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Impressum

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel «Silent Voices» bei Macmillan, London.

Redaktion Meike Herrmann

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Silent Voices» Copyright © 2011 by Ann Cleeves

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Foto: Jonathan Kantor Studio/Getty Images; neuebildanstalt/Weber-Decker/Eichhorst)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN 978-3-644-45041-7

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-45041-7

Für Tim

Kapitel Eins

Vera schwamm langsam durchs Becken. Ein älterer Herr, der sich die Badekappe wie ein straff gespanntes Kondom über den Kopf gezogen hatte, kraulte an ihr vorbei. Er schwamm nicht besonders gut und war doch schneller als sie. Im Kosmos des Schwimmens war sie das Faultier. Sie fand es anstrengend genug, ihren massigen Körper überhaupt durchs Wasser zu bewegen.

Das Gefühl von Wasser im Gesicht war ihr zuwider – ein Spritzer, und sie glaubte, sie müsse ertrinken –, deshalb schwamm sie die Bahn langsam in Brustlage und hielt das Kinn ein ganzes Stück über der Wasseroberfläche. Wobei sie vermutlich aussah wie eine riesige Schildkröte.

Es gelang ihr, den Kopf noch ein Stückchen höher zu recken, sodass sie auf die Wanduhr sehen konnte. Gleich Mittag. Bald würden die rüstigen Senioren für den Aqua-Aerobic-Kurs anrücken. Die Frauen mit ihren lackierten Zehennägeln, den geblümten Badeanzügen und jener selbstgefälligen Gewissheit, zur letzten Generation zu gehören, die noch ohne größere Einbußen früh in Rente gehen konnte. Dann spielte immer laute Musik – die von der hochempfindlichen Lautsprecheranlage und der unerträglichen Akustik der Schwimmhalle allerdings so verzerrt wurde, dass man sie kaum noch als Musik bezeichnen konnte –, und eine junge Frau im Gymnastikanzug schrie herum. Schon den Gedanken daran konnte Vera nicht ertragen. Sie hatte ihre üblichen zehn Bahnen geschwommen. Na gut, acht. Sie konnte sich einfach nichts vormachen, und sollte ihr Leben davon abhängen. Und jetzt, so wie ihr der Atem in den Lungen pfiff, hatte sie tatsächlich das Gefühl, dass ihr Leben davon abhing. Ach, scheiß drauf! Noch fünf Minuten ins Dampfbad, und dann einen extrastarken Latte macchiato und zurück an die Arbeit.

Das mit dem Schwimmen war die Idee ihrer Ärztin gewesen. Vera war zur Routineuntersuchung gegangen und hatte sich gegen die üblichen Vorhaltungen wegen ihres Gewichts gewappnet. Was ihren Alkoholkonsum betraf, da log sie ja immer, aber ihr Gewicht war unübersehbar, das konnte sie nicht verheimlichen. Die Ärztin war noch jung, sie sah aus wie ein kleines Mädchen, das den respekteinflößenden Kittel einer Erwachsenen nur als Verkleidung trug.

«Ihnen ist schon klar, dass Sie sich umbringen?» Sie beugte sich über den Tisch nach vorn, und Vera konnte sehen, dass sie kein Make-up auf der perfekten Haut trug. Sie roch dezent nach Erwachsenenparfum.

«Ich habe keine Angst vor dem Tod», sagte Vera. Sie liebte dramatische Äußerungen, diese aber entsprach vermutlich sogar der Wahrheit.

«Vielleicht sterben Sie ja auch nicht.» Die Ärztin hatte eine klare Stimme, die jedoch ein bisschen zu hoch war, um angenehm zu klingen. «Jedenfalls nicht gleich.» Und dann zählte sie die ganzen scheußlichen Symptome auf, zu denen Veras Völlerei führen konnte. Eine altkluge Musterschülerin, die ihr die Leviten las. «Es wird Zeit, Miss Stanhope, dass Sie anfangen, Ihren Lebensstil ernsthaft zu überdenken.»

Inspector, wollte Vera sagen. Inspector Stanhope. Aber sie spürte, dass ausgerechnet dieses als Ärztin verkleidete Kind sich von ihrer Stellung nicht beeindrucken lassen würde.

Also war Vera Mitglied im Fitness-Club eines großen Hotels vor den Toren der Stadt geworden, und an den meisten Tagen zwackte sie sich eine Stunde von der Arbeit ab und schwamm zehn Bahnen. Oder acht. Nie, dachte sie selbstgerecht, weniger als acht. Sie versuchte, zu einer Zeit zu kommen, wenn das Becken leer war. Frühmorgens und abends kam nicht in Frage. Dann war der Umkleideraum überfüllt mit all den mageren, sonnengebräunten jungen Frauen, die sich an ihre iPods stöpselten und an sämtlichen Geräten im Fitnessraum trainierten. Wie sollte Vera ihre mit Ekzemen übersäten Beine, ihren schwabbeligen Bauch und ihre Cellulitis vor diesen zwitschernden, kichernden Göttinnen entblößen? Hin und wieder warf sie einen schnellen Blick in den Fitnessraum, der mit seinen riesigen Maschinen und den keuchenden, sich windenden Leibern aussah wie eine moderne Folterkammer. Die Männer glänzten vor Schweiß, und sie ertappte sich dabei, dass ihr Anblick sie faszinierte – der Anblick der glatten Muskeln, der kräftigen Schultern und der Füße in Turnschuhen, die auf dem Stepper auf und ab stampften.

Normalerweise kam sie am späten Vormittag in den Fitness-Club, sagte auf der Arbeit, sie hätte ein Meeting, und hetzte hierher. Sie hatte sich einen Club ausgesucht, der ein Stück außerhalb lag; das Letzte, was sie wollte, war, dass jemand, den sie kannte, sie hier sah. Ihren Kollegen hatte sie nichts davon erzählt, und obwohl ihnen möglicherweise aufgefallen war, dass ihre Haut und die Haare nach Chlor rochen, hüteten sie sich doch davor, etwas zu sagen.

Vera erreichte den Beckenrand und hielt sich fest, um wieder zu Atem zu kommen. Sich aus dem Becken zu stemmen, wie es die jungen Frauen taten, war für sie nicht drin. Als sie zur Treppe watete, warf schon jemand die Kette aus Schwimmkork in die Mitte des Pools, um die für den Aqua-Aerobic-Kurs reservierten Bahnen abzugrenzen. Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft.

