Barbara Wood
Die Prophetin
Roman
FISCHER E-Books
Barbara Wood wurde in Warrington in England geboren. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem älteren Bruder zog sie in die Vereinigten Staaten und wuchs in Südkalifornien auf. Barbara Wood studierte an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara Französisch und Anthropologie. Sie brach jedoch schon nach dem ersten Jahr ab, um zu reisen und die Welt zu sehen.
Während dieser Zeit arbeitete sie in zahlreichen Jobs, unter anderem als Kellnerin, Sekretärin, Telefonistin und Hunde-Sitterin, bevor sie 1976 ihren ersten Roman veröffentlichte. Ein paar Jahre zuvor lernte sie ihren Ehemann George kennen, während sie als technische Assistentin im OP-Bereich eines Krankenhauses in Santa Monica arbeitete. Seit 1980 widmet sie sich ausschließlich dem Schreiben.
Barbara Wood begann sehr früh Geschichten zu erzählen. Als Kind stellte sie ihre zahlreichen Puppen alle in einer Reihe auf und so wurden diese zu ihrem unfreiwilligen Publikum. Das Schreiben war ihre große Leidenschaft, was sich auf ihre schulischen Leistungen nicht gerade positiv auswirkte. Im Alter von 16 Jahren verfasste sie ihr erstes Romanmanuskript. Es hatte einen Umfang von 300 Seiten und war eine mühsam mit der Hand geschriebene Romanze, die im alten Ägypten spielte. Der Text war – wie sie selbst zugibt – einfach furchtbar.
Das Werk von Barbara Wood umfasst 16 Romane mit einer deutschen Gesamtauflage von über 12 Millionen Exemplaren. Sie ist eine internationale Bestsellerautorin, und ihre Bücher wurden in 30 Sprachen übersetzt. Sie entführt ihre Leser in exotische Länder wie Australien, Kenia oder Ägypten, und vermittelt dabei viele Informationen über Kultur und Traditionen dieser Länder.
Barbara Woods Recherchen für ihre Bücher führten sie bereits um die ganze Welt. Sie hat jedes Land, über das sie geschrieben hat, auch besucht. Unbedingt noch kennen lernen möchte sie auf jeden Fall Indien, und kann selbst kaum glauben, dass sie dort noch nicht gewesen ist.
An einem typischen Arbeitstag steht Barbara Wood um fünf Uhr morgens auf, macht sich einen starken Kaffee und schreibt kontinuierlich durch bis zum späten Nachmittag. Die beste Zeit für sie zu schreiben ist jedoch der frühe Morgen. An ihren freien Nachmittagen veranstaltet sie virtuelle Lesekurse, kommuniziert per Internet mit Fans und gibt Nachwuchsautoren Tipps zum Schreiben. Sie kann überall schreiben, wenn sie sich inspiriert fühlt, im Wohnzimmer, auf der Terrasse oder in einem Café. Ein neues Buch entsteht nicht unbedingt in der Kapitelabfolge, die später im Roman zu lesen ist, manchmal verfasst sie zunächst das Ende, und arbeitet anschließend darauf hin. Wenn man Barbara Wood fragt, mit welcher ihrer Hauptfiguren sie sich am meisten identifizieren kann, so antwortet sie, dass es stets diejenige des Romans sei, an welchem sie gerade arbeitet. Ihre Webseite: www.barbarawood.com
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Der große Jahrtausendwende-Roman von Barbara Wood. Im Jahre 1999 entdeckt die junge Archäologin Catherine Alexander Schriftrollen aus der Zeit des frühen Christentums. Auf der ganzen Welt steigt das »Jahrtausendfieber«. Die Menschen stürzen sich auf die Aussagen und Prophezeiungen der Schriftrollen über das ewige Leben und das Letzte Gericht. Aus ganz anderen Gründen hat der Vatikan die Brisanz dieser Schriftrollen erkannt: Die Texte geben Grund für erhebliche Zweifel an der Stellung des Papstes und der ausschließlich männlichen Priesterschaft. Mit der Jagd von Catherine auf die letzte noch fehlende Schriftrolle beginnt gleichfalls die Jagd auf sie und ihren Beschützer Pater Michael Garibaldi.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung: Getty Images
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400297-2
Für Carlos
»Die Nacht neigt sich dem Ende zu, der Tag ist nahe.
Werft ab die Taten der Finsternis und legt an
die Rüstung des Lichts.«
Aus den Stundengebeten
»Ein Kind wird mit dem Glauben geboren.«
Kathryn Lindskoog
Information kennt keine Grenzen.
