Virginia Woolf
Die Fahrt hinaus
Roman
Herausgegeben von Klaus Reichert
Aus dem Englischen von Karin Kersten
FISCHER E-Books
Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des Biographen und Literaten Sir Leslie Stephen in London geboren. Zusammen mit ihrem Mann, dem Kritiker Leonard Woolf, gründete sie 1917 den Verlag The Hogarth Press. Ihre Romane stellen sie als Schriftstellerin neben James Joyce und Marcel Proust.
Zugleich war sie eine der lebendigsten Essayistinnen ihrer Zeit und hinterließ ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk. Virginia Woolf nahm sich am 28. März 1941 in dem Fluß Ouse bei Lewes (Sussex) das Leben.
Klaus Reichert, 1938 geboren, ist Literaturwissenschaftler, Autor, Übersetzer und Herausgeber. Von 1964 bis 1968 war er Lektor in den Verlagen Insel und Suhrkamp, von 1975 bis 2003 war er Professor für Anglistik und Amerikanistik an der Frankfurter Universität, 1993 gründete er das »Zentrum zur Erforschung der Frühen Neuzeit«. Von 2002 bis 2011 war er Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Er schrieb Bücher über Shakespeare, Joyce, moderne Literatur und über die Geschichte und Theorie des Übersetzens, veröffentlichte drei Gedichtbände und ein Wüstentagebuch. Er übersetzte u.a. Shakespeare, Lewis Carroll, Joyce, John Cage und das Hohelied Salomos. Er war Herausgeber der deutschen Ausgabe von James Joyce und gibt seit 1989 im S. Fischer Verlag die Werke Virginia Woolfs heraus. Bei S. Fischer erschien seine Prosaübersetzung der Sonette Shakespeares.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Nach einer behüteten Kindheit bei ihren »kleinen, ziemlich blassen« Tanten in Richmond bricht Rachel Vinrace auf dem Schiff ihres Vaters, der »Euphrosyne«, nach Südamerika auf. Auf dieser ›Fahrt hinaus‹ erfährt sie zum ersten Mal »die Vision ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer selbst als etwas, das konkret und ewigwährend war und das sich von allem anderen unterschied, unverschmelzbar wie das Meer oder der Wind«. In Santa Marina wird Rachel in den privilegierten englischen Zirkel aufgenommen, aber sie ist abgestoßen von der sterilen Selbstzufriedenheit der Menschen, denen sie dort begegnet. Selbst die Liebe und das Glück, die sie mit dem jungen Schriftsteller Terence Hewett findet, können sie nicht völlig befriedigen, denn sie will »noch ganz andere Dinge als die Liebe eines einzigen Menschen«. Rachels plötzlicher Tod offenbart die Hoffnungslosigkeit und zugleich die Schönheit ihres romantischen idealismus. Der Roman verweist aber auch auf die Schwierigkeiten einer jungen Frau, die versucht, in den gesellschaftlichen Umständen ihrer Zeit größere Freiheit zu finden und das Unkonventionelle zu verwirklichen. Die autobiographischen Züge dieses Werkes sind deutlich.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 1915 unter dem Titel ›The Voyage Out‹ im Verlag Duckworth, London.
© 1915 by Quentin Bell und Angelica Garnett
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 1989 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Manfred Walch, Frankfurt
Coverabbildung: Sarah Schumann, Berlin
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490487-0
Aus den Lays of Ancient Rome, einer populären Gedichtsammlung des Historikers Thomas Babington Macaulay (1842):
»Lars Porsena aus Clusium
Schwor bei neun Göttern den Eid,
Daß dem Großen Haus Tarquinium
Nie mehr geschehe ein Leid.«
Sehr freie Übersetzung von Wagners Tristan und Isolde. Auf Brangänes Fragen im zweiten Auftritt des ersten Aufzugs (»Fragst du nach Tristan, teure Frau …?«) antwortet Isolde »(sie verhöhnend): Der zagend vor dem Streiche/sich flüchtet, wo er kann,/weil eine Braut er als Leiche/für seinen Herrn gewann!/Dünkt es dich dunkel,/mein Gedicht?«
Gemeint ist wahrscheinlich die Klaviersonate op. 111. In einem Brief an R. C. Trevelyan vom 30. Januar 1920 bedankt VW sich für dessen Korrekturen zu Night and Day und fügt hinzu: »I am altering op. 112 to 111.« Die Korrektur wurde allerdings nie ausgeführt. Es gibt übrigens eine Kantate op. 112 mit dem für den Roman beziehungsreichen Titel ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹.
