Ursula Isbel
Der Zauber von Ashgrove Hall
Jugendroman
FISCHER E-Books
Ursula Isbel, in München geboren, war nach einem Modegrafik-Studium und dem Besuch einer Sprachenschule zunächst als Lektorin tätig. Heute lebt sie als freie Autorin in Staufen bei Freiburg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht und gilt seit vielen Jahren als Meisterin des romantischen Mystery-Thrillers.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei Fischer Digital
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN dieser E-Book-Ausgabe: 978-3-10-560669-8
Laird: altes schottisches Wort für Lord
Wie ein Schläfer,
Halb träumend,
Verschlief ich meine Zeit.
Verborgen waren mir alle Wunder.
Jetzt bin ich erwacht,
Atemlos, gebannt,
Vom Anblick deiner Schönheit.
Oh, meine Liebste ist wie eine rote, rote Rose,
Die im Juni erblüht.
Oh, meine Liebste ist wie die Melodie,
In süßer Harmonie gespielt,
So schön bist du, meine Bonnie Lass,
Ich liebe dich so sehr.
Und ich werde dich immer noch lieben,
Bis all die Meere austrocknen.
Will no one tell me what she sings?
Perhaps the plaintive numbers flow
For old, unhappy, far-off things,
And battles long ago.
William Wordsworth
Von altem Leid
tönt wohl die Klage,
von Schlachten längst vergang’ner Tage.
Er stand auf der Treppe und lauschte. Noch war nichts von ihnen zu hören, doch eine Ahnung sagte ihm, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Die Wunde an seinem Bein brannte und pochte. Blut sickerte durch die wollenen Strümpfe über die Stiefel und tropfte auf den dunklen Eichenboden.
Er schleppte sich bis zum Treppenabsatz und öffnete wahllos eine der Türen. Ein Schal aus violettem Samt lag über der Lehne eines Sessels. Rasch griff er danach, wickelte ihn um seinen Schenkel und verknotete die Enden, so gut es ging.
Was sollte er tun? Der edle Freund war fort, mit wenigen treuen Gefährten auf dem Weg zur Küste. Er hatte ihm sein Pferd gegeben, seine sanfte, geliebte Belle. Das war alles, was er noch für ihn hatte tun können, ein wahrer Freundschaftsdienst, denn eine Stute wie sie gab es nicht noch einmal und er würde sie wohl nicht wiedersehen.
Doch es war für die gerechte Sache. Dafür war er bereit, nicht nur sein Pferd, sondern auch sein Leben zu geben. Trotzdem durfte er ihnen nicht in die Hände fallen. Sie würden ihn foltern, um aus ihm herauszupressen, wohin sich der Flüchtling gewandt hatte. Und sie würden ihn nach London bringen. Welches Schicksal ihn dort erwartete, wusste er.
Die Wunde am Oberschenkel, wo ihn ein Degenhieb getroffen hatte, brannte wie Feuer. Sie ging bis auf den Knochen und musste versorgt werden, sonst würde er Wundbrand bekommen und sein rechtes Bein verlieren. Doch jetzt ging es um sein Leben. Eine kurze Weile stand er ans Geländer der Galerie gelehnt und schöpfte Atem. Täuschte er sich oder hörte er fernen Hufschlag?
Sie würden ihn hier suchen – ihn und den Prinzen –, denn sie wussten, dass Ashgrove sein Zuhause war. Kein Versteck im Haus oder im Park war sicher vor ihnen. Ihm blieb nur ein Ausweg, auch wenn er sich einst geschworen hatte, diesen finsteren, stinkenden Ort nie wieder zu betreten. Als Kind hatte er sich einmal dort verkrochen und es war grauenvoll wie in einer Totengruft gewesen, die Luft stickig und modrig, sodass er kaum hatte atmen können. Die Kerzenflamme war innerhalb weniger Minuten verloschen; daran erinnerte er sich noch.
Die Hall mit ihren Räumen und Fluren lag leer und still. Niemand war da, um ihm beizustehen, doch damit auch keiner, den er mit ins Verderben reißen konnte.
Er biss die Zähne zusammen und hinkte die vielen Stufen hinunter, stützte sich dabei am Handlauf des Geländers ab, um das verwundete Bein zu entlasten. Schon wurde das Hufgetrappel lauter und bedrohlicher, schwoll an wie eine Flutwelle, die gegen felsiges Ufer brandet.
