Douglas Preston / Lincoln Child
ATTACK
Unsichtbarer Feind
Ein neuer Fall für Special Agent Pendergast
Aus dem Amerikanischen von
Michael Benthack
Knaur e-books
Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts geboren. Er studierte in Kalifornien zunächst Mathematik, Biologie, Chemie, Physik, Geologie, Anthropologie und Astronomie und später Englische Literatur. Nach dem Examen startete er seine Karriere beim »American Museum of Natural History« in New York. Eines Nachts, als Preston seinen Freund Lincoln Child auf eine mitternächtliche Führung durchs Museum einlud, entstand dort die Idee zu ihrem ersten gemeinsamen Thriller, Relict. Douglas Preston schreibt auch Solo-Bücher und verfasst regelmäßig Artikel für diverse Magazine. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern an der US-Ostküste.
Lincoln Child wurde 1957 in Westport, Connecticut geboren. Nach seinem Studium der Englischen Literatur arbeitete er zunächst als Verlagslektor und später für einige Zeit als Programmierer und System-Analytiker. Während der Recherchen zu einem Buch über das American Museum of Natural History in New York lernte er Douglas Preston kennen und entschloss sich nach dem Erscheinen des gemeinsam verfassten Thrillers Relic, Vollzeit-Schriftsteller zu werden. Er lebt mit Frau und Tochter in New Jersey.
Obwohl die beiden Erfolgsautoren 500 Meilen voneinander entfernt leben, schreiben sie ihre Megaseller gemeinsam: per Telefon, Fax und übers Internet.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel »White Fire« bei Grand Central Publishing, New York.
© 2013 der eBook-Ausgabe Knaur eBook
© 2013 Splendide Mendax, Inc., und Lincoln Child
© 2013 der deutschrachigen Ausgabe Droemer Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Ralf Reiter
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Gettyimages Adam Gault
ISBN 978-3-426-42075-1
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Die Autoren danken dem Conan Doyle Estate Ltd für die Genehmigung,
Figuren aus den Sherlock-Holmes-Geschichten zu verwenden,
die Sir Arthur Conan Doyle geschaffen hat.

Lincoln Child widmet dieses Buch seiner Tochter
VERONICA
Douglas Preston widmet dieses Buch
DAVID MORRELL
30. August 1889
Der junge Arzt verabschiedete sich von seiner Frau auf dem Bahnsteig in Southsea, stieg in den 16.15-Uhr-Schnellzug nach London und kam drei Stunden darauf in der Victoria Station an. Nachdem er sich einen Weg durch das lärmende Treiben gebahnt hatte, trat er aus dem Bahnhofsgebäude und winkte eine Droschke herbei.
»Zum Hotel Langham, bitte«, sagte er zum Kutscher und bestieg durchdrungen von einem Gefühl der Vorfreude das Abteil.
Er lehnte sich in den abgewetzten Ledersitz zurück, während der Kutscher über den Grosvenor Place fuhr. Es war ein schöner Spätsommerabend, ein seltenes Ereignis in London. Die abendlichen Sonnenstrahlen fielen in die von Droschken verstopften Straßen und auf die rußgeschwärzten Gebäude und überzogen alles mit ihrem goldenen Glanz. Jetzt, um halb sieben, wurden die ersten Straßenlaternen gerade erst angezündet.
Da der Arzt kaum einmal Gelegenheit hatte, nach London heraufzukommen, sah er voll Interesse aus dem Fenster der Hanson-Droschke. Als der Kutscher rechts auf den Piccadilly Circus bog, kamen der in die Abendröte des Sonnenuntergangs getauchte St.-James-Palast und die Königliche Akademie in Sicht. Die Menschenansammlungen, der Lärm und der Gestank der Stadt waren so ganz anders als das Land, auf dem er lebte, und erfüllten ihn mit Kraft und Energie. Unzählige beschlagene Pferdehufe klapperten auf dem Kopfsteinpflaster. Auf den Bürgersteigen drängten sich Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft: Büroangestellte, Rechtsanwälte und Flaneure mischten sich unter Schornsteinfeger, Straßenverkäufer und Tierfutter-Händler.
Am Piccadilly Circus bog die Droschke scharf links in die Regent Street ab, passierte die Carnaby Street und den Oxford Circus, bis sie schließlich auf der Wagenauffahrt des Langham zum Stehen kam. Es war das erste Grandhotel, das in London gebaut wurde, und bis zum heutigen Tag das eleganteste. Während er den Droschkenkutscher bezahlte, blickte der Arzt an der reich verzierten Sandsteinfassade mit ihren französischen Fenstern und Balkonen aus Gusseisen, ihren hohen Giebeln und Balustraden hinauf. Er interessierte sich ein wenig für Architektur und nahm an, dass es sich bei dem Bau um eine Mischung aus Beaux Arts und Norddeutscher Neorenaissance handelte.
Als er das große Eingangsportal betrat, schallte ihm Musik entgegen: Ein versteckt hinter einem Schutzschirm aus Gewächshaus-Lilien verborgenes Streichquartett spielte Schubert. Er blieb stehen und sah sich in der prächtigen Eingangshalle um, voll mit Männern in Ohrensesseln, die frisch gebügelte Ausgaben der Times lasen und Portwein oder Sherry tranken. Der Qualm teurer Zigarren erfüllte die Luft und vermischte sich mit dem Geruch von Blumen und Damenparfüm.
Am Eingang zum Speisesaal empfing ihn ein kleiner, recht korpulenter Mann in einem Gehrock aus feinem schwarzen Tuch und graubrauner Hose, der ihm mit raschen Schritten entgegeneilte. »Sie müssen Doyle sein«, sagte er und ergriff seine Hand. Er hatte ein freundliches Lächeln und sprach mit breitem amerikanischem Akzent. »Ich bin Joe Stoddart. Wie schön, dass Sie kommen konnten. Kommen Sie rein – die anderen sind eben erst eingetroffen.«
Der Arzt folgte Stoddart, während sich dieser einen Weg zwischen den mit weißem Leinen gedeckten Tischen hindurch zu einer entlegenen Ecke des Saals bahnte. Das Restaurant war noch prachtvoller als die Eingangshalle. Vertäfelung aus olivefarben gebeiztem Eichenholz, ein cremefarbener Fries und eine Decke mit Stuckverzierungen. Neben einem opulent gedeckten Tisch, an dem bereits zwei Männer saßen, blieb Stoddart stehen.
»Mr. William Gill, Mr. Oscar Wilde«, sagte Stoddart. »Darf ich vorstellen: Dr. A. Conan Doyle.«
Gill – ein bekannter Parlamentsabgeordneter für Irland, den Doyle vom Sehen her kannte – stand auf und verbeugte sich mit gutgelaunter Gewichtigkeit. Vor seiner gut gefüllten Weste hing eine schwere goldene Uhrenkette. Wilde, der gerade dabei war, einen Schluck Wein zu nehmen, betupfte sich mit einer Damastserviette die ziemlich vollen Lippen und bedeutete Conan Doyle, auf dem leeren Stuhl neben ihm Platz zu nehmen.