 

Im Dampfbad duftete es nach Zedernholz und Eukalyptus. Der Dampf war so dicht, dass sie zuerst gar nicht sehen konnte, ob außer ihr noch jemand da war. Es machte ihr nichts aus, das Dampfbad mit anderen Frauen zu teilen – hier konnte ja keine genauer erkennen, wie sie aussah. Vielleicht spürten sie ihre Massigkeit, aber der Rest blieb ihnen verborgen. Doch wenn sie mit einem Mann allein hier drin war, fühlte sie sich merkwürdig verwundbar. Es war nicht die Angst, jemand könnte sie angreifen oder auch nur antatschen oder sich vor ihr entblößen. Sie waren ja bloß durch eine Schwingtür vom Lärm der Schwimmhalle getrennt. Auf einen Schrei hin würde jemand vom Personal kommen, außerdem hatte sie noch nie Angst vor solchen Spinnern gehabt. Aber hier drin herrschte eine Intimität, die ihr Unbehagen bereitete. Wenn sie ein Gespräch anfing, würde sie womöglich Dinge von sich preisgeben, die sie später bereute. Hier, wo man fast nackt war und betäubt von der Hitze und dem Duft, würde eine zufällige Begegnung sie noch dazu verleiten, Vertraulichkeiten auszuplaudern.

Doch im Moment war nur eine andere Frau da, die mit angezogenen Beinen in der Ecke saß, die Füße ruhten auf der Marmorbank. Ihr Kopf war zurückgelehnt, sie sah vollkommen entspannt aus. Vera beneidete sie. Den Zustand vollständiger Entspannung erreichte sie selbst nur selten. Die Mädchenärztin hatte ihr Yoga vorgeschlagen, und Vera hatte es ausprobiert, aber sterbenslangweilig gefunden. In einer Stellung zu verharren, stundenlang, wie es ihr vorkam, flach auf dem Rücken zu liegen, während ihr die Gedanken und Ideen im Kopf herumtobten – wie um alles in der Welt sollte das entspannend sein?

Vera ließ sich behutsam auf dem Marmor nieder, der vom Kondenswasser ganz rutschig war, und machte dabei ein Geräusch wie ein nasser Furz. Die Frau in der Ecke reagierte nicht, wie taktvoll. Vera versuchte, den Kopf nach hinten zu lehnen und die Augen zu schließen, aber die Gedanken an die Arbeit drängten sich vor. Sie hatte gerade keinen Fall, der ihr besondere Sorgen bereitete. Seit Weihnachten war es ungewöhnlich ruhig gewesen. Aber irgendetwas gab es immer: Nörgeleien über die Büropolitik, der Gedanke an einen Hinweis, dem man hätte nachgehen sollen. In Momenten körperlicher Ruhe arbeitete ihr Gehirn wie üblich am heftigsten.

Sie machte die Augen wieder auf und betrachtete die Frau in der Ecke mit neidischem Blick. Der Dampf wirkte jetzt weniger dicht, und Vera sah, dass sie noch nicht alt war, eher in den Vierzigern. Kurzes, lockiges Haar, ein schlichter, blauer Badeanzug. Schlank, mit langen, wohlgeformten Beinen. Und erst da, als ein Luftzug aus dem Nichts den Nebel zerstäubte, wurde Vera klar, dass ihre Gefährtin zu ruhig dasaß und ihre Haut zu blass war. Die Frau, auf die Veras Neid sich gerichtet hatte, war tot.

Kapitel Zwei

Draußen in der Schwimmhalle hatte der Aerobic-Kurs schon angefangen. Es lief Musik, auch wenn man davon nur die hämmernden Bässe wahrnahm. Vera warf einen Blick über die Schwingtür. Die Frauen im Wasser verrenkten sich und wedelten mit den Händen durch die Luft. Vera beugte sich über den Körper der Frau und suchte nach einem Puls, aber schon während sie das tat, wusste sie, dass sie keinen finden würde. Die Frau war umgebracht worden. Im Weiß der Augen sah man rote Pünktchen, und um den Hals waren Blutergüsse. Vera wusste, dass es falsch war, doch ein Stimmchen in ihrem Kopf schrie vor Erregung leise auf. Jetzt zögerte sie. Auf keinen Fall wollte sie eine Massenpanik verursachen. Und außerdem war sie nicht bereit, Ärzte und Kollegen in einem schwarzen Badeanzug zu empfangen, in dem sie aussah wie ein kleiner Sperrballon. Zuerst einmal musste sie sich anziehen.

Eine junge Frau in der Einheitskleidung des Clubpersonals – gelbes Poloshirt und gelbe Shorts – sammelte am Beckenrand gerade Schwimmhilfen aus Styropor ein. Vera winkte sie zu sich heran.

«Ja, bitte?» An einer Nylonschnur um den Hals der jungen Frau hing ein Namensschild: Sie hieß Lisa.

Lisa warf die Schwimmhilfen auf einen Haufen und setzte ein professionelles Lächeln auf.

«Im Dampfbad liegt eine Tote.» Der Lärm im Hintergrund war so laut, dass Vera nicht befürchten musste, jemand könnte sie hören.

Aber die junge Frau hatte sie gehört. Ihr Lächeln verschwand. Lisa starrte sie an, sprachlos und entsetzt.

«Ich bin von der Polizei», sagte Vera. «Detective Inspector Stanhope. Bleiben Sie hier stehen. Gehen Sie nicht hinein und lassen Sie auch niemanden sonst hineingehen.» Immer noch keine Antwort. Lisa starrte sie weiterhin an. «Haben Sie mich verstanden?»

Lisa nickte – offenbar noch immer unfähig, etwas zu sagen.

Der Umkleideraum war fast leer, schließlich war der Aerobic-Kurs noch nicht zu Ende. Vera nahm ihr Handy aus dem Schließfach und rief Joe Ashworth an, ihren Sergeant. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie lügen sollte. Ich habe einen Kaffee an der Bar getrunken, und jemand vom Personal hat mich heruntergerufen, als sie die Leiche entdeckt haben. Aber das ging natürlich nicht. Sie hatte im Dampfbad geschwitzt, geniest. Ihre DNA würde dort sein. Neben der DNA zahlloser anderer Mitglieder des Fitness-Clubs. Und davon ganz abgesehen, wie oft hatte sie sich nicht schon über die kleinen Lügen aufgeregt, die Zeugen erzählten, um peinliche Dinge zu vertuschen?

Mit der freien Hand zog Vera sich ihren Schlüpfer an. Wenn der Kurs erst mal vorbei war, würden die Leute Schlange stehen, um ins Dampfbad zu gehen, und sie war sich nicht sicher, ob die Kleine in Gelb das Zeug dazu hatte, die Menge aufzuhalten.

Ashworth meldete sich.

«Ich habe hier einen verdächtigen Todesfall», sagte sie. Sie brauchte ihm ja nicht gleich zu erzählen, wie sie in die Sache verwickelt war. Rasch skizzierte sie ihm die Einzelheiten. «Veranlassen Sie alles Nötige und kommen Sie dann her.»

«Kann es denn kein natürlicher Tod gewesen sein? Die Hitze, die Anstrengung, da denkt man doch gleich an einen Herzinfarkt. Vielleicht hat ja einer von den Leuten im Fitness-Club zu viel Krimis im Fernsehen gesehen? Hat zwei und zwei zusammengezählt und fünf herausgekriegt?»