Sophokles, Antigone, v. 334-7. In Hölderlins Übersetzung:
»Ungeheuer ist viel. Doch nichts
Ungeheurer als der Mensch.
Denn der, über die Nacht
Des Meers, wenn gegen den Winter wehet
Der Südwind, fähret er aus
In geflügelten sausenden Häusern.«
Shakespeare, Tempest (Sturm), I, ii, 400: »Fünf Faden tief liegt Vater dein.«
Aus Shelleys Elegie auf den Tod von John Keats, Adonais, Strophe XL. Die Strophe heißt als ganze:
»He has outsoar'd the shadow of our night;
Envy and calumny, and hate and pain,
And that unrest which men miscall delight,
Can touch him not and torture not again;
From the contagion of our world's slow stain
He is secure, and now can never mourn
A heart grown cold, a head grown grey in vain;
Nor, when the spirit's self has ceased to burn,
With sparkless ashes load an unlamented urn.«
(»Er ist über die Schatten unserer Nacht hinausgeflogen;/Neid und Verleumdung und Haß und Schmerz,/und jene Unrast, die die Menschen fälschlich Entzücken nennen,/Können ihn nicht berühren und nicht länger peinigen;/Vor der Ansteckung durch die langsame Befleckung der Welt/Ist er sicher und kann jetzt nimmer mehr beklagen/Ein alt gewordenes Herz, ein umsonst grau gewordnes Haupt;/Und auch nicht, wenn des Geistes Innerstes zu brennen aufgehört hat,/Mit funkenlosen Aschen eine unbetrauerte Urne füllen.«)
Thomas Hardy, letzte Strophe des Gedichts ›He Abjures Love‹ von 1883, aus dem Band Time's Laughingstocks, 1909:
»Ich spreche als einer, der/des Lebens trübe Tiefe ausloten kann,/einer, der klare und gewisse Ansichten/am Ende aussprechen – oder ergründen – kann./Doch nach der Liebe, was kommt dann?/Eine Szene, die finster aussieht,/ein paar traurige leere Stunden./Und dann: der Vorhang.«
Mr Bax liest Psalm 56, Verse 1 und 5, und Psalm 58, Verse 6-7. Sie werden nach dem Book of Common Prayer, dem Gebetbuch der anglikanischen Kirche, zitiert (Morgengebet für den 11. Tag), dessen Text sich von der autorisierten Bibel-Übersetzung (der sog. King James Bible) unterscheidet. Im Deutschen ist nach Luther zitiert, dessen Zählung um jeweils einen Vers verschoben ist.
Walt Whitman, ›Calamus‹, Nr. 3, aus den Leaves of Grass:
»Wer immer du bist, der du mich jetzt in deiner Hand hältst,/ohne das Eine wird alles zwecklos sein.« Herausgefunden von Frau cand. phil. Änne Troester.
Aus John Milton, Comus, A Mask (1637), Verse 824-7:
»Nicht weit von hier lebt eine sanfte Nymphe,/Die mit feuchtem Zügel den ruhigen Severn-Strom lenkt./Sabrina heißt sie, eine reine Jungfrau;/Sie war weiland die Tochter Locrines,/Der das Szepter von seinem Vater Brutus erhalten hatte.«
Milton, Comus, Verse 859-66:
»Schöne Sabrina,/Höre, dort wo du sitzt,/Unter der gläsernen, kühlen, durchscheinenden Welle,/In verschlungenen Lilienflechten und/Die losen Strähnen deines ambrafarbenen hängenden Haars flichtst,/Höre um der Ehre willen,/Göttin des Silbersees,/Höre und erlöse!«
Aus Charles Kingsley, ›A New Forest Ballad‹:
»Sie rangen auf, sie rangen nieder,/Sie rangen äußerst heftig;/Der höllische Feind, der die Augen der Menschen blendet,/Hatte in jener Nacht seinen Willen./Wie erschöpfte Hirsche fielen sie am Hang/Nieder, um eine Weile zu rasten«.
Aus Miltons Ode ›On the Morning of Christ's Nativity‹ (veröffentlicht 1645), Strophe XXII, Verse 197-200). Bei den Namen handelt es sich um heidnische Gottheiten, die Milton zu den gefallenen Engeln zählt: »Peor und Baalim/Verlassen ihre schummrigen Tempel,/Mit jenem zweimal zerschmetterten Gott Palästinas,/Und mondgekrönte Ashtaroth«.
