Arthur Schopenhauer
Aphorismen zur Lebensweisheit
Mit einer Einführung und
begleitenden Texten
Herausgegeben von
Edition philosophie Magazin
FISCHER E-Books
Edition philosophie Magazin: Eine exklusive Auswahl zentraler philosophischer Texte durch das »philosophie Magazin«.
Mit dem ungekürzten Originaltext sowie
– einem sachkundigen Vorwort von Dieter Birnbacher
– einer Zeitleiste zu Leben und historischem Kontext
– Erläuterungen der Grundbegriffe des jeweiligen Werks
– mit Beiträgen von Moritz Rinke, Edith Seifert sowie Fritz Breithaupt zur bleibenden Bedeutung des Werks
Schopenhauers ›Aphorismen zur Lebensweisheit‹ sind Teil seines Werks ›Parerga und Paralipomena‹ und gehören zu seinen bekanntesten Schriften. Glänzende und geschliffene Texte über das, was einer ist, was einer hat, was einer vorstellt und vom Unterschied der Lebensalter.
Covergestaltung: hauser lacour kommunikationsgestaltung gmbh, Frankfurt
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403693-9
Die Natur hat, in ihren Tagen, seltsame Käuze hervorgebracht, Einige, die stets aus ihren Aeugelein vergnügt hervorgucken und, wie Papageien über einen Dudelsackspieler lachen, und Andere von so sauertöpfischem Ansehn, daß sie ihre Zähne nicht durch ein Lächeln bloß legen, wenn auch Nestor selbst schwüre, der Spaaß sei lachenswerth.
Das Nomadenleben, welches die unterste Stufe der Civilisation bezeichnet, -findet sich auf der höchsten im allgemein gewordenen Touristenleben wieder ein. Das erste ward von der Noth, das zweite von der Langenweile herbeigeführt.
Was die Menschen gesellig macht, ist eben ihre innere Armuth.
Sie erringen den Wohlstand auf Kosten ihrer Muße: aber was hilft mir der Wohlstand, wenn ich das was allein ihn wünschenswerth macht, die freie Muße, dafür hingeben soll?
Die Natur steigert sich fortwährend, zunächst vom mechanischen und chemischen Wirken des unorganischen Reiches zum Vegetabilischen [Pflanzlichen] und seinem dumpfen Selbstgenuß, von da zum Thierreich, mit welchem die Intelligenz und das Bewußtseyn anbricht und nun von schwachen Anfängen stufenweise immer höher steigt und endlich durch den letzten und größten Schritt bis zum Menschen sich erhebt, in dessen Intellekt also die Natur den Gipfelpunkt und das Ziel ihrer Produktionen erreicht, also das Vollendeteste und Schwierigste liefert, was sie hervorzubringen vermag. Selbst innerhalb der menschlichen Species aber stellt der Intellekt noch viele und merkliche Abstufungen dar und gelangt höchst selten zur obersten, der eigentlich hohen Intelligenz. Diese nun also ist im engern und strengem Sinne das schwierigste und höchste Produkt der Natur, mithin das Seltenste und Werthvollste, was die Welt aufzuweisen hat. In einer solchen Intelligenz tritt das klärste Bewußtseyn ein und stellt demgemäß die Welt sich deutlicher und vollständiger, als irgend wo dar. Der damit Ausgestattete besitzt demnach das Edelste und Köstlichste auf Erden und hat dem entsprechend eine Quelle von Genüssen, gegen welche alle übrigen gering sind; so daß er von außen nichts weiter bedarf, als nur die Muße, sich dieses Besitzes ungestört zu erfreuen und seinen Diamanten auszuschleifen. – Denn alle andern, also nicht intellektuellen Genüsse sind niedrigerer Art: sie laufen sämmtlich auf Willensbewegungen hinaus, also auf Wünschen, Hoffen, Fürchten und Erreichen, gleichviel auf was es gerichtet sei, wobei es nie ohne Schmerzen abgehn kann, und zudem mit dem Erreichen, in der Regel, mehr oder weniger Enttäuschung eintritt, statt daß bei den intellektuellen Genüssen die Wahrheit immer klärer wird. Im Reiche der Intelligenz waltet kein Schmerz, sondern Alles ist Erkenntniß. Alle intellektuellen Genüsse sind nun aber Jedem nur vermittelst und also nach Maaßgabe seiner eigenen Intelligenz zugänglich: denn tout l’esprit, qui est au monde, est inutile à celui qui n’en a point. [Aller Geist auf der Welt nützt dem nichts, der keinen hat: Labruyère, Les caractères, chap. ›De l’homme‹]. Ein wirklicher jenen Vorzug begleitender Nachtheil aber ist, daß, in der ganzen Natur, mit dem Grad der Intelligenz die Fähigkeit zum Schmerze sich steigert, also ebenfalls erst hier ihre höchste Stufe erreicht.
Die Vulgarität besteht im Grunde darin, daß im Bewußtseyn das Wollen das Erkennen gänzlich überwiegt, womit es den Grad erreicht, daß durchaus nur zum Dienste des Willens das Erkennen eintritt, folglich wo dieser Dienst es nicht heischt, also eben keine Motive, weder große noch kleine, vorliegen, das Erkennen ganz cessirt [aufhört], folglich völlige Gedankenleere eintritt. Nun ist aber erkenntnißloses Wollen das Gemeinste, was es giebt: jeder Klotz Holz hat es und zeigt es wenigstens wenn er fällt. Daher macht jener Zustand die Vulgarität aus. In demselben bleiben bloß die Sinneswerkzeuge und die geringe, zur Apprehension ihrer Data erforderte Verstandesthätigkeit aktiv, in Folge wovon der vulgare Mensch allen Eindrücken beständig offen steht, also Alles was um ihn herum vorgeht augenblicklich wahrnimmt, so daß der leiseste Ton und jeder, auch noch so geringfügige Umstand seine Aufmerksamkeit sogleich erregt, eben wie bei den Thieren. Dieser ganze Zustand wird in seinem Gesicht und ganzen Aeußern sichtbar, – woraus dann das vulgare Ansehn hervorgeht, dessen Eindruck um so widerlicher ist, wann, wie meistens, der hier das Bewußtseyn allein erfüllende Wille ein niedriger, egoi-stischer und überhaupt schlechter ist.
Die höchsten Stände, in ihrem Glanz, in ihrer Pracht und Prunk und Herrlichkeit und Repräsentation jeder Art können sagen: »unser Glück liegt ganz außerhalb unserer Selbst: sein Ort sind die Köpfe Anderer.«
Scire tuum nihil est, nisi te scire hoc sciat alter. [Dein Wissen ist wertlos, wenn nicht auch andere wissen, daß du es weißt: Persius, 1, 27.]