Unter der Treppe war die geheime Tür, von der außer ihm nur sein Großvater wusste. Doch der lag in einem Haus in Edinburgh, viele Meilen von hier, mit verwirrtem Geist und einem Herzen, das nur noch schwach und widerwillig schlug.
Die Augen des Ebers funkelten im Dämmerlicht. Seine Hand glitt über die geschnitzte Wandvertäfelung, drückte auf die gläserne Pupille, wie er es vor langer Zeit als Junge getan hatte. Lautlos setzte sich der alte Mechanismus in Bewegung.
Ein scharfer Schmerz durchzuckte sein Bein, als er sich bückte und in den Gang kroch. Stöhnend tastete er nach dem Hebel. Die geheime Tür schloss sich, sperrte Licht und Luft aus. Sofort umfing ihn tiefste Finsternis.
Ich bin in mein eigenes Grab gekrochen!, dachte er mit einem Schauder.
Damals, als Kind, hatte er hier aufrecht stehen können. Nun musste er sich gebückt und mit ausgestreckten Armen zwischen den schleimig-feuchten, kalten Wänden vorwärtstasten.
Zur Dunkelheit kam die Stille, die seine Ohren wie Watte füllte.
Sein Bein fühlte sich jetzt an wie eine einzige offene Wunde, doch er musste weiter. Wenn sie kamen, konnte es Tage dauern, bis sie Ashgrove wieder verließen. Auch wenn sie ihn nicht fanden, würden sie hier Quartier beziehen, um auf frische Pferde und neue Befehle zu warten.
Er musste sich bis zum Ende des Gangs durchschlagen, das war seine einzige Chance. Wenn er es bis zum Ausgang schaffte, konnte er sich vielleicht im Schutz der Nacht von der Kirche zu Marys Haus schleppen. Er kannte alle Schleichwege, das hatte er ihnen voraus. Marys Familie würde ihn aufnehmen; sie waren treue Anhänger der Stuarts.
Plötzlich machte der Gang eine Krümmung nach rechts, und er war zu erschöpft, um vorbereitet zu sein. Er taumelte mit der Schulter und dem verletzten Bein gegen den Mauervorsprung. Der Schmerz war so durchdringend, dass er zusammensackte und das Bewusstsein verlor.
Er trieb in dunklem Wasser, hörte das Rauschen des Hochlandwinds und der Wellen, die Stimmen der Natur. Nebel und Schwärze umfingen ihn. Mit aller Macht kämpfte er sich hoch, rang nach Atem. Er musste weiter, musste zu Mary. Alles würde gut werden, wenn er erst bei ihr war.
Das Wasser war Blut, das unaufhaltsam durch seine Strümpfe und die Kniebundhose sickerte. Mit zitternden Händen tastete er nach dem Schal, den er um die Wunde gewickelt hatte. Wenn er den Oberschenkel abbinden konnte – die Blutung stillen … Doch er hatte den Schal verloren, irgendwo auf dem Weg durch diese endlose Unterwelt.
Mit letzter Kraft schob er sich vorwärts. Wie weit mochte es noch sein? Wo war er? Unter dem Friedhof?
Die Wände schlossen sich enger um ihn. Er sah Bilder; das Gesicht des Prinzen, seine geschminkten Lippen, den stolzen Blick. Würde es ihm gelingen, sich zu retten? Die Leiber der verwundeten und toten Gefährten auf dem Schlachtfeld von Culloden. Marys Lächeln, ihre Augen, die voller Liebe waren. Das Wasser des Loch Ash – frisches, kühles Wasser, um seinen Durst zu stillen.
Die Bilder verschwammen. Ach, er wollte doch leben – er war zu jung, um alles zu verlieren!
Zentimeter um Zentimeter kroch er auf allen vieren weiter, kämpfte verbissen gegen die Schwäche an, den Schmerz, den Durst, den Nebel in seinem Gehirn, der mit jeder Sekunde dichter und zäher wurde.
