gewohnt, von morgens bis abends nackt in der Sonne zu spielen. Sie hatte eine feste, lederne Haut, fast wie ein Tier. Es dauerte nicht lange, bis sie sich auf dem Grund des Trogs zusammenrollte und einschlief.

In den Tagen des Hochwassers war es für Boote und kleine Schiffe gefährlich, sich auf den Fluß zu wagen. Die Fischer und Schiffer fürchteten Strömung und Treibgut. Die Baumstämme, die geschwommen kamen, konnten ein Boot zum Kentern bringen. Die großen Schiffe aber, die an den Molen der Stadt Providencia vertäut lagen, kümmerten sich nicht um das, was den Fluß hinuntertrieb, und schon gar nicht um einen Teigtrog in der Mitte der Strömung. Nur ein paar Aasgeier entdeckten ihn, kreisten über ihm und flogen wieder davon.

So schaukelte der Trog der Mündung des Rio Turbio entgegen. Kurz davor zog ein gewaltiger, weiß leuchtender Frachter unter panamensischer Flagge an ihm vorüber, flußaufwärts. Ein paar Matrosen, die sich über die Reling lehnten, sahen das Kind im Trog und hielten es für tot.

„Armes Indianerl“, sagte ein Wiener Matrose, „an dir werden die Haie auch nicht fett.“

Aber die Haie, die vor der Mündung umherstrichen, der so berüchtigten Mündung, die für größere Schiffe ohne Lotsen nicht passierbar war, bekamen die Kleine nicht. Sie lauerten dort, wo das trübe Flußwasser sich mit dem graugrünen Meerwasser mischte und wo der Zusammenprall der beiden Strömungen riesige Wellen erzeugte, auf tote Esel, Rinder und Hunde, die der Fluß ihnen tagtäglich brachte. Die Fischer, die vor der Küste kreuzten, konnten ihre Schwanzflossen durch die Wellen ziehen sehen.

Als der Trog in der Mündung wild zu schaukeln begann, erwachte das Kind, richtete sich auf und spähte über den Rand des Trogs. Es fand keine Kindergesichter, fand nicht die verhutzelte Gestalt der Großmutter. Es sah sich von ungeheurer Leere und schmerzendem Licht umgeben. Es klammerte sich an den Trog, der sich hob und senkte und nach allen Richtungen schwankte, und schrie, bis ein zerzauster Vogel sich einen Augenblick auf den Rand des Trogs niederließ. Aber durch eine Bewegung des Kindes erschreckt schwirrte er wieder davon, begleitet von jämmerlichem Geschrei. Zwei Fingerbreit Wasser stand nun im Trog, Wasser, das die hohen Wellen hereingesprüht hatten, noch fast reines Flußwasser. Die Kleine hatte Durst, sie kauerte sich nieder und schlürfte. Dann schlief sie, müde vom Jammer, wieder ein, den Kopf an die Trogwand gelehnt. Das Wasser in der hölzernen Mulde schwappte hin und her und kühlte das Kind.

Der Trog schaukelte über das Wrack eines Kanonenbootes hinweg, das erst ein knappes Jahr auf Grund lag. Ein Stück weiter westlich, nun getrieben von einer starken Meeresströmung, überquerte er die Reste einer spanischen Galeere.

Unter dem Trog zogen Schwärme bizarrer Fische dahin, bunt wie Schmetterlinge. Er überholte eine alte Wurzelbürste und kreuzte den Weg einer Kokosnußschale. Am Horizont schimmerten Schiffe auf und verschwanden wieder. Träge schaukelte der Trog dahin, längst in ruhigeren Gewässern, bis ihn am Spätnachmittag ein indianischer Fischer aus Santa Rosa, einem Pfahlbaudorf im Großen Schlammsee, weiter westwärts aus dem Meer fischte.

Auch er war anfangs überzeugt, daß es sich um eine Kinderleiche handle.

„Sei es, wer es auch sei“, sagte er zu seinen vier Gefährten, von denen einer sein Sohn, einer sein Onkel und zwei seine Neffen waren, „es soll wenigstens auf einen anständigen Friedhof kommen.“

Er steuerte seine Schaluppe auf den Trog zu und zog ihn mit einer Hakenstange heran.

„Das ist ein guter Trog“, sagte der Onkel. „Den kann ich brauchen.“

Die anderen hielten den Trog fest, während der Fischer Porfirio Luna die Kleine heraushob und verblüfft feststellte, daß sie lebte.

„Das fehlt uns noch“, sagte er verstört, als sie schlaftrunken den Kopf auf seine Schulter legte.