Da die Straßen, die vom Strand zum Embankment hinabführen, sehr schmal sind, geht man dort besser nicht Arm in Arm entlang. Tut man es dennoch, werden Kanzleischreiber mit hastigen Sprüngen in den schmutzigen Rinnstein ausweichen müssen, junge Schreibfräulein genötigt sein, hinter einem den Schritt zu verhalten. In den Straßen von London, wo die Schönheit unbemerkt geht, muß die Exzentrik die Zeche bezahlen, und man tut gut daran, nicht sehr groß zu sein, kein langes blaues Cape zu tragen und nicht mit der Linken in der Luft herumzufuchteln.
Eines Nachmittags Anfang Oktober, als der Verkehr lebhaft wurde, schritt ein großer Mann mit einer Dame am Arm am Rand des Trottoirs entlang. Wütende Blicke trafen beider Rücken. Die kleinen, aufgebrachten Gestalten – denn im Vergleich mit diesem Paar sahen die meisten Menschen klein aus –, die mit Füllfederhaltern geschmückt und mit Aktenkoffern beladen waren, hatten Termine einzuhalten und bezogen Wochenlöhne, so daß der unfreundliche bohrende Blick, mit dem Mr Ambroses Länge und Mrs Ambroses Cape bedacht wurden, nicht ganz unbegründet war. Irgendein Zauber hatte jedoch Mann wie Frau unerreichbar für Boshaftigkeit und Abneigung gemacht. In seinem Fall ließen die Lippenbewegungen ahnen, daß es Gedanken waren; und in ihrem die Augen, die versteinert oberhalb der durchschnittlichen Blickhöhe vor sich hin starrten, daß es Kummer war. Nur indem sie alle, denen sie begegnete, mit Verachtung strafte, gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten, und die Berührung mit denen, die sie im Vorübergehen streiften, war ihr sichtlich unangenehm. Nachdem sie den Verkehr am Embankment ein Weilchen mit stoischem Blick betrachtet hatte, zupfte sie ihren Gatten am Ärmel, und sie überquerten die Straße mitten im lebhaften Fluß der Automobile. Als sie wohlbehalten auf der anderen Straßenseite angelangt waren, löste sie sanft ihren Arm aus seinem und ließ es zugleich geschehen, daß ihr Mund sich entspannte und zu zittern anfing; dann rollten Tränen herab, und die Ellbogen auf die Balustrade gestützt, schützte sie ihr Gesicht vor den Blicken Neugieriger. Mr Ambrose unternahm einen Versuch, sie zu trösten; er tätschelte ihr die Schulter; doch sie gab durch nichts zu verstehen, daß solches erwünscht sei, und da es ihn mit Unbehagen erfüllte, neben einem Kummer zu stehen, der größer war als sein eigener, verschränkte er die Arme hinter dem Rücken, wandte sich ab und schritt das Trottoir entlang.
Das Embankment weist in Abständen Vorsprünge auf, die an Kanzeln denken lassen; statt von Predigern werden sie jedoch von kleinen Jungen in Beschlag genommen, die von dort Schnüre hinabbaumeln lassen, Kiesel werfen oder zusammengeknülltes Papier auf Kreuzfahrt schicken. Ihr geschultes Auge machte in Mr Ambrose sofort den Exzentriker aus, und sie neigten zu der Schlußfolgerung, daß er furchteinflößend sei; der Aufgeweckteste schrie dennoch »Blaubart!«, als er vorüberging. Für den Fall, daß sie als nächstes seine Frau aufs Korn nehmen sollten, drohte Mr Ambrose ihnen mit dem Stock, woraufhin sie zu dem Schluß gelangten, daß er lediglich wunderlich sei, und statt des einen schrien nun vier »Blaubart!« im Chor.
