Douglas Preston / Lincoln Child
Dark Secret
Mörderische Jagd
Roman
Aus dem Amerikanischen von Michael Benthack
Knaur e-books
Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts geboren. Er studierte in Kalifornien zunächst Mathematik, Biologie, Chemie, Physik, Geologie, Anthropologie und Astrologie und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim American Museum of Natural History in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child auf eine mitternächtliche Führung durchs Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, »Relic«, dem mittlerweile acht weitere internationale Bestseller folgten. Douglas Preston schreibt auch Solo-Bücher (»Der Codex«, »Der Canyon«). Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern an der US-Ostküste.
Lincoln Child wurde 1957 in Westport, Conneticut geboren. Nach seinem Studium der Englischen Literatur arbeitete er zunächst als Verlagslektor und später für einige Zeit als Programmierer und System-Analytiker. Nach dem Erscheinen von »Relic« beschloss er, Vollzeit-Schriftsteller zu werden und mit Preston zusammen als Autoren-Duo zu arbeiten. Obwohl die beiden Erfolgsautoren 500 Meilen voneinander entfernt leben, schreiben sie ihre Megaseller gemeinsam: per Telefon, Fax und übers Internet. Auch Lincoln Child publiziert eigene Bücher (»Das Patent«, »Eden«). Heute lebt er mit Frau und Tochter in New Jersey.
Weitere Informationen rund um das Autorenduo Douglas Preston und Lincoln Child und ihre Thriller finden Sie im Internet: www.preston-child.de
Die amerikanische Originalausgabe dieses Buchs erschien 2005 unter dem Titel DANCE OF DEATH bei Warner Books, New York.
eBook-Ausgabe 2012
Knaur eBook
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co., München.
Copyright © 2005 by Lincoln Child and Splendide Mendax, Inc.
Copyright © 2006 für die deutschsprachige Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co., München.
Diese Ausgabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Warner Books,
Inc., New York, N. Y., USA.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Barbara Müller
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic, München/Werner Schlosser
ISBN 978-3-426-55724-2
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Lincoln Child
widmet dieses Buch seiner Tochter Veronica.
Douglas Preston
widmet dieses Buch seiner Tochter Aletheia.
Dewayne Michaels saß im Hörsaal in der zweiten Reihe und starrte den Professor mit einer, wie er hoffte, interessierten Miene an. Seine Lider waren bleischwer. Sein Schädel pochte im selben Rhythmus wie sein Herz, und er hatte einen Geschmack im Mund, als wäre irgendetwas auf seiner Zunge verendet. Er war spät dran gewesen und hatte feststellen müssen, dass in dem großen Hörsaal nur noch ein einziger Platz frei gewesen war: zweite Reihe Mitte, genau vor dem Rednerpult.
Einfach toll.
Dewaynes Hauptfach war Elektrotechnik. Er belegte die Vorlesung aus dem gleichen Grund wie alle Studenten der Ingenieurwissenschaften seit drei Jahrzehnten – man musste nichts dafür tun. »Die englische Literatur – Eine humanistische Sichtweise« war schon immer eine Veranstaltung gewesen, die man auch dann mit Erfolg bestand, wenn man fast kein Buch aufgeschlagen hatte. Professor Mayhew, der verknöcherte alte Sack, der normalerweise die Vorlesung hielt, redete monoton wie ein Hypnotiseur, blickte fast nie von seinem vierzig Jahre alten Vorlesungsskript auf, und seine Stimme war das reinste Schlafmittel. Der alte Langweiler änderte noch nicht mal seine Prüfungsfragen, und überall in Dewaynes Studentenwohnheim lagen Kopien davon herum. Aber Pech gehabt! Denn ausgerechnet in diesem Semester hielt eine so genannte Koryphäe, ein gewisser Dr. Torrance Hamilton, die Vorlesung. Und um diesen Hamilton wurde ein derartiger Rummel veranstaltet, als hätte sich Eric Clapton bereit erklärt, auf der Semesterabschlussfete aufzutreten.
Dewayne rutschte genervt auf seinem Sitz herum. Wegen des kalten Kunststoffs war ihm schon der Hintern eingeschlafen. Er schielte nach links und rechts. Ringsherum machten sich die anderen – hauptsächlich höhere Semester – Notizen, ließen ihre Minirecorder mitlaufen, hingen geradezu an den Lippen des Professors. Es war das erste Mal, dass die Vorlesung so gut besucht war. Aber weit und breit kein Student der Ingenieurwissenschaften.
So ein Scheiß.
Wenigstens hatte er noch eine Woche Zeit, um wieder auszusteigen. Aber er brauchte den Schein, außerdem war es ja möglich, dass man den auch bei Professor Hamilton ohne großen Aufwand kriegte. Trotzdem, die Studenten hätten sich doch nicht an einem Samstagmorgen in solchen Massen blicken lassen, wenn sie glaubten, veralbert zu werden, oder?
Jedenfalls saß er nun ganz vorn in der Mitte, und da war es sicher besser, sich um einen aufgeweckten Eindruck zu bemühen.
Hamilton schritt auf dem Podium hin und her, während seine tiefe Stimme durch den Hörsaal hallte. Er sah aus wie ein ergrauter Löwe, die Haare zu einer Mähne nach hinten gekämmt, und trug statt der üblichen abgewetzten Tweedklamotten einen feinen grauen Anzug. Sein Akzent war ungewöhnlich, keiner, den man hier in New Orleans sprach, bestimmt auch kein Ostküstenakzent. Es schien allerdings auch kein britischer zu sein. Hamiltons Assistent saß in einem Stuhl hinter ihm und schrieb fleißig mit.
»Und deshalb«, sagte Professor Hamilton gerade, »behandeln wir heute Eliots Gedicht Das wüste Land, in dem sich das 20. Jahrhundert in seiner ganzen Entfremdung und Hohlheit spiegelt. Es gehört zu den bedeutendsten Gedichten, die je geschrieben wurden.«
Das wüste Land. Ach ja, jetzt fiel es ihm wieder ein. Was für ein Titel! Natürlich hatte er das Gedicht nicht gelesen. Warum auch? War ja schließlich kein Roman: Ein Gedicht konnte man auch schnell während der Vorlesung überfliegen.
Er nahm den Gedichtband von T.S. Eliot in die Hand, den er sich von einem Freund geliehen hatte – wieso Geld für ein Buch verplempern, das man sowieso nie wieder angucken würde? –, und schlug ihn auf. Neben dem Titelblatt war ein Foto des Autors abgebildet. Der Typ sah aus wie ein echtes Weichei: Hornbrille und eine verdruckste Miene, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Dewayne schnaubte verächtlich und blätterte weiter. Wüstes Land. Wüstes Land … ah, da war’s!
Scheiße. Das sollte ein Gedicht sein? Das ging ja Seite um Seite!
