Balian Buschbaum
Warum Diversity uns alle angeht
Wie ich der wurde, der ich immer war
FISCHER E-Books
Balian Buschbaum, geboren 1980 in Ulm, ehemaliger Olympionike, Bestsellerautor, Speaker und Coach, arbeitet seit Jahren selbständig in den Bereichen Diversity, Change und neuem Bewusst|Sein. Auf Grund seiner besonderen Lebensgeschichte und konsequenter Transition ist er zum Vorbild vieler Menschen auf ihrem Weg zur wahren Identität geworden. Heute lebt er mit seiner Familie in Aschaffenburg.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe vom Bestseller »Blaue Augen bleiben blau«
Wie gehe ich mit Diversität im Alltag um?
2007 spricht ein junger Mann vor einem Millionenpublikum die Worte: »Ich bin Balian!« und kündigt seine bevorstehende Transition an. Balian Buschbaum wird zum Vorbild für viele Menschen auf dem Weg zu ihrer wahren Identität. Inzwischen ist das Thema Diversität mitten in der Gesellschaft angekommen, wird leidenschaftlich diskutiert, führt aber auch zu Unsicherheiten und Unverständnis. Balian Buschbaum klärt auf und beantwortet offen und verständlich Fragen zu den unterschiedlichen Diversity-Dimensionen, zu geschlechtlicher Identität und Selbstverständnis. Wie unterstützen Eltern ihre Kinder am besten? Wie kann der Freundeskreis, die Nachbarschaft mit den Neuigkeiten und persönlichen Veränderungen umgehen? Wie können Firmen die Vielfalt in ihrem Unternehmen besser fördern und einsetzen?
Das Buch besteht aus drei Teilen:
Der erste Teil zeigt, wie Vielfalt unser Leben und unsere Arbeitswelt bereichern kann, mit besondrem Blick auf die geschlechtliche Diversität. Dann folgt die leicht überarbeitete vollständige Fassung seiner Lebensgeschichte, die er in seinem ersten Buch »Blaue Augen bleiben blau« niedergeschrieben hat. Wie es ihm heute geht und was er seither alles erlebt hat, erzählt Balian Buschbaum im abschließenden Teil des Buches.
HINWEIS: Die im Buch gemachten Angaben entsprechen dem derzeitigen Wissensstand. Die Gesetze, Erkenntnisse und Regularien in Politik, Medizin, Sport etc. unterliegen jedoch durch Wissenschaft und klinischen Erfahrungen einem laufenden Wandel. Autor und Verlag bitten daher um Verständnis, dass sie keine Haftung für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben übernehmen können. Es wird empfohlen stets den persönlichen Kontakt der einzelnen, Fachkräfte, Instanzen, Verbände etc. aufzusuchen und sich individuell beraten zu lassen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe des Titels »Blaue Augen bleiben blau«
© 2010/2022 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: © Bernhard Spoettel
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491558-6
Ich stehe im Supermarkt vor einem Regal und möchte Schokolade kaufen. Meine Schokolade. Die mit der pinkgrauen Verpackung aus Hafermilch, vegan und mit Mandelstückchen drin. Mein Onkel liebt Vollmilch-Haselnuss, meine Freundin jede Art von Schokolade, meine Mama am liebsten die mit Marzipan und Omili kaufte uns und sich immer die »Küsschen«.
Ist die gewünschte Sorte nicht im Angebot, dann ist irgendjemand zu Hause enttäuscht, und zum nächsten Schokoladenkauf würde man vielleicht in ein anderes Geschäft gehen. Oder stellen Sie sich vor, es gäbe nur zwei verschiedene Sorten Nudeln. Fussili oder Spaghetti. Beim Obst nur Äpfel oder Bananen, und die Auswahl beim Gemüse wäre auf Tomaten und Kohlrabi beschränkt. Ihr Gesicht möchte ich sehen!
Was ich mit meinem Ausflug in den Supermarkt zeigen möchte: Es ist für uns ganz selbstverständlich und ausdrücklich erwünscht, dass wir beim Einkaufen alles in Vielzahl und enormer Vielfalt vorfinden, wir erwarten eine große Diversität. Warum tun wir uns dann mit der Diversität in unserer Gesellschaft so schwer?
Ich habe in den letzten Jahren mit vielen Großunternehmen und mittelständischen Firmen zusammengearbeitet, habe zahlreiche Vorträge und Workshops zum Thema Vielfalt gehalten und immer wieder erlebt, dass Geschäftsführung und Management das Thema Diversity, wenn überhaupt, eher als schmückende Beigabe ansahen, mit der sie nun ihre Firma ausstatten müssten, um einem zeitgeistigen Trend zu entsprechen.
Wenn aber die Einstellung der Führungsebene und der Mitarbeitenden, die Unternehmenswerte und der tägliche Umgang veraltet bleiben und nicht diversitykonform gehen, brauchen sich Unternehmen nicht wundern, wenn es sie in ein paar Jahren nicht mehr geben wird. Diversität ist eben mehr als das Hissen einer Regenbogenflagge oder ein Auftritt beim Christopher Street Day (CSD).
Diversity bedeutet Vielfalt und spielt im erweiterten Kontext auf die Anerkennung der Individualität jedes einzelnen Menschen und den bewussten Umgang mit seinen Verhaltensweisen und Fähigkeiten an. Im beruflichen Zusammenhang geht es darum, die Mitarbeitenden mit ihren unterschiedlichen Hintergründen und Voraussetzungen so einzubinden, dass eine offene, gesunde und produktive Arbeitsatmosphäre entsteht. Denn vielfältige Teams sind nachweislich produktiver, lösungsorientierter und kommen zu schnelleren Ergebnissen. Im Prinzip ist ein intelligentes Diversity-Management einfach, doch dazu gehört eine bewusste Rezeptur aus Wissen, Schulung und Umsetzungswillen. Jedes Unternehmen verfügt über einen diversen Kundenstamm, wenn sich dieser in den Mitarbeitenden widerspiegelt und die Kundenbedürfnisse verstanden und ernstgenommen werden, führt genau das zum Erfolg.