»Mr. Wilde hat uns gerade mit Anekdoten über die Teegesellschaft unterhalten, zu der er heute Nachmittag eingeladen war«, sagte Stoddart, als sie Platz nahmen.
»Im Hause von Lady Featherstone«, sagte Wilde. »Sie ist kürzlich verwitwet. Die Arme – ihr Haar ist vor lauter Kummer ganz golden geworden.«
»Oscar«, sagte Gill und lachte, »du bist wirklich schlimm. Auf eine solche Art von einer Dame zu sprechen.«
Wilde winkte ab. »Die Dame würde es mir danken. Es gibt nur eines im Leben, was schlimmer ist, als dass über einen geredet wird – dass nicht über einen geredet wird.« Er sprach schnell, mit leiser Stimme, ein wenig manieriert.
Doyle betrachtete Wilde verstohlen. Der Mann war eine auffällige Erscheinung. Er war von enorm großer Statur, trug altmodisch langes Haar, in der Mitte gescheitelt und achtlos nach hinten geworfen, und hatte ausgeprägte Gesichtszüge. Die Wahl seiner Kleidung war so exzentrisch, dass es fast schon an Verrücktheit grenzte. Er trug eine Jacke aus schwarzem Samt, die am mächtigen Leib eng anlag, die Ärmel waren mit floralen Mustern bestickt und an den Schultern gepufft. Um den Hals trug er eine schmale, dreireihige Rüschenkrawatte aus dem gleichen Brokatstoff wie an den Manschetten. Wilde war in modischer Hinsicht so kühn, dass er Kniehosen trug, ebenso eng anliegend, dazu Strümpfe aus schwarzer Seide und Slipper mit Ripsbandschleifen. Vor der hellbraunen Weste hing, als boutonnière, eine immens große weiße Orchideenblüte, die aussah, als würde im nächsten Augenblick ihr Nektar herauströpfeln. An den manikürten Fingern glitzerten schwere Goldringe. Trotz der höchst eigenwilligen Kleidung hatte Wilde milde Gesichtszüge, was den scharfen Ausdruck in seinen wachen braunen Augen ausglich. Und dennoch bewies der Mann eine erstaunliche Zartheit des Gefühls und des Takts. Seine merkwürdig präzisen Äußerungen begleitete er mit kleinen Gesten, die die Bedeutung seiner Worte unterstreichen sollten.
»Sie sind außerordentlich freundlich, uns auf diese Art und Weise zu bewirten«, sagte Wilde jetzt. »Und dann auch noch im Langham. Ich wäre sonst völlig aufgeschmissen. Nicht, dass mir das Geld zum Abendessen fehlte, natürlich nicht. Schauen Sie, nur Menschen, die ihre Rechnungen begleichen, haben kein Geld, und ich, verstehen Sie, bezahle nie meine Rechnungen.«
»Ich fürchte, Sie werden feststellen, dass meine Beweggründe ausschließlich pekuniärer Art sind«, erwiderte Stoddart. »Und ich will Ihnen auch nicht verhehlen, dass ich nach England gekommen bin, um eine britische Ausgabe der Monatszeitschrift Lippincott’s Monthly herauszubringen.«
»Philadelphia ist Ihnen nicht groß genug?«, fragte Gill.
Lächelnd blickte Stoddart erst Wilde und dann Doyle an. »Ich habe die Absicht, noch ehe wir unser Mahl beendet haben, mir von jedem von Ihnen einen neuen Roman zu sichern.«
Als er das hörte, war Doyle wie elektrisiert. In seinem Telegramm war Stoddart hinsichtlich der Gründe, warum er ihn gebeten hatte, zum Dinner nach London zu kommen, vage geblieben. Doch der Mann war ein bekannter amerikanischer Verleger, und genau dies hatte Doyle zu hören gehofft. Seine Arztpraxis war langsamer angelaufen, als ihm lieb war. Um die freie Zeit auszufüllen, hatte er, während er auf Patienten wartete, damit begonnen, Romane zu schreiben. Die letzten Geschichten waren Achtungserfolge gewesen. Stoddart war genau der Mann, den er brauchte, um seine literarische Karriere zu befördern. Doyle fand ihn angenehm, ja sogar charmant – für einen Amerikaner.
Das Dinner erwies sich als ein köstliches Vergnügen.
Gill war ein amüsanter Bursche, aber Oscar Wilde war absolut erstaunlich. Wildes anmutige Gesten, die lässige Ausdrucksweise, die sehr lebhaft wurde, wenn er seine kuriosen Anekdoten oder amüsanten bons mots zum Besten gab, faszinierten Doyle. Es kam fast einem Wunder gleich, überlegte er, dass er dank der modernen Technik in wenigen Stunden von einem verschlafenen Städtchen an der Küste an diesen gediegenen Ort befördert worden war und nun zwischen einem bedeutenden Verleger, einem Mitglied des Parlaments und dem berühmten Hauptvertreter des Ästhetizismus speiste.
In schneller Folge wurden die Speisen serviert: eingelegte Garnelen, Galantine vom Huhn, Kutteln, in Teig gebraten, Hummersuppe. Zu Beginn des Abends hatte man Rot- und Weißwein kredenzt, und es war immer großzügig nachgeschenkt worden. Erstaunlich, wie viel Geld die Amerikaner hatten; Stoddart war dabei, ein kleines Vermögen auszugeben.
Die Wahl des Zeitpunkts war ausgezeichnet. Doyle hatte eben mit einem neuen Roman begonnen, der Stoddart sicher gefallen würde. Sein vorletztes Werk, Micha Clarke, war gut besprochen worden, auch wenn sein jüngster Roman, über einen Detektiv, dessen Porträt zum Teil auf seinem ehemaligen Universitätsprofessor Joseph Bell beruhte, nach dem Erscheinen in Beeton’s Christmas Annual eher enttäuschend rezensiert worden war … Er versuchte, sich wieder auf das Tischgespräch zu konzentrieren. Gill, der irische Parlamentsangehörige, stellte gerade den Satz in Frage, wonach das Glück von Freunden einen selbst unzufrieden mache.