„Schauen wir, daß wir heimkommen“, sagte der eine Neffe. „Dieses Kind braucht eine Frau.“

Zu viert hievten sie den Trog an Bord. Das Boot, beladen mit einem guten Fang, lag tief im Wasser. Porfirio streifte sein Hemd ab und wickelte die Kleine darein, er gab ihr Süßwasser zu trinken und bot ihr eine Arepa an, die nach Fisch roch und drei Tage alt war. Denn sie waren schon den dritten Tag unterwegs. Sie aß heißhungrig die ganze Arepa auf, eine Arepa mit einem Ei darin, und als sie fertig war, verlangte sie mehr. Die Männer lachten.

„Sie ist zäh wie ein Hai!“ rief Porfirios Sohn, ein Bursche von fünfzehn Jahren.

Das Männergelächter umdonnerte das Kind, daß es erschrak und zu schreien begann. Es rief nach der Großmutter und der Mutter. Porfirio Luna nahm es auf den Arm und tröstete es. Er verstand sich auf Kinder. Er ließ es mit seinem Medaillon spielen und bekam heraus, daß die Kleine Noris hieß. Aber sie konnte noch kaum sprechen, sie wußte weder ihren Familiennamen noch den Ort, aus dem sie stammte. Als es dunkel über dem Meer wurde, legte er sie in den Trog und deckte sie mit dem Hemd sorgfältig zu.

Die Schaluppe fuhr östlich der Mündung des Rio Turbio an der Küste entlang, bis sie nach Mitternacht die Einfahrt in den Großen Schlammsee erreichte. Sie zog unter der hölzernen Brücke durch, die den Ausfluß des Sees überspannte, und fuhr in die spiegelklare Fläche hinein. Gegen zwei Uhr ging der Mond auf. Noris erwachte und erkannte ihn wieder. Er hatte auch daheim manchmal in die Hütte geleuchtet.

Die Schaluppe fuhr schnell, denn das Wasser stand hoch. Nur selten streifte der Kiel den schlammigen Grund. Ab und zu sprang ein Fisch ins Mondlicht hinein. Weithin hörte man ihn klatschen. Hier rauschte kein Meer, hier hob und senkte sich das Schiff nicht in den Wellen. Noris schlief wieder ein, müde von so viel Stille. Sie schlief auch noch, als hinter einer Mangroveninsel die Hütten von Santa Rosa auftauchten, feurigrot in der aufgehenden Sonne, unwirklich wie ein Traumbild zwischen Himmel und Wasser.

Erminia, Porfirios Frau, wurde Noris’ zweite Mutter. Sie war ein Faß von einem Weib mit einem gewaltigen Busen, der Noris’ Zuhause wurde. Vielleicht nicht zu alt, aber zu unförmig, um noch eigene Kinder zu haben, hing sie vom ersten Augenblick der Begegnung an diesem Findling und vergaß zuweilen sogar, daß es ein fremdes Kind und nicht eines ihrer drei toten kleinen Mädchen war. Denn sie hatte selber sieben Kinder geboren, von denen noch vier lebten – alles Jungen. Nur widerwillig ließ sie zu, daß Porfirio ein paar Tage später die Küstenorte mit seiner Schaluppe abfuhr und nach einem vermißten kleinen Mädchen, etwa zwei Jahre alt, mit Namen Noris fragte.

Triumphierend drückte Erminia die Kleine an ihren Busen, als er bei der Heimkehr berichtete, es sei eine verlorene Fahrt gewesen, von den Fischen abgesehen, die er auf dem Rückweg gefangen habe.

„Jetzt gehörst du mir!“ rief sie so laut, daß es durch das Dorf schallte.

Noris lebte glücklich bei ihr und Porfirio. Mit der größten Selbstverständlichkeit gehörte sie zur Familie Luna, auch für die übrigen Dorfbewohner, und hieß von nun an Noris Luna. Erst mit sechs Jahren erfuhr sie, daß sie nicht die leibliche Tochter der Lunas war. Aber es war für sie unwesentlich, wer sie geboren hatte: Ihre Mutter war die dicke Erminia.

Porfirio war mehr fort als daheim. Fischte er auf dem Großen Schlammsee, fuhr er morgens vor Sonnenaufgang aus und kehrte nachmittags heim. Fischte er aber draußen auf dem Meer, blieb er mindestens zwei Tage, manchmal aber auch eine ganze Woche fort. Er hatte Freunde in den Küstendörfern, dort verbrachte er die Nächte. Dort verkaufte er auch den Fang bis auf den Teil, den er für seine Familie und die Angehörigen seiner Gefährten heimbrachte. Wenn er von solchen Meerfahrten zurückkehrte, brachte er Noris immer etwas mit, und wenn es nur eine merkwürdig geformte Muschel war. Aber oft kaufte er ihr auch eine Handvoll Bonbons, und als sie größer wurde, ein Haarband, eine billige Brosche oder einen winzigen Handspiegel. Noris erwartete ihn jedesmal, und wenn seine Schaluppe hinter der Mangroveninsel auftauchte, lehnte sie sich über das Geländer der Plattform, auf der die Hütte stand, und winkte.