Das Thema Diversity beschäftigt mich sehr, weit über meine Arbeit als Unternehmenscoach hinaus. Natürlich auch aufgrund meiner eigenen Lebensgeschichte. Vor über zehn Jahren, als ich »Blaue Augen bleiben blau« schrieb, war das Thema Diversity noch mit vielen Fragezeichen versehen. Auch von gesetzlicher Seite gab es damals erst Ansätze, Minderheiten zu stärken und Gleichberechtigung herzustellen, die noch nicht per Gesetz in Vollendung und Zufriedenheit beschlossen wurden. Wenn ich zudem sehe, wie viel Energie und Zeit Menschen auch heute noch darauf verschwenden, andere auszugrenzen und zu diskriminieren, dann aktivieren diese Verhaltensweisen sofort meinen Gerechtigkeitssinn. Denn Diversity ist Respekt, gelebte Intelligenz und Horizonterweiterung. Wenn Menschen wiederholt Diskriminierung erleben, verhindert das, dass sie ihre Potenziale voll entfalten und sich aktiv in die Gestaltung der Gesellschaft einbringen können. Wenn Sie sich also fragen, was geht mich persönlich Diversität an, dann möchte ich Ihnen sagen:
VIEL!
Wenn wir als Gesellschaft vorankommen möchten und die großen zukünftigen Herausforderungen kreativ und nachhaltig lösen wollen, können wir das nur gemeinsam. Dabei können wir von unseren Unterschieden und Besonderheiten gegenseitig lernen und daran wachsen. Es geht darum, unseren Geist und unser Herz zu öffnen und uns darüber bewusst zu werden, dass wir alle in einem Boot, auf einer Erde sitzen und jeder von uns die Berechtigung für sein einzigartiges Sein hat. Gelebte Diversität sichert auch unsere eigenen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Sie sehen bestimmt anders aus als Ihre Nachbarin, haben vielleicht ein ausgefallenes Hobby, tragen Kleidung, die nicht jede*r trägt, und wollen, dass Ihr ganz persönlicher Lebenstil akzeptiert wird.
Abgesehen davon sichert Vielfalt unser aller Überleben, wie Sie im Kapitel tierische Vielfalt genauer nachlesen können. Ohne Diversität gäbe es keine Menschen! Die Natur macht es uns seit Abermillionen Jahren vor und kreiert immer wieder neue Variationen von Lebewesen, die sich an ihre Umwelt und den Wandel anpassen. Wir als Menschen dürfen uns aus diesem Entwicklungsprozess nicht hinausnehmen und schon gar nicht dagegen und gegen uns kämpfen.
Aber leider müssen Menschen, die in den Augen der gesellschaftlichen Mehrheit anders sind, für vieles kämpfen, was für den Großteil der Menschheit selbstverständlich ist. Sie müssen dafür kämpfen, so angenommen zu werden, wie sie sind. Ein Kampf, der irgendwie überflüssig erscheint, weil Diversität doch selbstverständlich sein sollte.
In welchen Bereichen Vielfalt sich ausdrückt, zeigen die sieben sogenannten Diversity-Dimensionen. Sie verdeutlichen individuelle, soziale und strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Menschen und Gruppen und hinterfragen mögliche Diskriminierungsansätze.
In Deutschland leben immer mehr Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Nationalität zusammen, und sie verstehen sich als Teil unserer Gesellschaft. Verständlich, dass Fragen nach der Herkunft Menschen irritieren, die hier geboren wurden und aufgewachsen sind. Wenn man immer wieder gefragt wird, wo man »nun eigentlich« herkommt, nur weil man Harun oder Farah heißt und Wanne-Eickel oder Ingolstadt einfach nicht als Antwort akzeptiert werden, kann das sehr verletzend sein, selbst wenn keine böse Absicht dahintersteckt. Denn solche Fragen implizieren: Du bist nicht von hier, du gehörst nicht dazu.
Eine Freundin erzählte mir unlängst von einem Erlebnis im Bürgeramt ihrer Stadt. Vor ihr stand ein junger Schwarzer mit einer etwas älteren weißen Frau. Die Sachbearbeiterin ging wie selbstverständlich davon aus, dass es sich bei der Frau um die Betreuerin oder um eine Dolmetscherin handelte und sprach nur sie an. Bis sich herausstellte, dass die Situation genau umgekehrt war. Sie hatte den jungen Mann als Begleitung mitgebracht, da sie nur wenig Deutsch verstand und er ihr bei der Erledigung des Behördengangs helfen sollte.
Wie die eigene Weltanschauung und/oder Religion geprägt und verankert ist, hängt häufig mit der Herkunft und Kultur eines Menschen zusammen. Die freie Ausübung der Religion ist zwar per Gesetz festgeschrieben, allerdings schützt diese Tatsache nicht vor Vorurteilen und Diskriminierung.
Das Tragen eines Kopftuches in der Öffentlichkeit beispielsweise wird eher als Unterdrückung oder Bevormundung angesehen und nicht als selbstbestimmter Ausdruck von Religionsausübung.
Ich war einmal auf einem Seminar, bei dem ein Mann mit Glatze und Buddha-Kette um den Hals mit den Worten angesprochen wurde: »Ach wie schön, du bist auch Buddhist! Wie lange denn schon?« Der Mann fühlte sich aufgrund dieser selbstverständlichen Zuordnung etwas vor den Kopf gestoßen und sagte: »Ich bin Christ, und die Buddha-Kette finde ich einfach nur schön!«
Körperliche, geistige oder psychische Einschränkungen können den privaten oder beruflichen Alltag sehr bestimmen. Die eigentliche »Behinderung« erfahren viele aber vor allem im Umgang mit »nichtbehinderten« Menschen. Eine Rollstuhlfahrerin, die ich bei einem Fotoshooting kennengelernt habe, erzählte mir, wie sehr ihr die verstohlenen, mitleidigen Blicke der »Geher« auf die Nerven fallen. Dabei sei sie nach ihrem Unfall ein viel glücklicherer und zufriedener Mensch geworden und käme prima mit ihrem Leben zurecht. Sie nehme auch gerne Hilfe in Anspruch, möchte aber vorher gefragt werden. »Einfach so über die Straße geschoben zu werden oder dauernd auf die Schulter geklopft zu bekommen, das geht gar nicht«, sagte sie.