Obwohl Mrs Ambrose völlig reglos stand und dies viel länger, als natürlich ist, ließen die kleinen Jungen sie in Ruhe. Irgend jemand schaut immer in der Nähe der Waterloo Bridge ins Wasser; da steht an einem schönen Nachmittag ein Paar eine halbe Stunde ins Gespräch vertieft; die meisten Menschen, die dort zu ihrem Vergnügen entlanglaufen, schauen drei Minuten lang nachdenklich hinab und gehen dann weiter, wenn sie diesen Anlaß mit anderen Anlässen verglichen haben oder ihre Lebensweisheit einen Schlußpunkt gesetzt hat. Zuweilen sehen die Wohnhäuser und Kirchen und Hotels von Westminster aus wie das Weichbild eines dunstverhangenen Konstantinopel; zuweilen ist der Fluß von sattem Purpurrot, zuweilen schmutzfarben, zuweilen glitzernd blau wie das Meer. Es lohnt sich stets, hinabzublicken und zu verfolgen, was gerade geschieht. Diese Dame schaute jedoch weder nach unten noch nach oben; das einzige, was sie gesehen hatte, seit sie dort stand, war ein kreisrunder schillernder Fleck, der, einen Strohhalm in der Mitte, langsam vorbeitrieb. Der Strohhalm und der Fleck schwammen wieder und wieder hinter dem zitternden Medium einer dicken aufsteigenden Träne vorbei, und die Träne quoll über den Lidrand und löste sich und fiel in den Fluß. Dann drangen ihr von ganz nah die Worte ins Ohr –
Lars Porsena of Clusium
By the nine Gods he swore –
und, schwächer werdend, so als wäre der Sprechende auf seinem Spazierweg an ihr vorübergegangen –
That the Great House of Tarquin
Should suffer wrong no more.[1]
Ja, sie wußte, sie mußte zu all diesen Dingen zurückkehren, doch zuerst einmal mußte sie weinen. Sie schirmte ihr Gesicht ab und schluchzte stetiger, als sie es bis dahin getan hatte, so daß ihre Schultern sich ganz gleichmäßig hoben und senkten. Diese Gestalt erblickte ihr Gatte, als er sich, bei der polierten Sphinx angekommen, umwandte, nachdem er zunächst in die Fänge eines Ansichtskartenverkäufers geraten war; die Strophe riß unvermittelt ab. Er trat zu ihr, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Liebste.« Seine Stimme klang flehend. Doch sie wandte das Gesicht ab, als wollte sie sagen: »Das kannst du eben einfach nicht verstehen.«
Da er sich jedoch nicht wegrührte, mußte sie sich die Augen wischen und den Blick zu den Fabrikschloten am anderen Ufer heben. Außerdem sah sie die Bögen der Waterloo Bridge und die Karren, die in einer Reihe über sie hinwegzogen wie die vorbeirückenden Tiere in einer Schießbude. Sie wurden zwar blicklos wahrgenommen, aber daß überhaupt etwas gesehen wurde, bewirkte natürlich, daß sie zu weinen aufhörte und sich in Bewegung setzte.
»Ich würde lieber laufen«, sagte sie, als ihr Gatte einer Droschke gewinkt hatte, die bereits mit zwei Geschäftsleuten besetzt war.
Die bloße Fortbewegung hatte zur Folge, daß sie sich ein wenig aus ihrer düsteren Stimmung löste. Die hin und her schießenden Automobile, Spinnentieren auf dem Mond ähnlicher als irdischen Objekten, die donnernden Rollwagen, die schellenklingelnden Hansoms und die kleinen schwarzen Broughams ließen sie an die Welt denken, in der sie lebte. Irgendwo dort oben über den Fialen, wo der Rauch als spitzer Hügel aufstieg, fragten in diesem Augenblick ihre Kinder nach ihr und erhielten eine beschwichtigende Antwort. Was die Masse der Straßen, Plätze und öffentlichen Gebäude anging, die sie voneinander trennten, so fiel ihr dazu in diesem Augenblick nur ein, wie wenig London getan hatte, um ihre Liebe zu gewinnen, obwohl sie doch dreißig ihrer vierzig Jahre in ein und derselben Straße verbracht hatte. Sie verstand es, die Menschen einzuschätzen, die an ihr vorübergingen; da waren die Reichen, die um diese Stunde zwischen den einschlägigen Häusern hin und her eilten; da waren die bigotten Arbeiter, die geradenwegs in ihre Gottesdienste strebten; da waren die Armen, die unglücklich und berechtigtermaßen übelwollend waren. Schon jetzt dösten, obwohl der Dunst noch von Sonnenlicht durchdrungen war, zerlumpte alte Männer und Frauen auf den Bänken dem Schlaf entgegen. Wenn man darauf verzichtete, die Schönheit zu sehen, die die Dinge umhüllte, dann hatte man es mit dem Skelett darunter zu tun.
Ein feiner Regen setzte ein und stimmte sie noch trübsinniger; Kastenwagen mit den seltsamen Namen der Angehörigen seltsamer Gewerbe – Sprules, Sägemehlhersteller; Grabb, dem kein Stück Altpapier entgeht – verfehlten ihre Wirkung wie ein schlechter Witz; kühne Liebende, die hinter nur einem Cape Zuflucht suchten, kamen ihr gemein vor, ihre Leidenschaft schal; die Blumenfrauen, ein vergnügtes Trüppchen, dem sich immer zuzuhören lohnte, waren durchnäßte Hexen; die roten, gelben und blauen Blumen mit ihren zusammengepreßten Köpfen wollten nicht leuchten. Und zu allem Überfluß war ihr Gatte, der rasch und rhythmisch ausschritt und gelegentlich mit der freien Hand eine schwungvolle Geste vollführte, entweder gerade ein Wikinger oder ein leidgeprüfter Nelson; die Möwen hatten ihn entsprechend eingestimmt.