Nur der jüngste Luna-Sohn war noch daheim. Cesar hieß er und war Fischer wie sein Vater. Der Älteste war längst verheiratet und lebte in Rondoño, einer kleinen Stadt am nördlichen Ufer des Schlammsees, wo er als Kellner in einer Spelunke arbeitete. Der zweite war nach seiner Rekrutenzeit nicht mehr heimgekommen. Er hatte nie wieder etwas von sich hören lassen. Er saß im Gefängnis, weil er nach zwei Monaten Dienstzeit versucht hatte zu desertieren: Er hatte sich heimgesehnt auf den See. Auf der Flucht hatte er einen Wachsoldaten angeschossen. Und danach hatte man ihn im Gefängnis vergessen. Er konnte sich nicht verständlich machen. Er konnte weder lesen noch schreiben, und die Leute von Santa Rosa wußten nichts von ihm; sie munkelten, er sei zur See gegangen.

„Ich kann es nicht glauben, daß er ohne Abschied fortgegangen ist“, pflegte Erminia zu sagen. „Er hat das Herz einer Taube! Noch als er fünf Jahre alt war, bekam ich ihn von meinem Schoß nicht herunter!“

Und die Augen standen ihr jedesmal voll Tränen.

Einmal hatte sie Porfirio seinetwegen in die Stadt zur Kaserne geschickt, um durch Kameraden oder Vorgesetzte zu erfahren, ob er sich wirklich gleich nach seiner Dienstzeit als Matrose hatte anheuern lassen. Aber inzwischen waren zwei Jahre vergangen. Als Porfirio den Namen seines Sohnes, Leocadio Luna, nannte, zuckte man die Schultern: Niemand konnte sich an einen Mann dieses Namens erinnern.

Der dritte war auch schon verheiratet, obwohl er erst achtzehn Jahre alt war, als Noris nach Santa Rosa kam. Er hatte die älteste Tochter des Bürgermeisters von San Vicente geschwängert und hatte sie auf diese Weise bekommen. Erminia war sehr stolz auf ihn, denn er hatte sie zur Großmutter gemacht. Der Älteste, der Kellner, hatte zwar auch Kinder, aber er besuchte seine Eltern fast nie. Er schämte sich, daß er aus Santa Rosa, dem Pfahlbaudorf, stammte.

3

Santa Rosa war entstanden, als die Spanier zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts von der karibischen Insel Hispaniola an das südliche Festland zu fahren pflegten, um dort Indianer als Sklaven zu fangen. Damals waren die indianischen Küstenbewohner landeinwärts geflohen und hatten sich in schwer zugänglichen Gegenden neu angesiedelt. Mit ihren Galeeren konnten die Spanier den Großen Schlammsee nicht befahren. So waren die Indianer in ihren Pfahlbauten sicher. Drei Dörfer waren auf diese Weise im Großen Schlammsee entstanden. Eines davon war im Lauf der Zeit verschwunden, aber San Vicente und Santa Rosa hatten sich mit wechselndem Glück gehalten bis in die Zeit, in der aus dem unbedeutenden Ort Providencia am Ufer des Rio Turbio eine Großstadt geworden war.

In Noris’ Kindheit bestand Santa Rosa aus einunddreißig bewohnten Hütten und etwa fünfzehn Katen, die verfault und zusammengefallen und im Morast unter der Wasseroberfläche schon halb versunken waren. Außerdem gab es da ein winziges Kauflädchen, eine Schule, die ein eifriger Bürgermeister hatte erbauen lassen und die leerstand, weil sich kein Lehrer für Santa Rosa fand, und eine kleine Kirche, die sich auf einer ebenso kleinen, aufgeschütteten Insel erhob.

Santa Rosa war ganz und gar aus Holz gebaut, aus Balken, Stangen und Brettern. Nur die Dächer waren mit Schilf gedeckt. Jede Plattform, auf der eine Hütte stand, ruhte auf in den Schlamm getriebenen Pfosten. Neben den Wohnhütten standen auf den meisten Plattformen auch Verschläge für Hühner und Schweine. Der Mist wurde an den Wochenenden über den Rand der Plattformen hinabgefegt. In den Fenstern gab es keine Scheiben. Die Türen waren offene Löcher. Der Regen lief durch die Ritzen der Plattformen in den See. Die Feuerstellen befanden sich außerhalb der Hütten, meistens auf der anderen Seite der Plattformen, um zu verhindern, daß fliegende Funken die Schilfdächer entzündeten. Säcke mit Holzkohle lehnten überall, denn die Leute von Santa Rosa kochten mit Holzkohle, die es in den Dörfern am Ufer billig zu kaufen gab. Außerdem arbeitete ein Mann aus Santa Rosa als Köhler in den südlichen Uferwäldern. In seinem Boot brachte er zweimal in der Woche Holzkohle ins Dorf.