«Die arme Frau ist erdrosselt worden.» Vera wusste, dass es unsinnig war, aber irgendwie erwartete sie, dass Ashworth ihre Gedanken lesen konnte, und wurde dann jedes Mal ungehalten, wenn sich herausstellte, dass dem nicht so war. Nur: Hätte sie ihn wirklich wegen eines Herzinfarkts alarmiert?

«Ich bin sowieso in der Gegend», sagte er. «In dem Gartencenter gleich die Straße runter, um ein Geburtstagsgeschenk für meine Mutter zu besorgen. Bin in zehn Minuten da.»

Sie legte auf und zog sich fertig an. Irgendwie war ihr Rock auf den Badeanzug gefallen und hatte jetzt hinten einen nassen Fleck. Es sah aus, als hätte sie in die Hose gemacht. Leise fluchend ging sie zurück in die Schwimmhalle, wobei sie über die Fußbecken hinwegstieg und missbilligende Blicke auf sich zog. Menschen in Straßenkleidung gehörten hier nicht hin. Sie musste den Geschäftsführer suchen, wollte aber am Tatort bleiben. Der Aerobic-Kurs erreichte gerade seinen Höhepunkt. Eine Schlange tänzelnder Damen – mit einem oder zwei Herren darunter – kreiste durch das Becken. Die Musik verstummte, und die Schlange löste sich in einen lachenden, schwatzenden Haufen auf. Die Frau im Gymnastikanzug rief in ihr Mikrophon, dass sie alle sehr gut gewesen seien, sie freue sich darauf, sie beim nächsten Mal wiederzusehen.

Vera ergriff die Gelegenheit und schnappte sich das Mikrophon aus der Hand der Kursleiterin. Dann hielt sie einen Moment lang inne. Sie hatte es schon immer genossen, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie wusste genau, dass die Leute sie für eine Schießbudenfigur hielten, aber das war ihr lieber, als wenn man sie gar nicht beachtete.

«Ladys und Gentlemen.»

Die Leute starrten sie an, augenscheinlich verwirrt von dieser Frau, die so ganz offensichtlich nicht hierher gehörte. Was ging da vor sich? Vielleicht eine Demonstration? Die Demokratische Front der Fetten, die auf ihr Recht pochten, ungesund zu leben? So zumindest schätzte Vera ihre Reaktion ein. Aber sie war angezogen, und das verlieh ihr eine gewisse Überlegenheit. Von hier oben aus konnte sie die faltigen Hälse und die Schwabbelarme sehen; sie schaute hinunter auf die gefärbten Haare, die Scheitel, an denen die Farbe langsam herauswuchs.

«Ich bin Inspector Vera Stanhope von der Polizei Northumbria.» Als sie aufblickte, sah sie Joe Ashworth mit einem Mann im Anzug, von dem sie annahm, dass er zur Hotelleitung gehörte, aus den Umkleiden kommen. Er war sogar noch schneller gewesen, als sie erwartet hatte. «Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass es einen unerwarteten Todesfall im Club gegeben hat. Ich möchte Sie um Ihre Mithilfe in der Sache bitten. Bitte gehen Sie zu den Umkleideräumen. Sobald Sie angezogen sind, warten Sie bitte kurz in der Lounge, bis wir ein paar Auskünfte von Ihnen aufgenommen haben. Wir werden versuchen, Ihnen so wenig Unannehmlichkeiten zu bereiten wie nur möglich, aber es kann sein, dass wir noch einmal Kontakt mit Ihnen aufnehmen müssen.» Sie schaute über das Becken zu Ashworth und dessen Begleiter. Beide nickten, um zu zeigen, dass auch sie verstanden hatten, was sie von ihnen erwartete.

Langsam leerte sich der Pool. Alle waren neugierig und aufgeregt. Wie ein Rudel Schulkinder, dachte Vera. Zumindest würde sich niemand über die Warterei beschweren, bis die Aussagen aufgenommen waren. Sie hatten alle viel zu viel Zeit und nicht genug Aufregung in ihrem Leben. Schwer zu glauben, dass einer von ihnen vielleicht ein Mörder war.

Ashworth kam um das Becken herum zu ihr, gefolgt von dem Mann im Anzug. Der Fremde war jung und beflissen, klein, federnd und kugelig. Sie hatte erwartet, die Hotelleitung könne sich querstellen: Mord war vielleicht nicht so gut fürs Geschäft; aber der Mann hier schien genauso aufgeregt zu sein wie die Rentner im Pool. Er wippte auf den Fußballen und rieb die Hände aneinander. Auf Vera machte es den Eindruck, als würde er sich ausmalen, was für eine tolle Geschichte er seiner Süßen erzählen konnte, wenn er heute Abend nach Hause kam, und dass sein Bild hoffentlich in den lokalen Fernsehnachrichten gezeigt würde. Heutzutage hoffte eben jeder auf seinen persönlichen Augenblick des Ruhms.

«Das ist Ryan Taylor», sagte Ashworth. «Stellvertretender Geschäftsführer.»

«Kann ich irgendetwas für Sie tun, Inspector?»

«Aye. Organisieren Sie Tee und Kaffee. Reichlich Tee und Kaffee, und servieren Sie das in der Lounge. Mit ein paar Keksen. Und Sandwiches. Wir werden die Leute lange warten lassen müssen, und es ist schon Zeit fürs Mittagessen. Wir sollten sie bei Laune halten.»

Taylor zögerte.

«Sie müssen es Ihnen nicht umsonst geben», sagte sie, denn sie erriet, was er dachte. «Die Beiträge hier sind so hoch, da machen die Leute auch noch ein paar Kröten für einen anständigen Kaffee locker.»

Sein Gesicht hellte sich auf. Der Tod einer fremden Frau stellte keine allzu große Tragödie für ihn dar, dachte Vera. Er sah eher eine Gelegenheit, das Hotel ins Gespräch zu bringen. Sie hatte erwartet, dass er sie jetzt allein lassen würde, aber er trat nur ein paar Schritte beiseite und sprach in das Walkie-Talkie, das er an seinem Gürtel trug.

Lisa stand immer noch vor der Tür des Dampfbads. Sie sah blass aus. Vera fragte sich, ob sie wohl hineingeschaut hatte. Bei einem so jungen Mädchen hätte Vera eher eine Reaktion wie die des Hotelleiters erwartet. Der Tod kam ihr doch bestimmt noch ganz unwirklich vor. Mehr wie der Auftakt eines Fernsehkrimis.

«Haben Sie irgendetwas angefasst?», fragte Vera. «Das wäre kein Problem. Aber Sie müssen es mir sagen, wegen der Fingerabdrücke. Sie wissen schon.» Doch sie würden nur außen auf der Tür Fingerabdrücke finden, dachte sie. Drinnen mit dem ganzen Dampf war es völlig aussichtslos. Das Pulver für die Fingerabdrücke würde sich nur in Brei verwandeln.

Schließlich sagte Lisa mit dünner, ängstlicher Stimme: «Nein, ich habe nichts angefasst.»

«Geht’s Ihnen gut, Herzchen?»

Die junge Frau riss sich sichtlich zusammen und lächelte. «Ja, klar.»