Das wäre denn der Kodex. Und so seltsam und fratzenhaft nehmen sich, wenn auf deutliche Begriffe gebracht und klar ausgesprochen, jene Grundsätze aus, denen noch heut zu Tage, im Christlichen Europa, in der Regel alle Die huldigen, welche zur sogenannten guten Gesellschaft und zum sogenannten guten Ton gehören. Ja Viele von Denen, welchen diese Grundsätze von früher Jugend auf, durch Rede und Beispiel, eingeimpft sind, glauben fester daran, als an irgend einen Katechismus, hegen gegen dieselben die tiefste, ungeheuchelteste Ehrfurcht, sind jeden Augenblick ganz ernstlich bereit, ihnen Glück, Ruhe, Gesundheit und Leben zum Opfer zu bringen, halten dafür, daß jene Principien ihre Wurzel in der Natur des Menschen haben, folglich angeboren seien, sonach a priori festständen, über jeder Prüfung erhaben. Ihrem Herzen will ich dabei nicht zu nahe treten; aber ihrem Kopfe macht es wenig Ehre. Dieserhalb möchten keinem Stande diese Grundsätze weniger angemessen seyn, als dem, welcher bestimmt ist, die Intelligenz auf Erden zu repräsentiren, das Salz der Erde zu werden, und der nun zu diesem großen Beruf sich vorbereiten soll, also der studirenden Jugend, welche in Deutschland leider mehr als irgend ein anderer Stand diesen Grundsätzen huldigt. Statt nun dieser in Hellas und Latium erzogenen Jugend, (wie ein Mal, als ich ihr noch angehörte, der schlechte Philosophaster J.G. Fichte, den die gelehrte Welt in Deutschland noch immer ganz ehrlich für einen Philosophen hält, in einer Declamatio ex cathedra [Vorlesung] that,) die Nachtheile oder die Immoralität der Folgen besagter Grundsätze an’s Herz zu legen, habe ich ihnen nur Folgendes zu sagen. Ihr, deren Jugend die Sprache und Weisheit Hellas’ und Latiums zur Pflegerin erhielt, und auf deren Geist man die Lichtstrahlen der Weisen und Edlen des schönen Alterthums frühzeitig fallen zu lassen die unschätzbare Sorge getragen hat, Ihr wollt damit anfangen, daß ihr diesen Kodex des Unverstandes und der Brutalität zur Richtschnur eures Wandels macht? – Seht ihn an, wie er hier, auf deutliche Begriffe gebracht, in seiner erbärmlichen Beschränktheit vor euch liegt, und laßt ihn den Prüfstein nicht eures Herzens, sondern eures Verstandes seyn. Verwirft dieser ihn jetzt nicht; – so ist euer Kopf nicht geeignet, in dem Felde zu arbeiten, wo eine energische Urtheilskraft, welche die Bande des Vorurtheils leicht zerreißt, ein richtig ansprechender Verstand, der Wahres und Falsches selbst dort, wo der Unterschied tief verborgen liegt und nicht wie hier mit Händen zu greifen ist, rein zu sondern vermag, die nothwendigen Erfordernisse sind: in diesem Fall also, meine Guten, sucht auf eine andere ehrliche Weise durch die Welt zu kommen, werdet Soldaten, oder lernet ein Handwerk, das hat einen goldenen Boden. –
Was heißt überhaupt Einen beleidigen? – Es heißt: ihn an der hohen Meinung, die er von sich selber hat, irre machen.
Die ritterliche Ehre ist ein Kind des Hochmuths und der Narrheit. (Die ihr entgegengesetzte Wahrheit spricht am schärfsten el principe constante [der standhafte Fürst: Calderon] aus in den Worten: »esa es la herencia de Adan« [dies ist das Erbe Adams]. Sehr auffallend ist es, daß dieser Superlativ alles Hochmuths sich allein und ausschließlich unter den Genossen derjenigen Religion findet, welche ihren Anhängern die äußerste Demuth zur Pflicht macht; da weder frühere Zeiten noch andere Welttheile jenes Princip der ritterlichen Ehre kennen. Dennoch darf man dasselbe nicht der Religion zuschreiben, vielmehr dem Feudalwesen, bei welchem jeder Edele sich als einen kleinen Souverän, der keinen menschlichen Richter über sich erkannte, ansah und sich daher eine völlige Unverletzlichkeit und Heiligkeit der Person beilegen lernte, daher ihm jedes Attentat gegen dieselbe, also jeder Schlag und jedes Schimpfwort, ein todeswürdiges Verbrechen schien. Demgemäß waren das Ehrenprincip und die Duelle ursprünglich nur Sache des Adels und in Folge davon in spätem Zeiten der Offiziere, denen sich nachher hin und wieder, wiewohl nie durchgängig, die andern höhern Stände anschlossen, um nicht weniger zu gelten. Wenn auch die Duelle aus den Ordalien hervorgegangen sind; so sind diese doch nicht der Grund, sondern die Folge und Anwendung des Ehrenprincips: wer keinen menschlichen Richter erkennt appellirt an den göttlichen. Die Ordalien selbst aber sind nicht dem Christenthum eigen, sondern finden sich auch im Hinduismus sehr stark, zwar meistens in älterer Zeit: doch Spuren davon auch noch jetzt. –
Vingt ou trente coups de canne sur le derrière, c’est, pour ainsi dire, le pain quotidien des Chinois. C’est une correction paternelle du mandarin, laquelle n’a rien d’infamant, et qu’ils reçoivent avec action de grâces. [Zwanzig oder dreißig Schläge mit dem Rohr auf den Hintern sind gewissermaßen das tägliche Brot der Chinesen. Sie sind eine väterliche Zurechtweisung des Mandarins, die nichts Schimpfliches an sich hat und die man mit Dankesbezeigungen empfängt.] – Lettres édifiantes et curieuses, édition de 1819. Vol. 11, p. 454.