Universales Hacker-Credo
Der Magus riß der jungen Frau das purpurrote Gewand von den Schultern. Sie saß nackt und gefesselt im silbernen Mondlicht auf dem schweißbedeckten Pferd.
Seinem Gefolge verschlug es den Atem. Die Männer bestaunten schweigend die Schönheit der Frau. Sie glich den Statuen auf dem Markt, denn sie schien ebenso weiß, kühl und vollkommen zu sein. Aber keine Statue hatte wie sie so lange schwarze Haare, die ihr über den Rücken und die entblößten Brüste fielen. Auch das leichte Zittern ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß diese Frau aus Fleisch und Blut war.
Die Fesseln an Händen und Füßen nahmen ihr nichts von ihrer Würde. Einige der Männer wurden unruhig, senkten verlegen die Köpfe.
Der Magus, Herr und Gebieter über die Seelen im Reich, ließ sich von dem Stolz und der Würde seiner Gefangenen nicht beeindrucken. Er hatte mit allen Mitteln versucht, sie zum Sprechen zu bringen. In der Stadt hatte er ihr gedroht, sie bis an ihr Lebensende einzusperren und hungern zu lassen. Er hatte alles versucht, nur ihre Schönheit hatte er nicht angetastet, denn damit hätte er den Kaiser erzürnt.
Doch jetzt befanden sie sich nicht mehr in der Stadt. Er hatte die junge Frau hierher an diese einsame Stelle in der Wüste entführt, um ihr das Geheimnis doch noch zu entreißen. An diesem gespenstischen Ort waren nur Schlangen und Skorpione Zeugen seiner Tat, und der Wüstensand würde jeden Hinweis auf sein Verbrechen unter sich begraben.
Die sechs Reiter waren lange und schnell geritten. Sie hatten die Stadt unbemerkt bei Sonnenuntergang verlassen und waren durch die vom Mond beschienene Einöde galoppiert, als seien Dämonen hinter ihnen her. Die Legionen des Kaisers waren weit entfernt, und niemand folgte ihnen.
Erst als sie die Stelle an der verlassenen Küste erreichten, wo bizarre Felsen in den kalt funkelnden Sternenhimmel ragten, hielten sie an. Der Magus wußte: Hier hausten nur die Geister und Dämonen der Finsternis.
Er hatte in den alten Schriftrollen von dem tiefen Brunnen gelesen, aus dem nach der Überlieferung das Volk Israel während der vierzigjährigen Wanderschaft einst Trinkwasser geschöpft hatte. Der Brunnen war längst versiegt. Nur ein dunkles, tiefes Loch war geblieben.
Auf dem siebten Pferd saß die Gefangene. Die zierliche Stute hatte nach dem langen Ritt blutige Nüstern. Als die Männer den Weidenkorb losbanden und die gefesselte Frau aus dem Sattel hoben, wieherte das Pferd und brach tot zusammen.
Die Männer befestigten den Korb an einem langen Seil, und einer von ihnen murmelte ein Gebet, während sie ihn langsam in die Tiefe ließen. Als der Korb mit einem dumpfen Geräusch den Boden des Brunnens erreichte, führten sie die Frau an den Brunnenrand, wo der Magus stand und sie mit seinen Blicken durchbohrte.
»Ich frage dich noch einmal«, sagte er drohend und stieß mit dem Stab seiner Macht dreimal auf den Boden. »Wo ist die siebte Schriftrolle?«
Die Gefangene gab wieder keine Antwort. Wie in den vergangenen Wochen blieb sie stumm, als habe sie seine Worte nicht gehört. Und diesmal glaubte er, in ihren grünen Augen ein herausforderndes Funkeln zu sehen.
Der Magus zitterte wie die Gefangene, aber nicht vor Kälte, sondern vor kaum unterdrückter Wut.
Er war der letzte in der langen Reihe der Magi und wußte sehr wohl, daß die Tage seiner Macht gezählt waren. Die Klarheit des Wissens um das Unsichtbare, das alles Leben hier auf Erden lenkt, entzog sich ihm immer mehr. Wie sollte er der zuverlässige Ratgeber des Volkes und des Kaisers sein, wenn er die Zauberkräfte seiner Vorfahren nicht mehr besaß, denen die Götter die Macht des Wissens um das Unsichtbare geschenkt hatten? In der siebten Schriftrolle, das hatte der Magus nach dem Lesen der anderen sechs erfahren, stand die Offenbarung des neuen Glaubens. Die siebte Schriftrolle würde ihm den Weg zu den Unsterblichen weisen. Dann wäre seine Macht nicht zu erschüttern, denn dann wäre er es, der das Schicksal lenkte. Wenn er mit Hilfe dieser Frau die siebte Rolle fand, dann konnte er Wunder wirken, Tote zum Leben erwecken und Kranke heilen. Er würde das Ende der Welt aufhalten und als der wahre Herrscher neben dem Kaiser gelten.