Bretterstege verbanden die Plattformen untereinander, Holzleitern führten von jeder Hütte ins Wasser hinab. An ihnen wurden die Boote festgebunden – meist von den Großeltern oder Urgroßeltern ererbte Einbäume, mit denen schon die kleinen Kinder umzugehen wußten. An der Anzahl der Boote erkannte man den Reichtum der Familie.

Innerhalb des Dorfes stand das Wasser sehr flach. Zehnjährigen Kindern reichte es bis an die Brust. Während des Tages planschten die Kleinen unter und zwischen den Plattformen herum. Selten ertrank ein Kind in Santa Rosa, denn es gab kaum eines, das nicht mit drei Jahren schon schwimmen konnte. Auf den Leitern stiegen auch die Frauen samt ihren Kleidern ins Wasser, wuschen ihre Wäsche, sich selbst oder ihre Kinder, schöpften Koch- und Trinkwasser und scheuerten ihre Töpfe. Die elf Fischer von Santa Rosa, die eine Schaluppe besaßen, wohnten am äußeren Rand des Dorfes, wo das Wasser tiefer wurde, oder an der Fahrrinne, die das Dorf durchquerte, so daß sie ihre Boote an den Pfosten ihrer Plattformen vertäuen konnten.

Das Kostbarste in Santa Rosa war Erde. Die Frauen wetteiferten miteinander, in Kisten Blumen, Küchenkräuter und Kürbisse, in alten Tonnen Bäume zu ziehen. In ihren Booten brachten die Männer dann und wann ihren Frauen Erde von den Ufern mit. Sie wurde mit getrocknetem Schlamm aus dem See vermischt. Jedes Brautpaar war verpflichtet, am Hochzeitstag einen Sack Erde auf der Kircheninsel auszuschütten. Das war ein uralter Brauch, der sich als bitter nötig erwies, denn der See nagte an den Ufern der Insel, und ab und zu war es im Lauf der Dorfgeschichte auch schon geschehen, daß jemand Erde von der Kircheninsel gestohlen hatte. Jede Blume, jedes grüne Blatt wurde in Santa Rosa so zärtlich behütet wie ein Säugling.

Alle Einwohner des Dorfes ernährten sich fast nur von Fisch. Es gab Fisch gebacken, gebraten, gekocht oder getrocknet: vielerlei Arten von Fisch, auch weißes und rosafarbenes Muschelfleisch, Krabben und Austern – Austern in Mengen! Denn in dem seichten Gewässer in der Nähe des Ausflusses ins Meer, wo das Wasser noch salzig war, gab es zwischen den Mangroveninseln ausgedehnte Austernbänke. Auch die Hühner und Schweine lebten hauptsächlich von Fischabfällen. Selten starb jemand, Mensch oder Tier, in Santa Rosa an Hunger. Fisch gab es immer, auch in den Gründen rings um das Dorf. Die kleinen Jungen lernten schon früh alle Angelkünste. Ihnen überließen die Väter die nahen Fischgründe.

Das Dorf stank nach Schlamm, nach Unrat und vor allem nach Fisch. Jeder einzelne Bewohner stank so sehr nach Fisch, daß er in der Umgebung des Großen Schlammsees schon von weitem als einer aus Santa Rosa erkannt wurde. Leute aus dem Pfahlbaudorf, die irgendwo anders ansässig wurden, verloren erst nach Monaten diesen Geruch, auch wenn sie keinen Fisch mehr aßen.

Natürlich kannte man auch Mais in Santa Rosa. Von ihm lebten die Leute in den Uferdörfern. Die gute Hälfte aller Familien Santa Rosas besaß ein kleines Stück Land am Seeufer, ein winziges Feld aus dem Urwalddickicht herausgerodet, auf dem Mais und Yuca gepflanzt wurde. Auf den Booten wurde die Ernte heimgeschafft. Der Mais war kostbar, jeder einzelne Kolben wurde gehütet; und auch nachdem er schon entkörnt war, diente er noch dem Wohl der Dörfler, denn dann wurde er in den Aborthäuschen zur Reinigung der Hintern verwendet. Unter allen Plattformen und rund um das Dorf schwammen Strünke von Maiskolben herum. In Notzeiten wurden sie wieder herausgefischt, zerhackt und den Schweinen vorgeworfen.