Der eigentliche Grund, aus welchem die Regierungen scheinbar sich beeifern, das Duell zu unterdrücken und, während dies offenbar, zumal auf Universitäten, sehr leicht wäre, sich stellen, als wolle es ihnen nur nicht gelingen, scheint mir folgender zu seyn. Der Staat ist nicht im Stande, die Dienste seiner Offiziere und Civilbeamten mit Gelde zum Vollen zu bezahlen; daher läßt er die andere Hälfte ihres Lohnes in der Ehre bestehn, welche repräsentirt wird durch Titel, Uniformen und Orden. Um nun diese ideale Vergütung ihrer Dienste in hohem Kourse zu erhalten, muß das Ehrgefühl auf alle Weise genährt, geschärft, allenfalls etwas überspannt werden: da aber zu diesem Zweck die bürgerliche Ehre nicht ausreicht, schon weil man sie mit Jedem theilt; so wird die ritterliche Ehre zu Hülfe genommen und besagterweise aufrecht erhalten. In England, als wo Mi-litär- und Civil-Besoldungen sehr viel höher stehn, als auf dem Kontinent, ist die besagte Aushülfe nicht nöthig: daher eben ist daselbst, zumal in diesen letzten zwanzig Jahren, das Duell fast ganz ausgerottet, kommt jetzt höchst selten vor, und wird dann als eine Narrheit verlacht; gewiß hat die große Anti-duelling-society, welche eine Menge Lords, Admiräle und Generäle zu ihren Mitgliedern zählt, hiezu viel beigetragen, und der Moloch muß sich ohne seine Opfer behelfen.
Demnach ist es ein schlechtes Kompliment, wenn man, wie heut zu Tage Mode ist, Werke dadurch zu ehren vermeint, daß man sie Thaten titulirt: Denn Werke sind wesentlich höherer Art. Eine That ist immer nur eine Handlung auf Motiv, mithin ein Einzelnes, Vorübergehendes, und ist ein dem allgemeinen und ursprünglichen Element der Welt, dem Willen, Angehöriges. Ein großes oder schönes Werk hingegen ist ein Bleibendes, weil von allgemeiner Bedeutung, und ist der Intelligenz entsprossen, der schuldlosen, reinen, dieser Willenswelt wie ein Duft entsteigenden.
Ein Vortheil des Ruhmes der Thaten ist, daß er in der Regel sogleich eintritt, mit einer starken Explosion, oft so stark, daß sie in ganz Europa gehört wird; während der Ruhm der Werke langsam und allmälig eintritt, erst leise, dann immer lauter, und oft erst nach hundert Jahren seine ganze Stärke erreicht: dann aber bleibt er, weil die Werke bleiben, bisweilen Jahrtausende hindurch. Jener andere hingegen wird, nachdem die erste Explosion vorüber ist, allmälig schwächer, Wenigeren bekannt und immer Wenigeren, bis er zuletzt nur noch in der Historie ein gespensterhaftes Daseyn führt.
Da unser größtes Vergnügen darin besteht, bewundert zu werden, die Bewunderer aber, selbst wo alle Ursache wäre, sich ungern dazu herbeilassen; so ist der Glücklichste Der, welcher, gleichviel wie, es dahin gebracht hat, sich selbst aufrichtig zu bewundern. Nur müssen die Andern ihn nicht irre machen.
Wie unser Leib in die Gewänder, so ist unser Geist in Lügen verhüllt. Unser Reden, Thun, unser ganzes Wesen, ist lügenhaft: und erst durch diese Hülle hindurch kann man bisweilen unsere wahre Gesinnung errathen, wie durch die Gewänder hindurch die Gestalt des Leibes.
Bekanntlich werden Uebel dadurch erleichtert, daß man sie gemeinschaftlich erträgt: zu diesen scheinen die Leute die Langeweile zu zählen; daher sie sich zusammensetzen, um sich gemeinschaftlich zu langweilen. Wie die Liebe zum Leben im Grunde nur Furcht vor dem Tode ist, so ist auch der Geselligkeitstrieb der Menschen im Grunde kein direkter, beruht nämlich nicht auf Liebe zur Gesellschaft, sondern auf Furcht vor der Einsamkeit, indem es nicht sowohl die holdsälige Gegenwart der Andern ist, die gesucht, als vielmehr die Oede und Beklommenheit des Alleinseyns, nebst der Monotonie des eigenen Bewußtseyns, die geflohen wird; welcher zu entgehn man daher auch mit schlechter Gesellschaft vorlieb nimmt, imgleichen das Lästige und den Zwang, den eine jede nothwendig mit sich bringt, sich gefallen läßt. – Hat hingegen der Widerwille gegen dieses Alles gesiegt und ist, in Folge davon, die Gewohnheit der Einsamkeit und die Abhärtung gegen ihren unmittelbaren Eindruck eingetreten, so daß sie die oben bezeichneten Wirkungen nicht mehr hervorbringt; dann kann man mit größter Behaglichkeit immerfort allein seyn, ohne sich nach Gesellschaft zu sehnen; eben weil das Bedürfniß derselben kein direktes ist, und man andererseits sich jetzt an die wohlthätigen Eigenschaften der Einsamkeit gewöhnt hat.
Im selben Sinne sagt Sadi im Gulistan: »Seit dieser Zeit haben wir von der Gesellschaft Abschied genommen und uns den Weg der Absonderung vorgenommen: denn die Sicherheit wohnt in der Einsamkeit.«
Der Neid der Menschen zeigt an, wie unglücklich sie sich fühlen; ihre beständige Aufmerksamkeit auf fremdes Thun und Lassen, wie sehr sie sich langweilen.
Der Schlaf ist ein Stück Tod, welches wir anticipando [vorwegnehmend] borgen und dafür das durch einen Tag erschöpfte Leben wieder erhalten und erneuern. Le sommeil est un emprunt fait à la mort [Der Schlaf ist eine Anleihe beim Tod]. Der Schlaf borgt vom Tode zur Aufrechterhaltung des Lebens. Oder: er ist der einstweilige Zins des Todes, welcher selbst die Kapitalabzahlung ist. Diese wird um so später eingefordert, je reichlichere Zinsen und je regelmäßiger sie gezahlt werden.
Wenn in den Menschen, wie sie meistentheils sind, das Gute das Schlechte überwöge; so wäre es gerathener, sich auf ihre Gerechtigkeit, Billigkeit, Dankbarkeit, Treue, Liebe oder Mitleid zu verlassen, als auf ihre Furcht: weil es aber mit ihnen umgekehrt steht; so ist das Umgekehrte gerathener.
Den Willen, kann man sagen, hat der Mensch sich selbst gegeben: denn er ist er selbst: aber der Intellekt ist eine Ausstattung, die er vom Himmel erhalten hat, – d.h. vom ewigen, geheimnißvollen Schicksal und dessen Nothwendigkeit, deren bloßes Werkzeug seine Mutter war.