Den Schlüssel zu allem, wonach er strebte, besaß diese junge Frau. Nur mit dem geheimen Wissen der siebten Schriftrolle würden sich die Worte der Verheißung an ihm erfüllen. Dann erhielte er das ewige Leben als Lohn für seine lange Suche.
Die Gefangene kannte das Versteck, aber sie schwieg. Wenn er die Rolle nicht fand, würde er in Ungnade fallen, in Vergessenheit versinken, und alle seine Bemühungen und die seiner Vorgänger wären gescheitert. Er würde den Mächten der Finsternis verfallen, denen er sich geweiht hatte, um das Geheimnis der unsichtbaren Welten zu enträtseln.
Der Magus hatte sich davon überzeugt, daß seine Gefangene schwach und hilflos war. Sie konnte die Macht, die die Worte des Lichts dem Eingeweihten verliehen, nicht nutzen. Im Grunde war ihr Martyrium sinnlos.
Aber ihr beharrliches Schweigen war für ihn so endgültig wie der Tod. Er glaubte sich fast am Ziel seiner Wünsche und konnte doch an ihrer Entschlossenheit nichts ändern.
Sie verachtete ihn, weil er mit den Menschen spielte, als seien sie nichts als Puppen. Sie mißtraute ihm, denn er war korrupt und intrigant. Er hatte keine Achtung vor dem Leben, tötete jeden, der ihm mißfiel. Der Magus war ein Sklave des Todes. Sie aber diente dem Licht.
»So sei es!«
Er hob die Hand und befahl den Männern mit einer knappen Geste, ihr frevelhaftes Werk zu tun.
Sie packten die junge Frau mit brutalen, gefühllosen Händen. Aus ihren Blicken sprachen Lüsternheit und Gier, als sie ihr ein Seil über den Oberkörper streiften und unter Armen und Brüsten festzogen, um sie langsam in den Brunnen hinablassen zu können.
»Du wirst nicht verletzt werden und schnell sterben!« rief der Magus mit kalter Stimme. »Du sollst lange in deinem dunklen Gefängnis am Leben bleiben. Du wirst bald jeden Stein, jede Spalte und alles Grauen der Dunkelheit kennen. Wenn die Sonne hoch am Himmel steht, wird die Luft zum Verdursten trocken sein, und in den kalten Nächten wird der Frost dich erstarren lassen. Deine Qualen werden mit jeder Stunde wachsen, bis sie über jedes erträgliche Maß hinausgehen. Deine Einsamkeit wird größer und erschreckender sein als der Tod. Du wirst schreien, aber niemand wird dich hören. Und am Ende wird dein Körper die Beute blutgieriger Wesen werden.«
Er machte einen Schritt auf sie zu und hob den Stab seines Amtes, vor dem in früheren Zeiten das ganze Volk in Ehrfurcht zu Boden gesunken war, dem sich jetzt aber nur noch die wenigen Männer und Frauen seiner Gefolgschaft hier und in der Stadt beugten.
»Ich frage dich zum letzten Mal«, flüsterte er, »wo ist die siebte Schriftrolle? Wenn du es mir sagst, schenke ich dir die Freiheit.« Sie gab keine Antwort.
»Sag mir wenigstens das eine: Hast du die Rolle mit eigenen Augen gesehen?«
Zum ersten Mal, seit er die Frau in seine Gewalt gebracht hatte, öffnete sie den Mund. Es klang fast wie ein Seufzen, als sie antwortete.
»Ja …«
Der Magus zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Er glaubte an die Unsterblichkeit, an das ewige Leben, wie es Osiris geschenkt worden war. Der Leib des Gottes war in Stücke gerissen und über ganz Ägypten verteilt worden. Aber Isis hatte alle Teile gefunden, den zerstückelten Körper wieder zusammengefügt und ihm den Atem des Lebens eingehaucht. Auf diese Weise hatte sie den Geliebten wieder zum Leben erweckt.