Die Diversity-Dimension Geschlecht geht weit über das binäre System Mann/Frau hinaus. Es werden alle Geschlechter angesprochen, die potenziell diskriminiert werden können und dazu zählen Frauen, Männer, nichtbinäre, cis, trans*, inter* und alle anderen Menschen.
Typisch Frau, typisch Mann – Klischees rund um Geschlechterrollen halten sich hartnäckig, und manche haben wir unbewusst verinnerlicht. So erzählte die CEO eines international tätigen Unternehmes in einem Vortrag über die Gleichstellung von Mann und Frau, dass sie selbst einem Vorurteil auf dem Leim gegangen sei. Auf dem Hinflug zu dieser Tagung habe sie die Stimme der Pilotin wahrgenommen und sponatn gedacht: »O nein, eine Frau«.
In Bezug auf geschlechtliche Vielfalt sind wir erst am Anfang. Durch die starre Einteilung in Mann und Frau werden viele Menschen in Rollen gezwängt, die sie nicht ausfüllen können oder die sie an den Rand der Gesellschaft treiben. Es gibt mehr als zwei Geschlechter, und das war schon immer so. Es gibt Menschen mit Brüsten, die männlich sind, Frauen mit einem Penis oder einem Bart und Menschen, die sich geschlechtlich überhaupt nicht festlegen wollen oder können.
Nicht nur alte Menschen werden diskriminiert, sondern auch junge Menschen erleben aufgrund ihres Alters und angeblich fehlender Erfahrung Einschränkungen.
Bei einem Unternehmen, in dem ich für das Auszubildenden-Programm verantwortlich war, sagten mir im Vorfeld viele Azubis, dass sie meist »niedere« Arbeit verrichten müssten und dabei kaum etwas lernten. Die jungen Menschen waren sehr engagiert, aber ihre Vorschläge und Ideen wurden in der Regel mit einem Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht abgetan.
In anderen Fällen habe ich aber auch erlebt, dass Wissen und Erfahrung älterer Mitarbeitenden nicht wertgeschätzt und im Unternehmen eingesetzt wurden.
Welches Geschlecht ein Mensch liebt oder welche geschlechtliche Identität ein Mensch hat, spielt häufig unbewusst in unserem Alltag eine große Rolle. Laut Dalia Studie (2016) identifizieren sich fast acht Prozent aller Deutschen als LGBTQI-Personen, und viele von ihnen erfahren tägliche Diskriminierungen.
Offen homosexuell zu leben mag in Großstädten inzwischen mit weniger Diskriminierung verbunden sein, aber auch hier kommt es zu offenen Hass-Attacken, die Menschen verletzen oder gar in den Tod treiben. Doch auch subtilere Vorurteile sind diskriminierend. So sind nicht alle homosexuellen Männer besonders feinfühlig oder modebewusst. Nicht jede Frau mit einem Kurzhaarschnitt ist lesbisch, und eine lesbische Frau kann sehr weiblich sein.
Einem Transmenschen zu sagen, dass er niemals ganz Mann oder ganz Frau sein wird, weil er/sie nicht groß, klein, schlank, behaart oder enthaart genug ist, ist ebenso menschenverachtend.
Unsere soziale Herkunft hängt natürlich mit unserer Herkunft zusammen, ist aber eine separate Dimension. Hier geht es um Selbstbestimmung und Ressourcen bezüglich Ausbildung, Arbeit, Aufstiegsmöglichkeiten etc., die nicht allen Menschen gleich gegeben sind.
In Großstädten bestimmt nicht selten die Wohnadresse, ob Kinder später studieren werden oder schon früh den gesellschaftlichen Stempel »Assi« oder »Loser« aufgedrückt bekommen. Während der Pandemie war oft die digitale Ausstattung des Elternhauses maßgeblich für den schulischen Erfolg ihrer Kinder.
Neben den sieben Diversity-Dimensionen gibt es noch viele weitere Untergruppen. Was ich mit diesem kurzen Abriss und einigen Beispielen anregen möchte ist, dass wir uns gegenüber möglichen Diskriminierungsfallen sensibilisieren. Das Bewusstwerden fängt schon bei der Sprache an. Sprüche wie: »Was ist das wieder für eine schwule Flanke?«, »Ein Mann als Erzieher? Dem fehlt doch das Muttergen«, »Die mit dem Kopftuch versteht mich doch sowieso nicht«, »Das ist doch voll behindert«, sind auch Ausdruck eines unreflektierten diskriminierden Umgangs.
Es gibt unzählige Sätze und Denkmuster, die wir hinterfragen und verändern können, um Menschen nicht zu verletzen. Der nächste Schritt wäre, unser Anderssein als Bereicherung, nicht als Bedrohung anzusehen und den Fokus auf das zu legen, was uns verbindet, und nicht auf das, was uns trennt.
Unternehmen, sofern sie sich aktiv für Diversity entscheiden, haben das Potenzial von Vielfalt erkannt. Häufig beginnen sie mit dem Mann-Frau-Aspekt, und fragen sich: Wie bekommen wir mehr Frauen ins Unternehmen, in Führungspositionen, in den Vorstand und in die Aufsichtsräte? Das Bundeskabinett hat im Januar 2021 den Gesetzentwurf zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst beschlossen. Traurig, dass wir für das Erreichen einer Frauenquote rechtliche Vorschriften brauchen.
Sofern eine Firma clever und wirtschaftlich-menschlich agiert, erweitert sie ihr Programm gleich auf alle Diversity-Dimensionen und nutzt die besonderen Fähigkeiten all ihrer Mitarbeiter*innen. Für mich ist Diversity-Management dabei kein Weichspüler, der Softthemen für Minderheiten reinwäscht und gesellschaftlich gut duftend aufbereiten soll, sondern ein »radikaler« Kalkentferner, der veraltete Denk-, Verhaltens-, und ineffiziente Arbeitsstrukturen aufbricht und alles in optimalen Fluss bringt.