»Ridley, wollen wir fahren? Wollen wir fahren, Ridley?«
Mrs Ambrose mußte einige Schärfe in ihre Stimme legen; er war mittlerweile weit weg.
Die Droschke führte sie in gleichmäßigem Trab auf immer derselben Straße alsbald aus dem West End heraus und mitten nach London hinein. Wenn letzteres den Eindruck einer gewaltigen Manufaktur erweckte, in der die Menschen mit der Fertigung von Dingen beschäftigt waren, so stellte das West End mit seinen elektrischen Straßenlaternen, seinen großen Tafelglasfenstern, die durchweg gelb erstrahlten, seinen gediegen gebauten Häusern und den winzigen lebendigen Figuren, die auf dem Trottoir vor sich hin trabten oder auf Rädern die Straßen entlangrollten, das fertige Werkstück dar. Für eine so riesenhafte Fabrik schien ihr das ein sehr schmales Ergebnis zu sein. Aus irgendeinem Grund wirkte es auf sie wie eine kleine goldene Quaste am Saum eines weiten schwarzen Umhangs.
Als sie bemerkte, daß sie an keinem schmucken Hansom mehr vorbeikamen, sondern nur noch an Kastenwagen und Fuhrwerken, und daß nicht einer der tausend Männer und Frauen, die sie sah, ein Herr oder eine Dame war, wurde Mrs Ambrose klar, daß die Armut letztlich die Regel war und daß London die Stadt unzähliger Armer ist. Diese Entdeckung verstörte sie ebenso wie der Gedanke, daß sie sich jeden Tag ihres Lebens im Kreis um Piccadilly Circus herumbewegte, so daß sie höchst erleichtert war, als sie an einem Gebäude vorbeikamen, das vom London County Council für Abendschulen errichtet worden war.
»Mein Gott, wie düster das ist!« stöhnte ihr Gatte. »Arme Geschöpfe!«
Dies alles, der Kummer wegen ihrer Kinder, die Armen und der Regen, bewirkte, daß ihre Seele bloß lag wie eine Wunde, die der Luft zum Trocknen ausgesetzt ist.
An diesem Punkt hielt die Droschke an, denn sie war in Gefahr, zerdrückt zu werden wie eine Eierschale. Das breite Embankment, das Kanonenkugeln und Schwadronen Raum bot, hatte sich mittlerweile zu einer kopfsteingepflasterten Gasse verengt, die von einem Brodem aus Malz und Öl erfüllt war und in der sich die Fuhrwerke stauten. Während ihr Gatte die Plakate las, die an die Ziegelmauern gekleistert waren und auf denen die Abfahrtszeiten geschrieben standen, zu denen bestimmte Schiffe nach Schottland ausliefen, tat Mrs Ambrose ihr Bestes, um sich zurechtzufinden. Von einer Welt, die ausschließlich damit beschäftigt war, Fuhrwerke mit Säcken zu füttern, und die obendrein halb hinter einem feinen gelben Nebel verschwunden war, wurde ihnen weder Hilfe noch Aufmerksamkeit zuteil. Es erschien wie ein Wunder, als ein alter Mann auf sie zukam, der sich denken konnte, in welcher Verlegenheit sie sich befanden, und ihnen anbot, sie in dem kleinen Boot, das er am Fuß einer Treppe vertäut hatte, zu ihrem Schiff hinauszurudern. Nach einigem Zögern vertrauten sie sich ihm an, nahmen ihre Plätze ein und schwankten bald schon auf dem Wasser auf und ab, während London auf beiden Seiten zu zwei Gebäudezeilen geschrumpft war, quadratischen Gebäuden und langgestreckten Gebäuden, die nebeneinander aufgereiht waren wie die Bauklotzallee eines Kindes.