Jeden vierten Sonntag fuhr einer der Fischer hinüber ins nächste Uferdorf, Yerba Buena, und holte den Pfarrer. Der las die Messe, taufte, traute, teilte, wenn nötig, die letzte Ölung aus, lehrte die Kinder, die ihn mit offenen Mäulern und Triefnasen anglotzten und nichts verstanden, den Katechismus und machte, daß er so schnell wie möglich wieder davonkam. Während er seinen Dienst in Santa Rosa versah, trug er eine angeekelte Miene zur Schau, denn ihn störte der Gestank. Er lehnte es ab, in diesem Dorf, das er haßte, eine Mahlzeit einzunehmen, sondern brachte sich Proviant mit. Er vermied es sogar nach Möglichkeit, das Häuschen hinter der Sakristei aufzusuchen, aus dem der Unrat durch die so kostbare Erde in den See ablief.

„Santa Rosa ist eine Schweinerei“, pflegte er zu sagen.

Noris fühlte sich zu Santa Rosa gehörig. Sie bemerkte nicht, daß sie anders aussah als die Indios. Sie war klein für ihr Alter und mager und bewegte sich, als sie älter wurde, grazil wie Negerinnen. Sie war hellhäutiger als die meisten Kinder, aber kraushaarig, und ihre Lippen waren aufgeworfen. Ihr Gebiß war etwas vorgebaut, so daß sie als Kind ein wenig an ein Äffchen erinnerte. Sie war ein zutrauliches, aber stilles kleines Mädchen.

Kaum in Santa Rosa angekommen, lernte sie die Leiter hinunter- und wieder hinaufklettern, und wenn die dicke Erminia Wäsche wusch, hing sie an deren Rücken und krähte vor Vergnügen. Noch bevor sie drei Jahre alt war, konnte sie schwimmen und lernte bald, das kleine Boot, das an der Leiter vertäut lag, zu rudern und zu steuern. Sie lernte Fische fangen und kochen, Segel und Netze flicken, Wäsche waschen und Kranke pflegen. Erminia verstand sich auf Krankheiten. Wenn jemand in Santa Rosa oder San Vicente krank wurde, fragte man sie um Rat. Unter dem Hausaltärchen hatte sie eine Bierkiste voller Pillen, Wurzeln, getrockneter Kräuter und Samen stehen. Ab und zu ließ sie sich von Porfirio nach Yerba Buena fahren, dort versorgte sie sich mit neuen Vorräten. Sie half auch bei Geburten und stand Mädchen bei, die schwanger waren und das Kind nicht haben wollten – Dienstmädchen vor allem, die bedrückt aus Providencia zurückkamen. Sie beriet Frauen, die Kinder haben wollten, aber keine bekamen. Sie stand Liebenden bei, die auf keine Gegenliebe stießen. Sie sagte sogar das Wetter voraus – kurz, sie beriet in allen Lebenslagen und war auf dem ganzen Großen Schlammsee hochgeachtet, weil sie einen gesunden Mutterwitz besaß, über vielseitige Lebenserfahrung verfügte und verschwiegen war. Außerdem nutzte sie jene, die Hilfe erbaten, nie aus. Sie kannte alle Leute und wußte, was und wie sie imstande waren zu zahlen. Dieser gab einen Fisch, jener ein paar Maiskolben, ein Dritter zahlte mit Pfosten oder Brettern. Sogar entlang dem südlichen Ufer in den verstreuten Urwaldhütten kannte man sie und holte sie, wenn es nötig war, in einem Boot.

Porfirio, klein und mager, wirkte farblos neben ihr. Und doch war er, sobald er seine Schaluppe vom Dorf wegsteuerte, eine Persönlichkeit: ein gutmütiger, überaus fleißiger, ehrlicher Mann, der seine Erminia liebte und bewunderte und zugleich Angst vor ihr hatte. Denn sie erdrückte ihn, wenn er in ihrer Nähe war. Er war bekannt als Fachmann für Boote und Schaluppen. Wenn jemand ein Boot kaufen wollte, bat er Porfirio, es zu begutachten. Zeigte eine Schaluppe Tücken, war man sicher, daß Porfirio nach einer Probefahrt die Ursache erkannte. Wenn auch bei weitem nicht die Reichsten im Dorf, waren er und seine Familie doch geachtet, und es war deshalb für die Eltern des Mädchens, das Porfirios dritter Sohn durch List erworben hatte, doch keine Schande, mit Porfirio verwandt zu sein.