«Haben Sie schon den ganzen Tag hier Dienst?»

«Seit acht Uhr morgens.»

Vera zog sich ein Paar Latex-Handschuhe an. Die hatte Joe ihr vorhin gegeben. Joe war ein richtiger Pfadfinder, allzeit bereit. Als sie auf ihre Finger sah, fiel ihr der alte Mann mit der Badekappe wieder ein. Ob sie ihn wohl erkennen würde, wenn er seine Hose anhatte? Vielleicht ja nicht. Sie machte die Tür zum Dampfbad auf. «Werfen Sie ruhig einen Blick hinein», sagte sie. «Keine Sorge. So grausig sieht es nicht aus. Aber ich wüsste gern, ob Sie sie wiedererkennen. Das könnte uns eine Menge Zeit ersparen.» Joe Ashworth, der hinter Lisa stand, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, missbilligend und empört. Er hielt Frauen für zarte Pflänzchen, die ohne seinen Schutz nicht überleben würden.

«Ich kenne eigentlich keinen von den Gästen mit Namen», sagte Lisa. «Da im Becken kennt man die Leute nicht. Das ist was anderes, wenn man einen Kurs leitet.»

«Aber Sie können uns doch vielleicht sagen, ob sie regelmäßig hierhergekommen ist. Vielleicht war sie ja auch in einem von Ihren Kursen.»

Lisa zögerte, dann warf sie einen Blick ins Dampfbad.

«Und, kommt sie Ihnen bekannt vor?», fragte Vera. Was hatte die Kleine bloß? Vera konnte diese verweichlichten jungen Frauen einfach nicht ertragen.

«Ich bin mir nicht sicher. Die schauen doch alle irgendwie gleich aus, finden Sie nicht?» Und Vera nahm an, dass das stimmte. So wie alle dürren jungen Frauen für sie gleich ausschauten.

«Kann man den Dampf vielleicht abschalten?» Vera hatte keine Ahnung, was Dampf und Hitze mit einer Leiche so anstellten, aber dass sie zu ihrer Konservierung beitrugen, glaubte sie nicht. «Ohne reinzugehen, meine ich.»

Taylor hopste zu ihr herüber. «Sicher, ich leite das sofort in die Wege.» Er zögerte. «Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie behilflich sein?»

«Ich nehme an, sie ist heute Morgen hier ums Leben gekommen», sagte Vera. «Ich meine, das Dampfbad ist gestern Abend doch bestimmt gereinigt worden. Wenn sie da schon dort gesessen hätte, wäre das doch jemandem aufgefallen.»

«Ja, sicher. Natürlich.»

Aber seine Worte kamen ihr gezwungen vor. «Wirklich? Das hier ist eine Mordermittlung. Ich will nicht überprüfen, wie Sie es mit der Hygiene halten.»

«Wir hatten Probleme mit dem Reinigungspersonal. Ein paar von den festangestellten Mädchen sind krankgeschrieben. Ich habe eine Aushilfe angeheuert, aber der ist nicht gerade der Tüchtigste. Das heißt nicht, dass er hier gar nicht sauber gemacht hat, aber es würde mich nicht wundern, wenn er sich früh aus dem Staub gemacht hätte.»

«Wo haben Sie den her?» Vera versuchte, nicht allzu gespannt zu klingen, aber sie verspürte einen Anflug von Interesse. Ein neuer Mitarbeiter. Eine tote Kundin. Da musste es nicht zwingend einen Zusammenhang geben, aber es würde das Leben doch beträchtlich erleichtern, wenn die Putzhilfe schon einmal für den Mord an einer Frau Mitte vierzig verurteilt worden wäre. Oder wenn sich herausstellte, dass das Opfer seine von ihm getrennt lebende Ehefrau war.

«Er ist der Sohn von unserer Empfangsdame. Ein Student, der über die Semesterferien nach Hause gekommen ist.»

«Verstehe.» Sie hätte wissen sollen, dass das Leben so einfach nicht sein konnte. «Ich muss mit ihm sprechen. Und mit all Ihren Mitarbeitern, die gerade Dienst hatten.» Sie würde lieber die Mitarbeiter befragen. Das fidele Rudel Senioren würde sie Ashworth überlassen, der die Geduld eines Heiligen besaß. «Sie haben doch bestimmt eine Liste mit allen Mitgliedern des Fitness-Clubs, die heute da waren?»

Das Zugangssystem lief über Karten mit Magnetstreifen. Vera nahm an, dass jede dieser Karten einen eigenen Chip besaß und nicht bloß das Drehkreuz öffnete.

«Aye», sagte er, aber wieder klang er nicht sonderlich überzeugt. «Die gesamte IT wird von der Hauptgeschäftsstelle in Tunbridge Wells aus gesteuert. Ich vermute mal, dass die so eine Liste haben.»

Vera beschloss, Holly darauf anzusetzen. Es würde ziemlich öde sein, am Telefon zu hängen, während irgend so ein Nerd seine Zauberkunststückchen am Computer vollführte. Holly, die erst kürzlich zum Detective Constable ernannt worden war, war jung und hübsch und vergnügt, und der Nerd würde ihr beweisen wollen, wie schlau er war, selbst, wenn er nur am Telefon mit ihr sprach. Holly war auch dafür bekannt, ein bisschen arrogant zu sein, und hin und wieder gab Vera ihr langweilige Aufgaben, um sie in die Schranken zu weisen.

«Kann man auch als Nicht-Mitglied in die Schwimmhalle gelangen?»

«Theoretisch nicht», sagte Taylor. «Außer, jemand ist Gast eines regulären Club-Mitglieds. In solchen Fällen bitten wir das Mitglied, die eigene Karte am Empfang vorzuzeigen und den Gast einzutragen.»

Vera ging im Kopf ihre eigenen Besuche im Fitness-Club noch einmal durch. Sie hatte es immer eilig, zog die Plastikkarte oft falsch herum durch den Scanner, sodass das Drehkreuz blockierte, ließ dann ihr Handtuch fallen, weil sie so gehetzt war, und hielt die Leute hinter sich auf. Aber für gewöhnlich saß eine gelb gekleidete Frau am nahe gelegenen Empfangstisch, die ihr half.

«Sie sagen, ‹theoretisch nicht›. Wie sieht es denn praktisch aus?», fragte sie. «Wie schwer wäre es für einen Betrüger, hier reinzukommen?»

«Kinderleicht. Man müsste wissen, wie das System funktioniert, aber es gibt auch Wege, es zu umgehen.»

«Zum Beispiel?» Irgendetwas an diesem rundlichen kleinen Mann begann sie zu reizen. Vermutlich seine gute Laune, dachte sie. Den Mann brachte offenbar nichts aus dem Konzept. Fröhliche Menschen gingen ihr echt auf den Geist.

«Na ja, Sie könnten behaupten, Sie hätten Ihre Karte vergessen. Das passiert den Leuten ständig. Wir würden Sie dann bitten, sich einzutragen, aber wir gleichen Ihre Unterschrift nicht mit der Mitgliederliste ab. Karen am Empfang würde Sie einfach durchlassen.»