Ein Lichtschimmer erhellte die Finsternis. Sie war gekommen, Mary, seine Liebste. Doch nein, es war nicht Mary, auch wenn sie ihr ähnlich sah. Sie hatte ihr Haar – goldbraun wie Bernstein –, die gleiche zarte Nase, das herzförmige Gesicht. Weshalb hatte sie sich als Junge verkleidet? Sie trug eine eng anliegende, wunderliche Hose aus grobem blauem Stoff und ein schmuckloses Hemd oder Wams. Vielleicht kam sie aus einem fernen Land?
Er streckte die Hand nach ihr aus, aber sie sah ihn nicht. Ihr Blick ging durch ihn hindurch.
»Hilf mir!«, flüsterte er. »Lass mich nicht allein …«
Sie hörte es nicht. Etwas trennte sie voneinander, eine Barriere wie dickes Glas oder tiefes Wasser. Und schon löste sie sich auf und verschwand, sosehr er auch flüsterte und flehte.
Die Dunkelheit verdichtete sich. Sie war stärker als er.
Das Leben rann unaufhaltsam, unerbittlich aus seinem Körper.
Keiner würde ihn finden.
Keiner würde je erfahren, was aus ihm geworden war.
Der Frühling, heißt es, ist die Zeit der Liebenden.
Von Leuten, die sich entlieben oder untreu sind, und von denen, die verlassen wurden und unglücklich zurückbleiben, redet oder singt kaum einer.
Doch es gibt keine schlimmere, traurigere Zeit für Liebeskummer als den Frühling. Verlassen und ungeliebt zu sein, wenn ringsum alles blüht, die Vögel singen, die Pärchen Händchen halten und sich auf der Straße küssen, die Katzen die Nächte mit ihren kreischenden Liebesgesängen erfüllen, ist besonders bitter.
Ich sehnte damals Regen und Hagelschauer und Sturmböen herbei, die doch nicht kamen. Jede dunkle Wolke am Himmel beobachtete ich voller Hoffnung auf eine Schlechtwetterfront. Am liebsten hätte ich mir eine Höhle im Wald gesucht, mich dort eingerollt wie ein verwundeter Bär und geschlafen, um alles zu vergessen.
Ich wollte seinen Namen nicht mehr hören. Ich zerriss alle seine Fotos. In einer besonders schrecklichen Nacht dachte ich sogar daran, eine Voodoo-Puppe zu basteln und mit Nadeln zu spicken, ließ es aber bleiben.
Böse Gedanken und Taten fallen auf einen zurück, sagt mein Vater immer. Irgendwie glaube ich daran.
Anders, mein Bruder, gab sich alle Mühe, mich zu trösten. »Eines Tages steht er wieder vor deiner Tür und bittet dich um Verzeihung«, sagte er.
»Das tut er nicht. Und wenn er’s täte, würde ich ihn zum Teufel jagen!«, erwiderte ich und der Gedanke erfüllte mich für einen Augenblick mit grimmiger Genugtuung. »Aber die Sache ist aus und vorbei. Ich bin Luft für ihn. Du solltest sehen, wie er sie anschmachtet!« »Sie« war einmal meine Freundin gewesen. Auch ihren Namen mochte ich nicht mehr aussprechen. Dass sie doppelten Verrat an mir begangen hatten, machte alles noch schlimmer.
»Ich hätte Lust, ihm die Visage zu polieren!«, erklärte Anders mit finsterer Miene.
»Lass das bloß bleiben! Er hat mir nie etwas versprochen. Im Grund gibt es kein Recht auf Gefühle. Wenn sie bei dem einen wieder verfliegen, hat der andere eben Pech gehabt.«
Mein Bruder schüttelte nur den Kopf. Auch mein Herz glaubte nichts von dem, was ich da sagte. Es klagte über Falschheit und Vertrauensbruch.
»Ich werde nie mehr jemandem trauen können«, murmelte ich. Und wie so oft fing ich wieder an zu weinen, ohne es zu wollen.
»Doch, das wirst du!« Anders nahm mich in den Arm. »Wart’s ab, du musst einfach Geduld haben und dich durchbeißen. Irgendwann wirst du denken: Wie gut, dass aus meiner ersten Liebe nichts geworden ist. Sobald du dich wieder aufgerappelt hast, ist Platz für was Neues, Besseres, Merle!«
Mit seinen zweiundzwanzig Jahren redete er manchmal wie eine Briefkastentante. Ich glaubte ihm kein Wort. Wer denkt schon an eine neue Liebe, wenn er der alten noch nachtrauert?