Zum Vorwärtskommen in der Welt sind Freundschaften und Kamaraderien bei Weitem das Hauptmittel. Nun aber große Fähigkeiten machen allemal stolz und dadurch wenig geeignet, Denen zu schmeicheln, die nur geringe haben, ja, vor Denen man deshalb die großen verhehlen und verleugnen soll. Entgegengesetzt wirkt das Bewußtseyn nur geringer Fähigkeiten: es verträgt sich vortrefflich mit der Demuth, Leutsäligkeit, Gefälligkeit und Respekt vor dem Schlechten, verschafft also Freunde und Gönner.
Das Gesagte gilt nicht bloß vom Staatsdienst, sondern auch von den Ehrenstellen, Würden, ja, dem Ruhm in der gelehrten Welt; so daß z.B. in den Akademien die liebe Mediokrität [Mittelmäßigkeit] stets oben auf ist, Leute von Verdienst spät oder nie hineinkommen, und so bei Allem.
Der Zufall hat bei allen menschlichen Dingen so großen Spielraum, daß wenn wir einer von ferne drohenden Gefahr gleich durch Aufopferungen vorzubeugen suchen, diese Gefahr oft durch einen unvorhergesehenen Stand, den die Dinge annehmen, verschwindet, und jetzt nicht nur die gebrachten Opfer verloren sind, sondern die durch sie herbeigeführte Veränderung nunmehr, beim veränderten Stande der Dinge, gerade ein Nachtheil ist. Wir müssen daher in unsern Vorkehrungen nicht zu weit in die Zukunft greifen, sondern auch auf den Zufall rechnen und mancher Gefahr kühn entgegen sehn, hoffend, daß sie, wie so manche schwarze Gewitterwolke, vorüberzieht.
So viele Anfälle von Freude und Gram habe ich schon empfunden, daß ich nie mehr vom ersten Anblicke des Anlasses zu einem von Beiden sogleich mich weibisch hinreißen lasse.
O, in der Kindheit! wann die Zeit noch so langsam geht, daß die Dinge beinahe fest zu stehn scheinen um in alle Ewigkeit bleiben zu wollen, wie jetzt.
Meistens jedoch gehn wir in der Jugend, da unsere Zeit am kostbarsten ist, verschwenderisch mit ihr um und fangen erst im Alter an, mit ihr zu geizen.
Das menschliche Leben ist eigentlich weder lang, noch kurz zu nennen; weil es im- Grunde das Maaß ist, wonach wir alle andern Zeitlängen abschätzen. – Im Upanischad des Veda (Oupnekhat, Vol. II, p. 53) wird die natürliche Lebensdauer auf 100 Jahre angegeben. Ich glaube, mit Recht; weil ich bemerkt habe, daß nur Die, welche das 90. Jahr überschritten haben, der Euthanasie theilhaft werden, d.h. ohne alle Krankheit, auch ohne Apoplexie [Schlaganfall], ohne Zuckung, ohne Röcheln, ja bisweilen ohne zu erblassen, meistens sitzend, und zwar nach dem Essen, sterben, oder vielmehr gar nicht sterben, sondern nur zu leben aufhören. In jedem früheren Alter stirbt man bloß an Krankheiten, also vorzeitig. – Im Alten Testament wird (Psalm 90, 10) die menschliche Lebensdauer auf 70 und, wenn es hoch kommt, 80 Jahre gesetzt, und, was mehr auf sich hat, Herodot (I, 32 und III, 22) sagt das Selbe. Es ist aber doch falsch und ist bloß das Resultat einer rohen und oberflächlichen Auffassung der täglichen Erfahrung. Denn, wenn die natürliche Lebensdauer 70–80 Jahre wäre; so müßten die Leute zwischen 70 und 80 Jahren vor Alter sterben: Dies aber ist gar nicht der Fall: sie sterben, wie die jüngeren, an Krankheiten; die Krankheit aber ist wesentlich eine Abnormität: also ist dies nicht das natürliche Ende. Erst zwischen 90 und 100 Jahren sterben die Menschen, dann aber in der Regel, vor Alter, ohne Krankheit, ohne Todeskampf, ohne Röcheln, ohne Zuckung, bisweilen ohne zu erblassen; welches die Euthanasie heißt. Daher hat auch hier der Upanischad Recht, als welcher die natürliche Lebensdauer auf 100 Jahre setzt.
Die circa 50 seitdem noch hinzu entdeckten Planetoiden sind eine Neuerung, von der ich nichts wissen will. Ich mache es daher mit ihnen, wie mit mir die Philosophieprofessoren: ich ignorire sie; weil sie nicht in meinen Kram passen.
Viel’ Alte scheinen schon den Todten gleich:
Wie Blei, schwer, zähe, ungelenk und bleich.
Von Didier Raymond
Arthur Schopenhauer wurde am 22. Februar 1788 in Danzig geboren. Sein Vater gehörte zu den reichsten Handelsleuten der wirtschaftlich florierenden Hansestadt und gab sein Vermögen großzügig für Gemälde, Bücher und Reisen aus. Schon als Kind für eine Kaufmannskarriere ausgebildet, lernt Arthur Schopenhauer neben Latein und Griechisch auch Englisch, Französisch und Italienisch. Im Jahre 1803/04 wird er nach einem Aufenthalt in London auf eine Bildungsreise durch mehrere europäische Länder geschickt – während der er auch ein Reisetagebuch führt. Bereits in diesen frühen Aufzeichnungen zeigt Schopenhauer eine besondere Sensibilität für die Themen des Leidens und der Langeweile, zum Beispiel in seiner Beschreibung der Strafkolonie von Toulon. Diese Feinfühligkeit seines Gemüts verfestigt sich bald zu einer Gewissheit, die sein gesamtes Denken prägt und von ihm weiter ausgearbeitet werden wird: Leid zu erfahren ist eine jeder Existenz innewohnende, unvermeidbare Gegebenheit ohne höheren Sinn, Ziel oder Moral. Das höchste Gut für den Menschen kann deshalb nur in der weitgehenden Abwesenheit von Leid bestehen, was auch bedeutet, dass menschliches Glück nur negativ definiert werden kann.