Als er dies hörte, erschien ein Funkeln in Wildes Augen. »Als Satan«, erwiderte er, »einmal die Wüste durchquerte, gelangte er an einen Ort, wo ein paar kleine Teufel gerade einen heiligen Eremiten quälten. Der Mann wies ihre bösen Einflüsterungen mühelos zurück. Satan sah zu, wie ihre Bemühungen fehlschlugen, dann trat er vor, um ihnen eine Lektion zu erteilen. ›Was ihr da tut, ist zu grob‹, sagte er. ›Gewährt mir einen Augenblick.‹ Und damit flüsterte er dem Heiligen zu: ›Dein Bruder ist gerade zum Bischof von Alexandria ernannt worden.‹ Sogleich verdunkelte ein Ausdruck bösartigen Neids das ruhig-heitere Gesicht des Eremiten. ›Das‹, sagte Satan zu seinen Teufelchen, ›ist genau das, was ich euch empfehle.‹«
Stoddart und Gill lachten aus vollem Herzen, dann entspann sich ein Streitgespräch über politische Fragen. Wilde wandte sich Doyle zu. »Sie müssen es mir verraten: Werden Sie für Stoddart ein Buch schreiben?«
»Ich glaube schon. Tatsächlich habe ich bereits mit der Arbeit an einem neuen Roman begonnen. Ich habe mir überlegt, ihm den Titel Ein verhedderter Strang, vielleicht auch Das Zeichen der Vier zu geben.«
Entzückt legte Wilde die Hände zusammen. »Mein lieber Freund, das ist eine wundervolle Nachricht. Ich hoffe doch, dass es sich dabei um eine weitere Holmes-Geschichte handelt.«
Doyle sah ihn verwundert an. »Wollen Sie damit sagen, Sie haben Eine Studie in Scharlachrot gelesen?«
»Mein lieber Junge, ich habe den Roman nicht gelesen. Ich habe ihn verschlungen.« Wilde griff in seine Weste und zog die ›Ward, Lock & Co.‹-Ausgabe mit ihrer vage orientalischen Schrift hervor, die gerade so en vogue war. »Ich habe ihn sogar ein zweites Mal gelesen, als ich hörte, dass Sie heute Abend mit uns dinieren.«
»Sie sind sehr freundlich«, sagte Conan Doyle, dem keine bessere Antwort einfiel. Er war überrascht und dankbar, dass der Fürst der britischen Dekadenz seine Freude an einem bescheidenen Detektivroman hatte.
»Ich finde, dass Sie mit Holmes die Voraussetzungen für eine großartige Romanfigur geschaffen haben. Aber …« Und hier hielt Wilde inne.
»Ja?«, sagte Doyle.
»Am bemerkenswertesten fand ich die Glaubwürdigkeit des Ganzen. Die Einzelheiten der polizeilichen Ermittlungsarbeit, Holmes’ Nachforschungen – alles sehr erhellend. In dieser Richtung kann ich viel von Ihnen lernen. Schauen Sie, zwischen mir und der Welt liegt immerzu ein Nebel aus Worten. Um einer Formulierung willen lasse ich jede Wahrscheinlichkeit sausen, und die Gelegenheit zu einem Epigramm lässt mich den Boden der Wahrheit verlassen. Diese Schwäche haben Sie nicht. Und doch … und doch glaube ich, Sie könnten mit Ihrem Holmes noch mehr leisten.«
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das erläutern könnten«, sagte Doyle.
Wilde trank einen Schluck Wein. »Wenn er ein wahrhaft bedeutender Detektiv, ein bedeutendes Ich werden soll, muss er exzentrischer sein. Die Welt braucht keinen weiteren Sergeant Cuff oder Inspektor Dupin. Nein, sorgen Sie dafür, dass sein Menschsein der Größe seiner Kunst nachstrebt.« Er hielt kurz inne, dachte nach und strich gedankenverloren über die Orchidee, die aus seinem Knopfloch hing. »In Scharlachrot nennen Sie Watson ›äußerst faul‹. Meiner Ansicht nach sollten Sie die Tugenden der Zerstreuung und des Müßiggangs auf Ihren Romanhelden übertragen, nicht seinen Botenjungen. Und machen Sie Holmes reservierter. Schreiben Sie nicht Entzücken zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab, lassen Sie ihn auch nicht in lautes Lachen ausbrechen.«
Doyle errötete, als er die klischeehaften Formulierungen wiedererkannte.
»Sie müssen ihn mit einem Laster ausstatten«, fuhr Wilde fort. »Tugendhafte Menschen sind so banal.« Er hielt erneut inne. »Nicht nur mit einem Laster, Doyle, sondern mit einer Schwäche. Lassen Sie mich nachdenken – ah, ja! Ich erinnere mich.« Er schlug sein Exemplar von Eine Studie in Scharlachrot auf, blätterte schnell darin, fand eine Stelle und begann, Dr. Watson zu zitieren: »Ich hätte annehmen können, dass er nach dem Gebrauch irgendeines Narkotikums süchtig war, hätte sich wegen der Enthaltsamkeit und Reinlichkeit seiner ganzen Lebensweise ein derartiger Gedanke nicht verboten.« Wilde steckte das Buch zurück in seine Westentasche. »Na bitte – Sie hielten die perfekte Schwäche in Händen, aber Sie haben sie fallenlassen. Nehmen Sie sie wieder auf! Liefern Sie Holmes der Gefährdung durch irgendeine Sucht aus. Opium, beispielsweise. Aber nein, Opium ist so furchtbar gewöhnlich heutzutage, es wird von den unteren Schichten in Mengen konsumiert.« Plötzlich schnippte er mit dem Finger. »Ich hab’s! Kokainhydrochlorid. Das wäre eine originelle und elegante Schwäche, die Sie verwenden könnten.«
»Kokain«, wiederholte Doyle ein wenig verunsichert. Als Arzt hatte er einigen Patienten, die an Erschöpfungszuständen oder Depressionen litten, eine siebenprozentige Lösung verschrieben, doch die Idee, Holmes zu einem Süchtigen zu machen, war auf den ersten Blick völlig absurd. Obgleich er Wilde um seine Meinung gebeten hatte, reagierte er doch etwas pikiert, als der ihn tatsächlich kritisierte. Auf der anderen Seite des Tischs setzten Stoddart und Gill ihr gutmütiges Streitgespräch fort.
Wilde trank noch einen Schluck Wein und warf die Haare in den Nacken.