In ohnmächtigem Zorn ballte der Magus die Faust und hob sie zum Himmel. »Wenn ich das Geheimnis nicht kennen darf, dann soll es den Sterblichen auf der Erde bis in alle Ewigkeit verborgen bleiben!«
Seine Männer hoben die Frau hoch und ließen sie Stück für Stück in den Brunnen hinab. Die rauhen Steine schürften die makellose zarte Haut, und Blut floß über ihren Rücken. Als ihre Schönheit in der Schwärze des Brunnenschachts verschwand, schlug der Magus mit dem goldenen Stab auf den kalten Stein und rief: »Bei der Macht, die dieser Stab mir verleiht, den mir mein Vater übergab, so wie ihm die Macht von seinem Vater anvertraut wurde und allen, die vor ihm kamen, bis zurück in die Zeit, als die Unsterblichen noch auf der Erde wandelten, verfluche ich diese Frau und die sechs Schriftrollen des neuen Glaubens, die ich hier mit ihr begraben lasse, damit das Geheimnis des Lebens auf immer den Menschen verborgen bleibe. Kein Sterblicher soll sie lesen und das Rätsel der Unsterblichen lösen. Wer diesen Brunnen findet, sei verflucht!«
Ein Reiter erschien unter den zerklüfteten Klippen. Er zügelte sein Pferd weit genug vom Lager der Männer entfernt, daß niemand ihn hörte. Dann saß er ab, schlich sich unbemerkt näher und schnitt mit dem Dolch den Schlafenden so schnell die Kehlen durch, daß keinem der fünf Männer Zeit blieb, einen letzten Schrei auszustoßen.
Als dies gelungen war, drang er in das Zelt des Magus ein, denn er hoffte, dort seine Geliebte zu finden. Aber sie war nicht da.
Er fesselte den Magus und hielt ihm den Dolch an die Kehle. Der Alte wehrte sich nicht. Er sah den jungen Mann nur wissend und in sein Schicksal ergeben an.
»Du wirst sie nicht finden, und du kannst sie nicht retten.«
Aus Zorn und in ohnmächtiger Verzweiflung stieß der junge Mann dem Magus den Dolch ins Herz. Das rote Blut tränkte das seidene Kissen.
Er verließ das Lager und machte sich auf die Suche nach seiner Geliebten. Er ritt am felsigen Ufer entlang und folgte den ausgetrockneten Wasserläufen. Er hob den Kopf und blickte hinauf zu den Sternen, als suche er sie auch dort.
Dann hörte er plötzlich einen erstickten Laut in der stillen Nacht. Er irrte durch die Dunkelheit. Schließlich fand er das tote Pferd und in der Nähe das purpurrote Gewand. Und er entdeckte den Brunnen. Er lauschte. Er rief ihren Namen. Er hörte ein Stöhnen. Der junge Mann wendete seinen Hengst, galoppierte zum Lager zurück und holte ein Seil. Als er den Brunnen wieder erreicht hatte, schlang er ein Ende des Seils um einen Felsen und kletterte in die Tiefe.
Sein Fuß stieß gegen etwas Weiches, und er wich seitlich aus, bis er den Boden spürte. Dann tastete er in der Dunkelheit nach seiner Geliebten. Er fand sie, und als er feststellte, daß sie nackt war, sank er neben ihr nieder und flüsterte: »Hab keine Angst, Liebste. Wir sind in Sicherheit. Deine Peiniger sind tot. Der Magus ist tot. Gib mir deine Hand, denn ich kann dich nicht sehen.« Er wartete, aber alles blieb still. »Warum gibst du mir keine Antwort?«
Er legte den Kopf auf ihre Brust. Ihr Herz schlug nicht mehr. Ihr Körper war noch warm. Noch vor kurzem hatte sie gestöhnt, aber jetzt war sie tot.
Sein Klageruf hallte dumpf in dem dunklen, tiefen Brunnen und stieg hoch zum Himmel auf. Er hatte seine Zeit damit vergeudet, die Männer und den Magus zu töten, während sie hier einsam und verlassen in dem Brunnen lag und starb.
Seine Hilfe kam zu spät.
Schluchzend kletterte er aus dem Brunnen und holte das reich bestickte purpurrote Gewand, das ihr gehört hatte.
Als er wieder in den Brunnen stieg, hielt er einen Augenblick an, bevor er den Boden erreichte. Kurz entschlossen durchtrennte er mit dem Dolch das Seil. Er fiel auf den Boden, das Seil baumelte außer Reichweite über ihm. Er breitete das Gewand über die inzwischen erkaltete Leiche, legte sich neben sie und nahm sie in die Arme. Seine Tränen wärmten ihr die Haare.
»Du sollst nicht vergebens gestorben sein, Geliebte«, flüsterte er.
»Die Götter sind Zeugen meines Schwurs. Mein Glaube, der sich von deinem unterscheidet, gibt mir die Kraft, dir zu versprechen, daß dein Tod nicht umsonst gewesen ist. Wir werden wieder zusammensein und uns ewig lieben. Das gelobe ich dir.«
Dienstag,
14. Dezember 1999