»Die Anfangsverse sind inzwischen so bekannt, dass wir uns kaum noch vorstellen können, welche Sensation – welchen Schock – sie auslösten, als das Gedicht 1922 in The Dial erschien. So etwas hielt man damals nicht für Dichtung, sondern für eine Art von Antidichtung. Die Persona des Dichters war ausgelöscht. Zu wem gehören also diese düsteren, beunruhigenden Gedanken? Im ersten Vers findet sich natürlich die berühmte sarkastische Anspielung auf Chaucer. Aber es steckt noch viel mehr darin. Denken Sie mal über die Metaphern am Anfang nach: ›Flieder aus toter Erde‹, ›dumpfe Wurzeln‹, ›Schnee des Vergessens‹. Liebe Freunde, bis zu diesem Zeitpunkt hatte kein Dichter in der Geschichte der Weltliteratur je auf diese Weise über den Frühling geschrieben.«
Als Dewayne bis zum Schluss des Gedichts vorgeblättert hatte, stellte er fest, dass es mehr als vierhundert Verse umfasste. O nein. Nein …
»Faszinierend ist, dass Eliot im zweiten Vers von Flieder spricht und nicht von Mohn, obwohl Letzteres naheliegender gewesen wäre. Mohn wuchs damals in Europa in einem Maße, wie man es seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt hatte; denn nach dem Ersten Weltkrieg düngten zahllose verwesende Leichen die Erde. Wichtiger aber ist, dass der Mohn – mit seinen Anklängen an narkotischen Schlaf – besser in Eliots Bildsprache gepasst hätte. Warum also hat der Autor den Flieder gewählt? Betrachten wir kurz, auf welche Weise er sich auf die literarischen Vorläufer bezieht, hier vor allem Whitmans Als Flieder jüngst mir im Garten blühte.«
O mein Gott, das hier war der reine Albtraum: Da saß man ganz vorn im Hörsaal und begriff kein Wort von dem, was der Professor redete. Aber wer hätte denn gedacht, dass man ein vierhundert Zeilen langes Gedicht über ein verdammtes »wüstes Land« schreiben konnte? Apropos wüst, gestern Abend, das war ein ziemlich wüstes Gelage gewesen. Aber geschah ihm ganz recht, er hätte ja nicht bis vier Uhr morgens abhängen und sich einen Grey Goose nach dem anderen reinkippen müssen; dann hätte er jetzt auch keinen dicken Kopf.
Plötzlich war es ringsum still; die Stimme hinter dem Pult war verstummt. Dewayne blickte auf: Dr. Hamilton stand reglos da, mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. So elegant der alte Knabe auch gekleidet war, jetzt sah er eher so aus, als hätte er sich in die Hose gemacht. Seine Gesichtszüge waren mit einem Mal merkwürdig schlaff. Unter Dewaynes Blicken zog er langsam ein Taschentuch hervor und betupfte sich sorgfältig die Stirn, dann faltete er es fein säuberlich zusammen, steckte es zurück in die Brusttasche und räusperte sich.
»Verzeihen Sie.« Er griff nach dem Glas Wasser, das auf dem Pult stand, und trank einen kleinen Schluck. »Wie gesagt, betrachten wir einmal das Metrum, das Eliot im ersten Abschnitt verwendet. Sein freies Versmaß weist ein aggressives Enjambement auf: die einzigen Zäsuren gibt es in den Versen, in denen ein Satz endet. Achten Sie auch auf die starke Betonung der ersten Silbe der Verben: brüten, mischen, sich regen. Das hört sich wie das unheilvolle, vereinzelte Schlagen einer Trommel an; es ist hässlich, es zerstört die Bedeutung des Satzes und erzeugt ein Gefühl der Beunruhigung. Und es bereitet uns darauf vor, dass etwas in diesem Gedicht geschehen wird, und zwar etwas Unschönes.«
Die Neugier, die durch die unerwartete Pause in Dewayne geweckt worden war, legte sich wieder. Die sonderbare Leidensmiene des Professors war so schnell verschwunden, wie sie gekommen war, und auch sein Gesicht war zwar immer noch blass, aber nicht mehr so aschfahl.
Dewayne widmete sich wieder seiner Lektüre. Um herauszufinden, was es bedeutete, konnte er das Gedicht ja mal rasch überfliegen. Er las den Titel, dann wanderte sein Blick nach unten, zum Epigramm oder Epigraph oder wie immer man das nannte.
Er stutzte. Was war das denn? Nam Sibyllam quidem … Also Englisch war das jedenfalls nicht. Und dort, mittendrin, waren irgendwelche unentzifferbaren Schnörkel, die nicht mal Teil des normalen Alphabets waren. Er blickte auf die Anmerkungen unten auf der Seite und las, dass der erste Teil Lateinisch und der zweite Teil Griechisch war. Darunter stand die Widmung: Für Ezra Pound, il miglior fabbro. In den Anmerkungen hieß es, der letzte Teil sei Italienisch.
Lateinisch, Griechisch, Italienisch. Und dabei hatte das dämliche Gedicht noch nicht einmal angefangen. Und was kam als Nächstes, Hieroglyphisch?
Es war wirklich ein Albtraum.
Dewayne überflog die erste, dann die zweite Seite. Ein einziges Gefasel. »Ich zeige dir die Angst in einer Hand voll Staub.« Was sollte das denn heißen? Sein Blick fiel auf die nächste Zeile. Frisch weht der Wind – schon wieder kein Englisch!
Dewayne klappte das Buch zu. Er hielt das einfach nicht mehr aus. Schon in den ersten dreißig Zeilen hatte der Typ fünf verschiedene Sprachen verwendet, zum Kotzen. Gleich morgen früh würde er sich im Geschäftszimmer melden und aus dieser beknackten Vorlesung aussteigen.
Mit dröhnendem Kopf lehnte er sich zurück. Jetzt, da er sich entschieden hatte, stellte sich nur noch die Frage, wie er die nächsten vierzig Minuten durchstehen sollte, ohne die Wand hochzugehen. Wäre doch bloß hinten noch etwas frei gewesen, dann hätte er sich unauffällig rausschleichen können …
Oben auf dem Podium redete der Professor weiter. »Beginnen wir also nach dieser kurzen Einführung mit der Untersuchung der …«
Plötzlich hielt Hamilton abermals inne. »Entschuldigen Sie.« Seine Gesichtszüge erschlafften erneut. Er wirkte – ja, wie? Durcheinander? Benebelt? Nein: Er sah verängstigt aus.
Dewayne richtete sich in seinem Sitz auf, das interessierte ihn.