»Und wie steht’s mit Ihnen?«, fragte Doyle. »Wollen Sie denn für Stoddart ein Buch schreiben?«
»Ja. Und ich werde dabei unter Ihrem Einfluss – besser gesagt, unter Holmes’ Einfluss – stehen. Wissen Sie, ich habe immer gefunden, dass es so etwas wie ein moralisches oder unmoralisches Buch nicht gibt. Bücher sind gut oder schlecht geschrieben, das ist alles. Aber ich bin fasziniert von der Idee, ein Buch über Kunst und Moral zu schreiben. Ich habe vor, es Das Bildnis des Dorian Gray zu nennen. Und wissen Sie, ich glaube, es wird eine recht schaurige Geschichte. Nicht eine Gespenstergeschichte, nicht direkt, sondern eine, in der die Hauptfigur ein abscheuliches Ende findet. Die Art von Geschichte, die man bei Tageslicht und nicht beim Schein einer Lampe lesen möchte.«
»Eine solche Geschichte scheint eigentlich nicht auf der gleichen Linie mit Ihren anderen Werken zu liegen.«
Wilde blickte Doyle etwas belustigt an. »Ach ja? Haben Sie denn geglaubt, dass ich – als einer, der sich freudig auf dem Scheiterhaufen des Ästhetizismus opfern würde – das Antlitz des Grauens nicht erkenne, wenn ich hineinstarre? Lassen Sie mich Ihnen sagen: Der Schauder der Angst ist ebenso sinnlich, wenn nicht sinnlicher, als der Schauer der Lust.« Dies unterstrich er abermals mit einer knappen Geste. »Im Übrigen wurde mir einmal eine Geschichte erzählt, die in den Einzelheiten und im Ausmaß des dargestellten Bösen so furchterregend, so erschütternd ist, dass ich heute wahrhaft glaube, dass nichts, was ich höre, mich je wieder ängstigen kann.«
»Wie interessant«, erwiderte Doyle ein wenig geistesabwesend, weil er noch immer über Wildes Kritik an Holmes nachgrübelte.
Wilde betrachtete ihn. Auf seinen großen, blassen Gesichtszügen zeigte sich ein leises Lächeln. »Möchten Sie die Geschichte hören? Sie ist aber nichts für Zartbesaitete.«
So, wie er die Frage gestellt hatte, klang das wie eine Herausforderung. »Ich bitte darum.«
»Sie ist mir vor einigen Jahren während meiner Lesereise durch Amerika erzählt worden. Auf dem Weg nach San Francisco machte ich halt in einer recht armseligen, aber pittoresken Bergbausiedlung namens Roaring Fork. Ich hielt meine Lesung ganz unten in der Mine, und sie wurde außerordentlich gut aufgenommen von den Herren Bergleuten. Nach der Lesung kam einer der Bergleute auf mich zu, ein älterer Bursche, den der Alkohol zum Schlechten oder vielleicht auch zum Guten verändert hatte. Er nahm mich beiseite und sagte, meine Geschichte habe ihm so gut gefallen, dass er mir eine seiner eigenen erzählen wolle.«
Wilde hielt inne, befeuchtete seine dicken roten Lippen und nippte nur zart an seinem Wein. »Kommen Sie, wenn Sie sich etwas näher zu mir herüberbeugen, ja, so ist’s recht, dann erzähle ich Ihnen die Geschichte genau so, wie sie mir zugetragen wurde …«
Zehn Minuten später hätte ein Gast im Restaurant des Hotels Langham überrascht bemerken können, wie – inmitten der leisen Klänge höflicher Konversation und des Klirrens von Besteck – ein junger Mann im Aufzug eines Landarztes jäh und blass im Gesicht vom Tisch aufstand. In seiner Aufregung stieß der Mann einen Stuhl um, legte eine Hand an die Stirn und verließ unsteten Schritts den Saal, wobei er das Tablett mit feinen Speisen, das ein Kellner gerade hereintrug, beinahe umgestoßen hätte. Und während er in Richtung der Herrentoilette verschwand, spiegelten sich in seiner Miene Abscheu und Entsetzen.
Gegenwart
Corrie Swanson betrat zum dritten Mal die Damentoilette, um ihr Aussehen zu überprüfen. Vieles hatte sich verändert, seit sie zum Beginn ihres zweiten Studienjahrs aufs John Jay College of Criminal Justice gewechselt war. Im John Jay ging es ziemlich zugeknöpft zu. Eine Zeitlang hatte sie sich dagegen gewehrt, aber schließlich doch erkannt, dass sie erwachsen werden und das Spiel des Lebens spielen musste, statt sich für immer wie eine Rebellin aufzuführen. Verschwunden waren die lila Haare, die Piercings, die schwarze Lederjacke, der dunkle Lidschatten und die anderen Requisiten ihrer Gothic-Vergangenheit. Gegen die Möbiusband-Tätowierung im Nacken war allerdings nichts zu machen, außer das Haar nach hinten zu kämmen und hohe Kragen zu tragen. Aber eines Tages würde auch die verschwinden müssen.
Wenn sie bei dem Spiel schon mitspielen musste, dann würde sie es gut spielen.
Leider hatte ihre persönliche Transformation nach Meinung ihres akademischen Betreuers – ein ehemaliger Cop der New Yorker Polizei, der wieder zur Uni gegangen und schließlich Professor geworden war – zu spät stattgefunden. Corrie hatte das Gefühl, dass sein erster Eindruck von ihr der einer jugendlichen Straftäterin war und dass nichts, was sie in dem Jahr seit ihrer ersten Begegnung getan hatte, dazu beigetragen hatte, diesen Eindruck zu zerstreuen. Keine Frage, er hatte sie auf dem Kieker. Bereits ihren ersten Themenvorschlag für die Rosewell-Semesterarbeit hatte er abgelehnt. Dafür hatte sie nach Chile reisen wollen, um dort eine Perimortem-Analyse der Skelettreste durchzuführen, die man in einem Massengrab mit kommunistischen Bauern entdeckt hatte, die vom Pinochet-Regime in den 1970er Jahren ermordet worden waren. Zu weit weg, hatte er gesagt, zu teuer für ein Forschungsprojekt, und überhaupt sei das Schnee von gestern. Als Corrie entgegnete, dass es genau darum gehe – dass es sich um alte Gräber handele, die spezielle forensische Verfahren erforderten –, hatte er irgendetwas dahingehend geantwortet, sie solle sich nicht in außenpolitische Kontroversen einmischen, vor allem nicht kommunistisch gesteuerte.
Jetzt hatte sie eine neue Idee für ihre Semesterarbeit, eine noch bessere, und sie war bereit, fast alles zu tun, um sie zu verwirklichen.
Sie betrachtete sich im Spiegel, arrangierte ein paar Haarsträhnen um, zog sich die Lippen mit einem unauffälligen Lippenstift nach, zupfte ihr graues Kammgarnjackett glatt und puderte sich die Nase. Sie erkannte sich kaum wieder. Gott, man hätte sie für ein Mitglied der Jungen Konservativen halten können. Umso besser.
Sie verließ die Damentoilette und ging forschen Schritts über den Flur, wobei ihre konservativen Pumps berufsmäßig auf dem harten Linoleumboden klapperten. Wie üblich war die Tür ihres Dozenten geschlossen. Sie klopfte an, kurz und selbstbewusst. Von drinnen rief eine Stimme: »Herein.«
Sie trat ein. Wie immer war das Büro absolut sauber und aufgeräumt, die Bücher und Fachzeitschriften in den Bücherregalen waren auf Kante gerückt, die bequemen, maskulin wirkenden Ledermöbel spendeten eine behagliche Atmosphäre. Professor Greg Carbone saß hinter seinem großen Schreibtisch, dessen riesige polierte Mahagoniplatte frei von Büchern, Zeitungen, Fotos von Familienangehörigen oder Schnickschnack war.