In all meinem Selbstmitleid rührte mich sein Blick. Seine blauen Augen in dem pausbäckigen Gesicht wirkten traurig und ratlos und irgendwie schuldbewusst, als wäre er für mich und meine Gefühle verantwortlich.
So war es schon in unserer Kindheit. Wenn ich mir das Knie aufschlug, hatte er mich umarmt und getröstet; und einmal hatte er sich meinetwegen mit drei Jungen geprügelt. Wochenlang war er mit aufgeplatzter Lippe und einem blauen Auge herumgelaufen.
Ich putzte mir die Nase.
»Was hältst du davon, wenn wir wegfahren würden?«, hörte ich ihn sagen. »Irgendwohin, wo alles neu für dich ist, wo du auf andere Gedanken kommst und neue Menschen kennenlernst?«
»Vergiss es! Noch mehr blauer Himmel und Sonnenschein, das halt ich nicht aus …«
»Wer sagt, dass wir in den Süden müssen? Es gibt auch noch andere Länder. Schweden, Norwegen, Island, Schottland …«
Sofort dachte ich an sturmumtoste Klippen, wolkenverhangene Berggipfel, tiefe dunkle Seen, in denen Monster hausten, und an trutzige Burgen mit offenen Kaminen, vor denen man sich wärmte, während der Wind um die Mauern heulte. Die Vorstellung war wie Balsam für meine wunde Seele.
»Schottland!«, sagte ich leise. »Klingt verlockend. Aber woher sollen wir das Geld nehmen? Auf meinem Sparbuch ist Ebbe nach den vielen Fahrstunden, und mit deinen Finanzen sieht’s auch nicht viel besser aus.«
Anders meinte, unsere Eltern würden uns unterstützen. »Wir sagen, dass wir dafür dieses Jahr nicht mit ihnen wegfahren. Wahrscheinlich sind sie froh, wenn wir ohne sie Urlaub machen. Sie haben doch diesen großen Auftrag für das Sportzentrum an Land gezogen, das bis zum Herbst fertig sein muss. Sicher sitzen sie bald Tag und Nacht in der Firma.«
Der Auftrag, ja, den brauchten sie dringend, wie ich Papa einmal zu Mama hatte sagen hören, wobei er nicht gemerkt hatte, dass ich hinter der Tür stand.
Eine Reise nach Schottland! Mir kam der Vergleich mit dem Silberstreif am Horizont in den Sinn. Es fühlte sich wirklich an, als hätte sich mitten in dem dunklen Tunnel, in dem ich nun schon so viele Wochen festsaß, eine Tür einen Spalt aufgetan, durch die ein Lichtschimmer drang.
Noch am gleichen Abend redeten wir mit unseren Eltern.
Anscheinend waren sie wirklich erleichtert, dass sich das Urlaubsproblem auf diese Weise lösen ließ, denn sie hörten schweigend und aufmerksam zu und schienen durchaus bereit, sich die Sache zu überlegen.
»Ich könnte einen Sprachkurs besuchen«, sagte Anders. Er hatte schon immer gewusst, wie er unserem Vater eine Sache schmackhaft machen konnte. »Vielleicht studiere ich ja ein paar Semester in Schottland. Die Colleges sollen da sehr gut und nicht zu teuer sein. Aber dazu müsste ich erst mal mein Englisch verbessern. Mit meinem stümperhaften Schulenglisch nimmt mich ja kein College.«
»Ich hab auch nie verstanden, warum Merle in Englisch so ein Ass ist und du so eine Niete.« Ein zufriedener Ausdruck lag auf Papas Gesicht. »Eine schottische Uni, ja, das wäre nicht zu verachten! Junge Leute sollten ins Ausland gehen und sich dort den Wind um die Nase wehen lassen. Ihr sitzt später noch lange genug zu Hause auf euren vier Buchstaben.«
Ich sagte gar nichts, weil ich wusste, dass ich es am besten Anders überließ, das Gespräch in die richtigen Bahnen zu lenken.
Jetzt mischte sich Mama ein. »Habt ihr mal an Tante Thisbe gedacht?«, fragte sie.
Tante Thisbe war eine Cousine unserer Großmutter. Keine richtige Tante also, aber ich mochte sie am liebsten von all unseren Verwandten.
Überrascht sahen wir meine Mutter an.