Professor Hamilton griff nach seinem Taschentuch und fummelte es aus der Brusttasche, ließ es dann aber fallen, als er es an die Stirn halten wollte. Er blickte sich ziellos um und wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte er eine Fliege abwehren. Schließlich fand die zittrige Hand sein Gesicht und er betastete es wie ein Blinder. Hamilton berührte seine Lippen, dann die Augen, die Nase, das Haar, schließlich fuchtelte er wieder mit der Hand herum.
Im Hörsaal war es still geworden. Der Assistent hinter Professor Hamilton legte mit besorgter Miene den Kugelschreiber hin. Was war los?, überlegte Wayne. Hatte der Professor einen Herzinfarkt?
Hamilton trat einen kleinen, unsicheren Schritt vor und taumelte gegen das Podium. Und nun flog auch die andere Hand zum Gesicht, befingerte es überall, nur fester jetzt, sie drückte und dehnte die Haut, zog die Unterlippe nach unten, dann verabreichte sich der Professor selbst ein paar leichte Schläge.
Plötzlich hielt er inne, ließ den Blick durch den Saal schweifen und fragte: »Stimmt irgendetwas mit meinem Gesicht nicht?«
Totenstille.
Langsam, sehr langsam entspannte sich Dr. Hamilton. Er holte mühsam Luft, dann noch einmal, und nach und nach normalisierten sich seine Gesichtszüge wieder. Er räusperte sich.
»Wie ich soeben sagte …«
Aber die Finger der einen Hand fingen wieder an zu zappeln, sie zuckten und zitterten. Die Hand kehrte zum Gesicht zurück, die Finger zupften und rupften an der Haut.
Das war einfach zu irre.
»Ich …«, begann Hamilton, aber die Hand störte ihn beim Sprechen. Sein Mund öffnete und schloss sich, aber er brachte nur ein pfeifendes Geräusch heraus. Dann machte er wieder einen schlurfenden Schritt, wie ein Roboter, und stieß noch einmal gegen das Podium.
»Was sind das für Dinger?« Hamiltons Stimme brach.
O Gott, jetzt zerrte er auch noch so stark an seiner Gesichtshaut, dass sich die Augenlider grotesk verzogen, und wühlte mit beiden Händen im Gesicht herum. Und dann hörte man das lange, gleichmäßige Kratzen eines Fingernagels, und auf Hamiltons Wange erschien ein blutiger Strich.
Eine Art befangenes Kichern breitete sich im Hörsaal aus.
»Ist Ihnen nicht gut, Herr Professor?«, fragte der Assistent.
»Ich … habe eine … Frage gestellt«, stieß Hamilton widerwillig knurrend hervor, und dabei hatte seine Stimme einen gedämpften, verzerrten Klang, weil er mit den Händen weiter an seinem Gesicht herumzerrte.
Noch ein torkelnder Schritt, dann ein plötzlicher Aufschrei: »Mein Gesicht! Warum sagt mir niemand, was mit meinem Gesicht los ist?«
Immer noch Totenstille im Publikum.
Hamilton grub die Fingernägel in seine Wangen, dann schlug er mit der Faust so heftig auf seine Nase ein, dass ein leises Knacken zu hören war.
»Holt die Biester von mir runter! Die zerfressen mir das Gesicht!«
Scheiße! Jetzt schoss Hamilton Blut aus der Nase und spritzte auf das weiße Hemd und den grauen Anzug. Die Finger rissen wie Klauen an seiner Haut; und jetzt krümmte sich einer von ihnen zu einem Haken und bohrte sich – Dewayne sah es mit ungeheurem Entsetzen – immer tiefer in eine der Augenhöhlen.
»Raus! Schafft die Biester hier raus!«
Hamilton vollführte eine jähe Drehbewegung mit der Hand, die Dewayne an das Portionieren von Eiscreme erinnerte, und plötzlich sprang der Augapfel heraus. Grotesk groß baumelte er aus der Augenhöhle und starrte Dewayne aus einem schlechterdings unmöglichen Winkel mitten ins Gesicht.
Schreie hallten durch den Hörsaal. Die Studenten in den ersten Reihe wichen entsetzt zurück. Der Assistent sprang von seinem Stuhl auf und rannte zu Hamilton hin, der ihn jedoch mit aller Kraft zurückstieß. Dewayne blieb wie angewurzelt sitzen, er konnte keinen klaren Gedanken fassen, und seine Beine waren wie gelähmt.
Jetzt machte Professor Hamilton einen Schritt und dann noch einen, er zerfetzte dabei sein Gesicht, riss sich das Haar büschelweise aus und torkelte, als würde er im nächsten Augenblick auf Dewayne herunterfallen.
»Einen Arzt!«, schrie der Assistent. »Holt einen Arzt!«
Der Bann war gebrochen, es entstand ein plötzlicher Tumult. Alle schossen gleichzeitig von ihren Sitzen, Bücher klatschten auf den Boden, panikerfüllte Rufe erfüllten den Hörsaal.
»Mein Gesicht!«, kreischte der Professor. »Wo ist es?«
Chaos brach aus, die Studenten rannten zur Tür, manche weinten. Andere stürzten nach vorn zu dem Professor, der inzwischen vollkommen die Kontrolle über sich verloren hatte, sie sprangen aufs Podium und versuchten, dessen selbstzerstörerische Attacke zu unterbinden. Hamilton schlug blindlings nach ihnen und stieß dabei einen hohen, schrillen Laut aus. Sein Gesicht war eine blutige Fratze. Irgendjemand, der sich aus der Sitzreihe hinausdrängelte, trat Dewayne auf den Fuß. Blutstropfen spritzten ihm ins Gesicht, er spürte ihre Wärme auf seiner Haut. Dennoch blieb er immer noch wie angewurzelt sitzen. Er war außerstande, den Blick von dem Geschehen zu wenden und diesem Albtraum zu entfliehen.
Mehrere Studenten hatten den Professor zu Boden gerungen, jetzt rutschten sie in seinem Blut herum und versuchten seine wild um sich schlagenden Arme und den sich aufbäumenden Körper festzuhalten. Direkt vor Dewaynes Augen riss sich Hamilton mit dämonischer Kraft von den Studenten los und griff nach seinem Wasserglas, brach es mit einem Schlag gegen das Podium in Stücke und begann laut kreischend sich die Scherben in den Hals zu drücken, mit drehenden und aushöhlenden Bewegungen, als wollte er etwas ausgraben.
Und dann, ganz plötzlich, merkte Dewayne, dass er doch aufstehen konnte. Er rappelte sich auf, schlitterte und rannte die Sitzreihe entlang zum Mittelgang und spurtete die Treppe hinauf zum Hinterausgang des Hörsaals. Er war von einem einzigen Gedanken beherrscht – so schnell wie möglich diesem gruseligen Schauspiel zu entfliehen, dem er soeben beigewohnt hatte. Aber während er zur Tür hinausschoss und über den Flur rannte, wiederholte sich ein Satz gebetsmühlenartig in seinem Kopf: Ich zeige dir die Angst in einer Hand voll Staub.