»Guten Morgen, Corrie«, sagte Carbone, erhob sich und knöpfte seinen blauen Serge-Anzug zu. »Bitte nehmen Sie Platz.«
»Vielen Dank, Professor.« Sie wusste, dass er sich gerne so anreden ließ. Wehe dem Studierenden, der ihn mit Mr. Carbone oder, schlimmer noch, Greg anredete.
Er setzte sich wieder, sie nahm Platz. Carbone war ein auffallend gutaussehender Mann mit graumelierten Haaren, strahlend weißen Zähnen, schlank und fit, gut gekleidet, eloquent, leise und zurückhaltend, intelligent und erfolgreich. Alles, was er tat, machte er gut, und als Folge davon war er ein komplettes Arschloch.
»Nun, Corrie«, begann Carbone, »Sie sehen heute gut aus.«
»Vielen Dank, Professor Carbone.«
»Ich bin gespannt, von Ihrer neuen Idee zu hören.«
»Danke.« Corrie öffnete ihre Aktentasche (Rucksäcke waren am John Jay nicht gestattet), zog einen braunen Ordner hervor und legte ihn auf ihre Knie. »Sie haben sicherlich schon von der archäologischen Ausgrabung unten im City Hall Park gehört. Unweit der Stelle, wo das alte Gefängnis stand, im Volksmund als ›Tombs‹ bekannt.«
»Erzählen Sie mir davon.«
»Mitarbeiter der Parkverwaltung haben einen kleinen Friedhof mit hingerichteten Straftätern ergraben, um Platz für einen neuen U-Bahn-Eingang zu schaffen.«
»Ach ja, ich habe davon gelesen«, sagte Carbone.
»Der Friedhof war zwischen 1858 und 1865 in Betrieb. Nach 1865 wurden alle nach Hinrichtungen Bestatteten nach Hart Island verlegt, und es gibt bis heute keinen Zugang zu ihnen.«
Langsames Nicken seitens Carbone. Er wirkte interessiert; sie fühlte sich ermuntert, weiter auszuholen.
»Ich glaube, dass die Ausgrabung eine großartige Gelegenheit bietet, eine osteologische Untersuchung dieser Skelette vorzunehmen – um festzustellen, ob eine gravierende Mangelernährung während der Kindheit, die, wie Sie wissen, osteologische Marker hinterlässt, möglicherweise mit kriminellem Verhalten im späteren Leben korreliert.«
Noch ein Nicken von Carbone.
»Ich habe das alles hier skizziert.« Sie legte ihr Konzept auf den Tisch. »Hypothese, Methodologie, Kontrollgruppe, Beobachtungen und Analyse.«
Carbone legte eine Hand auf die Mappe, zog sie zu sich heran, klappte sie auf und blätterte darin herum.
»Es gibt mehrere Gründe, warum es sich hier um eine großartige Gelegenheit handelt«, fuhr sie fort. »Erstens besitzt die Stadt brauchbare Unterlagen über die meisten dieser hingerichteten Straftäter – Namen, Vorstrafenregister und Prozessakten. Über diejenigen, die im Arbeitshaus Five Points aufwuchsen – ungefähr ein halbes Dutzend –, gibt es zudem einige Unterlagen über ihre Kindheit. Alle diese Straftäter wurden auf dieselbe Weise hingerichtet – durch Erhängen –, so dass die Todesursache identisch ist. Und der Friedhof wurde nur sieben Jahre lang genutzt, deshalb stammen alle sterblichen Überreste ungefähr aus dem gleichen Zeitraum.«
Sie hielt inne. Carbone blätterte langsam um, eine Seite nach der anderen, und las anscheinend. Was er dachte, war nicht zu erkennen; seine Miene blieb völlig ausdruckslos.
»Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt, und wie es scheint, hätte die Parkverwaltung nichts dagegen, die sterblichen Überreste von einer Studentin des John Jay untersuchen zu lassen.«
Das langsame Umblättern hörte auf. »Sie haben die bereits kontaktiert?«
»Ja. Ich habe nur mal vorgefühlt …«
»Vorgefühlt … Sie haben eine andere städtische Behörde kontaktiert, ohne vorher meine Genehmigung einzuholen?«
Oh-oh. »Natürlich wollte ich Ihnen nicht ein Projekt vorstellen, das später womöglich von einer anderen Behörde abgesägt wird. Hm, war das falsch?«
Langes Schweigen, und dann: »Haben Sie denn nicht Ihr Handbuch für Studierende gelesen?«
Corrie wurde bang zumute. Natürlich hatte sie es gelesen – als sie zum Studium zugelassen wurde. Aber das lag jetzt ein Jahr zurück. »Nicht in letzter Zeit.«
»Darin steht völlig unmissverständlich: Studierende dürfen sich an andere städtische Behörden ausschließlich auf dem Dienstweg wenden. Und zwar, weil wir eine städtische Einrichtung sind, wie Sie wissen, eine Fachhochschule der städtischen Universität von New York.« Das sagte er in mildem, beinahe freundlichem Tonfall.
»Ich … Na ja, es tut mir leid, mir war entfallen, dass das im Handbuch steht.« Sie schluckte und spürte eine aufsteigende Angst – und Wut. Das hier war ein schier unglaublicher Bullshit. Aber sie zwang sich, ganz cool und ruhig zu bleiben. »Ich habe nur einige Telefonate geführt, nichts Offizielles.«
Ein Nicken. »Ich bin mir sicher, dass Sie nicht absichtlich gegen die Regularien der Universität verstoßen haben.« Er fing wieder an umzublättern, langsam, eine Seite nach der anderen, ohne sie dabei anzusehen. »Wie dem auch sei. Ich habe noch andere Probleme mit dem Konzept Ihrer Arbeit.«
»Ja?« Corrie wurde mulmig zumute.
»Diese Vorstellung, dass Mangelernährung zu einem kriminellen Leben führe … Das ist eine alte Idee – und eine wenig überzeugende.«
»Also, mir scheint sie es wert, überprüft zu werden.«
»Damals waren fast alle Leute unterernährt. Aber nicht jeder ist kriminell geworden. Außerdem schmeckt die Idee – wie soll ich es ausdrücken? – nach einer gewissen Weltanschauung, wonach sich kriminelles Verhalten generell auf bedauerliche Kindheitserlebnisse zurückführen lässt.«
»Aber Unterernährung – schwere Unterernährung – kann durchaus neurologische Veränderungen, ja sogar regelrechte Schäden verursachen. Das ist keine Weltanschauung, das ist wissenschaftlich belegt.«
Carbone hielt ihr Konzeptpapier in der Hand. »Ich kann das Ergebnis bereits vorhersagen: Sie werden herausfinden, dass diese hingerichteten Straftäter als Kinder tatsächlich unterernährt waren. Die wahre Frage aber lautet: Warum hat von all diesen hungrigen Kindern nur ein kleiner Prozentsatz später im Leben ein Kapitalverbrechen begangen? Und die wird in Ihrem Konzept nicht thematisiert. Tut mir leid, das genügt nicht. Ganz und gar nicht.«
Und indem er die Hand öffnete, ließ er ihre Mappe sachte auf seinen Schreibtisch fallen.