Ein großer Automobilkonzern, für den ich des Öfteren gearbeitet habe, entwickelte zum Beispiel ein sogenanntes Space-Cowboys/girls-Programm, bei dem das Diversity-Thema »Alter« im Mittelpunkt stand. Zahlreiche Angestellte sollten in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, und der Konzern befürchtete, dass mit einem solchen Generationswechsel auch viel wertvolle Erfahrung verlorengehen würde. Erfahrung, die ein Mensch, der dreißig, vierzig Jahre im Betrieb ist, doch an Jüngere weitergeben könnte. Und so bildeten immer ein*e erfahrene*r ältere*r Mitarbeitende und ein*e Auszubildende*r ein Tandem, um gegenseitig voneinander zu lernen.
Als ich einen Vortrag im Hauptwerk hielt, lief mir ein solcher Doppelpack über den Weg: Eckard, 63, und Deniz, 19 Jahre alt, konnten unterschiedlicher nicht sein. Eckard im grauen Dreiteiler und Deniz im sportlichen Casual-Outfit. Als ich sie fragte, was sie von dem Programm halten, antwortete Deniz lachend: »Ecki hat jetzt seinen eigenen Instagram-Account, und ich habe viel über Verhandlungsführung gelernt.«
Ein anderes großes Unternehmen, in dem ich immer wieder mal bin, feiert jedes Jahr den IWD, den Internationalen Frauentag, und legt Ziele fest, die die Gleichstellung in der Firma weiter vorantreiben sollen. In einem schwäbischen Kleinunternehmen erzählte mir die Chefin, dass sie 2015 einige syrische Geflüchtete eingestellt hätte, die inzwischen allesamt zu geschätzten Mitarbeiter*innen geworden sind. Als sie anfangs mitbekam, dass sie die Toilettenräume nutzten, um ihren Gebetsteppich auszubreiten und dort regelmäßig zu beten, ergriff sie sofort die Initiative und richtete einen Ruhe- und Gebetsraum ein, in dem alle Mitarbeiter*innen ihre Religion ausüben dürfen. Neben dem Koran finden sich auch die Bibel, jüdische Gebetsbücher und auch nichtkonfessionelle Literatur, die dazu anregen soll, dass sich die Mitarbeitenden untereinander austauschen.
Diversity und Inklusion sollten stets Hand in Hand gehen, denn niemandem nützt das größte Diversity-Wissen, wenn es nicht auch sinnvoll angewendet wird. Was das genau bedeutet, möchte ich an einem Beispiel zeigen. Ein Mensch, der aufgrund seiner körperlichen Einschränkung nicht barrierefrei zu seinem Arbeitsplatz kommen kann, wird vom Kern der Belegschaft ausgeschlossen. Integration ist das Wahrnehmen der speziellen Bedürfnisse, wobei die Lösungen nicht vollständige Teilhabe garantieren. Zum Beispiel wenn der Arbeitsplatz des Rollstuhlfahrenden zwar leicht zugänglich ist, aber getrennt von den Arbeitsräumen der Kolleg*innen liegt. Ein Mitwirken an Gesprächen, Verhandlungen, Entscheidungen und am alltäglichen (Arbeits-)Leben ist für ihn weiterhin schwer. Inklusion hingegen ist die Königsdisziplin des Diversity-Managements. Allen Menschen wird dabei ermöglicht, nicht nur innerhalb einer Gesellschaft integriert zu sein, sondern sich auch vollständig darin einbringen zu können. Hier tauscht sich, um ein Bild aufzumachen, der Rollstuhlfahrende mit der muslimischen Übersetzerin, dem homosexuellen CEO, der erfahrenen Fast-Ruheständlerin und all den anderen aus. Alle zusammen ergeben ein divers zusammengestelltes Team, das an effektiven und schnellen Lösungen arbeitet. Um überhaupt zu einem solch vielfältigen Team zu kommen, müssen schon früh Weichen gestellt werden. So habe ich die Bewerbungsverfahren einzelner Unternehmen genauer unter die Lupe genommen und teilweise verändert. Beispielsweise haben wir herausgefunden, dass, wenn Bewerbungen nicht nur über die üblichen Unterlagen laufen, sondern den Bewerbenden anonym Aufgaben gestellt oder gar Einstellungsworkshops angeboten werden, viel mehr Frauen und Menschen aus anderen Kulturkreisen zu weiteren Bewerbungsgesprächen eingeladen werden. Denn die üblichen Bewerbungsverfahren zeigen häufig unconcious bias (unbewusste Voreingenommenheiten) auf, die wir alle in uns tragen und die der Diversität im Weg stehen.
In diesem Zusammenhang kann auch kurz der Begriff Intersektionalität erklärt werden, der die Überschneidung und Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungskategorien gegenüber einer Person beschreibt.Eine Schwarze Frau mit Down Syndrom kann beispielsweise innerhalb mehrerer Diversity-Dimensionen (Frau = Geschlecht, Down Syndrom = physische und psychische Fähigkeiten und Hautfarbe = Herkunft) mehrfache und sich überschneidende Diskriminierungen erleben.
Was passieren kann, wenn man sich im Unternehmen nicht auf Diversität einstellt, erfuhr ich, als ich in einem Hamburger Unternehmen an einer Verhandlung teilnehmen sollte, bei der es um ein profitables Geschäft ging. Die Präsentation des Produktes, das das Unternehmen verkaufen wollte, war perfekt vorbereitet, doch der lukrative Kunde erschien nicht. Es lag allerdings nicht am Produkt, wie sich später herausstellte, sondern einzig und alleine daran, dass das Gebäude nicht behindertengerecht ausgebaut war. Der Käufer, der aufgrund eines Unfalls im Rollstuhl saß, musste schon am Eingang feststellen, dass ein Zugang für Menschen wie ihn nicht ohne großen Aufwand möglich war. Das verärgerte ihn sosehr, dass er auf der Stelle umdrehte und der Firma auf für sie schmerzliche Weise klarmachte, dass er mit einer nicht diversitätkonformen Firma keine Geschäfte macht.
In einem anderen Fall sollte ich als Berater zwischen einem potenziellen Mitarbeiter und einem Unternehmen vermitteln, das ihn eigentlich hatte einstellen wollen. Der Vertrag kam aber vonseiten des Unternehmens nicht zustande. Durch einen Zufall erfuhr der Bewerber, dass die Absage aufgrund seiner Homosexualität erfolgt war. Eine Einigung war nicht möglich. Ich versuchte zu schlichten und wollte den Bewerber in eine andere Abteilung integrieren, was aber voraussehbar scheiterte. Stattdessen bekam der Arbeitnehmer, der noch nicht einmal angestellt gewesen war, eine Abfindung, sofern er nicht Anklage erhebt. Unter uns: Wer möchte für eine Firma arbeiten, in der die Führung nicht offen gegenüber einer anderen sexuellen Orientierung ist?