Der Selbstmord seines schwerkranken, durch missglückte Finanzspekulationen stark belasteten Vaters im Jahre 1806 mag diese Grundeinstellung Schopenhauers endgültig gefestigt haben. Das Ereignis wirft jedenfalls unweigerlich einen Schatten auf die Weltsicht des jungen Mannes, der fortan der Autorität seiner Mutter Johanna untersteht. Ihre Beziehung zu Arthur ist konfliktbeladen, bis hin zum endgültigen Bruch – sie wird so weit gehen, ihren Sohn zugunsten ihres Liebhabers zu enterben. Und aus dieser emotionalen Zurückweisung wird der Philosoph einen eher bitteren, wenn auch zweifelhaften Schluss ziehen: »Überhaupt aber wird eine Frau, die ihren Mann nicht geliebt hat, auch ihre Kinder von diesem Mann nicht lieben.«
Das familiäre Klima verströmt also Bitternis, erzeugt vielfache Frustrationen und einen solchen Überdruss, dass Schopenhauer nicht weiß, was er seiner einzigen Schwester Adele antworten soll, als sie ihm schreibt: »Ich lebe ungern, scheue das Alter, scheue die mir gewiss bestimmte Lebenseinsamkeit …« Ohne Zweifel prägt Schopenhauers Überzeugung, Glück könne allenfalls darin bestehen, sich dem Leid und den sozialen Zumutungen durch andere Menschen zu entziehen, seine eigene Lebensweise ganz entscheidend. Während das Haus der Mutter ein Ort außergewöhnlicher Begegnungen war – Goethe, der Maler Tischbein und politische Größen gingen dort ein und aus –, lebt der junge Philosoph bereits zurückgezogen und freiwillig isoliert, ist dabei oft cholerisch und vor allem schnell nachtragend.
Immerhin geht aus seinem Austausch mit Goethe 1816 ein Text hervor: »Über das Sehn und die Farben«. Goethes Gedanken folgend, weist er darin eine objektivistische Auffassung der Farben – wie sie Isaac Newton vertrat – entschieden zurück. Es geht Schopenhauer darum, zu zeigen, dass der physiologischen Aktivität des Sehens, weit davon entfernt, sich auf die mechanistischen Konzeptionen der neuen Physik reduzieren zu lassen, eine eigene, schöpferische Dynamik eignet. Die Schrift bezeugt Schopenhauers frühes Interesse für die wissenschaftlichen Strömungen seiner Zeit.
Lange vor Darwin postulierte Schopenhauer eine grundlegende Zweckfreiheit in den Phänomenen der Natur, betonte die Rolle von Zufall und Chaos. Die angenommene Abwesenheit eines tieferen Sinns oder Ziels alles Existierenden ist für ihn nicht nur ein abstraktes philosophisches Theorem, sondern er formte sie zu einer Lebensphilosophie, die durch Beobachtung und Erfahrung der Natur eigenständig erschlossen werden könne. Schopenhauer widersetzt sich dem zu seiner Zeit an den Universitäten vorherrschenden sinnstiftenden Idealismus von Fichte, Schelling oder Hegel und damit auch jeder Spekulation, die auf einem philosophischen Vorrang des Denkens und menschlichen Selbstbewusstseins basierte. Gewiss ist die Welt meine Repräsentation von ihr, gewiss ist meine Vorstellung die grundlegende Zugangsbedingung zur Struktur der Welt, doch die Realität bleibt nach Schopenhauer letztlich unabhängig vom Bewusstsein.
Was sich durch die Vielheit der Phänomene des Lebens hindurch auf originelle und irreduzible Weise manifestiert, ist der Wille zum Leben, jene blinde Kraft im Herzen des Pflanzen- und Tierreichs, zu dem der Mensch ebenfalls gehört, wenn er auch durch die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion seines Daseins eine Sonderstellung einnimmt. Durch die Vorherrschaft des Willens, dieses Primat des Lebens und blinden Lebenwollens, werden die klassischen Vorstellungen vom Menschen als reinem Vernunftwesen von Grund auf erschüttert.
Wie zuvor bereits Francis Bacon oder David Hume, sieht Schopenhauer den Verstand eher als Sklaven der Emotionen: Der Intellekt steht letztlich im Dienste des Willens zum Leben, sprich der Affekte und Instinkte. Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud behalten diese Einsicht in Erinnerung. Der eine, wenn er eine Genese des moralischen Bewusstseins ausarbeitet, die auf eher basalen Trieben und Affekten beruht, der andere, wenn er das Konzept des Unbewussten systematisiert.
Als 1819 Schopenhauers Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« erscheint, erregt es nahezu kein Interesse und findet nur sehr wenige Leser. Zwar bewirbt er sich 1820 erfolgreich um einen Lehrauftrag in Berlin, doch sind seine Vorlesungen – die er als Provokation zeitgleich zu denen Hegels ansetzt – schwach besucht. Das akademisch wenig erfolgreiche Berliner Abenteuer endet nach manchen Unterbrechungen endgültig im Jahre 1831, da Schopenhauer die Stadt wegen der dort grassierenden Choleraepidemie verlässt und zurück nach Frankfurt zieht.
1839 erhält er den renommierten Preis der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften. Die Ehrung ist ein magerer Trost in der intellektuellen Einöde, die ihn umgibt. Gute Mahlzeiten in den Frankfurter Restaurants, die mehr oder weniger regelmäßige Gesellschaft von Prostituierten, heimisches Flötenspiel und manchmal ein Konzert: Diese Art von Junggesellen-Askese bekam ihm letztlich wohl weniger gut, als er selbst glaubte.
Doch anstatt mit dem provinziellen Frankfurter Dasein zu brechen, schließt er sich in seinem Studierzimmer ein. In einer Ecke thront die Statue Buddhas, über dem Sofa hängen abwechselnd Porträts von Hunden und von Philosophen, und am Boden auf einem Bärenfell schläft friedlich sein Pudel namens Atman (»die Weltseele« in der hinduistischen Philosophie), den der Philosoph zu seinem Universalerben machen wird. Dort arbeitet Schopenhauer wie besessen an seinen Texten und Sentenzen. Genauigkeit, Klarheit und Ausdruckskraft müssen ihm zufolge konstitutiver Bestandteil des Denkens sein und zu einem Stil, zu einer spezifischen philosophischen Lösung und Lebensweise führen. Der Erfolg der »Parerga« von 1851 an ist zunächst der einer außergewöhnlich vollendeten philosophischen Sprache. Das Denken des Philosophen wird in ganz Europa vor allem durch Literaten und Künstler verbreitet, ohne dass es die universitäre Philosophie jemals wirklich anerkannt hätte.