Das berühmte – manche würden wohl sagen: berüchtigte – »Rote Museum« am John Jay College of Criminal Justice hatte als einfache Sammlung von alten Ermittlungsakten, Asservaten, Besitztümern von Gefangenen sowie Erinnerungsstücken begonnen, die fast hundert Jahre zuvor in einem Saal der alten Polizei-Akademie in einer Vitrine ausgestellt worden waren. Seither hatte es sich zu einem der größten und besten kriminologischen Museen des Landes entwickelt. Die Crème de la Crème der Sammlung wurde in einer modernen Ausstellung im Skidmore Owings & Merrill Building der Akademie in der Tenth Avenue der Öffentlichkeit gezeigt. Der Rest – riesige verrottende Archive und schimmelnde Asservate längst vergessener Verbrechen – wurde weiterhin im grässlichen Untergeschoss des Gebäudes der alten Polizei-Akademie in der East 20th Street aufbewahrt.
Corrie hatte das Archiv schon zu Beginn ihres Studiums entdeckt. Es war eine Fundgrube voller Schätze – sobald sie sich mit dem Archivar angefreundet hatte und sich zwischen den ungeordneten Schubfächern und überladenen Regalen voller Sachen auskannte. Oft hatte sie die Archive des Red Museum aufgesucht, um Themen für Seminararbeiten oder Projekte zu recherchieren, zuletzt auf ihrer Jagd nach einem Thema für ihre Rosewell-Arbeit. Sie hatte viel Zeit mit den Akten der ungelösten Fälle zugebracht, jenen Fällen, die so uralt waren, dass alle Beteiligten (einschließlich der möglichen Täter) definitiv und hundertprozentig verstorben waren.
Einen Tag nach der Besprechung mit ihrem akademischen Betreuer stand Corrie Swanson in einem knarrenden Fahrstuhl und fuhr in das Untergeschoss des Gebäudes. Sie war verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Thema für ihre Semesterarbeit, bevor es zu spät wurde, das komplette Zulassungsverfahren zu durchlaufen. Es war bereits Mitte November, und sie hoffte, die Wintersemesterferien mit Recherchen und dem Zusammenschreiben ihrer Arbeit zu verbringen. Sie bekam ein Teilstipendium, aber Agent Pendergast hatte den Differenzbetrag beglichen, und sie war absolut entschlossen, keinen Penny mehr als nötig von ihm anzunehmen. Wenn sie mit ihrer Arbeit den mit 20000 Dollar dotierten Rosewell-Preis gewann, würde sie das nicht tun müssen.
Die Fahrstuhltür ging auf, und der vertraute Geruch schlug ihr entgegen, diese Mischung aus Staub und säuerndem Papier, unterlegt vom Geruch nach Nagetierurin. Sie durchquerte den großen Vorraum, bis sie zu einer verbeulten zweiflügeligen Metalltür kam, auf der ein Schild mit der Aufschrift ARCHIV DES ROTEN MUSEUMS prangte, und drückte die Klingel. Aus dem antiquierten Lautsprecher drang ein unverständliches Krächzen; sie nannte ihren Namen, ein Summer ertönte, und sie trat ein.
»Corrie Swanson? Wie schön, Sie wiederzusehen!«, ertönte die heisere Stimme des Archivars Willard Bloom. Er erhob sich in einem Lichtkegel von seinem Schreibtisch, wie ein Wächter über die Tiefen des Lagerraums, der sich bis weit in die Dunkelheit hinter ihm erstreckte. Bloom war ein ziemlich ausgemergelter Typ, stockdünn, mit langem grauem Haar, der sich Corrie gegenüber charmant und großväterlich benahm. Dass sein Blick nicht selten über gewisse Körperteile wanderte, wenn er glaubte, sie bemerke das nicht, machte ihr nichts aus.
Bloom trat um den Schreibtisch herum und streckte ihr seine geäderte Hand entgegen, die sie schüttelte. Die Hand war überraschend warm, so dass Corrie ein wenig zusammenschrak.
»Kommen Sie, nehmen Sie Platz. Trinken Sie einen Tee.«
Vor seinem Schreibtisch standen ein paar Stühle und ein Beistelltisch. Dazu kam ein ramponiertes Schränkchen mit einem elektrischen Kocher, einem Wasserkessel und einer Teekanne darauf, was eine informelle Sitzecke inmitten des Staubs und der Dunkelheit ergab. Corrie ließ sich auf einen der Stühle fallen und legte ihre Aktentasche laut und vernehmlich auf den Stuhl neben sich. »Pfui Teufel!«
Bloom hob die Brauen in stummer Frage.
»Carbone. Er hat wieder mal einen Entwurf für meine Semesterarbeit abgelehnt. Jetzt muss ich wieder ganz von vorn anfangen.«
»Carbone«, sagte Bloom mit seiner hohen Stimme, »ist bekanntermaßen ein Arsch.«
Das weckte Corries Interesse. »Sie kennen ihn?«
»Ich kenne jeden, der hier runterkommt. Carbone! Er stellt sich immer an, dass er nur kein Stäubchen auf seine Ralph-Lauren-Anzüge bekommt, und nervt mich, weil er mich ständig ins Archiv schickt, um irgendetwas zu holen. Darum kann ich nie was für ihn finden, der Arme … Aber Sie kennen sicherlich den wahren Grund, weshalb er die Ideen für Ihre Semesterarbeit immer wieder ablehnt, oder?«
»Weil ich Studentin im Grundstudium bin, nehme ich an.«
Bloom legte einen Finger an die Nase und nickte verständnisvoll. »Genau. Außerdem ist Carbone von der alten Schule, ein Paragraphenreiter.«
Davor hatte Corrie Angst gehabt. Der Rosewell-Preis für die beste Semesterarbeit des Jahres war am John Jay heiß begehrt. Gewonnen wurde er häufig von älteren Semestern, die später äußerst erfolgreich Karriere bei der Polizei machten. Soweit sie wusste, hatte noch nie jemand aus dem Grundstudium den Preis gewonnen, mehr noch: Diese Studierenden wurden insgeheim entmutigt, ihre Arbeit einzureichen. Allerdings gab es auch keine Vorschrift dagegen; und Corrie lehnte es ab, sich von solchen bürokratischen Hürden abschrecken zu lassen.