«Man könnte sich also als Sonstwer eintragen?»

«So ziemlich.»

«Wie kann man das System sonst noch umgehen?»

«Sie könnten sich die Karte von einem Freund borgen. Wir nehmen an, dass das ständig passiert, vor allem bei den jüngeren Mitgliedern. Auf den Karten ist zwar ein Foto, aber das schauen wir normalerweise nicht an. Es ist hauptsächlich zur Abschreckung da.» Dass das System zum Austricksen geradezu einlud, schien ihm herzlich wenig auszumachen – er schien das eher lustig zu finden.

«Großartig», sagte Vera. «Verdammt großartig.» Aber in Wahrheit hatten die Komplikationen dieses Falls sie schon gepackt. Sie war eine gute Ermittlerin. Sie bekam nur zu selten die Möglichkeit, das auch zu beweisen.

Kapitel Drei

Connie wartete im Schein der Frühlingssonne vor dem Gemeindesaal. Am Flussufer auf der anderen Straßenseite blühten büschelweise Schlüsselblumen. Es gab eine Zeit, da hätte sie das idyllisch gefunden: die Sonne, die Kinderstimmen, die durch die offenen Fenster des Saals drangen, das Vogelgezwitscher in den Büschen am Bach und den Bäumen am Kirchhof. Nach einem schneereichen, regnerischen Winter tat es gut, blauen Himmel zu sehen. Aber heute fühlte sie nur wieder die Anspannung, die jedes Mal in ihr aufstieg, wenn sie Alice von der Spielgruppe abholte.

Nun kamen auch die anderen Mütter angeschlendert. Connie achtete stets darauf, als Erste an der Halle zu sein. Sie war den abgewandten Gesichtern nicht gewachsen, dem falschen, mitleidigen Lächeln und der darauf folgenden anklagenden Stille, die genau so lange anhielt, wie sie brauchte, um an den wartenden Frauen vorbeizugehen und sich in der Schlange einzureihen.

Die Leiterin der Spielgruppe öffnete die Tür, und Connie ging vor allen anderen hinein. Am besten holte sie nur rasch ihre Tochter und verschwand wieder.

Alice saß auf der Matte, im Schneidersitz und mit durchgedrücktem Rücken. Sie erblickte ihre Mutter und strahlte sie an, behielt ihre Haltung aber bei. Streng dich nicht so an, meine Süße, hätte Connie am liebsten gesagt. Es kann dir doch egal sein, was die anderen von dir denken. Aber Alice wollte, dass die anderen Kinder sie mochten, und sie wollte den Frauen gefallen, die die Gruppe leiteten. Nur nachts ließ ihre Selbstbeherrschung nach. Dann machte sie ins Bett, wurde von Albträumen heimgesucht und kletterte zitternd zu Connie, um bei ihr zu schlafen. Am Morgen weigerte sie sich, über die Schrecknisse der Nacht zu reden. Die genauen Gründe für die schlimmen Träume kannte Connie nicht, aber sie konnte sie sich vorstellen. Sie wurde ja selbst von Erinnerungen geplagt, in denen eine Horde Reporter sie die Straße hinunter verfolgte.

«Alice, deine Mummy ist da.» Das war Tante Elizabeth. Die Leiterinnen der Spielgruppe wurden alle nur «Tante» genannt. Elizabeth war mollig und liebenswürdig. Die Frau des Pfarrers. Connie hatte das Gefühl, dass Elisabeth ganz wild darauf war, in ihr Haus und ihren Kopf einzudringen. Vielleicht meinte sie ja, ihr Glaube gebe ihr das Recht, im Leben anderer Leute herumzuschnüffeln. Connie verstand diesen Impuls: Auch sie hatte ihr Arbeitsleben damit verbracht, neugierig zu sein. Aber solange die Frau vernünftig auf Alice aufpasste, war sie ihr dankbar.

Die Kleine sprang auf die Füße und kam zu ihrer Mutter gelaufen. Die Kinder mussten draußen in der Sonne gespielt haben, denn Alices Sommersprossen schienen zu leuchten, und auf dem Knie ihrer Jeans prangte ein Matschfleck. Einen Augenblick lang fragte Connie sich, ob sie wohl geschubst worden war, sie stellte sich vor, wie Alice schikaniert wurde, wie die Kinder die Ablehnung und die kleinen Grausamkeiten ihrer Mütter einfach übernahmen. Aber so durfte sie nicht denken. Dann würde sie nur paranoid und drehte durch.

Sie nahm Alice bei der Hand und ging mit ihr an den Tisch, auf dem die Bilder der Kinder, ihre Handabdrücke und Collagen aus Nudeln zum Trocknen ausgelegt waren. Die anderen Mütter hatten sich um Elizabeth geschart, und während Alice ihre Werke heraussuchte, sickerte das Gespräch der Erwachsenen in Connies Bewusstsein.

«Ist Veronica heute nicht da?»

Veronica gehörte nicht zu den Tanten, aber sie war die Vorsitzende des Ausschusses der Spielgruppe. Sie geisterte durch Connies Träume. Eine geschmeidige Raubkatze mit einer Strickjacke von Marks & Spencer und leuchtend rot geschminkten Lippen. Sie war oft im Gemeindesaal, wenn die Mütter kamen, trieb ausstehende Beiträge ein oder forderte sie auf, für den nächsten Wohltätigkeitsbasar einen Kuchen zu backen.

«Nein.» Elizabeth klang ruhig und unbekümmert. Connie war sich nie so ganz sicher, was die Frau des Pfarrers von Veronica hielt. «Ich müsste selbst mal mit ihr reden. Auf dem Heimweg schaue ich bei ihr vorbei. Bei diesem herrlichen Wetter hat sie vielleicht beschlossen, den Tag im Garten zu verbringen. Ich glaube, Christopher ist gerade auf Dienstreise.»

Connie griff ganz automatisch nach den Bildern, die Alice ihr reichte. «Sehr hübsch», sagte sie. «Die hängen wir in der Küche auf, ja?» Sie klang zerstreut; sie horchte, ob es noch mehr Neuigkeiten von Veronica gab, und blieb ausnahmsweise gern etwas länger im Gemeindesaal. Aber das Gespräch drehte sich jetzt um die Zuteilung der Schulplätze und irgendeine Veranstaltung im Pub. Veronica war bereits vergessen, und Connie ging, Alice noch immer an der Hand, ohne ein Wort mit jemandem zu wechseln.