Der Fluß, der ein gewisses Maß an trübgelbem Licht barg, strömte äußerst kraftvoll; ungeschlachte Lastkähne trieben rasch flußabwärts, von Schleppkähnen eskortiert; Polizeiboote schossen allenthalben vorbei; der Wind hielt es mit der Strömung. Das offene Ruderboot, in dem sie saßen, hüpfte und knickste sich durch den Verkehrsfluß. In der Flußmitte hielt der alte Mann inne, die Hände auf den Rudern, und bemerkte, während das Wasser an ihnen vorbeieilte, früher habe er viele Passagiere hinübergebracht, während es jetzt kaum mehr welche gebe. Er schien an eine Zeit zurückzudenken, als sein Boot, das in den Binsen vertäut lag, zarte Füßchen nach den Auen von Rotherhithe übersetzte.
»Sie wollen jetzt Brücken«, sagte er und wies auf die monströse Silhouette der Tower Bridge. Trauervoll betrachtete Helen den Mann, der Wasser zwischen sie und ihre Kinder legte. Trauervoll ruhte ihr Blick auf dem Schiff, das in der Flußmitte ankerte und auf das sie zuhielten; verschwommen wurde sein Name lesbar – Euphrosyne.
Nur undeutlich konnten sie in der hereinbrechenden Dunkelheit die Umrisse der Takelage, die Masten und die dunkle Flagge erkennen, die steif über dem Heck in der Brise stand.
Als das kleine Boot sich an den Dampfer heranstahl und der alte Mann die Ruder einzog, bemerkte er als letztes, indem er nach oben wies, überall auf der Welt hißten die Schiffe am Tag, an dem sie in See stachen, jene Flagge. Beide Passagiere empfanden die blaue Flagge als unheilvolles Vorzeichen, und dieser Augenblick schien den Vorahnungen zu gehören, doch des ungeachtet erhoben sie sich, nahmen ihre Sachen an sich und kletterten an Bord.
Unten im Salon von ihres Vaters Schiff stand Miss Rachel Vinrace, vierundzwanzig Jahre alt, und wartete nervös auf ihren Onkel und ihre Tante. Zum einen schon deshalb, weil sie sich trotz ihrer engen Verwandtschaft kaum an sie erinnerte; hinzu kam, daß es ältere Leute waren, und schließlich war sie, als Tochter ihres Vaters, gewissermaßen für ihr Wohlergehen verantwortlich. Sie blickte ihrem Eintreffen in der Weise erwartungsvoll entgegen, wie zivilisierte Menschen ganz allgemein der ersten Begegnung mit anderen zivilisierten Menschen entgegenblicken, als seien sie einem zu erwartenden körperlichen Unbehagen vergleichbar – einem drückenden Schuh oder einem zugigen Fenster. Sie war bereits in übertriebener Weise für ihren Empfang gerüstet. Während sie sich damit beschäftigte, Gabeln peinlich genau nach Messern auszurichten, hörte sie eine düstere Männerstimme sagen:
»In einer finsteren Nacht fällt man dann kopfüber diese Treppe hinunter«, und eine Frauenstimme setzte hinzu: »Und stürzt sich zu Tode.«
Mit diesen Worten stand die Frau in der Tür. Hochgewachsen, großäugig, in violette Schultertücher drapiert, war Mrs Ambrose von romantischer Schönheit; wenn auch vielleicht nicht eben wohlwollend, denn ihr Blick war unverhohlen abwägend. Ihr Gesicht war viel wärmer als ein griechisches Gesicht; andererseits war es viel kühner als das Gesicht der gewöhnlichen hübschen Engländerin.
»Oh, Rachel, guten Tag«, sagte sie und reichte ihr die Hand.
»Guten Tag, mein Kind«, sagte Mr Ambrose und senkte die Stirn, um sich küssen zu lassen. Seiner Nichte gefielen dieser schlanke, eckige Körper und der große Kopf mit den temperamentvollen Zügen und den klugen, arglosen Augen instinktiv.
»Sagen Sie Mr Pepper Bescheid«, trug sie dem Dienstboten auf. Das Ehepaar nahm sodann auf der einen Seite des Tisches Platz, so daß sie ihrer Nichte gegenübersaßen.
»Mein Vater hat mich gebeten, ihn anfangs zu vertreten«, erklärte sie. »Er hat soviel mit der Mannschaft zu tun … Ihr kennt doch Mr Pepper?«
Ein kleiner Mann, gebeugt wie ein Bäumchen im Sturmwind, war lautlos hereingekommen. Er nickte Mr Ambrose zu und drückte Helen die Hand.
»Zug«, sagte er, während er den Kragen seines Rocks hochschlug.
»Sie haben immer noch Rheuma?« fragte Helen. Ihre Stimme war leise und verführerisch, obwohl sie ziemlich geistesabwesend war, da ihr der Anblick von Stadt und Fluß noch immer vor Augen stand.