Vinnie? Vin? Bist du ganz sicher, dass du keine Hilfe da drin brauchst?«
»Danke, ich komm schon klar!« Lieutenant Vincent D’Agosta bemühte sich, seine Stimme ganz locker und gelassen klingen zu lassen. »Alles in Ordnung. Dauert nur noch ein paar Minuten.«
Er warf einen Blick auf die Küchenuhr: fast neun. Nur noch ein paar Minuten. Aber sicher. Er konnte von Glück reden, wenn das Essen um zehn auf dem Tisch stand.
Normalerweise war Laura Haywards Küche – er betrachtete sie immer noch als die ihre, schließlich war er erst vor sechs Wochen eingezogen – eine Oase der Ordnung. So ruhig und blitzsauber wie Hayward selbst. Jetzt sah es hier aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Die Spüle quoll förmlich über von schmutzigen Töpfen. In und um den Abfalleimer herum lagen ein halbes Dutzend Dosen, aus denen Reste von Tomatensauce und Olivenöl tropften. Auf dem Küchentresen befanden sich fast ebenso viele aufgeschlagene Kochbücher, deren Seiten dank verstreuten Semmelbröseln und Mehlhäufchen nahezu unleserlich waren. Das einzige Fenster, das auf die schneebedeckte Kreuzung der Siebenundsiebzigsten und der First hinausging, war mit dem Bratfett der Würste bespritzt. Obwohl der Abzug auf höchster Stufe lief, hielt sich der Geruch nach Angebranntem hartnäckig in der Luft.
Immer wenn es ihnen ihre Terminpläne in den letzten Wochen erlaubt hatten, hatte Laura ein köstliches Mahl nach dem anderen zubereitet, scheinbar fast im Handumdrehen. D’Agosta hatte nicht schlecht gestaunt. Für seine Frau (bald Exfrau), die mittlerweile in Kanada lebte, war Kochen immer eine Qual gewesen, stets von theatralischen Seufzern, lautem Pfannengeklapper und meist wenig überzeugenden Ergebnissen begleitet. Laura war das genaue Gegenteil.
Aber D’Agosta wunderte sich nicht nur über Laura, sie machte ihm auch ein wenig Angst. Sie war Detective Captain bei der New Yorker Polizei und bekleidete damit einen höheren Rang als er. Und in der Küche war sie ihm auch weit überlegen. Dabei wusste doch wirklich jeder, dass Männer die besseren Köche waren, insbesondere Italiener. Die kochten die Franzosen glatt an die Wand. Und deshalb hatte er Laura immer wieder versprochen, ein typisch italienisches Essen für sie beide zuzubereiten, genauso wie es früher seine Großmutter gemacht hatte. Aber mit jedem Mal, wenn er sein Versprechen erneuert hatte, waren seine Pläne komplizierter und spektakulärer geworden. Und heute war der Tag gekommen, an dem er die Lasagna napoletana seiner Großmutter kochen wollte.
Aber kaum hatte er die Küche betreten, war ihm klar geworden, dass er sich nicht mehr genau daran erinnerte, wie seine Großmutter die Lasagna napoletana zubereitet hatte. O ja, er hatte ihr Dutzende Male zugeschaut und war ihr oft zur Hand gegangen. Aber was genau kam in das ragù, das sie auf die Pasta häufte? Und was tat sie in die kleinen Fleischbällchen, die neben der Wurst und verschiedenen Käsesorten die Füllung ergaben? Vor lauter Verzweiflung hatte D’Agosta Hilfe in Lauras Kochbüchern gesucht, die ihm jedoch lauter widersprüchliche Vorschläge machten. Und so stand er Stunden später immer noch ratlos da, während sich die einzelnen Bestandteile der Lasagne in unterschiedlichen Stadien der Vollendung befanden und sein Frust sekündlich wuchs.
Laura rief ihm etwas aus dem Wohnzimmer zu, in das er sie verbannt hatte. Er holte tief Luft und fragte: »Was hast du gesagt, Schatz?«
»Dass ich morgen später nach Hause komme. Rocker hat für den 22. Januar eine Lagebesprechung angesetzt. Deshalb habe ich nur Montagabend Zeit, um die Statusberichte und die Belegschaftsdaten auf den neuesten Stand zu bringen.«
»Rocker und sein Papierkrieg. Wie geht’s übrigens deinem Kumpel, dem Commissioner?«
»Er ist nicht mein Kumpel.«
D’Agosta wandte sich wieder dem ragù zu, das auf der Herdplatte köchelte. Er war nach wie vor davon überzeugt, dass es allein Laura zu verdanken war, dass er seinen alten Job zurückbekommen hatte und sein befristeter Vertrag verlängert worden war. Die Vorstellung, dass Laura bei Rocker ein gutes Wort für ihn eingelegt hatte, gefiel ihm zwar überhaupt nicht, aber so war es nun einmal.
Im Topf mit dem ragù platzte eine Riesenblase, als handelte es sich um einen Vulkanausbruch, und spuckte Sauce auf seine Hand. »Aua!«, rief er, kühlte seine Hand im Abwaschwasser und drehte gleichzeitig die Herdplatte kleiner.
»Schatz, was ist denn?«
»Nichts. Alles okay.« D’Agosta rührte mit dem Kochlöffel in der Sauce, merkte, dass sie angebrannt war, und schob den Topf hastig auf die hintere Platte. Dann hob er etwas zögernd den Löffel an die Lippen. Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Das Ragout hatte eine anständige Konsistenz und fühlte sich gut im Mund an, auch wenn es ein klein wenig angebrannt schmeckte. Seiner Großmutter wäre das natürlich nie passiert.
»Was kommt sonst noch in das ragù, Nonna?«, murmelte er vor sich hin, ohne auf Antwort zu hoffen.
Plötzlich zischte es. Der große Topf mit Salzwasser kochte über. D’Agosta unterdrückte einen Fluch, stellte auch diese Platte kleiner, riss eine Packung Pasta auf und versenkte ein Pfund Lasagne im sprudelnden Wasser.
Aus dem Wohnzimmer drang Musik: Laura hatte eine CD von Steely Dan eingeschoben. »Ich schwöre dir, wegen des Portiers spreche ich noch mit dem Vermieter«, sagte sie durch die Tür.
»Welcher Portier?«
»Der neue, der vor ein paar Wochen eingestellt wurde. Er ist der sturste Kerl, dem ich je begegnet bin. Der hält einem noch nicht einmal die Tür auf! Und heute Morgen wollte er mir kein Taxi rufen. Er hat nur den Kopf geschüttelt und ist weggegangen. Ich glaube, er kann kein Englisch. Wenigstens tut er so.«
Was erwartest du denn für 2500 im Monat?, dachte D’Agosta. Aber es war ja Lauras Wohnung, also hielt er besser den Mund. Außerdem bezahlte sie die Miete – zumindest im Augenblick. Aber das wollte er so bald wie möglich ändern.