 

Das Cottage am Fluss hatte Connie gemietet, als sie aus der Stadt weggezogen war. Sie hatte einfach nur fortgewollt, es war ihr egal, wohin. Mallow Cottage gehörte Freunden von Franks Eltern, die keine Lust mehr hätten, es als Ferienhaus zu vermieten, so hatte Frank ihr erklärt. Und selbst nutzten sie es nicht; sie arbeiteten noch beide und hätten es als Geldanlage gekauft, um sich fürs Alter abzusichern, damals, ehe die Preise am Immobilienmarkt ins Bodenlose fielen. Als die Dinge eskalierten, hatte Frank Connie sogar ein Plätzchen in seinem Haus angeboten. Um Alices willen, hatte er rasch hinzugefügt, damit Connie nicht auf falsche Gedanken kam. Er hatte nach der Scheidung nach vorn geschaut, in seinem Leben gab es eine neue Frau. Aber sie seien in seinem Gästezimmer willkommen, bis die Reporter es aufgäben, vor ihrer Haustür zu zelten. Zu der Zeit war sie so verzweifelt, dass sie das Angebot beinahe angenommen hätte. Vielleicht wurde Frank dann klar, dass er sich bloß unerwünschte Untermieter aufgehalst hätte, denn bald danach bot er ihr das Cottage im Tyne Valley an. Connie stellte sich vor, wie er alle seine Freunde angerufen hatte: Hilf mir da raus. Du musst doch was wissen, wo sie hin kann. Mag schon sein, dass sie sich das alles selbst eingebrockt hat, aber deshalb muss Alice ja nicht darunter leiden. Wenn mir nichts anderes einfällt, muss ich sie hier bei mir pennen lassen. Er benutzte immer noch solche Ausdrücke wie «pennen». Er war künstlerischer Leiter eines Theaters in Newcastle, und seine Neue war eine junge Designerin.

Von außen war Mallow Cottage sehr hübsch. Ein traditionelles Steinhaus mit einem Ziegeldach und einem winzigen Garten, der zu einem kleinen Bach hinunterführte, welcher gleich hinter einer schmalen Brücke in den Fluss mündete. Drinnen war es dunkel und feucht, aber damit kam Connie zurecht. Die ersten paar Wochen waren herrlich gewesen. Sie hatte Alice bei der Spielgruppe angemeldet und langsam erste Freundschaften geschlossen. Die Frauen, zumindest die, die sie auf einen Kaffee zu sich einlud, brachten ihre Kinder ins Cottage, die mit Alice spielen konnten. Connie hatte beschlossen, ihren Mädchennamen zu tragen. Sie war schon eine ganze Weile geschieden, und Franks Name bedeutete ihr nichts. Vielleicht könnte sie ja in die Anonymität abgleiten, vielleicht sogar wieder Arbeit finden, jetzt, wo der Rummel endlich verebbt war. Schließlich brauchte sie das Geld. Von ihren Ersparnissen und Franks Barmherzigkeit konnte sie nicht ewig leben. Und wenn sie wieder arbeitete, würden vielleicht auch die Albträume verschwinden.

Dann erschien in einer überregionalen Zeitung der Artikel zum Gedenken an Elias’ ersten Todestag. Mit einem Bild von Connie, wie sie verängstigt und verweint aus dem Gerichtssaal trat. Und auf einmal kam sie niemand mehr auf einen Kaffee im Cottage besuchen. Außer Elizabeth – aber das war nun mal ihre Aufgabe als Pfarrersfrau. Und Alice wurde nicht mehr von den anderen Kindern eingeladen. Das Geraune fing an, die schiefen Blicke. Ein paar Frauen versuchten noch, sich ihr mit einer gewissen atemlosen Neugier zu nähern, doch Connie merkte, dass da eine Kampagne gegen sie im Gang war, deren Initiatorin, wie ihr bald klar wurde, Veronica Eliot war. Wenn du dich mit ihr anfreundest, ist das, als würdest du sie freisprechen von dem, was sie getan hat. Willst du das wirklich? Willst du, dass die Leute dich auf eine Stufe mit ihr stellen? Ich verstehe einfach nicht, dass sie ihre Tochter behalten durfte. Das waren kindische, berechnende Worte, wie sie auch ein Achtjähriger zu seiner Bande auf dem Spielplatz hätte sagen können, aber sie wirkten. Es war die Gesetzmäßigkeit der Horde. Gegen Veronica begehrte man nicht auf. Und bald stieß Connie auf das Schweigen in der Schlange vor der Tür zur Spielgruppe, auf die eisigen Blicke, wenn sie zur Post ging, um das Kindergeld abzuholen.

Die alte Connie hätte sich gegen Veronica gewehrt. Du dämliche Kuh, gib mir wenigstens die Gelegenheit, es zu erklären. Doch nach einem Jahr der Polizeiverhöre und Gutachten und Auftritte vor Gericht besaß sie keinerlei Kampfgeist mehr. Außerdem wollte sie sich nicht selbst bemitleiden. Das Recht dazu hatte sie mit Elias’ Tod verwirkt. Und so schlich sie gebeugt durchs Dorf und erwartete keine Freundlichkeiten mehr. Sie magerte ab. Manchmal wäre sie gern ganz verschwunden, sodass nur Alice sie noch hätte sehen können. Ihr einziger Trost war die halbe Flasche Wein, die sie sich abends, wenn ihre Tochter schlief, erlaubte. Sie war fast schon dankbar für die Nächte, in denen Alice ins Bett machte und zu ihr krabbelte; dann hatte sie jemanden zum Festhalten.

Sie waren gerade in den Garten gegangen, als der Besucher kam. Vielleicht war er auch die ganze Zeit schon da gewesen und hatte, verborgen durch den Baum, von der Brücke geschaut. Bei einem seiner Besuche im Cottage hatte Frank ein dickes Seil um einen Ast des Apfelbaums geschlungen, der in einer Ecke des kleinen Gartens an der Uferböschung stand. Alice benutzte es als Schaukel. Im September würde sie in die Schule kommen, für ihr Alter war sie groß und kräftig. Und sie war nicht ängstlich. Sie packte das Seil und rannte los, stieß sich vom Boden ab und flog durch die Luft, fast bis über den Fluss. Connie hütete sich davor, etwas zu sagen. Sie durfte ihre Tochter nicht mit ihren Ängsten belasten. Aber sie wandte sich immer kurz ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie Alice abhob, biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu schreien. Sei vorsichtig, mein Schatz. Bitte sei vorsichtig.

Alice spielte gerade auf der Schaukel. Der Apfelbaum stand in voller Blüte, und durch die jungen Blätter mit ihrem verblüffend grellen Grün sah man die Straße nicht. Connie trank einen Kaffee, den sie sich nach dem Mittagessen aufgebrüht hatte. Dann rief Alice «Hallo!» – offenbar war da jemand, den Connie nicht sehen konnte –, und der Fremde tauchte vor dem Gartentor auf. Er blieb stehen und schaute zu ihnen hinein. Im ersten Moment dachte Connie, dass dies ein Reporter sein musste, der sie aufgespürt hatte. Seit sie in das Tal gezogen waren, hatte die Angst davor sie verfolgt. Der Mann war jung und besaß das unbeschwerte Lächeln eines Menschen, der es gewohnt ist, andere für sich einzunehmen. Ganz sicher ein Reporter. Über der Schulter trug er einen Rucksack, in dem ein Fotoapparat sein konnte – obwohl seine Strickmütze ihn wie einen Wanderer aussehen ließ. Vielleicht ging er ja auch nur hier am Flussufer spazieren.