Die einzige Möglichkeit, um sich dem allem Leben innewohnenden Willen zu widersetzen, ist die Kontemplation der Welt, die uns die objektivierten Formen (den Körper des Menschen, die Natur) als ästhetische Figuren erscheinen lässt. Mit anderen Worten: die Kunst. Kunst, wie sie Schopenhauer preist, folgt keinem konkreten Nutzen. Sie erfüllt insbesondere keine soziale, politische oder psychologische Funktion, sondern bildet eine eigene autonome Sphäre – deren Genuss eine momentane Erlösung von der menschlichen Grundkonstitution des willensgetriebenen Leidens in Aussicht stellt. Diese Absage an jegliche Zweckbedingtheit und der Anspruch auf eine ästhetische Autonomie dienten Richard Wagner als theoretische Legitimierung, der aus dem Philosophen eine Art Propheten machte. Schopenhauers metaphysischer Pessimismus wird in der Folgezeit von unterschiedlichsten Geistesgrößen wie Tolstoi, Flaubert, Thomas Mann oder Kafka aufgegriffen. So kann der Philosoph kurz vor seinem Tod im September 1860 schreiben: »Nun wohl, jetzt ist es ja überstanden. Das Abendroth meines Lebens wird das Morgenroth meines Ruhms und ich sage mit Shakespeares Worten: ›Ihr Herren, guten Morgen, löscht die Fackeln aus! Der Wölfe Raubzug ist gewesen …‹«
Geburt in Danzig am 22. Februar
Die Familie Schopenhauer lebt unter preußischer Besatzung, bis sie in ein Dorf bei Hamburg umsiedelt
Mit 15 Jahren unternimmt er eine 18-monatige Bildungsreise durch Europa
Schopenhauers Vater stürzt tödlich vom Dachboden des Familienhauses – absichtlich, so vermutet man
Studium der Philosophie bei Fichte und Schleiermacher in Berlin
Erscheinen von Schopenhauers »Über das Sehn und die Farben«
»Die Welt als Wille und Vorstellung« erscheint, findet jedoch keine Resonanz. Schopenhauer ist Privatdozent an der Universität Berlin, wo auch Hegel lehrt
Auszeichnung durch die Königlich Norwegische Societät der Wissenschaften für seine Schrift »Über die Freiheit des menschlichen Willens«
Ohne Honorar erscheinen seine »Aphorismen zur Lebensweisheit« in »Parerga und Paralipomena«
Schopenhauer stirbt am 2. September infolge einer Lungenentzündung im Alter von 72 Jahren
Kants »Kritik der reinen Vernunft« erscheint
Bonaparte wird unter dem Namen Napoleon I. zum Kaiser der Franzosen erklärt
Nach dem militärischen Siegeszug Napoleons legt Kaiser Franz II. die Reichskrone nieder und besiegelt das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation
Fichte fordert in seinen »Reden an die Nation« einen freiheitlichen deutschen Nationalstaat
Wiener Kongress: Nach der Niederlage Napoleons werden in diesem Kongress die Grenzen der europäischen Staaten neu festgelegt
Karl Marx wird in Trier geboren
Beim Hambacher Fest, dem Höhepunkt des Vormärz, werden Forderungen nach Volkssouveränität und nationaler Einheit formuliert
Märzrevolution: In Österreich wird Fürst Metternich entlassen und in Deutschland demokratisch eine Nationalversammlung gewählt; Verhinderung der Reformen durch Österreich und Preußen
Deutsch-Französischer Krieg
Von Frédéric Schiffter
Schonungslos legt Arthur Schopenhauer die Grundirrtümer unserer Existenz frei. Das »Ich« ist in Wahrheit nichts als eine eitle Illusion, die Vernunft ein Sklave unserer Leidenschaften, das Leben im Kern sinnlos und von Leiden bestimmt. Wäre da nicht die erlösende Kraft der Kunst und die wundersame Verbundenheit alles Lebendigen.
Sofern der Wille sich in lebenden Organismen manifestiert, folgt er dem Prinzip der Individuation. Während bei Tieren der Gattungsinstinkt stärker ist als der individuelle Instinkt, überdeckt beim Menschen das individuelle Bewusstsein das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gattung. Aus diesem Grund bleibt das Mitgefühl, auf das Schopenhauer große Stücke hält, im Falle des Menschen das Privileg einiger weniger. Jedes Ich stellt sich vor, einen einzigartigen Punkt im Universum zu verkörpern, um den sich alles drehen muss – ein narzisstisches Verhalten, das natürlich die Feindseligkeit der anderen Ichs auf sich zieht. Solch ein Egoismus mit all seinen verheerenden Folgen bildet sich von Kindheit an heraus. Ein Blick auf einen Schulhof genügt, um diese Einsicht zu bestätigen: Allzu oft tobt dort ein Krieg aller gegen alle, die kindlichen Leidenschaften, die aufeinanderprallen, erinnern an das Klirren der Waffen und die hasserfüllten Schreie im Zirkus der Antike und geben einen Vorgeschmack auf das blutige Chaos von Schlachtfeldern oder Städten im Ausnahmezustand. Mit einer für Schopenhauer typischen Übertreibung bringt er den menschlichen Egoismus mit einem Bild auf den Punkt: »Mancher Mensch wäre imstande, einen anderen totzuschlagen, bloß um mit dessen Fette sich die Stiefel zu schmieren.«
Um den Menschen in der Gesellschaft zu beschreiben, benutzt Schopenhauer die Parabel von den Stachelschweinen: An einem rauen Wintertag kuscheln sich ein paar Stachelschweine aneinander in der Hoffnung, sich zu wärmen. Doch sobald sie sich berühren, stechen sie sich mit ihren Stacheln und entfernen sich wieder voneinander. Erneut durchdringt sie die eisige Kälte und veranlasst sie, zusammenzurücken und sich zu verletzen. Dieses ständige Hin und Her zwischen zwei Formen des Leidens hat so lange kein Ende, bis die Tiere »eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten«. Beim Menschen ist diese Entfernung nichts anderes als das Recht. Damals noch von den Theorien des Thomas Hobbes beeinflusst, stellt Schopenhauer fest, dass die Höllenqualen, die die verschiedenen Individuen einander bereiten, dann nachlassen, wenn sich der Staat mit seinen Regeln, Richtern und Schafotten etabliert. Ohne die anarchischen menschlichen Begierden abzuschaffen – denn keine Form der Gesetzgebung kann den Willen aufhalten! –, gelingt es dem Staat, eine kollektive Ordnung zu schaffen und eine Koexistenz der verschiedenen Egoismen zu erlauben. In einer Gesellschaft, die von einem starken Staat zurechtgestutzt wurde, verfolgt ein jeder das Gemeinwohl, weil jeder weiß, dass es auch sein eigenes Wohl umfasst. Insofern unterscheidet sich »Moral« Schopenhauer zufolge nicht von »Gerechtigkeit« – ein gerechter Mensch ist für ihn kein guter oder weiser Mensch, sondern ein Bürger, der dem Gesetz gehorcht.