Ohne irgendwelche Erwartungen war er bei ihr eingezogen. Er hatte gerade die schlimmsten Wochen seines Lebens hinter sich und weigerte sich, über den Tag hinaus zu denken. Außerdem befand er sich im Frühstadium seiner Scheidung, und die versprach keine angenehme Sache zu werden. Eine neue Beziehung einzugehen war deshalb zum damaligen Zeitpunkt vermutlich nicht die intelligenteste Entscheidung. Doch die Sache mit Laura Hayward hatte sich viel besser entwickelt, als er es sich je erträumt hätte. Inzwischen war sie mehr als nur eine Freundin oder Geliebte – sie war eine Seelenverwandte. Er hatte befürchtet, es könnte problematisch sein, dass sie beide bei der Polizei arbeiteten und sie in der Hierarchie über ihm stand. Das genaue Gegenteil war der Fall: Durch die Arbeit hatten sie etwas Gemeinsames und sie konnten sich gegenseitig helfen, indem sie einzelne Fälle besprachen, ohne sich über Fragen der Vertraulichkeit den Kopf zerbrechen zu müssen.
»Gibt’s neue Spuren im Fall Baumelmann?«, hörte er Laura aus dem Wohnzimmer fragen.
Der »Baumelmann«, so lautete in der Abteilung der Spitzname eines Täters, der seit einiger Zeit mit einer manipulierten Kreditkarte Geld aus Bankautomaten klaute und hinterher seinen Schwengel in die Überwachungskamera hielt. Die meisten dieser Überfälle hatten sich in D’Agostas Revier ereignet.
»Ich hab vielleicht eine Augenzeugin für das Ding gestern.«
»Augenzeugin wovon?«, fragte Laura anzüglich.
»Vom Gesicht natürlich.« D’Agosta rührte kurz die Pasta um, regulierte die Hitze, warf einen kurzen Blick auf den Herd und vergewisserte sich, dass die Temperatur stimmte. Dann wandte er sich zu dem chaotischen Küchentresen um und ging im Kopf noch einmal alles durch. Bratwurst: war da. Fleischbällchen: auch. Ricotta, Parmesan und Mozzarella fiordilatte ebenso. Sieht ganz so aus, als könnte ich doch was aus dem Hut zaubern …
Verdammt. Er musste noch den Parmesan reiben.
D’Agosta riss eine Schublade auf und kramte hektisch darin herum. Im selben Moment war ihm, als hätte er es an der Tür läuten hören.
Aber wahrscheinlich hatte er sich das nur eingebildet. Laura bekam nicht allzu oft Besuch, und ihn suchte erst recht niemand auf. Schon gar nicht zu dieser späten Stunde. Vermutlich hatte sich der Bote aus dem vietnamesischen Restaurant im Erdgeschoss in der Tür geirrt.
Seine Hand schloss sich um die Parmesanreibe. Er zog sie aus der Schublade, stellte sie auf den Küchentresen und griff sich ein Stück Käse. Nachdem er sich für die Seite mit der feineren Reibe entschieden hatte, legte er den Parmesan darauf.
»Vinnie?«, rief Laura. »Komm mal, bitte.«
D’Agosta zögerte nur einen Augenblick. Etwas an Lauras Ton brachte ihn dazu, alles auf den Tresen zu legen und aus der Küche zu treten.
Laura stand vorn im Flur der Wohnung und sprach mit einem Wildfremden. Das Gesicht des Mannes, der einen teuren Trenchcoat trug, lag im Schatten. Irgendwie kam er ihm bekannt vor. Plötzlich trat der Mann einen Schritt vor, ins Licht. D’Agosta stockte der Atem. »Sie!«
Der Mann verbeugte sich. »Und Sie sind Vincent D’Agosta.«
Laura warf ihm einen Blick zu. Wer ist das?, fragte ihr Gesichtsausdruck.
D’Agosta atmete auf. »Laura, darf ich dir Proctor vorstellen. Den Fahrer von Agent Pendergast.«
Sie sah ihn überrascht an.
Proctor verneigte sich. »Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Ma’am.«
Sie nickte einfach nur.
Proctor wandte sich wieder an D’Agosta. »Nun, Sir, würden Sie bitte mit mir kommen?«
»Wohin?« Aber D’Agosta kannte die Antwort schon.
»Zum Riverside Drive 891.«
»Und warum?«
»Weil dort jemand auf Sie wartet. Jemand, der nach Ihrer Anwesenheit verlangt.«
»Jetzt sofort?«
Proctor verbeugte sich ein weiteres Mal stumm.
D’Agosta saß im Fonds des Rolls-Royce Silver Wraith, Baujahr 1959, und blickte aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu erkennen. Proctor war mit ihm in Richtung Westen gefahren, durch den Central Park, und jetzt jagte der große Wagen den Broadway hinauf.
D’Agosta rutschte auf dem weißen Ledersitz herum und konnte seine Neugier und Ungeduld kaum bezähmen. Am liebsten hätte er den Fahrer mit Fragen gelöchert, aber der würde ihm mit Sicherheit keine Antwort geben.
891 Riverside Drive. Die Adresse – eine der Adressen – von Special Agent Aloysius Pendergast, D’Agostas Freund und Partner in mehreren außergewöhnlichen Fällen. Der geheimnisumwitterte FBI-Agent, den D’Agosta kannte und doch nicht kannte und der offenbar mindestens so viele Leben hatte wie eine Katze …
Bis zu jenem Tag vor zwei Monaten, als er Pendergast das letzte Mal gesehen hatte.
Es war an der steilen Flanke eines Berges südlich von Florenz gewesen. Pendergast war weiter unten am Hang gewesen, umringt von einer geifernden Meute von Jagdhunden, während ein Dutzend bewaffneter Männer im Hintergrund gelauert hatte. Pendergast hatte sich geopfert, damit D’Agosta ihren Verfolgern entkam.
Und D’Agosta hatte es zugelassen.
D’Agosta rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her, als er sich daran erinnerte. Jemand, der nach Ihrer Anwesenheit verlangt, hatte Proctor gesagt. Konnte es sein, dass Pendergast – trotz allem – die Flucht gelungen war? Es wäre nicht das erste Mal. Er unterdrückte die aufkeimende Hoffnung …
Aber nein, das konnte nicht sein. Tief im Inneren wusste er, dass Pendergast tot war.