Bloom hielt die Teekanne hoch und lächelte sein Gelbzahn-Lächeln. »Tee?«
Sie betrachtete die eklige Teekanne, die offenbar seit Jahren nicht mehr abgewaschen worden war. »Das ist eine Teekanne? Ich habe sie für eine Mordwaffe gehalten. Sie wissen schon, gefüllt mit Arsen und bereit, eingesetzt zu werden.«
»Immer eine schlagfertige Antwort parat. Aber Ihnen ist sicher bewusst, dass die meisten Giftmörder Frauen sind. Wäre ich ein Mörder, würde ich das Blut meines Opfers sehen wollen.« Er schenkte den Tee ein. »Carbone hat also Ihr Konzept abgelehnt. Welch Überraschung! Und wie lautet Ihr Plan B?«
»Das war mein Plan B. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir ein paar neue Ideen vorschlagen.«
Bloom setzte sich in seinem Stuhl zurück und schlürfte geräuschvoll seinen Tee. »Mal sehen. Wenn ich mich recht entsinne, ist Ihr Hauptfach forensische Osteologie, nicht wahr? Wonach genau suchen Sie denn?«
»Ich muss einige menschliche Skelette untersuchen, die Antemortem- oder Perimortem-Verletzungen aufweisen. Haben Sie vielleicht Fallakten, die auf irgendwas in der Art hindeuten?«
»Hm.« Sein ramponiertes Gesicht legte sich in Falten der Konzentration.
»Das Problem ist, an menschliche Überreste ist schwer ranzukommen. Es sei denn, ich gehe ganz weit zurück. Aber damit mache ich eine andere Büchse der Pandora auf, nämlich was die Empfindlichkeiten der amerikanischen Ureinwohner betrifft. Und ich suche nach Überresten, für die es verwertbare schriftliche Aufzeichnungen gibt. Historische Überreste.«
Noch einmal schlürfte Bloom ausgiebig seinen Tee. Ein nachdenklicher Ausdruck trat in sein Gesicht. »Knochen. Ante- oder Perimortem-Schäden. Historisch. Gute Aufzeichnungen. Zugänglich.« Er schloss die Augen; seine Lider waren so dunkel und geädert, dass sie aussahen, als wäre er geschlagen worden. Corrie wartete und lauschte den tickenden Geräuschen im Archiv, dem leisen Summen der Lüftungsanlage und einem Getrappel, von dem sie fürchtete, es könnte von Ratten stammen.
Bloom schlug die Augen wieder auf. »Mir ist gerade was eingefallen. Haben Sie schon mal was von den Baker Street Irregulars gehört?«
»Nein.«
»Das ist ein sehr exklusiver Club von Sherlock-Holmes-Anhängern. Alljährlich veranstalten sie in New York ein Galadiner und veröffentlichen alle möglichen Arten von Holmes-Forschungen, wobei sie behaupten, bei Holmes habe es sich um eine wahre Person gehandelt. Nun, einer dieser Burschen ist vor ein paar Jahren gestorben, und seine Witwe, die nicht wusste, was sie damit anfangen sollte, hat seine ganze Sammlung mit Sherlockiana an uns verschifft. Vielleicht war sie sich nicht im Klaren darüber, dass Holmes ein erfundener Detektiv ist und wir hier uns nur mit Fakten befassen. Jedenfalls habe ich hin und wieder einen Blick hineingeworfen. Wertloser Kram, größtenteils. Allerdings befand sich auch eine Kopie von Doyles Tagebuch darunter – leider nur als Fotokopie –, eine interessante Lektüre für einen alten Mann, der in einem undankbaren Job in einem staubigen Archiv versauert.«
»Und was genau haben Sie da gefunden?«
»Etwas über einen Menschenfresser-Bären.«
Corrie runzelte die Stirn. »Einen Menschenfresser-Bären? Ich bin nicht sicher …«
»Kommen Sie mal mit.«
Bloom ging zu einer Reihe von Lichtschaltern und legte alle gleichzeitig mit seinem Handballen um. Das Archiv verwandelte sich dadurch in ein Meer grell flackernder Neonlampen. Während die Neonröhren in einem Gang nach dem anderen ansprangen, glaubte Corrie, die Ratten kreischend davonhuschen zu hören.
Sie folgte dem Archivar, der durch lange Gänge zwischen staubigen Regalen und Holzschränken schritt, bis er schließlich in einen Bereich gelangte, wo Bibliothekstische mit Pappkartons darauf standen. Drei große Kartons standen dicht nebeneinander, beschriftet mit den Initialen F. B. S. Bloom ging zu einem Karton, kramte darin herum, zog einen Ziehharmonika-Ordner hervor, blies den Staub davon ab und begann, die Unterlagen durchzusehen.
»Ah, da hab ich’s.« Er hielt eine alte Fotokopie hoch. »Doyles Tagebuch. Richtigerweise sollte man den Mann natürlich ›Conan Doyle‹ nennen, aber das klingt so vollmundig, oder?« Im trüben Licht blätterte er in den Seiten, dann begann er, laut vorzulesen:
»… Ich weilte in London in literarischen Geschäften. Stoddart, der Amerikaner, erwies sich als ausgezeichneter Bursche und hatte zwei Freunde zum Dinner eingeladen. Gill, einen überaus unterhaltsamen Iren, Unterhausabgeordneter, und Oscar Wilde …«
Er hielt inne. Seine Stimme wurde zu einem Murmeln, während er ihr irgendwelches Material reichte, dann hob sie sich wieder, als er an eine Stelle kam, die er für wichtig erachtete.
»… Der Höhepunkt des Abends, wenn ich das so ausdrücken darf, war Wildes Bericht über seine Lesereise durch Amerika. Kaum zu glauben, aber der berühmte Verfechter des Ästhetizismus erregte riesiges Interesse in Amerika, vor allem im Westen, wo an einem Ort eine Gruppe von ungehobelten Bergleuten ihm stehenden Beifall zollte …«
Corrie wurde unruhig. Sie hatte so wenig Zeit. Sie räusperte sich. »Ich bin mir nicht sicher, ob Oscar Wilde und Sherlock Holmes genau das sind, wonach ich suche«, antwortete sie höflich. Aber Bloom las weiter, hielt dabei seinen Finger hoch, während er mit seiner näselnden Stimme ihren Einspruch überging.