Wissen Sie, welches Geschlecht Sie haben? Und die weitaus wichtigere Frage: Woher wissen Sie, welches Geschlecht Sie haben? Ich gehe jetzt einfach mal davon aus, dass Sie zur Beantwortung dieser Frage nicht lange nachdenken oder an sich herunter schauen müssen. Sie wissen es einfach!
Es ist Ihr Selbstverständnis über sich und den eigenen Körper. Angenommen, Sie sind ein Mann und durch einen Unfall verlieren Sie einen Hoden oder noch schlimmer Ihren Penis, sind Sie dann trotzdem noch ein Mann?
Wenn eine Frau vielleicht durch eine Brustkrebserkrankung ihre Brüste verliert, ist sie dann immer noch eine Frau? Aber klar doch!, denken Sie jetzt, denn das Geschlecht wird nicht aufgrund der äußerlichen Geschlechtsmerkmale entschieden, sondern weil wir selbst wissen, was wir sind. Doch was ist mit Menschen, die sich weder eindeutig als Frau noch als Mann identifizieren?
Niemandem steht es zu, die Geschlechtsidentität eines Menschen anzuzweifeln. »Geschlechtsidentität ist ein Menschenrecht«. So steht es im Grundgesetz. Papier ist jedoch geduldig, und in betonierte Köpfe dringt nicht immer der modernste Fortschritt. Ende 2018 wurde zwar ein neues Gesetz erlassen, das intergeschlechtlichen Menschen ermöglicht, zwischen »weiblich«, »männlich« auch »divers« als dritte Geschlechtsoption im Geburtsregister und Pass eintragen zu lassen. Allerdings muss dieser Rohdiamant noch geschliffen werden, denn die Änderung des Geschlechtseintrages steht bisher nur einem eng begrenzten Personenkreis offen und ist an medizinische Bescheinigungen gebunden. Die menschenrechtliche Forderung nach Selbstbestimmung über den Geschlechtseintrag ist durch diese Bedingungen meines Erachtens noch nicht erfüllt worden und muss weiter diskutiert werden.
Andere Bereiche sind da schon weiter, auch ohne Gesetz. So lesen wir immer häufiger in Stellenausschreibungen zum Beispiel »Abteilungsleiter*in (m-w-d) oder (m-w-x).« Mit d und x sind Inter*menschen oder Menschen, die sich selbst weder als männlich oder weiblich einstufen, gemeint. Eine solche Form der Stellenausschreibung kann auch ein Hinweis für potenzielle Bewerbende sein, wie offen ein Unternehmen im Bezug auf Diversity ist. Dabei geht es nicht nur um Geschlechter- und Identitätsfragen, sondern auch um eine generelle Offenheit gegenüber gelebter Vielfalt.
Was geschieht meist als Erstes, wenn ein Baby auf die Welt kommt? Das Krankenhauspersonal beglückwünscht die frischgebackenen Eltern zu ihrem Sohn oder ihrer Tochter, richtig? Doch wie wird das entschieden? In den meisten Fällen ist das Geschlecht, das zwischen den Beinen des Babys sich abbildet, das tatsächliche und auch später empfundene Geschlecht. Es gibt aber auch Neugeborene, die mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen, zum Beispiel mit einer Vulva und einem verkümmerten Hoden oder Penis auf die Welt kommen. Ebenso existieren unterschiedliche Geschlechtsmerkmale, die sichtbar oder auch unsichtbar sind, sprich, die sich innerhalb des Körpers als Hoden, Eierstöcke oder Gebärmutter zeigen. Eine Zuordnung kann dann nicht klar getroffen werden. Früher war man der Ansicht, dass durch eine schnelle geschlechtliche Zuordnung dem Kind geholfen wird, sich im Leben besser zurechtzufinden. Auch heute noch finden weltweit Operationen statt, die den frisch geborenen Säugling zum Jungen oder zum Mädchen machen sollen, sofern das Geschlecht nicht eindeutig identifiziert werden kann. Meist ist es dann unproblematischer »ein Loch zu graben, als einen Pfahl zu erstellen«, wie es mir ein Chirurg einmal beschrieb, und so wurden der Einfachheit halber Neugeborene eher zu Mädchen operiert. Welche katastrophalen Auswirkungen das auf das gesamte Leben hatte, sofern die Einschätzungen nicht stimmten, ist kaum vorstellbar.
In Deutschland wurde 2021 ein Gesetz erlassen, das Eltern und Ärzten künftig verbietet, an intersexuellen Kindern geschlechtsangleichende Operationen vornehmen zu lassen oder durchzuführen. Allerdings finden sich auch in diesem Beschluss Lücken, denn es werden nur Kinder geschützt, die »Varianten der Geschlechtsentwicklung« aufzeigen. Und das eröffnet einen Auslegungsspielraum für das häufig auf diesem Gebiet unerfahrene Personal der Entbindungsstationen. Mit der Beschreibung »weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden kann« hält das Gesetz zudem an einer wissenschaftlich widerlegten Binarität der Geschlechter fest, was nur noch mehr Stigmatisierung hervorruft.
Menschen, deren sexuelle Identität, aufgrund ihrer Genitalien, und/oder Hormonproduktion und/oder Chromosomen nicht der medizinischen Norm von eindeutig männlichen oder weiblichen Körpern entsprechen, bezeichnet man in Fachkreisen als intersexuell. Wobei der Begriff irreführend ist, denn diese Variante hat nichts mit der Sexualität zu tun und wurde aus dem englischen sex (Geschlecht) abgeleitet.
Neben Inter*Menschen existieren noch viele weitere Normvarianten, wie zum Beispiel transidente Menschen, die ich als trans*normal bezeichnen möchte, bei denen die Geschlechtsmerkmale nicht mit ihrem wahren Geschlecht bzw. mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmen.