Jetzt glitt der Rolls den Riverside Drive hinauf. D’Agosta verlagerte nochmals sein Gewicht und blickte auf die vorbeihuschenden Straßenschilder: 125th Street, 130th Street. Sehr schnell traten an die Stelle des gepflegten Viertels bei der Columbia University heruntergekommene Häuser aus braunem Sandstein und leer stehende Mietskasernen. Die Januarkälte hatte die üblichen Herumtreiber nach drinnen getrieben, und im trüben Abendlicht sahen die Straßen verlassen aus.
Weiter vorn, gleich nach der 137th Street, erkannte D’Agosta jetzt die mit Brettern vernagelte Fassade und das kleine, von einem schmiedeeisernen Geländer eingerahmte Podest auf dem Dach von Pendergasts Villa. Beim Anblick der düsteren Umrisse des Riesenkastens lief ihm ein Schauder über den Rücken.
Der Rolls fuhr durch das Tor in dem schmiedeeisernen, mit Spitzen versehenen Zaun und blieb in der überdachten Wagenauffahrt stehen. Ohne auf Proctor zu warten, stieg D’Agosta aus und sah zu den vertrauten Umrissen des weitläufigen Gebäudes hinauf, dessen Fenster mit Blechplatten verdeckt waren und das nach außen hin genauso wirkte wie die anderen verlassenen Villen am Riverside Drive. Drinnen beherbergte es allerdings geradezu unvorstellbare Wunder und Geheimnisse. D’Agosta bekam Herzklopfen. Vielleicht war Pendergast ja doch da und saß in seinem unvermeidlichen schwarzen Anzug in der Bibliothek vor dem prasselnden Kamin, während die tanzenden Flammen merkwürdige Schatten auf sein bleiches Gesicht warfen. Und dann würde er sagen: »Mein lieber Vincent, danke, dass Sie gekommen sind. Darf ich Ihnen ein Glas Armagnac anbieten?«
D’Agosta wartete, bis Proctor die schwere Tür entriegelt und geöffnet hatte. Fahles Licht fiel auf die verwitterte Backsteinfassade. D’Agosta trat vor, während Proctor die Tür sorgfältig hinter ihm verschloss. Sein Herz schlug schneller. Schon allein die Tatsache, wieder in dem herrschaftlichen Haus zu sein, weckte in ihm eine merkwürdige Mischung von Gefühlen: Erregung, Angst, Bedauern.
Proctor wandte sich zu ihm um. »Hier entlang, Sir, wenn ich bitten darf.«
Der Chauffeur ging durch den langen Flur voraus in die Empfangshalle mit der blauen Kuppel. Hier war in Dutzenden Glasvitrinen eine Reihe von sagenumwobenen Sammlerstücken ausgestellt: Meteoriten, Edelsteine, Fossilien, Schmetterlinge. D’Agostas Blick schweifte verstohlen über den Parkettboden bis zum anderen Ende der Lobby, wo die Doppeltür zur Bibliothek offen stand. Falls Pendergast auf ihn wartete, dann dort: Mit einem leisen Lächeln auf den Lippen würde er in einem bequemen Ohrensessel sitzen und die Wirkung seiner kleinen Inszenierung auf seinen Freund auskosten.
Proctor ging voran in Richtung Bibliothek. Mit klopfendem Herzen betrat D’Agosta den prächtigen Raum, der genauso roch, wie er ihn Erinnerung hatte: nach Leder, Steifleinen und einer Spur von Holzrauch. Allerdings brannte kein fröhlich knisterndes Feuer im Kamin. Es war kühl im Zimmer. Die mit Intarsien geschmückten Bücherwände voller ledergebundener Bände mit Goldschnitt waren im Halbdunkel nur undeutlich zu erkennen. Es brannte nur ein Licht – eine Tiffany-Lampe warf ihren kleinen Lichtkegel von einem Seitentisch in ein Meer der Dunkelheit.
Nach einem Augenblick, in dem sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnten, erblickte D’Agosta neben dem Tisch eine Gestalt, die gerade außerhalb des Lichtkreises gestanden hatte und jetzt über den Teppich auf ihn zuschritt. Der Lieutenant erkannte die junge Frau sofort. Es war Constance Greene, Pendergasts Mündel und Assistentin. Sie war um die zwanzig und trug ein langes, altmodisches Samtkleid, das ihre schmale Taille betonte und fast bis zum Boden reichte. Obgleich unverkennbar jung, hatte Constance die Haltung einer Frau vorgerückten Alters. Und auch der Blick ihrer Augen wirkte merkwürdig alt – D’Agosta erinnerte sich an diese Augen voller Erfahrung und Bildung und an ihre altmodische, ja altertümliche Sprache. Und dann war da noch dieses Andere gewesen, etwas so gerade außerhalb des Normalen, das ebenso an ihr zu haften schien wie das antike Flair, das ihre Kleidung verströmte.
Heute wirkten ihre Augen anders als sonst. Gequält und dunkel, kam in ihnen irgendeine Art Verlust zum Ausdruck … vielleicht auch Angst?
Constance streckte ihm ihre Rechte entgegen und sagte in gemessenem Tonfall: »Lieutenant D’Agosta.«
D’Agosta ergriff ihre Hand, unsicher wie immer, ob er diese nun schütteln oder küssen sollte. Er tat weder das eine noch das andere, und nach einem Augenblick entzog Constance sie ihm.
Normalerweise war sie die Höflichkeit in Person. Heute blieb sie aber einfach vor D’Agosta stehen, ohne ihm einen Stuhl anzubieten oder sich nach seiner Gesundheit zu erkundigen. Sie wirkte unsicher. Und D’Agosta ahnte auch, warum. »Haben Sie etwas gehört?«, fragte sie mit einer Stimme, die kaum zu hören war. »Irgendetwas?«
D’Agosta schüttelte den Kopf, die Hoffnung, die sich in ihm geregt hatte, erlosch.
Constance hielt seinem Blick einen Moment länger stand. Dann nickte sie verständnisvoll und senkte die Lider. So standen sie eine Weile da und schwiegen.
Constance hob den Kopf. »Es ist töricht, weiter zu hoffen. Über sechs Wochen sind ohne eine Nachricht vergangen.«
»Ich weiß.«
»Er ist tot«, sagte sie mit noch leiserer Stimme.
D’Agosta erwiderte nichts.
Sie gab sich einen Ruck. »Das heißt, es ist an der Zeit, Ihnen das hier zu geben.« Sie ging zum Kaminsims und nahm ein kleines, mit Perlmuttintarsien versehenes Sandelholzkästchen herunter. Mit einem kleinen Schlüssel, der bereits in ihrer Hand lag, schloss sie das Kästchen auf und hielt es, ohne es zu öffnen, D’Agosta entgegen. »Ich habe diesen Augenblick schon viel zu lange hinausgeschoben. Aber ich hatte gehofft, dass mein Vormund vielleicht doch noch auftaucht.«
D’Agosta blickte auf das Kästchen. Es kam ihm bekannt vor, aber einen Augenblick lang konnte er sich nicht entsinnen, wo er es schon einmal gesehen hatte. Dann fiel es ihm ein: Es war in diesem Haus gewesen, genau in diesem Zimmer, im vergangenen Oktober. Er hatte die Bibliothek betreten und Pendergast beim Schreiben eines Briefes gestört. Der Agent hatte den Brief in dieses Kästchen gelegt. Das war am Abend gewesen, als sie zu ihrer verhängnisvollen Reise nach Italien aufgebrochen waren – der Abend, als Pendergast ihm von seinem Bruder Diogenes erzählt hatte.