In Santa Rosa wie auch in den anderen Dörfern rund um den Großen Schlammsee sah man nicht viele junge Mädchen, höchstens an Sonn- und Feiertagen. Kaum waren dort die Töchter vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, gaben ihre Eltern sie älteren Schwestern oder Nachbarstöchtern mit. Sie wurden Dienstmädchen in Providencia. Sofern sie nicht nur für Kost und Wohnung arbeiteten, mußten sie einen Teil ihres Lohnes daheim abliefern, so gering er auch war. Dreimal im Jahr kamen sie für ein paar Tage heim: zu Weihnachten, zu Ostern und zu Karneval – aufgeputzt und gepudert wie Königinnen. Mit lässigen Gesten berichteten sie von dem Leben in der Stadt. Noris hörte mit offenem Mund und glitzernden Augen zu.

„Dort läuft das Wasser in Rohren aus der Wand“, berichteten sie, „und wenn man auf Knöpfe drückt, wird es nachts in den Häusern so hell wie bei Tag.“

„Das mußt du nicht alles glauben“, sagte Erminia zu Noris. „Ich bin zwar noch nicht dortgewesen, aber warum sollte Providencia nicht genauso sein wie jeder andere Ort?“

Sobald die Mädchen heimgekommen waren, zogen sie ihre schönen Kleider aus, aßen Fisch und badeten zwischen den Hütten, als seien sie nie von Santa Rosa fortgewesen. Ab und zu wurde eine von ihnen schwanger und blieb im Dorf, bis das Kind geboren war. Dann kehrte sie wieder in die Stadt zurück. Das Kind blieb bei der Großmutter und wuchs in Santa Rosa auf, bis sich seine Mutter mit einem Mann zusammentat und einen Hausstand gründete. Den Dienstmädchen war es zu verdanken, daß immer ein wenig Bargeld in die Hütten floß und daß es im Dorf fast keine Idioten gab. Sie sorgten für frisches Blut, und doch wurden ihre Kinder Santarosaner.

Obwohl Noris in ihren ersten acht Lebensjahren den Großen Schlammsee nur so weit kennengelernt hatte, wie sie ihn von Santa Rosa aus sehen konnte, kannte sie ihn aus all den Beschreibungen der Großen doch ganz genau. Sie wußte, daß im Osten Bergflüsse in ihn mündeten, an deren Ufern hohe Bäume wuchsen, die das dunkelgrüne, glasklare Wasser beschatteten. Affenhorden hausten in den gewaltigen Baumkronen. Sie pflegten zweimal am Tag anhaltend zu brüllen: bei Sonnenaufgang und abends in der Dämmerstunde.

„Das muß man gehört haben“, sagte Porfirio. „Nie brüllt einer allein. Das schwillt an und wird lauter und lauter, daß man meint, der Schwarm müsse ganz in der Nähe sein. Kurz darauf verhallt der Lärm irgendwo in der Ferne. Das sind richtige Chöre, ähnlich wie bei den Fröschen. Es hört sich traurig an, als ob sie klagten. Die mit ihren kleinen Brüsten, wo nehmen die bloß die Kraft für so ein Gebrüll her?“

„Das ist ganz einfach“, erklärte Erminia. „Darunter sind doch die Seelen der Kinder, die ungetauft gestorben sind. Die schlüpfen in Affen am Rio Frio und am Rio Dulce und klagen. Die Affen mit so einer Menschenseele können nicht sterben. Es werden immer mehr. Deshalb die großen Chöre, verstehst du?“

In diesen Flüssen gab es auch Kaimane, bei der Mündung, wo der Schlamm begann.

„Als ich jung war, ist eine Schaluppe in den Rio Dulce hineingefahren“, erzählte Porfirios Onkel, der schon uralt und ebenso klein und mager wie Porfirio war. „Eine Schaluppe aus San Vicente. Ein Schwager von meiner Kusine war darauf. Er hat erzählt, daß es dort sehr schön ist. Dort gibt es Schmetterlinge, groß wie Fledermäuse, die spielen in Schwärmen über dem Fluß, der kaum zu sehen ist vor lauter riesigen Seerosenblättern. Das Wasser ist schwarz und klar. Man kann die Fische darin spielen sehen. Der Wald duftet. Die Männer von der Schaluppe sind vom Boot ins Wasser gesprungen und haben sich mit der Strömung flußabwärts treiben lassen, immer neben der Schaluppe. Es ist ihnen so ganz anders zumute gewesen, hat der Schwager meiner Kusine erzählt, weil dort das Wasser nicht stank. Und dann, kurz vor der Mündung, wo der Fluß nur noch sehr langsam fließt, hat plötzlich ein Kaiman dem Jüngsten von den Vieren, dem Cosme Troncoso aus San Vicente, der noch keine achtzehn war, ein Bein abgebissen.“

„Na ja, er hat’s überlebt“, tröstete Erminia.