»Sie war doch früher oft in Schottland bei einer ihrer Freundinnen. Irgendwo in den Highlands, an einem dieser Lochs. Erinnerst du dich, Frank? Ihre Freundin hatte da ein altes Herrenhaus oder eine Art Schloss.«
Unser Vater nickte. »Ja, richtig. Thisbe hat uns mal ein Foto von dem alten Gemäuer geschickt. Ziemlich heruntergekommen; aber das ist schon mindestens fünfzehn Jahre her. Inzwischen ist das Haus vermutlich nur noch eine Ruine. Und Thisbes Freundin lebt sicher längst nicht mehr.«
»Wieso? Heutzutage werden die Menschen immer älter. Und sie dürfte um die achtzig sein, so wie Thisbe«, entgegnete Mama. Sie sah müde aus. Mir fiel auf, dass sie die Flasche Rotwein, die vor ihr auf dem Tisch stand, erstaunlich schnell leerte.
»Na gut. Beziehungen schaden nie«, meinte unser Vater. »Ruft Thisbe an und redet mal mit ihr. Sie freut sich sicher, wenn sie euch weiterhelfen kann.«
Später dachte ich oft, dass sich alles so wunderbar fügte, als hätte das Schicksal oder eine höhere Macht die Hand im Spiel gehabt und Anders und mich in jenem Sommer in die Highlands nach Ashgrove Hall geführt.
Zwei Tage später, an einem Samstag im Mai, besuchten wir Tante Thisbe in ihrer großen Altbauwohnung, die sie allein bewohnte.
Sie schien in der letzten Zeit geschrumpft zu sein. Dafür wirkte es, als wären ihre Nase und ihre Ohren gewachsen, sodass sie mich an einen von diesen putzigen Nasenbären erinnerte. Da sie sich so über unseren Besuch freute, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Wir schauten viel zu selten bei ihr vorbei und waren auch diesmal nur gekommen, weil wir etwas von ihr wollten.
»Du bist so schmal und blass, Mädchen«, sagte sie zu mir und musterte mich besorgt von unten herauf. »Hast du Liebeskummer? Ich weiß, wie weh das tut. Da soll noch einer sagen, die Jugend wäre eine unbeschwerte Zeit. Alles Blödsinn!«
Dabei hatte ich ihr am Telefon nur gesagt, dass wir nach Schottland fahren wollten!
Wir bekamen englischen Tee und Haferkekse, die zwischen den Zähnen knirschten und staubten. Dann fragte sie, wieso wir ausgerechnet nach Schottland wollten.
»Ich mag nicht in den Süden«, erwiderte ich.
»Mich hat es auch immer mehr in den Norden gezogen. Schon interessant, dass die Menschen Vorlieben für bestimmte Länder haben, nicht? Vielleicht hat das mit einem unserer früheren Leben zu tun – dass es uns immer wieder dorthin zieht, wo wir schon einmal gelebt haben. Und warum, denkt ihr wohl, hat Merle so leicht und erstaunlich perfekt Englisch gelernt, während sie nie mit einer halbwegs anständigen Französischnote nach Hause gekommen ist?«
Ehe sie sich an einem ihrer Lieblingsthemen festbeißen konnte, warf Anders hastig ein: »Ich wollte einen Sprachkurs machen. Mit meinem Englisch ist es ja nicht so weit her und vielleicht studiere ich ein paar Semester an einem schottischen College. Du bist doch früher öfter zu einer Freundin in die Highlands gefahren. Lebt sie noch?«
Tante Thisbe richtete sich kerzengerade in ihrem Sessel auf. »Wieso sollte Lilibeth nicht mehr leben? Sie ist nur ein paar Monate älter als ich und kerngesund, auch wenn sie nicht mehr besonders gut hört. Aber das hat manchmal auch seine Vorteile.«
»Ihr habt also noch Kontakt?«
»Sicher. Wir telefonieren regelmäßig. Sie lebt mit ihrem Freund in der Schweiz. Der Mann hat eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Sean Connery.«
In der Schweiz! Enttäuscht sahen wir sie an. Sie spitzte die Lippen und stieß einen flötenden Pfiff aus. »Kein Grund, gleich die Löffel hängen zu lassen, Kinder! Ashgrove ist noch in ihrem Besitz. Sie würde das Anwesen nie aufgeben, auch wenn sie nur wenige Wochen im Jahr dort verbringt.«
Anders beugte sich vor. »Vermietet sie das Haus?«
Tante Thisbe kicherte. »Du hast Ideen, Junge! Natürlich nicht, das hat sie nicht nötig. Ein Verwalter kümmert sich um die Hall – mehr schlecht als recht, würde ich sagen. Es ist nicht gut, wenn ein historisch wertvolles Gebäude praktisch leer steht und keiner ordentlich danach sieht. Das habe ich Lilibeth schon hundertmal gesagt, aber sie hört nicht auf mich, sie will einfach nur ihre Ruhe haben.«
»Aber es ist bewohnbar?«, fragte ich vorsichtig.