Mit dem Primat des Willens, der alle Lebensformen bestimmt, betont Schopenhauer die Vorherrschaft von körperlichen Gelüsten und Gefühlsneigungen über den Intellekt. Darum sind wir dem Willen sowohl mit unserer Wissenschaft als auch mit unserer Technik zu Diensten. Allein die ästhetische Kontemplation befreit uns von seiner Tyrannei. Indem wir uns für Malerei, Poesie, Literatur und Theater interessieren, denken wir die Wirklichkeit nicht mehr in Begrifflichkeiten der rationalen Vorstellungen, sondern entdecken die Realität an sich in Form objektiver und universaler Ideen. Wenn Homer, Dante, Shakespeare oder Goya Aspekte des menschlichen Lebens heraufbeschwören und darstellen, so lassen sie uns doch nicht seine ganze schmerzliche Dimension spüren: Sie zeigen es uns vielmehr in seinem Wesen selbst. Künstlerische Vorstellungen des Willens – etwa bei der Kontemplation von Kunstwerken, beim Lesen, im Theater – nimmt das Bewusstsein deshalb mit großer Freude auf. Die ästhetische Erfahrung befreit uns nicht nur von unseren eigenen begierdevollen Gesten, sie macht uns auch frei vom Schmerz und Verdruss, die unser Leben prägen.
»Das Leben, mit seinen stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen, kleinen, größern und großen Widerwärtigkeiten, mit seinen getäuschten Hoffnungen und seinen alle Berechnung vereitelnden Unfällen, trägt so deutlich das Gepräge von etwas, das uns verleidet werden soll, daß es schwer zu begreifen ist, wie man dies hat verkennen können und sich überreden lassen, es sei da, um dankbar genossen zu werden, und der Mensch, um glücklich zu seyn.« Vom ersten bis zum letzten Atemzug werden wir unablässig vom Leid heimgesucht. Doch auch wenn es uns verschont, können wir nicht ganz gelassen und heiter sein. Wir wissen, es ist nur aufgeschoben, wir wissen, dass uns das Schlimmste droht und dass es nirgendwo Zuflucht gibt. Jederzeit können uns Krankheiten treffen, Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen, Kriege, Armut. Vor allem aber fürchten wir jeden Moment die unheilvolle Gegenwart anderer Menschen, die jederzeit bereit sind, sowohl ihrer physischen Gewalt als auch ihrer moralischen Niedertracht freien Lauf zu lassen. Darum erbost sich Schopenhauer über den Optimismus, der ihm »nicht blos als eine absurde, sondern auch als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart erscheint, als ein bitterer Hohn über die namenlosen Leiden der Menschheit«.
Da die meisten Menschen keine Ästheten oder Musikliebhaber sind, werden sie vom Willen dazu verdammt, wie Sisyphos Tag für Tag die erdrückende Last ihres Lebens vergeblich einen Berg hinaufzuschleppen. Um sich abzulenken, verschreiben sich manche (Männer) der Liebe und huldigen den Frauen, ohne zu durchschauen, dass diese – allem Anschein zum Trotz – Lust und Vergnügen hassen. All ihre verführerischen Mittel und ihr erotisches Können setzen die Frauen nur ein, um geeignete Erzeuger in die Falle zu locken und damit dem absurden Ziel des Willens zu entsprechen, sich zu vermehren und so das Leid der menschlichen Existenz zu verlängern. Andere Unglückliche wiederum, die den Gipfel der Verzweiflung erreicht haben, wollen allem ein Ende setzen – ohne zu merken, dass ein Selbstmord nichts anderes als eine List des Willens ist: Das Verlangen zu sterben, bleibt noch immer ein Verlangen. Wenn sie ihre Existenz auslöschen, töten sie doch nicht das, was sie zum Leben gedrängt hat. Indem sich der Wille ihrer selbstzerstörerischen Geste bemächtigt, fügt er ihnen die letzte Schmach zu, nicht einmal Herren über den eigenen Tod zu sein.
Das Meer mit seinen Gezeiten, die Erde, die sich um die Sonne und um sich selber dreht, ein Vulkan, der seine flüssige Lava ausspuckt – all das ist Wille. Wille ist … ein Samen, der in die Erde gelegt wird und einen Baum hervorbringt. Ein Löwe, der seine Beute jagt. Kleine und große Tiere, die kopulieren und sich vermehren. Wille ist … eine Schnecke, die ihre schleimige Spur zieht. Spielende Kinder, Männer, die einander töten, eine Frau, die ihr Baby stillt. Die Grundlage von allem, was geschieht, von allem, was lebt und sich bewegt, ist der Wille. Doch was steckt hinter diesem Willen? Eine blinde, unbewusste Kraft, die unermüdlich und unerbittlich im Universum wirkt. Vom Mikrokosmos bis zum Makrokosmos ist die ganze Welt also nichts anderes als das unendliche Zusammenspiel der Formen, in denen sich diese immanente Kraft manifestiert – woraus die Wesensgleichheit von Menschen mit Tieren, aber auch mit Pflanzen, Mineralien, Planeten und Sternen resultiert.
Beim Menschen, und nur beim Menschen, verkörpert sich der Wille in einem komplexeren Organismus und bringt selbstbewusstes Denken hervor. Durch diese Fähigkeit des Gehirns wird der Wille selbst zum Objekt von Vorstellungen: Die Welt nimmt die Form von Erscheinungen an. Überdies entstehen Spekulationen der Phantasie wie Religion, Glaube und Aberglaube, aber auch rationale Erkenntnisformen wie Physik, Chemie, Biologie und so weiter.
Getrieben von seinen Instinkten hat das Tier keinerlei Vorstellung vom Willen, der es leitet, und damit ebenso wenig von der Umgebung als einem Raum, in dem es lebt und stirbt. Der Mensch jedoch, bei dem der Wille den Intellekt hervorbringt, wird sich nicht nur seiner physischen Bedürfnisse und affektiven Neigungen bewusst (die Fähigkeit zur »inneren Vorstellung«), sondern auch der Phänomene in der Welt (die Fähigkeit zur »äußeren Vorstellung«). Aufgrund dieser doppelten Fähigkeit überkommt ihn die »Verwunderung«. »Den Menschen ausgenommen, wundert sich kein Wesen über sein eigenes Daseyn«, schreibt Schopenhauer. Verwunderung ist hier nicht das Resultat einer gelungenen Überraschung, sondern ein »bestürztes und betrübtes« Erstaunen angesichts einer Banalität: der Tatsache, zu leben und zu sterben. Zu wissen, dass man ohne Grund und nur vorübergehend in eine Welt geschleudert wurde, die ohne eine Erklärung existiert, erzeugt kontinuierlich Leid. Weil der Mensch ein Bewusstsein besitzt, definiert Schopenhauer ihn zugleich als »animal metaphysicum«: »Ohne Zweifel ist es das Wissen um den Tod, und neben diesem die Betrachtung des Leidens und der Noth des Lebens, was den stärksten Anstoß zum philosophischen Besinnen und zu metaphysischen Auslegungen der Welt giebt. Wenn unser Leben endlos und schmerzlos wäre, würde es vielleicht doch Keinem einfallen zu fragen, warum die Welt dasei und gerade diese Beschaffenheit habe; sondern eben auch sich Alles von selbst verstehn.«
Aus dem Französischen von Grit Fröhlich
Schopenhauers Gedanken entwickelten erst nach seinem Tod im Jahr 1860 eine umfassende Wirkung. Sein 1819 veröffentlichtes Hauptwerk »Die Welt als Wille und Vorstellung« gewann vor allem in Kreisen von Künstlern und Literaten großen Einfluss. Beachtung erlangte er posthum auch durch die Übersetzung von Balthasar Graciáns »Orakel der Weltklugheit« sowie seine 1851 erstmals veröffentlichte Aphorismensammlung »Parerga und Paralipomena«.