„Das kann man eigentlich nicht sagen“, antwortete der Onkel. „Denn zwei Jahre später ist er mit seiner Krücke in einen Spalt auf der Plattform seiner Hütte geraten, hat das Gleichgewicht verloren, ist ins Wasser gefallen und ertrunken.“

„Die Schuld daran kannst du nicht auch noch dem Kaiman zuschieben“, sagte Erminia scharf. „Der Bursche war sternhagelvoll, als er ins Wasser fiel. Er wäre mit oder ohne Bein gestolpert und auch ertrunken.“

An den schilfigen Seeufern des Südens gab es Seekühe. Nur ihre Rücken und Nasen waren über dem Wasser, wenn sie schwammen – gewaltige Rücken, Porfirio hatte sie selber gesehen, ja sogar gejagt, allerdings ohne Glück.

„Sie verstecken sich im Schilf“, sagte er, „wo man mit dem Boot nicht hin kann. Es gibt nicht mehr viele, und sie sind scheu. Außerdem sind sie schlauer als andere Tiere.“

„Warum sind sie schlauer als andere Tiere?“ fragte Noris.

„Weil die Seekühe von den Menschen abstammen“, erklärte Porfirio mit vollem Mund, da er, gerade von einer langen Reise heimgekehrt, gebratenen Fisch aß und zwischen den Sätzen die Gräten aus der Fensterluke spuckte.

„Von den Menschen?“ fragte Noris erregt.

„Ob du es glaubst oder nicht, Tochter“, mampfte Porfirio, „so ist es. Du hast noch keine Seekuh gesehen. Sie haben richtige Menschengesichter. Sie leben im Wasser wie die Fische, aber sie haben keine Schuppen wie sie, sondern eine richtige Haut. Und sie haben so etwas wie zwei Arme. Sie laichen auch nicht wie die Fische, sondern bringen lebendige Junge zur Welt.“

„Aber warum sollten die Menschen Seekühe geworden sein?“ fragte Noris und kam aus ihrem Winkel hervor, um kein Wort zu verlieren. „Das muß schon lange her sein“, sagte Porfirio. „Vielleicht als unsere Urgroßväter Kinder waren. Denn mein Großvater erzählte mir, als er klein gewesen sei, habe es auch schon Seekühe gegeben. Es werden Menschen gewesen sein, die sich im Schilf versteckt haben. Weil sie ständig so im Wasser leben mußten, fingen sie an, sich langsam zu verändern. Aus den Beinen wurde eine Schwanzflosse und aus den Armen wurde auch sowas wie eine Flosse, und die Haut wurde dick wie eine Speckschwarte –“

„Aber warum mußten sie sich denn im Schilf verstecken?“ fragte Noris in höchster Erregung.

„Es werden Sklaven gewesen sein, die ihren Herren davongelaufen sind“, sagte Erminia. „Negersklaven aus den Schiffen.“

„Das könnte sein“, sagte Porfirio und nickte. „Die Seekühe sind nämlich fast schwarz.“

„Wenn geflüchtete Sklaven wieder eingefangen wurden“, sagte Erminia, „wurden sie halb tot geprügelt. Das hat mir meine Großmutter erzählt, und die weiß es von ihrer Großmutter. Denn angeblich haben sich ganz früher einmal schwarze Sklaven hier am See versteckt. Später, als niemand mehr nach ihnen suchte, haben sie sich am Südufer Hütten gebaut.“

„Na siehst du“, sagte Porfirio.