«Kann ich Ihnen helfen?» Ihr Ton war so scharf, dass Alice von der Schaukel überrascht zu ihr herüberblickte.

Der Mann wirkte ebenfalls ein wenig erschrocken. Sein Lächeln verblasste. «Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht stören.»

Der war nicht von der Zeitung, dachte Connie. Die von der Zeitung entschuldigten sich nicht. Nicht mal die Netten. Sie winkte kurz ab, entschuldigte sich ihrerseits. «Sie haben mich überrascht. Wir bekommen hier nicht viel Besuch.»

«Ich suche jemanden», sagte er. Er klang gebildet.

«Ja?» Schon war sie wieder auf der Hut. Ihr Körper war angespannt, bereit, ihn abzuwehren, wenn er nach ihrem Namen fragen oder Anstalten machen sollte, durchs Tor zu kommen.

«Mrs Eliot. Veronica Eliot.»

«Ach so.» Sie war erleichtert und neugierig zugleich. Was konnte dieser Mann von Veronica wollen?

«Kennen Sie sie?»

«Ja», sagte Connie. «Natürlich. Sie wohnt in dem weißen Haus am Ende der Straße. Gleich da vorn, an der Kreuzung. Sie können es nicht verfehlen.» Er zögerte kurz, wandte sich noch nicht ab, und sie fügte hinzu: «Falls Sie mit dem Auto da sind, gleich hier den Weg runter gibt es einen Parkplatz, auf dem Sie wenden können.» Schließlich gab es jetzt keinen Grund mehr, ihm nicht behilflich zu sein, und sie war neugierig. Sie hatte kein Auto gesehen.

«Nein», sagte er. «Ich bin nicht mit dem Auto da. Ich bin mit dem Bus gekommen.»

«Du meine Güte, Sie trauen sich ja was! Wollen Sie heute Abend etwa auch noch zurückfahren?»

Er lächelte. Sie dachte jetzt, dass es schwer war, sein Alter einzuschätzen. Gewiss war er jünger als sie, aber zwischen achtzehn und dreißig konnte er alles sein. Sie wusste, dass Veronica einen erwachsenen Sohn hatte, einen Musterknaben selbstverständlich, der in Durham Geschichte studierte. Aber dessen Freunde wussten doch bestimmt, wo Veronica wohnte.

«In ein paar Stunden müsste ein Bus zurück nach Hexham fahren», sagte er unentschlossen. «Und wenn alle Stricke reißen, kann ich mir ja ein Taxi rufen.»

«Sind Sie mit Veronica verwandt?» Ihr wurde klar, dass dies die erste normale Unterhaltung war, die sie seit Monaten führte, und sie hoffte, noch ein bisschen weiterplaudern zu können. Wie jämmerlich, dachte sie. Dass es so weit gekommen ist!

Er zögerte. Die einfache Frage schien ihn zu verwirren. «Nein», sagte er schließlich. «Eigentlich nicht.»

«Ich glaube nicht, dass sie zu Hause ist», sagte Connie. «Als ich vorhin aus dem Dorf kam, stand ihr Wagen nicht in der Auffahrt. Und ich habe gehört, dass Christopher, ihr Mann, gerade auf Dienstreise ist. Möchten Sie vielleicht auf eine Tasse Tee hereinkommen und hier warten? Wenn Veronica zum Essen verabredet war, ist sie bestimmt bald zurück, und von hier aus sehen wir ihr Auto, wenn sie wiederkommt.»

«Nun ja, wenn es Ihnen nicht zu viel Mühe bereitet …» Und er machte das Tor auf und trat in den Garten. Plötzlich schien er nicht mehr so nervös zu sein, eher schon arrogant. Panik durchzuckte Connie. Was hatte sie getan? Hatte sie das Unheil über ihre Schwelle gebeten?

Der junge Mann setzte sich neben sie auf die Holzbank mit dem abblätternden weißen Anstrich und wartete höflich ab. Sie hatte ihm Tee angeboten, also würde er davon ausgehen, dass sie auch welchen brachte. Aber die Küche lag auf der Rückseite des Hauses, und von dort aus könnte sie kein Auge auf Alice haben. Für Connie kam es nicht in Frage, ihre Tochter hier mit einem Fremden allein zu lassen.

«Komm mit, Alice. Du kannst auftragen. Die Kekse holen.» Sie hoffte, dass sie Kekse dahatte, denn das Zauberwort wirkte, und Alice trabte brav hinter ihr her ins Haus.

Sie richteten ein Tablett her. Teekanne und Tassen, Milchkännchen und Zuckerdose. Für Alice einen Becher Saft. Ich wohne schon zu lange auf dem Land. Als Nächstes trete ich noch dem Women’s Institute bei. Aber das war nicht witzig. Veronica Eliot saß im Vorsitz des Women’s Institute, und natürlich wäre Connie dort alles andere als willkommen.

Sie gingen im Gänsemarsch hinaus in den Garten. Connie trug das Tablett, und Alice folgte ihr mit ein paar Keksen auf einem Teller mit Blumenmuster. Aber als sie um die Hausecke bogen, war die weiße Bank leer. Der junge Mann war verschwunden.

Kapitel Vier

Zu Veras Kinderzeiten war das Willows ein Grand Hotel gewesen, in Familienbesitz und bekannt in der ganzen Grafschaft. In einer der wenigen Erinnerungen, die sie noch an ihre Mutter besaß, aßen sie einmal alle drei dort zu Mittag. Hatte ihre Mutter da Geburtstag gehabt? Bestimmt war es Hectors Idee gewesen; ihr Vater hatte die großen Gesten immer geschätzt. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was sie gegessen hatten. Doch vermutlich war das Essen nicht allzu gut gewesen. Englische Nachkriegsküche. Ein zerkochtes Stück Fleisch und Gemüse, das auf dem Herd grau geworden war. Aber der Ort hatte doch einen verblichenen Glanz besessen. In der Ecke spielte eine Frau im Abendkleid auf einem Flügel. Hector bestellte mit lauter, angeberischer Stimme Champagner, und ihre Mutter trank zwei Gläser und wurde dann albern. Den Rest trank natürlich Hector.

Ursprünglich war es ein großes Landhaus gewesen, und noch immer schlängelte sich die Auffahrt durch eine Parklandschaft. Das Haus lag an einer Flussbiegung, sodass man fast das Gefühl hatte, es stünde auf einer Insel, vor allem zu dieser Jahreszeit, wenn der Tyne vom Schmelzwasser angeschwollen war. Gestutzte Weiden, deren Wurzeln jetzt im Wasser hingen, markierten die Grundstücksgrenze. Der örtlichen Geschichtsforschung zufolge hatte ein Archäologe, der einen Großteil der Pionierarbeit über den Hadrianswall geleistet hatte, dort gelebt. In der Bibliothek und der Lounge hingen verblasste, sepiafarbene Fotos von Ausgrabungen, mit Männern in Knickerbockern und Frauen in langen Röcken.