»Das kommt auf die Ansprüche an. Die Heizung war schon vor fünfzehn Jahren völlig veraltet. Man ist auf diese offenen Kamine angewiesen – vorn Brathähnchen und hinten Eiszapfen. Durch Türen und Fenster zieht es wie Hechtsuppe. Aber … ja natürlich kann man in Ashgrove Hall wohnen, falls man’s gern romantisch hat und wenn man nicht …« Sie stockte.
Eine Weile warteten wir schweigend, doch sie schien nicht bereit, den Satz zu vollenden.
Schließlich stellte Anders die entscheidende Frage: »Glaubst du, dass wir … Meinst du, wir könnten für ein paar Wochen dort wohnen?«
Ich merkte, dass ich die Luft anhielt, als hinge mein Leben davon ab, wie Tante Thisbes Antwort ausfiel. Dabei konnten wir uns schließlich auch an irgendeinem anderen Ort in den Highlands eine Unterkunft suchen. Doch seit ich hier auf dem steiflehnigen Stuhl saß, mit Blick auf ein Ölgemälde, das Tante Thisbe als junge, nicht besonders hübsche Frau mit verwegen in die Stirn gezogenem Herrenhut zeigte, wurde ich von dem Gefühl beherrscht, dass es Ashgrove Hall war, wo wir wohnen sollten, und nirgends sonst.
Tante Thisbe musterte mich mit ihren kleinen dunklen Augen, die so lebendig blickten wie bei einem neugierigen Kind.
»Warum nicht?«, sagte sie. »Ich werde Lilibeth fragen. Wenn ihr nicht gerade zu einem Zeitpunkt fahren wollt, zu dem sie und Douglas in Schottland sind … Für wann habt ihr die Reise geplant?«
»Mitte Juli wäre gut«, erwiderte mein Bruder. »Sobald Semesterferien sind.«
»Ich fange im Spätherbst mit meinem freiwilligen sozialen Jahr an«, fügte ich hinzu. »Vorher habe ich jede Menge Zeit.«
»Aha. Ihr könntet also auch später fahren, falls Lilibeth und Douglas im Hochsommer nach Ashgrove wollen. Sie wird mir den Gefallen sicher tun, euch dort wohnen zu lassen, wenn ich mich dafür verbürge, dass ihr vertrauenswürdig seid und sorgsam mit allem umgeht. Die Hall ist voller Antiquitäten. Allein die Schnupftabaksdosen, die Lilibeths Vater gesammelt hat, sind ein Vermögen wert.«
Schnupftabaksdosen! Hastig versicherten wir, dass wir alles mit Samthandschuhen anfassen und Tante Thisbe bestimmt keine Schande machen würden.
Sie versprach, noch am gleichen Abend in der Schweiz anzurufen.
»Drückt die Daumen, dass Lilibeth ihr Hörgerät im Ohr hat«, sagte sie. »Wenn nicht, versteht sie kaum die Hälfte davon, was ich sage, und wird ungnädig.«
Dann zeigte sie uns alte Fotos von Ashgrove Hall. Es war kein Haus, auch keine Villa, sondern ein Landsitz, ein ehemaliges Jagdschloss aus verwitterten grauen Steinen mit verschachtelten Anbauten und Seitenflügeln und Dutzenden von Kaminen.
»Der älteste Teil der Hall stammt aus der Tudorzeit, also aus dem sechzehnten Jahrhundert«, erklärte Tante Thisbe. »Und es stecken Blut und Tränen und Gewalt in den alten Mauern, das müsst ihr wissen. Häuser vergessen nichts.«
Das war wieder eine ihrer rätselhaften Andeutungen. Wollte sie uns warnen? Spannung und Erregung stiegen prickelnd wie Luftblasen in mir hoch und erfüllten mich mit einem wunderbar lebendigen, lang vermissten Gefühl.