Im Westen, nördlich des Uferdorfs Yerba Buena, wurde der riesige See immer schmaler und verengte sich zu einem Kanal, der durch Reisfelder und Sumpfland bis hinüber zum Rio Turbio führte. Ein Boot brauchte mehrere Stunden für diesen Kanal. An seinem südlichen Ufer stand hier und dort die Hütte eines Reisbauern. Am nördlichen Ufer lief die Straße entlang, die die Stadt Providencia mit der Stadt Marbella verband. Die Passagiere, die in dem hölzernen Raddampfer Goliath – der dreimal in der Woche von Providencia nach Rondoño hinüberfuhr und an den anderen drei Tagen von dort zurückkehrte – den Rio Turbio überquerten und dann den Kanal entlangfuhren, konnten, wenn ihnen nicht Schilf und Bambusgestrüpp die Sicht verwehrten, den Verkehr auf der Straße beobachten. Es war eigentlich nur ein Weg, auf dem man während der Trockenzeit im Staub, während der Regenzeit im Schlamm versank. Bis zum Nordostufer des Großen Schlammsees war das Land hier flach. Die Straße brauchte auch keine Flußbetten zu durchqueren. Schnurgerade lief sie dahin, zerfahren, viel breiter als nötig, da das nördlich angrenzende Land vom Meer versalzen und deshalb unfruchtbar war. Mangrovengestrüpp und Kakteen umwucherten salzige Tümpel und Lachen. Weiter östlich zog sich die Straße durch tote Wälder, die aus versalzenem Grund aufragten. Ab und zu erhoben sich Schwärme weißer Reiher mit trägem Flügelschlag aus den Tümpeln, vom Lärm auf der Straße erschreckt, und ließen sich auf anderen Tümpeln nieder. Wenn die Goliath ohne Verspätung – was sie so gut wie nie schaffte – schon früh um fünf in Providencia abfuhr, konnten die Passagiere noch die Tiere sehen, die der erste Morgenverkehr auf dieser Straße überrollt hatte: Schlangen, Leguane, Schildkröten, zuweilen auch Ameisenbären und große Vögel. Ja, auf diesen Reisen gab es für die Passagiere der Goliath allerlei zu sehen, und die Reling, die nach der Straße wies, war bei Tageslicht immer dicht besetzt von Neugierigen. Da zogen Esel- und Viehtreiber vorüber, da wanderten ganze Familien, in Staub gehüllt, zu Fuß zur Fähre, um das, was sie auf ihren Feldern und in ihren Gärten gezogen hatten, auf dem Markt von Providencia zu verkaufen. Da torkelten Betrunkene, die aus der Stadt heimkehrten. Da rumpelten Fuhrwerke, hochbeladen mit Baumwollballen, da galoppierten Reiter unter breiten Hutkrempen, da knatterte hin und wieder ein Auto vorüber. Leute winkten einander von hüben und drüben zu.

Dort, wo der Kanal in den See mündete, führte die Straße am Nordufer des Großen Schlammsees weiter, auf einem schmalen Landstreifen zwischen See und Meer. Die Reisenden, die auf ihr wanderten, fuhren oder ritten, sahen auf der einen Seite bis zum Horizont hin das türkisfarbene Karibische Meer, das seine Brandung an den flachen Sandstrand rollte und dann und wann in der Ferne ein weißbäuchiges Schiff vorüberziehen ließ. Auf der anderen Seite, nach Süden zu, breitete sich der See aus, ebenfalls bis zum Horizont, blaugrau und glatt, durchsetzt von Mangroveninseln, durchkreuzt von Fischerbooten. Hier lagen die Austernbänke. Noris bat oft darum, mitfahren zu dürfen, wenn Porfirio Austern holen ging. Sie wünschte sich vor allem sehnlichst, die hölzerne Brücke sehen zu dürfen, die den Ausfluß des Sees überspannte. Die war so hoch und dazu noch sanft gewölbt, daß die Fischerboote, sogar die allergrößten Schaluppen, mit Mast und Segeln unter ihr durchfahren konnten. Diese Brücke war schon alt, so berichtete Porfirio, aber neben ihr konnte man die Reste einer noch weit älteren Brücke sehen, die angeblich einmal ein Wirbelsturm weggerissen hatte. Über die Brücke, die sogar ein Geländer besaß, führte die Straße nach Rondoño und von dort nach Marbella, der Stadt im östlichen Gebirge. An beiden Brückenköpfen hockten Kinder und verkauften den Reisenden Fische: frische oder gebratene. Sie brieten die Fische, die sie in vollen Wassereimern frischhielten, vor den Augen der Reisenden auf kleinen Rosten.

Die Verbindungsrinne zwischen See und Meer hieß bei allen Leuten, die im und am Großen Schlammsee wohnten, nur „das Öhr“.

„Ein Fischer ist erst dann ein tüchtiger Fischer, wenn er durch das Öhr auf das Meer hinausfahren kann“, pflegte Porfirio zu sagen. „Auf dem See kann jeder Säugling herumrutschen. Aber sich dort kielunten zu halten, wo See und Meer mit den Köpfen zusammenstoßen, das ist ein Kunststück.“

„Ich schaff’s“, sagte Cesar, der jüngste Sohn, der nur selten sprach. „Man muß die Wellen genau von vorn schneiden.“

„Du vergißt, daß dort die Wellen nicht alle aus der gleichen Richtung anrollen“, knurrte Porfirio. „Kommt die eine Welle von hier, kann die nächste von dort kommen. Packt dich aber erst eine von den großen Wellen von der Seite, wenn es windig ist, dann kannst du im nächsten Augenblick vom Wasser aus dein Boot kieloben treiben sehen – wenn du das Glück hast, nicht darunter geraten zu sein.“

„Wie du“, sagte Cesar trocken, „bevor du das erste Mal heil durchkamst.“ Porfirio überhörte ihn.