»Einmal Rheuma, immer Rheuma, fürchte ich«, erwiderte er. »In gewissem Maße hängt es vom Wetter ab, wenn auch nicht in dem Maße, wie die Menschen anzunehmen geneigt sind.«
»Jedenfalls stirbt man nicht daran«, sagte Helen.
»Im allgemeinen nicht – nein«, sagte Mr Pepper.
»Suppe, Onkel Ridley?« fragte Rachel.
»Danke, mein Kind«, sagte er, und während er ihr den Teller hinhielt, seufzte er vernehmlich: »Ach! Sie ist so gar nicht wie ihre Mutter.« Helen beeilte sich vergebens, ihr Wasserglas geräuschvoll abzusetzen, um zu verhindern, daß Rachel es hörte und vor Verlegenheit rot anlief.
»Wie die Dienstboten mit Blumen umgehen!« sagte sie hastig. Sie zog eine grüne Vase mit welligem Rand zu sich heran und begann, die strammen kleinen Winterastern herauszuziehen, die sie wählerisch nebeneinander auf dem Tischtuch arrangierte.
Niemand sagte etwas.
»Sie kannten doch Jenkinson, Ambrose?« fragte Mr Pepper über den Tisch hinweg.
»Jenkinson vom Peterhouse?«
»Er ist tot«, sagte Mr. Pepper.
»Ach nein! – Den habe ich gekannt – vor ewigen Zeiten«, sagte Ridley. »Das war doch der Held des Puntunfalls – wissen Sie noch? Ein ulkiger Vogel. Heiratete eine junge Frau aus einem Tabakladen und lebte in den Fens – keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.«
»Alkohol … Medikamente«, sagte Mr. Pepper ebenso düster wie bündig. »Er hat einen Kommentar hinterlassen. Soll ein hoffnungsloses Durcheinander sein.«
»Der Mann besaß wirklich große Fähigkeiten«, sagte Ridley.
»Seine Einführung in Jellaby hat immer noch Gültigkeit«, fuhr Mr Pepper fort, »was überraschen muß, wenn man bedenkt, wie schnell Lehrbücher veralten.«
»Da gab es doch so eine Theorie über die Planeten, nicht wahr?« fragte Ridley.
»Zweifellos war eine Schraube bei ihm locker«, meinte Mr Pepper kopfschüttelnd.
Ein Beben durchlief auf einmal den Tisch, und draußen schwenkte ein Licht vorbei. Gleichzeitig läutete wieder und wieder eine schrille elektrische Glocke.
»Wir fahren«, sagte Ridley.
Eine schwache, aber doch wahrnehmbare Welle schien unter dem Boden hinwegzurollen; dann verebbte sie; dann kam eine weitere, stärker spürbare. Lichtkegel glitten unmittelbar über das vorhanglose Fenster. Das Schiff ließ ein lautes melancholisches Stöhnen hören.
»Wir fahren!« sagte Mr Pepper. Andere Schiffe, nicht minder traurige, antworteten draußen auf dem Fluß. Das Glucksen und Zischen von Wasser war deutlich zu hören, und das Schiff hob sich, so daß der Steward, der gerade Teller brachte, für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht zu geraten drohte, als er den Vorhang zuzog. Es herrschte Schweigen.
»Jenkinson vom Cats – haben Sie mit dem noch Verbindung?« fragte Ambrose.
»Wie alle anderen auch«, sagte Mr Pepper. »Wir treffen uns einmal jährlich. Dies Jahr hat er traurigerweise seine Frau verloren, so daß das natürlich nur schmerzlich sein konnte.«
»Sehr schmerzlich«, stimmte Ridley zu.
»Es gibt da zwar eine unverheiratete Tochter, die ihm das Haus führt, glaube ich, doch das ist ja nie dasselbe, nicht in seinem Alter.«
Beide Herren nickten weise, während sie ihre Äpfel schälten.
»Gab es da nicht ein Buch?« wollte Ridley wissen.
»Es gab zwar ein Buch, doch es wird nie ein Buch geben«, sagte Mr Pepper mit solchem Ingrimm, daß beide Damen den Blick zu ihm hoben.