» … Gegen Ende des Abends erzählte mir Wilde, der Stoddarts exzellentem Weißwein reichlich zugesprochen hatte, in gedämpftem Tonfall eine Geschichte von solch einzigartigem Grauen, solch grotesker Abscheulichkeit, dass ich mich von seinem Tisch verabschieden musste. Die Geschichte handelte vom Töten und Verspeisen von elf Bergarbeitern etliche Jahre zuvor, mutmaßlich durch ein Ungeheuer von ›grauem Bären‹ in einem Bergarbeiterlager namens Roaring Fork. Die tatsächlichen Einzelheiten sind derart widerwärtig, dass ich es nicht über mich bringe, sie zu diesem Zeitpunkt zu Papier zu bringen, auch wenn der Eindruck, den Sie in meinem Bewusstsein hinterlassen haben, unauslöschlich ist – und einer, der mich leider wohl bis ins Grab verfolgen wird.«
Bloom hielt inne und holte Luft. »Da haben Sie’s. Elf Leichen, gefressen von einem Grizzly. Und dann auch noch in Roaring Fork.«
»Roaring Fork? Sie meinen diesen exklusiven Wintersportort in Colorado?«
»Genau den. Der Ort ist ursprünglich im Laufe eines Silberrauschs entstanden.«
»Wann war das?«
»Wilde war 1881 dort. Diese Geschichte mit dem Menschenfresser-Bären hat sich also wahrscheinlich in den 1870er Jahren abgespielt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Und wie soll ich daraus eine Semesterarbeit machen?«
»Fast ein Dutzend Skelette, von einem Bären gefressen? Die Opfer haben mit Sicherheit erlesene perimortale Schäden aufgewiesen – Spuren von Zähnen und Klauen, hervorgerufen durch Nagen, Zermalmen, Beißen, Kratzen.« Bloom sprach die Wörter geradezu mit Genuss aus.
»Ich studiere forensische Kriminologie, nicht forensische Bärologie.«
»Ah, aber Sie wissen aus Ihrem Studium, dass viele, wenn nicht alle, Skelettüberreste von Mordopfern von Tieren verursachte Verletzungen aufweisen. Sie sollten mal die Akten sehen, die wir darüber haben. Es kann sehr schwierig sein, die Spuren von Tieren von denjenigen abzugrenzen, die der Mörder hinterlassen hat. Soweit ich mich erinnern kann, hat noch keiner eine umfassende Studie zu Perimortem-Knochenverletzungen dieser Art verfasst. Das wäre ein höchst origineller Beitrag zur Forensik.«
In der Tat, dachte Corrie, überrascht von Blooms Erkenntnis. Und wenn ich’s mir recht überlege – was für ein fabelhaftes und originelles Thema für eine Semesterarbeit.
Bloom redete weiter. »Ich habe wenig Zweifel, dass zumindest einige der armen Bergarbeiter auf dem alten Friedhof beerdigt worden sind.«
»Schauen Sie, das ist doch ein Problem. Ich kann doch nicht einen historischen Friedhof ergraben, weil ich nach den Opfern eines Bären suche.«
Ein Lächeln, das seine gelben Zähne entblößte, erschien auf Blooms Gesicht. »Meine liebe Corrie, der einzige Grund, warum ich das alles zur Sprache gebracht habe, ist der faszinierende kurze Artikel in der Times von heute Morgen. Haben Sie ihn gelesen?«
»Nein.«
»Der ursprüngliche ›Boot Hill‹ von Roaring Fork ist heute ein Haufen Särge in einem Lagerschuppen für Pistengerätschaften. Überlegen Sie mal: Da wird gerade ein Friedhof für ein Bauprojekt verlegt.« Er blickte sie an und blinzelte, während sein Lächeln breiter wurde.
An der Côte d’Azur, im Süden Frankreichs, auf einer Klippe hoch über dem Cap Ferrat, saß ein Mann in schwarzem Anzug, umgeben von Bougainvillea, auf einem steinernen Balkon in der Nachmittagssonne. Es war warm für diese Zeit des Jahres, und das Sonnenlicht fiel golden auf die Zitronenbäume, die bis an den Balkon heranreichten und den steilen Hang bis zum Mittelmeer hin abfielen, der an einem schmalen, menschenleeren Sandstrand endete. Jenseits davon war ein Pulk vor Anker liegender Yachten zu erkennen, auf der felsigen Spitze des Kaps lag eine alte Burg, hinter der sich der Horizont erstreckte.
Der Mann lagerte auf einer mit Seidendamast bedeckten Chaiselongue, neben einem kleinen Tisch, auf dem ein Silbertablett stand. Seine überaus hellen Augen waren halb geschlossen. Vier Gegenstände befanden sich auf dem Tablett: eine Ausgabe der Feenkönigin von Edmund Spenser, ein kleines Glas Pastis, ein Krug Wasser sowie ein ungeöffneter Brief. Das Silbertablett war zwei Stunden zuvor von einem Diener gebracht worden, der nun im Schatten des Säulenvorbaus auf weitere Anweisungen wartete. Der Mann, der die Villa gemietet hatte, erhielt selten Post. Einige Briefe trugen die Retour-Adresse einer gewissen Miss Constance Greene in New York; die übrigen kamen, wie es schien, aus einem exklusiven Internat in der Schweiz.
Während die Zeit verstrich, fragte sich der Diener, ob der kränkliche Herr, der ihn zu einem übermäßig hohen Lohn eingestellt hatte, vielleicht einen Herzinfarkt erlitten hatte – so still hatte er in den vergangenen Stunden dagesessen. Aber nein, jetzt bewegte sich die Hand und griff träge nach dem Krug Wasser. Der Mann goss eine kleine Menge davon in das mit Pastis gefüllte Glas, so dass das dunkle Gelb des hochprozentigen Likörs zu einem milchigen Gelblichgrün wurde. Dann hob er das Glas und nahm einen langen, langsamen Schluck, ehe er es zurück aufs Tablett stellte.
Wieder kehrte Stille ein. Die nachmittäglichen Schatten wurden länger. Wieder verstrich Zeit. Noch einmal bewegte sich die Hand wie in Zeitlupe und hob das handgeschliffene Kristallglas an die blassen Lippen, die noch einen langen, zögernden Schluck vom Likör nahmen. Dann griff der Mann nach dem Gedichtband. Wieder Stille. Er schien zu lesen, in großen Abständen, und blätterte die Seiten um, eine nach der anderen. Das nachmittägliche Sonnenlicht zauberte seinen letzten Glanz auf die Fassade der Villa. Von unten drangen Geräusche herauf: ein fernes Gefecht von Stimmen, erhoben im Streit, das Tuckern einer Motoryacht, die in die Bucht fuhr, Vögel, die in den Bäumen zwitscherten, der leise Klang eines Klaviers, auf dem Hanon gespielt wurde.
Und jetzt klappte der Mann in Schwarz den Gedichtband zu, legte ihn auf das Tablett und widmete sich dem Brief. Als bewege er sich noch immer wie unter Wasser, nahm er das Schreiben zur Hand, schlitzte es mit einem seiner langen, polierten Fingernägel auf, faltete es auseinander und begann zu lesen.