»Nehmen Sie es.« Constances Stimme zitterte. »Bitte ziehen Sie das hier nicht in die Länge.«
»Verzeihen Sie.« D’Agosta nahm das Kästchen vorsichtig entgegen und öffnete es. Darin lag ein einzelner Bogen schweren cremefarbenen Papiers, einmal gefaltet. Höchst ungern zog D’Agosta das Blatt Papier heraus. Böses ahnend faltete er es auseinander und begann zu lesen.
Mein lieber Vincent,
wenn Sie diesen Brief lesen, bedeutet dies, dass ich tot bin. Es bedeutet zudem, dass ich gestorben bin, ehe ich eine Aufgabe erfüllen konnte, deren Durchführung rechtmäßig mir und keinem anderen obliegt, nämlich meinen Bruder Diogenes davon abzuhalten, das zu begehen, was er einmal prahlerisch als das »perfekte« Verbrechen bezeichnet hat.
Ich wollte, ich könnte Ihnen mehr über dieses Verbrechen berichten, aber ich weiß darüber nur, dass er es seit vielen Jahren plant und dass er es als die Erfüllung seines Lebens betrachtet. Was immer dieses »perfekte« Verbrechen sein mag, es wird ruchlos sein. Die Welt wird dadurch zu einem dunkleren Ort werden. Diogenes ist ein Mann mit außergewöhnlichen Maßstäben. Er würde sich nicht mit weniger zufrieden geben.
Ich fürchte, Vincent, dass die Aufgabe, Diogenes Einhalt zu gebieten, nun an Sie fallen muss. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich dies bedauere. Es ist etwas, das ich meinem schlimmsten Feind nicht wünsche und erst recht nicht einem, den ich inzwischen als treuen Freund betrachte. Aber es ist etwas, von dem ich glaube, dass Sie es besonders gut bewältigen können. Diogenes’ Androhung ist zu vage, als dass ich mich an das FBI oder eine andere Strafverfolgungsbehörde wenden kann, denn er hat vor einigen Jahren seinen eigenen Tod vorgetäuscht. Eine einzelne, engagierte Person hat die größten Chancen, meinen Bruder von der Durchführung dieses Verbrechens abzuhalten. Und diese Person sind Sie.
Diogenes hat mir einen Brief geschrieben, der nur eines enthält, ein Datum: den 28. Januar. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird das Verbrechen an diesem Tag verübt werden. Ich möchte jedoch keine Mutmaßungen anstellen – das Datum kann alles Mögliche bedeuten. Diogenes ist vor allem eines – unberechenbar.
Sie müssen sich von der Polizei von Southampton oder wo immer Sie derzeit angestellt sind, eine Zeit lang beurlauben lassen. Das lässt sich nicht vermeiden. Besorgen Sie sich alle hierzu nötigen Informationen von Detective Captain Laura Hayward, aber halten Sie sie weitestgehend aus der Sache heraus – um ihretwillen. Diogenes kennt sich in kriminaltechnischen und polizeilichen Verfahren hervorragend aus, und sollten Sie, was Gott verhüten möge, das Verbrechen nicht mehr rechtzeitig verhindern können, wird er diese Kenntnisse ohne Zweifel geschickt nutzen, um die Polizei in die Irre zu führen. So gut Hayward als Kommissarin ist, sie ist meinem Bruder nicht gewachsen.
Ich habe Constance ein separates Schreiben hinterlassen, die zu diesem Zeitpunkt in sämtliche Einzelheiten dieser Angelegenheit eingeweiht sein wird. Sie wird Ihnen mein Haus, meine Finanzen und alle meine Ressourcen zur Verfügung stellen. Außerdem wird Sie Ihnen umgehend ein auf Ihren Namen lautendes Bankkonto mit einem Guthaben von 500000 Dollar einrichten, über das Sie nach Gutdünken verfügen können. Ich empfehle, dass Sie sich der unschätzbaren Recherchefähigkeiten Constances bedienen, möchte Sie allerdings aus offensichtlichen Gründen darum bitten, sie aus Ihren direkten Ermittlungen herauszuhalten. Sie darf das Haus nicht verlassen – niemals. Und Sie müssen sehr, sehr gut auf sie Acht geben. Sie ist noch immer labil, psychisch wie körperlich.
Als ersten Schritt sollten Sie meiner Großtante Cornelia einen Besuch abstatten, die ihr Leben in einem Krankenhaus auf Little Governors Island fristet. Sie kannte Diogenes als Jungen und kann Ihnen jene persönlichen und familiären Informationen liefern, die Sie zweifellos benötigen werden. Behandeln Sie diese Informationen – und Cornelia – mit großer Umsicht.
Ein letztes Wort. Diogenes ist höchst gefährlich. Er ist mir intellektuell ebenbürtig, doch kennt er auch nicht die leisesten moralischen Skrupel. Überdies hat er nach einer schweren Erkrankung eine körperliche Behinderung zurückbehalten. Ihn treibt ein unbändiger Hass auf mich und eine absolute Verachtung für die Menschheit an. Machen Sie ihn erst auf sich aufmerksam, wenn Sie es unbedingt müssen. Seien Sie stets auf der Hut.
Leben Sie wohl, mein Freund – und viel Glück.
Aloysius Pendergast.
D’Agosta sah hoch. »Am 28. Januar? Mein Gott, das ist ja in einer Woche.«
Constance neigte nur leicht den Kopf.
Es muss an dem Geruch hier liegen, dachte sie, der bringt mir erst wirklich zu Bewusstsein, dass ich wieder im Museum bin: dieses Gemisch aus Mottenkugeln, Staub, altem Lack und einem Anflug von Verfall. Sie ging über den breiten Flur im fünften Stock, vorbei an den eichenen Bürotüren, auf denen in Goldlettern mit schwarzem Rand die Namen der einzelnen Kuratoren prangten. Sie wunderte sich, dass ihr nur weniges unbekannt war. In sechs Jahren hatte sich viel verändert, aber hier im Museum schienen die Uhren langsamer zu gehen.