»Du meinst, es spukt in diesem … Ashgrove?«, hörte ich Anders in ungläubigem Ton fragen.
Tante Thisbe antwortete nicht. Sie liebte es, Menschen neugierig zu machen.
Jetzt lachte mein Bruder. »Es spukt wohl in jedem schottischen Herrenhaus, das weiß man ja. Jeder Clan, der etwas auf sich hält, hat sein persönliches Familiengespenst. In Ashgrove Hall hängt sicher auch eines herum. Bist du ihm begegnet?«
»Da gibt es nichts zu grinsen!« Sie warf ihm einen strafenden Blick zu. »Ich mag es nicht, wenn man derartige Phänomene ins Lächerliche zieht. Das ist dumm und ignorant. Du solltest mal nachlesen, was Shakespeare in ›Hamlet‹ dazu meint. Und das hat nichts mit all dem esoterischen Schwachsinn zu tun, der heutzutage verbreitet wird.«
Mehr wollte sie dazu nicht sagen. Ich sah es an der Art, wie sie die Lippen zusammenkniff, und ärgerte mich über meinen Bruder und seine unüberlegte Bemerkung.
Den ganzen Abend grübelte ich über Tante Thisbes Andeutungen nach. Die Gedanken daran verfolgten mich bis in die Nacht, in der ich wirre Träume von einem Haus mit einem Labyrinth aus Fluren und Treppen hatte, von verschlossenen Türen und dunklen Winkeln, die den Geruch von Moder und Staub und Verfall verströmten. Ja, ich konnte den Atem des alten Hauses im Traum tatsächlich riechen!
Doch immerhin war es seit Langem die erste Nacht, in der ich nicht mit dem quälenden Gedanken an zwei Menschen eingeschlafen war und aufwachte, deren Namen ich am liebsten aus meinem Gedächtnis gestrichen hätte.
Tante Thisbe hatte noch nichts auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, als ich am folgenden Tag aus der Schule kam.
Sie redete allerdings nicht gern mit »Automaten«, das wusste ich. Voller Ungeduld wartete ich, bis es drei Uhr war, die Zeit, zu der sie ihren Mittagsschlaf beendete. Ich hatte wohl etwas zu lange gewartet, denn sie ging nicht ans Telefon. Von da an versuchte ich es erfolglos im Viertelstundentakt. Als endlich das Telefon klingelte, war es nur Anders, der wissen wollte, was Tante Thisbe gesagt hatte.
»Wenn wir Pech haben, liegt sie tot in ihrer Wohnung.« Mein Bruder hatte manchmal einen etwas schrägen Humor.
»Das ist nicht witzig! Und gestern war sie noch putzmunter.«
Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte das Telefon wieder. Diesmal war es tatsächlich Tante Thisbe. Sie erklärte, sie sei auf einer Geburtstagsfeier gewesen.
»Lauter uralte Leute, Alzheimer & Co. Es wurde praktisch nur über Krankheiten geschnattert. Wie kann man bloß …«
Ich unterbrach sie. »Hast du mit deiner Freundin geredet?«
»Nun mal langsam mit den jungen Pferden! Gestern Abend war sie nicht zu erreichen, aber heute Vormittag hab ich sie aus dem Bett geholt. Mir zuliebe hat sie sich sogar das Hörgerät in die Ohren gepfriemelt … Was zappelst du so herum?«
Sie konnte mich natürlich nicht sehen, aber ich zappelte wirklich, tigerte mit dem Telefon durchs Zimmer und fuhr vor Anspannung fast aus der Haut.
»Dir liegt eine Menge daran, nicht? Es zieht dich nach Ashgrove, das hab ich gestern schon gespürt, Merle«, hörte ich sie sagen. »Es war nicht leicht, Lilibeth zu überreden, aber ich hab’s für dich getan. Ich denke, es ist wichtig für dich, einige Zeit dort zu verbringen. Mitte Juli könnt ihr fahren.«
Die Junitage schleppten sich zäh und freudlos dahin. Das Einzige, was sie erträglich machte, war die Aussicht auf unsere Reise in die Highlands.