Zur Einführung in sein Denken eignen sich Rüdiger Safranskis »Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie« (Hanser, 2010) sowie Dieter Birnbachers »Schopenhauer« (Reclam, 2010).
Schopenhauers Philosophie ruft zu kompromissloser Selbsterkenntnis auf und fördert dabei Einsichten zutage, die ganze Forschungszweige öffneten und unser Bild des Menschen bis heute wesentlich bestimmen.
»Wie stark Schopenhauers Einfluss auf die Freud’sche Psychoanalyse ist, zeigt sich allein daran, dass Freud dem Vorgänger immer wieder Reverenz erweist: So würdigt er die ›unvergleichliche Bedeutung‹, die Schopenhauer der Sexualität unter den menschlichen Leistungen zuspricht, und gesteht ihm zu, den Tod als das ›eigentliche Resultat‹ des Lebens gesehen zu haben. Diese Sichtweise übernehmend, spricht Freud ganz ausdrücklich davon, in den ›Hafen der Philosophie Schopenhauers eingelaufen‹ zu sein. Eine wichtige Übereinstimmung besteht überdies darin, dass sich Schopenhauers Wille ebenso wie Freuds Trieb als erkenntnisloser, ›blinder, unaufhaltsamer Drang‹ angeschrieben finden, der in sich entzweit ist und aus einem Mangel hervorgeht. Vor allem aber ist es die Idee des Todes als dem absoluten Nichts, als Nirvana, an der sich der Begründer der Psychoanalyse mit seinem Konzept des Nirvanaprinzips explizit orientiert.
Gleichwohl sind Freuds und Schopenhauers Vorstellungen vom Wesen der Geschlechtlichkeit, der Sexualität, des Todes keinesfalls identisch, noch lassen sich die seelischen Triebe, die für Freud das Unbewusste regieren, mit Schopenhauers Willensstrebungen zur Deckung bringen. Schopenhauers Todeskonzeption kann Freud gerade dort nicht teilen, wo der Philosoph hinduistisch inspiriert den Tod als Ruhe und Befreiung bringendes Ende verheißt, das zu ›unerschütterlicher Zuversicht und Heiterkeit‹ im Leben führt. Vielmehr macht Freud den (keineswegs heiteren) Widerstreit von Eros und Thanatos, von Lebens- und Todestrieb, geltend; wie ihr Kampf ausgeht, hängt für Freud auch von den kulturellen Bedingungen ab. Weit entfernt davon, todessehnsüchtige Erlösungswünsche zu hegen, ging es Freud darum, das Leben zu würdigen.«
Edith Seifert ist Psychoanalytikerin in Berlin und Privatdozentin an der Universität Innsbruck. Zuletzt erschien ihr Buch »Seele – Subjekt – Körper. Freud mit Lacan in Zeiten der Neurowissenschaft« (Psychosozial-Verlag, 2008).
»Allein der Name: Schopenhauer, Scho-pen-hauer, Schopen-hauer! Wie geschaffen für einen Dramatiker, man möchte am liebsten jede Figur auf dem Theater SCHOPENHAUER sagen lassen, so viel Rhythmus, so viel Tiefe schwingt da mit. Man müsste die Schauspieler am besten auch noch SCHOPENHAUER zitieren lassen! Es ist kein Zufall, dass seine Werke die Literatur des 20. Jahrhunderts tief geprägt haben. Thomas Bernhard! Thomas Mann und Franz Kafka, Karl Kraus und Michel Houellebecq. Und dies zeigt bereits, für welche Weltanschauungen Schopenhauer als Zeuge taugt: die der ästhetischen Befreiung, der labyrinthischen Sinnlosigkeit, des männlichen Hasses auf die Frauen und damit des eigenen Geschlechtstriebs. Das sind natürlich hochdramatische, epische Themen. Als Dramatiker geht es ja, wie in der Philosophie Schopenhauers, oft darum, die wahren Beweggründe unseres Handelns erahnen zu lassen. Und es gibt keine bessere Schule, den kranken Narzissmus unserer Zeit auszuloten, als Schopenhauer zu lesen. Und diese Aphorismen! ›Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft!‹ Das ist von Schopenhauer oder Schleiermacher oder Grillparzer, aber ich bin überzeugt, es sagte Schopenhauer! Proust musste nur diesen Satz lesen, um seine berühmte Figur Swann zu erfinden! Und Humor hat der Schopenhauer ja auch noch! Manchmal sitze ich auf meinem Vulkan in Lanzarote und lasse mir von Schopenhauer erklären, wie absolut sinnlos und ausweglos unsere Existenz doch ist …«
Moritz Rinke ist einer der meistgespielten Dramatiker Deutschlands. Sein Romandebüt »Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel« (Kiepenheuer & Witsch, 2010) war ein gefeierter Bestseller. In seinem aktuellen Theaterstück »Wir lieben und wissen nichts« thematisiert Rinke das moderne Paar.
»Empathie ist ohne Frage eine der herausragendsten menschlichen Fähigkeiten. Wie neuere Forschungen nahelegen, hat sie uns aus evolutionärer Sicht vermutlich erst zum Menschen gemacht. Empathie besteht darin, die Gefühle eines anderen Wesens zu verstehen und in ihrer jeweils subjektiven Relevanz bewerten zu können. Das klingt einfach, doch die Gefühle eines anderen zu verstehen bedeutet auch, sie selbst nachzuvollziehen und damit in einem gewissen Grade mitzuerleben. Wo liegt dann aber die Grenze zwischen meinen Gefühlen und Gedanken und denen eines anderen?