Sie hatte sich Sorgen gemacht – mehr als sie sich eingestehen wollte. Was würde es wohl für ein Gefühl sein, mehrere Jahre nach dem furchterregendsten Erlebnis in ihrem Leben in das Museum zurückzukehren? Diese Besorgnis hatte ihren Entschluss zurückzukehren hinausgezögert. Doch nach den etwas schwierigen ersten Tagen musste sie zugeben, dass das Museum kaum noch etwas von seinem alten Schrecken barg. Ihre Albträume, das fortwährende Gefühl ihrer eigenen Verwundbarkeit, waren mit den Jahren verblasst und schließlich ganz verschwunden. Die Ereignisse von damals, ihre schlimmen Erlebnisse, waren nur noch Schnee von gestern. Aber das Museum war weiterhin ein herrlicher alter Schuppen, ein Spukschloss von wahrhaft gigantischen Ausmaßen, in dem viele wunderbare, exzentrische Leute arbeiteten. Und es war randvoll mit seltsamen, faszinierenden Objekten – die weltweit umfangreichste Sammlung von Trilobiten; »Luzifers Herz«, der kostbarste Diamant, der je gefunden wurde; »Wackelzahn«, das größte und am besten erhaltene Skelett eines Tyrannosaurus Rex.
Allerdings hatte sie sich vom Untergeschoss des Museums fern gehalten. Und sie hatte auch nicht aus Faulheit die Anzahl der Tage begrenzt, an denen sie nach Ende der Öffnungszeit arbeitete.
Sie konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, als sie als unbedeutende Studentin zum ersten Mal über diesen Flur mit seinen erlauchten Mitarbeitern hinter den Türen gewandert war. Studenten standen in der Hierarchie des Museums so weit unten, dass man sie noch nicht einmal verachtete – sie wurden ganz einfach überhaupt nicht wahrgenommen. Nicht, dass sie das geärgert hätte: Das war eben der Initiationsritus, den alle durchliefen. Damals war sie ein Niemand gewesen – eine »Sie« oder bestenfalls eine »Miss«.
Wie sich das alles geändert hatte. Jetzt war sie eine »Frau Doktor«, manchmal sogar eine »Frau Professor«, und wenn ihr Name gedruckt wurde, standen dahinter eine ganze Reihe akademischer Titel: Pierpont Research Fellow (bei »Fellow«, »Bursche«, musste sie immer unwillkürlich lächeln); außerordentliche Professorin für Ethnopharmakologie; und ihr neuester, erst drei Wochen alter Titel: Chefredakteurin von Museology. Zwar hatte sie sich immer eingeredet, dass Titel nichts bedeuteten, doch zu ihrem eigenen Erstaunen musste sie feststellen, dass sie – hatte man sie erst einmal erworben – höchst befriedigend waren. Professorin, das hatte einen hübschen, runden Klang, zumal von den Lippen jener verknöcherten alten Kuratoren, die ihr vor sechs Jahren nicht einmal gesagt hätten, wie spät es war. Inzwischen gaben sie sich besondere Mühe, sie um ihre Meinung zu bitten, oder drängten ihr ihre wissenschaftlichen Publikationen auf. Erst am Morgen hatte kein Geringerer als der Dekan der Ethnologischen Fakultät, ihr nomineller Chef, Hugo Menzies, sie beflissen nach dem Thema der von ihr geleiteten Podiumsdiskussion auf der bevorstehenden Konferenz der Society of American Anthropologists gefragt.
Ja, das war in der Tat eine erfrischende Abwechslung.
Das Büro des Museumsdirektors lag am Ende des Gangs, in einem der heißbegehrten Turmbüros. Sie blieb vor der mächtigen, von der Patina eines Jahrhunderts verdunkelten Eichentür stehen. Sie hob die Hand und ließ sie wieder fallen, denn mit einem Mal fühlte sie sich ein wenig nervös. Sie atmete tief durch. Sie freute sich, wieder im Museum zu sein, und fragte sich einmal mehr, ob die Kontroverse, in die sie sich zu stürzen gedachte, nicht doch ein schwerer Fehler war. Sie rief sich in Erinnerung, dass man ihr die Kontroverse aufgedrängt hatte und dass sie als Chefredakteurin von Museology Position beziehen musste. Wenn sie sich jetzt drückte, würde sie im Nu ihre Glaubwürdigkeit als Verfechterin ethischer Grundsätze und als Vorkämpferin der Meinungsfreiheit verlieren. Schlimmer noch, sie würde sich selbst nicht mehr in die Augen sehen können. Also gab sie sich einen Ruck und klopfte an, einmal, zweimal, dreimal, jedes Mal fester als zuvor.
Einen Augenblick war es still, dann öffnete ihr Mrs Sturd, die etwas nüchterne, aber tüchtige Sekretärin des Museumsdirektors. Sie trat einen Schritt zur Seite und musterte Margo aus durchdringend blauen Augen.
»Dr. Green? Dr. Collopy erwartet Sie schon. Sie können gleich zu ihm reingehen.«
Margo ging auf die innere Tür zu, die womöglich noch dunkler und massiver als die äußere wirkte, legte die Hand auf den eiskalten Messingknopf, drehte ihn und drückte die Tür mit ihren gutgeölten Türangeln auf.
Dort, hinter dem großen viktorianischen Schreibtisch, unter einem riesigen Gemälde der Victoriafälle von De Clefisse, saß Frederick Watson Collopy, Direktor des New York Museum of Natural History. Der gutaussehende Mann erhob sich entgegenkommend und lächelte sie an. Er trug einen dunkelgrauen, altmodisch geschnittenen Anzug. Eine Fliege aus hellroter Seide belebte die gestärkte weiße Hemdbrust.
»Ah, Margo. Wie schön, dass Sie gekommen sind. Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Wie schön, dass Sie gekommen sind. Der Brief, den sie erhalten hatte, war ihr eher wie eine Vorladung denn als Einladung vorgekommen.
Collopy kam um den Schreibtisch herum und deutete auf einen bequemen Ledersessel, der zu der Sitzgruppe vor dem Kamin aus rosa Marmor gehörte. Margo setzte sich und Collopy ließ sich ihr gegenüber nieder.
»Was möchten Sie? Kaffee, Tee, Mineralwasser?«
»Nichts, danke, Dr. Collopy.«
Er lehnte sich zurück und schlug die Beine lässig übereinander. »Wir freuen uns sehr, Sie wieder im Museum zu haben, Margo«, sagte er in seinem New Yorker Upperclass-Akzent. »Ich war hoch erfreut über Ihre Zustimmung, die Stelle als Chefredakteurin von Museology zu übernehmen. Wir schätzen uns sehr glücklich, dass wir Sie von GeneDyne abwerben konnten. Ihre wissenschaftlichen Forschungsergebnisse haben uns wirklich imponiert, und weil Sie ja schon als Ethnopharmakologin hier bei uns gearbeitet haben, waren Sie die ideale Kandidatin.«
»Vielen Dank, Dr. Collopy.«