Vor nicht allzu langer Zeit war das Hotel dann von einer kleinen Kette mit Hauptsitz im Süden übernommen worden. Das Souterrain hatte man zu einem Fitness-Club umgebaut, und jeden Hinweis darauf, dass hier nur die Reichen und Schönen verkehrten, getilgt. Immerhin hatte man Vera aufgenommen, das sagte doch alles! Aber das Hotel besaß immer noch einen gewissen Anspruch. Im Speisesaal mussten die Herren Anzug und Krawatte tragen. Die abgewetzten Möbel zeugten noch von der alten Vornehmheit.

Im Fitness-Club lagen jetzt Aufregung und Chaos in der Luft, doch Vera fühlte sich ganz in ihrem Element und fröhlicher, als sie es seit Monaten gewesen war. Pfeif doch auf die ganze Schwimmerei – was sie brauchte, um sich wirklich lebendig zu fühlen, war ein interessanter Fall.

Billy Wainwright, der Leiter der Spurensicherung, war gekommen, um den Tatort abzusichern. Im Dampfbad war jetzt kein Dampf mehr, doch auf allen Flächen stand Kondenswasser. «Ihnen ist schon klar, dass das hier wahrscheinlich der schwierigste Tatort ist, den ich je gesehen habe? Keine Chance auf Fingerabdrücke bei solchen Oberflächen. Halb Newcastle hätte hier durchmarschieren können, ohne die geringste Spur zu hinterlassen.» Als wäre Vera daran irgendwie schuld.

Billy Wainwright war in der Dienststelle für seine hübsche Frau und seine zahllosen Seitensprünge bekannt. Ein Genie in seinem Job, aber als Mensch ein echter Fiesling. Vera achtete darauf, ihm bei seiner Arbeit nicht im Weg zu stehen. Durch die offene Tür hatte sie jetzt einen besseren Blick auf die Tote. Sie sah aus wie ein typisches Mitglied des Fitness-Clubs im Willows. Gepflegt, in den Vierzigern, aber mit der Figur einer jüngeren Frau. Am Träger ihres Badeanzugs war der Schlüssel zu einem der Schließfächer befestigt.

«Billy, was für eine Nummer steht auf dem Schlüssel?»

Vorsichtig hob er ihn mit seinen fetten, behandschuhten Fingern an. «Fünfunddreißig.»

Sie war davon ausgegangen, dass Taylor, der stellvertretende Geschäftsführer, sie allein lassen würde. Bestimmt hatte er Wichtigeres zu tun. Aber er stand immer noch am Beckenrand, seltsam deplatziert in seinem Anzug und den glänzenden schwarzen Schuhen. Er hielt sich wieder das Walkie-Talkie ans Ohr. Sie ging schnurstracks zu ihm hinüber und wartete ungeduldig darauf, dass er das Gespräch beendete.

«Entschuldigen Sie», sagte er. «Ich versuche, ein paar Meetings umzulegen, um die Lounge für Ihre Zeugen freizuhalten. Wir haben gerade eine Konferenz von Personalchefs hier zu Gast.»

«Sie haben doch bestimmt einen Generalschlüssel für die Schließfächer?»

«Ja.»

«Können Sie mir den bitte besorgen?» Warum war sie so kurz angebunden mit ihm? Schließlich war er sehr hilfsbereit gewesen. Vielleicht lag es ja daran, dass er sie einfach nicht allein lassen wollte. An dem Nervenkitzel, den es ihm offenbar bereitete, an den Ermittlungen teilzuhaben, und sei es nur als Beobachter. Dass ich aufgeregt bin, ist okay, dachte sie, ich habe dem Verbrechen schließlich mein Leben gewidmet. Aber er ist nur ein Voyeur.

Jetzt ging er schließlich doch vom Pool weg und durch die Umkleiden zu dem Empfangstisch neben dem Drehkreuz. Von oben aus der Lounge war aufgeregtes Geplapper zu hören, das Klirren von Kaffeetassen. Ashworth hatte ein paar Polizeibeamte hinzugezogen, die ihm halfen, die Aussagen aufzunehmen, aber ganz offensichtlich ging es nur langsam voran. Wie Vera vermutet hatte, betrachteten die meisten der älteren Clubmitglieder das Ganze als eine Art kostenloses Unterhaltungsprogramm; sie hatten es nicht eilig, nach Hause zu gehen. Taylor sprach mit der Frau am Empfang.

«Geben Sie mir bitte den Generalschlüssel für die Schließfächer, meine Liebe?»

Er redete mit ihr wie mit einem Kind. Wenn Taylor sich ihr gegenüber so herablassend verhalten würde, dachte Vera, würde sie ihm gleich eine schmieren. Die Frau am Empfang war älter als er, vermutlich schon weit über vierzig, kämpfte aber dagegen an. Schwarze Haare und dickes Mascara. Auf dem Schild, das ihr um den Hals baumelte, stand der Name Karen.

«Die Aushilfe fürs Putzen, ist das Ihr Sohn?», fragte Vera.

Karen hatte sich umgedreht, um einen Schlüssel von einem Haken an der Wand zu nehmen. «Warum? Was hat er mit dem Ganzen hier zu schaffen?»

«Wahrscheinlich nichts. Aber ich würde gern mit ihm sprechen. Hat er heute Dienst?»

Karen legte den Schlüssel auf den Tresen. «Er hat Spätschicht. Vor vier Uhr wird er nicht da sein.»

«Nur keine Eile», sagte Vera leichthin. «Ich rede dann später mit ihm.»

Eine Polizistin in Uniform bewachte die Tür zu den Umkleiden, und jetzt schickte Vera Taylor weg. «Ich möchte Ihre Zeit wirklich nicht noch länger in Anspruch nehmen. Wir kommen schon allein zurecht.» Erst dachte sie, er wollte einen Streit mit ihr anfangen, aber er fing sich gerade noch rechtzeitig und lächelte stattdessen. Sie sah, wie sich das Licht in den blankpolierten Absätzen seiner Schuhe spiegelte, als er die Treppe hinauf verschwand.

Vera kannte die Polizistin, die die Tür bewachte, konnte sich aber nicht an ihren Namen erinnern. «Ist noch jemand da drinnen?»

«Nein.»

«Hat Billy Wainwright schon einen Blick hineingeworfen?»

«Ja, und das hat ihm irre viel weitergeholfen, sagt er.» Die Frau lächelte verträumt, und Vera fragte sich, was dieser Mann nur an sich hatte. Er sah nicht mal besonders gut aus. Sie vermutete, dass er ein guter Zuhörer war. Vielleicht machte ihn das ja so anziehend.

«Ich war schon in den Umkleiden», sagte Vera. «Es ist also kein Problem für die Spurensicherung, wenn Sie mich reinlassen.»

Die Polizistin zuckte die Achseln. Vera war die Chefin, und davon abgesehen, war das ja nicht ihr Problem.