Ich verwende statt der gängigen (Fach-)begriffe wie transident, transsexuell, lieber den von mir selbst geprägten Begriff trans*normal, da ich davon überzeugt bin, dass die anderen Begrifflichkeiten negativ belegt sind und falsch interpretiert werden und ein Umdenken stattfinden sollte. Der Begriff trans*normal kann für Menschen solange angewendet werden, solange sie sich in ihrer Transition, ihrer Geschlechtsangleichung, befinden. Ist die Angleichung, in welchen Stufen auch immer vollzogen, kann man das »trans« streichen, denn diese Menschen leben ein ganz »normales« Leben und können sich jetzt selbst als mann-frau-divers, whatever-you-want-to-be-Mensch bezeichnen.
Wenngleich wir viel mehr als noch vor zehn Jahren über geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung hören und lesen, ist vielen der Unterschied nicht bewusst. Die sexuelle Orientierung beschreibt das Geschlecht bzw. den Menschen, wonach wir Ausschau halten, von wem wir uns angezogen fühlen. Manche Menschen legen allerdings auf das Geschlecht selbst nicht so viel wert, sie verlieben sich tatsächlich in den Menschen selbst, in seinen Charakter und bezeichnen sich selbst als pansexuell oder omnisexuell.
Die geschlechtliche Identität ist hingegen unser Selbstverständnis. Was bin ich? Frau-Mann-Divers-gender fluid? Sofern wir in das Gender Glossar einen Blick werfen, haben wir mittlerweile über siebzig Begrifflichkeiten, die einen Menschen in seiner Orientierung und Identität beschrei- ben.
Wenn ich in Schulen Aufklärungs- bzw. in Firmen Diversity-Vorträge halte, habe ich die Erfahrung gemacht, dass es fürs Erste sinnvoll ist, sich auf die gängigsten Begrifflichkeiten der sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität zu beschränken und sie kurz aufzuführen.
Transidentität, Transgender, Transsexuell, Transgeschlechtlich, Trans*normal Kategorisierung: geschlechtliche Identität | Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei ihrer Geburt zugeordneten Geschlecht nicht übereinstimmt. Menschen, die mit den »falschen« Geschlechtsmerkmalen geboren werden, sprich als Mann mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen oder als Frau mit männlichen Geschlechtsmerkmalen. Die Bezeichnung Transsexualität wird von vielen Betroffenen wegen der sprachlichen Nähe zur Sexualität als diskriminierend angesehen.
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Intersexualität, Hermaphrodismus, Intersexsyndrom Kategorisierung: geschlechtliche Identität | Menschen, die genetisch (aufgrund ihrer Geschlechtschromosomen) und/oder anatomisch (aufgrund der Gechlechtsorgane) und/oder hormonell (aufgrund des Mengenverhältnisses der Geschlechtshormone) nicht eindeutig dem weiblichen oder dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden können. |
Bisexualität Kategorisierung: sexuelle Orientierung | Mann liebt Frau und/oder Mann, Frau liebt Mann und/oder Frau |
Asexualität Kategorisierung: sexuelle Orientierung | Bezeichnet die Abwesenheit sexueller Anziehung zu anderen oder Mangel an Interesse bzw. Verlangen nach Sex |
Pansexualität Kategorisierung: sexuelle Orientierung | Auch Omnisexualität genannt, ist eine sexuelle Orientierung, die keine Vorwahl nach Geschlecht oder Geschlechtsidentität trifft. »Ich verliebe mich in den Menschen, nicht in sein Geschlecht!« |
Travestie | Travestie ist nicht an eine bestimmte sexuelle Orientierung gebunden und ist auch keine geschlechtliche Identität. Daher gehört der Begriff nicht in diese Rubriken, wird aber häufig mit Transidentität verwechselt. Die künstlerische Travestie (franz. Travesti = verkleidet) bezeichnet die Darstellung einer Bühnenrolle durch einen Menschen des anderen Geschlechts. Travestie ist Show, Spaß und für manche ein Beruf. Trans*normalität ist häufig mit Schmerz, und jahrelangem Leid verbunden und sollte daher nicht verwechselt werden. |
cis-Frauen, cis-Männer | Menschen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei ihrer Geburt zugeordnetem Geschlecht übereinstimmt. |
Genderfluid | Menschen, die ihre Geschlechtsidentität anhaltend veränderbar halten (fluid = »fließend«), statt sich auf ein Geschlecht festzulegen. Dabei können sie sich zwischen verschiedenen Geschlechtern bewegen oder mehrere Geschlechter gleichzeitig zum Ausdruck bringen. |
Nichtbinär, genderqueer | Nichtbinär oder genderqueer werden oft mit derselben Bedeutung verwendet, nämlich: ein Geschlecht, das weder ganz/immer weiblich ist, noch ganz/immer männlich. Es bedeutet auch, Geschlecht als Kategorie zu hinterfragen und/oder sich weder (bzw. nicht immer ganz) weiblich noch (bzw. nicht immer ganz) männlich zu fühlen. |
LGBTQI+ | LGBTQI steht für Lesbian/lesbisch, Gay/schwul, Bi/bisexuell, Trans, Queer und Intersex/intersexuell. Dazu zählen Menschen mit unterschiedlichen geschlechtlichen Identitäten oder sexuellen Orientierungen. |
Das Wichtigste beim Jonglieren all der Begrifflichkeiten ist, dass wir die Revolution dahinter verstehen lernen und akzeptieren, dass es tatsächlich so viel und noch mehr Vielfalt geben kann. Eine Revolution laut Wikipedia ist »ein grundlegender und nachhaltiger struktureller Wandel eines oder mehrerer Systeme, der meist abrupt oder in relativ kurzer Zeit erfolgt«. Da wir als Gesellschaft den letzteren Abschnitt: »meist abrupt« häufig nicht realisieren können, denn bürokratische Mühlen mahlen langsam und das Umdenken erfordet Zeit, sollten wir uns meiner Meinung nach in der Transformationsphase auf »rEVOLution« in dem das Wort LOVE in Spiegelschrift vorkommt, konzentrieren. Es geht meiner Ansicht nach nicht darum zu erkennen, wer wie anders ist, wer wie wen liebt. Es geht vielmehr darum, unseren eingefahrenen Geist zu befreien und um die Quintessenz Liebe allgemein. Denn der Mensch, den Sie vielleicht als »anders« ansehen, sieht Sie vielleicht auch als nicht normkonform an, weil Sie eine Brille, rote Haare oder auffällige Locken tragen. Es ist also normal, »anders« zu sein, und somit hebt sich die Gleichung wieder auf.