Tante Thisbe war wie jedes Jahr zur Kur nach Badenweiler gefahren. Alle Versuche, ihr am Telefon irgendwelche Geheimnisse oder nähere Informationen zu entlocken, schlugen fehl.
»Wart’s einfach ab«, sagte sie. »Was es über Ashgrove Hall zu wissen gibt, musst du selbst herausfinden, Merle.«
Dass wir umsonst wohnen konnten, machte natürlich alles einfacher. Wir buchten einen erstaunlich billigen Flug von Frankfurt nach Edinburgh. Unser Vater meinte, wir könnten uns unter diesen Umständen sogar ein kleines Mietauto leisten.
Anders sah im Internet nach und stellte fest, dass Ashgrove Hall an einem See namens Loch Ash lag, einige Meilen entfernt von einem Ort, der Blanachullish hieß. Die nächste größere Stadt war Inverness. Dort gab es eine Sprachenschule, mit der sich Anders per E-Mail in Verbindung setzen wollte.
»Ich dachte an fünf Stunden Englisch täglich, das reicht«, sagte er zu mir. »Soll ich dich auch anmelden? Natürlich für die höchste Stufe und selbst da wärst du der absolute Superstar …«
Ich hatte keine Lust auf einen Sprachkurs. Vorerst brauchte ich auch dringend Abstand von allem, was Schule hieß. »Ich überlege es mir, wenn wir dort sind«, erwiderte ich ausweichend.
»Im Grund brauchst du keinen Unterricht. Ein bisschen schottische Konversation, und du gehst bald locker als Eingeborene durch.«
»Ich weiß nicht, ob wir viel Gelegenheit zur ›Konversation‹ haben werden, wenn Ashgrove Hall so abgeschieden liegt, wie Tante Thisbe es angedeutet hat.«
»Ach was!«, entgegnete Anders. »Die Burschen mit ihren karierten Faltenröckchen und diesen komischen gestrickten Wadenstrümpfen werden sicher dutzendweise vor der Tür stehen und mit den Füßen scharren.«
»Nett von dir, dass du mich aufheitern willst, aber gib dir keine Mühe. Ich will nur meine Ruhe, ganz gleich ob sie in Ringelsocken oder Knickerbockern erscheinen.«
»Wenn dir erst einer mit dem Dudelsack ein Ständchen bringt, wirst du schmelzen wie Eis in der Sonne.«
Ich lachte ein bisschen. Es stimmte allerdings, ich liebte Dudelsackklänge und bekam immer Gänsehaut, wenn ich sie hörte, so als erreiche mich aus weiter Ferne ein lockender Ruf.
Anders hob die Hand und strich mir übers Haar. »Du hast noch alles vor dir, das ganze Leben. Die Sache mit Mister Ekelpaket war nur eine kurze Episode.«
»Du redest wie Tante Thisbe«, warf ich ihm vor und dachte dabei, dass er selbst noch keinen Liebeskummer durchgestanden hatte, weil er nie wirklich verliebt gewesen war, bis auf ein paar Schwärmereien für Mädchen, die nichts davon gewusst und ihn nicht weiter beachtet hatten, denn auf den ersten Blick war er nicht besonders anziehend. Sein Gesicht war dicklich, die blonden Haare dünn und glanzlos. Seine Beine wirkten relativ kurz im Vergleich zu seinem langen Oberkörper. Doch er hatte schöne Augen, klar und offen und von wechselndem Blau. An der Farbe seiner Augen konnte ich ablesen, wie er sich fühlte, ob er traurig oder froh, mitleidig oder zornig war.
In meine Gedanken hinein hörte ich ihn sagen: »Es wird eine spannende Zeit werden, ich spür’s in allen Knochen.«
»Wenn es nur endlich so weit wäre!«
»Drei Wochen noch, das ist nicht mehr lang. Einundzwanzig Mal schlafen, dann sind wir weg.«
Das klang wie in unserer Kindheit: Noch zehnmal, fünfmal, dreimal schlafen, dann ist Weihnachten, Geburtstag, dann sind große Ferien. Anders wünschte ich eine schottische Liebe, nicht mir. Für mich selbst hoffte ich auf ein Ende des ewig gleichen quälenden Gedankenkarussells.
Ich erwartete kein Abenteuer, auch keine großen Gefühle.