Wobei, so verschieden sind wir am Anfang gar nicht.
Welchem Geschlecht ein Mensch angehören wird, ist ganz zu Beginn nicht eindeutig festzulegen. Aus bisheriger medizinisch-biologischer Sicht wird nach drei Geschlechtsbestimmungen unterschieden, die einander nicht unbedingt entsprechen müssen. Das genetische Geschlecht, das gonadale Geschlecht, das somatische Geschlecht.
Das somatische Geschlecht bezeichnet die Summe der körperlichen Merkmale mit männlicher bzw. weiblicher Ausprägung und wird vom Fehlen oder Vorhandensein einer Hodenanlage bestimmt, die in der Lage ist, Testosteron zu produzieren. Erst unter dem Einfluss von Testosteron bilden sich männliche innere und äußere Geschlechtsorgane aus. Fehlt es, so führt die Entwicklung automatisch zur Ausbildung weiblicher innerer und äußerer Geschlechtsorgane.
Das genetische Geschlecht wird über die Geschlechtschromosomen bestimmt, die das 23.Chromosomen-Paar bilden. Jede Eizelle trägt ein X-Chromosom. Das genetische Geschlecht hängt davon ab, ob durch das befruchtete Spermium ein X- oder ein Y-Chromosom dazu kombiniert wird. Die meisten Menschen haben 23 Chromosomenpaare, also 46 Chromosomen. Frauen haben in der Regel zwei XX-Chromosomen und Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Bei ca. einem von fünfhundert Männern kommt es aber zum Beispiel vor, dass sie ein zusätzliches X-Chromosom besitzen. Das nennt sich Klinefelter Syndrom, das zu einem eher weiblichen Körperbau, wenig Bartwuchs, kleinen Hoden etc. führen kann. In den meisten Fällen fällt diese Normvariante erst dann auf, wenn Paare den Ursachen des nicht gelingenden Kinderwunsches auf den Grund gehen. Denn häufig sind diese Männer unfruchtbar. Im Gegenzug gibt es die sogenannten X-Frauen, die in der Fachsprache das Turner Syndrom haben. Äußerlich wirken manche X-Frauen eher männlich, bei anderen wirkt sich diese Variante nicht großartig äußerlich aus.
Das gonadale Geschlecht bezieht sich auf die Ausprägung der Keimdrüsen- und Genitalanlagen, die sich bis zur ca. sechsten Schwangerschaftswoche zwischen den Geschlechtern nicht unterscheiden. Erst danach beginnt beim Embryo die Differenzierung von weiblichen bis zu männlichen Keimdrüsen und Genitalorganen. Bei den meisten weiblichen Entwicklungen wächst ca. ab der sechsten Schwangerschaftswoche die Wölbung zwischen den Beinen von Woche zu Woche zu den äußeren Geschlechtsmerkmalen wie Klitoris, den kleinen und großen Schamlippen heran. Aus derselben Wölbung entstehen bei männlichen Embryos Hoden und Penis. Im Körper des weiblichen Embryos wächst weiter Gewebe heran, das sich zu Gebärmutter, Eileiter und Vagina verwandelt. Was der Körper von dem zwittrigen Gewebe nicht benötigt, baut er einfach wieder ab. Bei den meisten männlichen Embryos bilden sich Nebenhoden, Samenleiter und Samenblase, und überflüssiges Gewebe bildet sich auch hier zurück. Um die Geschlechtsentwicklung zu vollenden, müssen sich noch die Keimdrüsen bilden. Die Keimdrüse, auch Geschlechtsdrüse oder Gonade genannt, ist ein Organ, in dem sich die Keimzellen, also Hoden oder Eierstock, entwickeln.
Zeitgleich nimmt auf einem kurzen Arm der Y-Chromosomen ein bestimmter Bereich seine Arbeit auf. Es ist das SRY-Gen, das Kürzel steht für sex-determining region: Das Gen ist die Bauanleitung für ein Eiweiß, das im Embryo weitere Gene aktiviert und das Startsignal für die Bildung der Hoden gibt. Beeinflusst wird diese Entwicklung von vielen Faktoren, unter anderem auch durch die Sexualhormone (Östrogen und Testosteron), die das Geschlecht ausbilden. Gesteuert wird dieser Prozess hauptsächlich in der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse), die entsprechend die Signale im Körper weiterleitet.
Grundsätzlich ist die Ausbildung männlicher Keimdrüsen vom Vorhandensein eines Y-Chromosoms abhängig. Doch selbst wenn diese Voraussetzung gegeben ist, können genetische Variablen die Ausbildung männlicher Gonaden und damit jede weitere Entwicklung männlicher Geschlechtsorgane beeinflussen. Fehlt das Y-Chromosom, oder sind bestimmte Funktionen blockiert, so bleibt die Gonadenanlage zunächst im indifferenten Stadium und entwickelt sich dann selbständig zu einem Eierstock.
Jedes Embryo würde als Mädchen zur Welt kommen, wenn der SRY-Genschalter nicht betätigt wird. Nur wenn dieser Genschalter in der frühen Phase der Schwangerschaft aktiviert wird, kann der bis dahin weibliche Fötus männliche Geschlechtsmerkmale entwickeln: mittels einer Kette von biochemischen Reaktionen entstehen aus ursprünglich weiblichen Organanlagen spezifisch männliche. Aus den vorgesehenen Eierstöcken werden Hoden.
Gängige Thesen behaupten, dass, sofern der SRY-Gen-Schalter nicht betätigt wird und vereinfacht ausgedrückt Testosteronschübe, die für die Ausbildung von Penis und Hoden zuständig sind, nicht erfolgen, der ursprüngliche Bauplan durcheinander gerät. Der Embryo folgt dann der Geschlechtsgrundeinstellung der Natur und bleibt anatomisch weiblich, obwohl die Identität männlich ist. Es wird ein Mann mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Umgekehrt verhält es sich ähnlich. Damit aus einem Embryo ein »vollständiges« Mädchen wird, entfallen die zuständigen Testosteronschübe, die für die Geschlechtsidentität wichtig sind. Wird aber der SRY-Genschalter aktiv und die zuständigen Testosteronschübe werden fälschlicherweise ausgeschüttet, entwickeln sich Penis und Hoden. Der Embryo bildet sich geschlechtlich-anatomisch männlich aus, obwohl die Identität weiblich ist. Es wird eine Frau mit männlichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Es ist also biologisch möglich, dass eine Frau einen Penis und ein Mann eine Vagina hat.
Wir sehen: Geschlechter verfügen über ein enormes Zwitterpotenzial, dies beweist eine identische Vorstufe sowie das Zusammenspiel derselben Hormone und Gene, die für die Geschlechtsentwicklung eine Rolle spielen. Für jeden Embryo bedeutet es, aus einer zwitterhaften und uneindeutigen Ausgangslage in eine weibliche bis männliche Richtung zu lenken.
Wie ähnlich unsere Geschlechter sind, zeigt beim erwachsenen Mann die leicht gerötete Naht an der Unterseite des Penis. Dieses Gewebe bleibt bei einem Mädchen offen. Entsprechend werden aus der Haut des Hodensacks bei einer Frau die großen Schamlippen. Unsere embryonale Veranlagung ist mitunter auch ein Grund, warum Männer zum Beispiel. Brustwarzen haben, obwohl sie sie nicht benötigen. Unsere Geschlechter sind sich daher ähnlicher, als wir glauben.
Innerhalb des embryonalen Entwicklungsprozesses kommt es häufig zu Normvarianten, die geschlechtlich nicht eindeutig zuzuordnen sind.
Die Chromosomen, die Geschlechtsorgane und das Mengenverhältnis der Hormone im Blut können darüber entscheiden, ob ein Mensch von weiblich bis männlich und alles dazwischen ist. Dennoch spielen das Gehirn und vielmehr die tiefen Strukturen unserer DNA eine größere Rolle als alle biologischen Faktoren zusammen. Denn unser Oberstübchen und vor allem das innere Wissen über unser Sein sind sozusagen die Schaltzentrale und lachen über den Chromosomen-Geschlechtsorgane-Hormonsalat.
Zahlreiche Wissenschaftler sind sich inzwischen einig über die bedeutende Rolle der mehrdimensionalen Aspekte zur Geschlechtsentwicklung, dazu gehören die Genetik, die Anatomie, hormonelle Aspekte, die Umwelt, psychologische Faktoren, die durch gemeinsame Existenz und/oder Interaktion Einfluss auf unsere sexuelle Orientierung, Identität und das Geschlecht selbst haben. Das bedeutet laut der amerikanischen Biologin Julia Serano, dass jedes Individuum mit einem eigenen Geschlecht geboren wird und im Laufe seines Lebens dieses Geschlecht erkennen und leben darf.
In unserer binären Kultur sprechen wir meist nur von Mann und Frau und haben zumindest in unserem Alltag nur diese beiden Geschlechter auf dem Schirm. Wenn wir von Penis und Hoden sprechen, dann denken wir automatisch an Männer und im Gegenzug, wenn es um Brüste und Vagina geht, sehen wir eine Frau.
Dabei: Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen, die besagen, dass weltweit immer mehr Menschen geboren werden, bei denen eine eindeutige Geschlechtszuweisung nicht möglich ist. Gründe dafür, so wird vermutet, können auch Umwelteinflüsse, Ablagerungen von Hormonen im Trinkwasser, Impfschäden und Auswirkungen der Überbevölkerung und viele weitere sein.
Für Deutschland geht man davon aus, dass sich von ca. 5000 Geburten eine Geburt durch das Merkmal Trans*oder Inter*auszeichnet. Laut Deutscher Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität sind 0,25 Prozent aller geborenen Kinder weltweit transident.
Wie wir sehen, gibt es eine Fülle komplexer theoretischer Gedankenkonstrukte, Studien, Thesen und Gegenthesen, die alle ihre Berechtigung haben. Trans*normalität geht aber in Häufigkeit mit einer Form körperlicher Transition einher, die ihre Ursache in der Biologie des Seins bzw. des Körpers hat. Trans*normalität und alle anderen Normvarianten sind damit kein »Fehler« der Natur, sondern sie sind von der Biologie vorgesehen.
Einen ganz anderen Aspekt bringen die Professor*innen Michaela Bauks und Stefan Schorch ins Spiel. Die Bibelwissenschaftler*innen stellen sogar in Frage, ob Adam und Eva zwingend Mann und Frau waren. War das erste von Gott geschaffene Lebewesen vielleicht sogar androgyn, hat also weibliche und männliche Merkmale in sich vereinigt? »Adam« soll androgyn gewesen sein und der Name bedeutet, nach Aussage von Michaela Bauks, Mann, Mensch, Menschheit oder Jemand. Stefan Schorch sagt dazu: »In der hebräischen Bibel finden sich sehr verschiedene kulturelle Entwürfe von Sexualität, Partnerschaft und Familie.« Da die Schlange durch ihre Verführung, den Apfel zu essen, angeblich der Grund war, warum Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, sollten wir die Verführende genauer unter die Lupe nehmen. Auch bei der Schlange ist nämlich eine Abweichung der uns bekannten Fortpflanzungs-Norm zu finden. Die männliche Schlange verfügt über zwei Kopulationsorgane, sogenannte Hemipenes, und weibliche Exemplare besitzen zwei Hemiclitoris.
Die Welt kennt keine Grenzen in ihrer Vielfalt, daher ist es wichtig, dass wir allen Menschen die entsprechende Unterstützung geben, die sie auf ihrem Weg benötigen und uns vielleicht nicht so sehr auf die Frage stürzen, wie Geschlechter zu sein oder auszusehen haben. Alle Lebewesen sind geschlechtlich einzigartig und Vielfalt ist die Norm. Ein Support beginnt in erster Linie mit Aufklärung und Verständnis. Ich als einzelner Mensch und Sie als Individuum – WIR haben jederzeit und jeder für sich die Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen, ob wir Menschen unterstützen oder durch Unverständnis im Weg stehen wollen. Lassen Sie uns gemeinsam den weiten Raum der Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten entdecken!