»Es wird nie ein Buch geben, weil ein anderer es für ihn geschrieben hat«, sagte Mr Pepper mit beträchtlicher Schärfe. »Das kommt dabei heraus, wenn man die Dinge vor sich herschiebt und Fossilien sammelt und sich normannische Bögen an die Schweineställe pappt.«
»Ich gebe zu, daß ich dafür Verständnis habe«, sagte Ridley mit einem melancholischen Seufzer. »Ich habe eine Schwäche für Menschen, die nicht anfangen können.«
»… Die Ansammlungen eines vergeudeten Lebens«, fuhr Mr Pepper fort. »Er hatte Zeug angesammelt, um eine Scheune damit zu füllen.«
»Das ist ein Laster, dem einige von uns entgehen«, sagte Ridley. »Unser Freund Miles hat gerade wieder ein Werk herausgebracht.«
Mr Pepper ließ ein ätzendes Lachen hören. »Meinen Berechnungen zufolge hat er jährlich zweieinhalb Bände produziert, was, wenn man die Zeit abzieht, die er in der Wiege verbracht hat usw., von löblichem Fleiß zeugt.«
»Ja, was unser guter alter Rektor über ihn gesagt hat, hat sich durchaus bewahrheitet«, sagte Ridley.
»Die kamen gut miteinander zurecht«, sagte Mr Pepper. »Sie kennen doch die Bruce-Sammlung – die natürlich für eine Veröffentlichung nicht in Frage kam.«
»Das will ich meinen«, sagte Ridley mit bedeutungsvollem Unterton. »Für einen Geistlichen war er – bemerkenswert frei.«
»Die Pumpe in der Neville's Row beispielsweise?« wollte Mr Pepper wissen.
»Genau die«, sagte Ambrose.
Jede der beiden Damen, die, wie bei ihrem Geschlecht üblich, bestens darin geschult waren, Männergesprächen förderlich zu sein, ohne ihnen zuzuhören, konnte ihren Gedanken nachhängen – über die Kindererziehung, den Gebrauch von Nebelhörnern in einer Oper –, ohne sich zu verraten. Helen fiel lediglich auf, daß Rachel für eine Gastgeberin vielleicht allzu still war und daß sie irgend etwas mit ihren Händen hätte anstellen können.
»Vielleicht …?« sagte sie schließlich, woraufhin sie sich erhoben und hinausgingen, was die Herren vage überraschte, die in ihnen entweder aufmerksame Zuhörerinnen gewähnt oder ihre Anwesenheit vergessen hatten.
»Ach ja, aus der Zeit gäbe es seltsame Geschichten zu erzählen«, hörten sie Ridley sagen, als der wieder auf seinen Stuhl zurücksank. Als sie von der Tür aus flüchtig zurückblickten, sahen sie einen Mr Pepper, der aussah, als hätte er auf einmal seine Kleidung gelockert und wäre zu einem ebenso munteren wie boshaften alten Menschenaffen geworden.
Die Frauen wanden sich Schleier um die Köpfe und gingen an Deck spazieren. Sie fuhren inzwischen ruhig den Fluß hinab, vorbei an den dunklen Umrissen ankernder Schiffe, und London war ein Lichterschwarm, über den ein schlaffer blaßgelber Baldachin hinabhing. Da waren die Lichter der großen Theater, die Lichter der langen Straßen, Lichter, die riesige Quader häuslicher Behaglichkeit anzeigten, Lichter, die hoch oben in der Luft hingen. Niemals würde sich Finsternis über diese Lampen senken, wie sich seit Hunderten von Jahren keine Dunkelheit darüber gesenkt hatte. Es schien schrecklich, daß die Stadt auf alle Zeiten an derselben Stelle funkeln sollte; schrecklich zumindest für Menschen, die auf dem Meer ins Abenteuer aufbrachen und sie als umgrenzten Hügel gewahrten, auf ewig verbrannt, auf ewig narbig. Vom Deck des Schiffes aus erschien die große Stadt als feige hingeduckte Gestalt, ein kauernder Geizhals.
Als sie nebeneinander über die Reling gelehnt standen, sagte Helen: »Wird dir auch nicht kalt?« Rachel antwortete: »Nein … Wie schön!« setzte sie einen Augenblick später hinzu. Es war sehr wenig zu sehen – ein paar Masten, ein Uferschatten da, eine Reihe erleuchteter Fenster dort. Sie stemmten sich gegen den Wind.
»Das weht … das weht!« keuchte Rachel, der die Worte in die Kehle zurückgedrückt wurden. Helen, die sich neben ihr vorwärtskämpfte, war plötzlich vom Bewegungsrausch gepackt und schob sich, beide Hände am Haar, während die Röcke sich ihr um die Knie wickelten, Schritt für Schritt voran. Der Rausch erstarb jedoch mit der Zeit, und der Wind wurde rauh und kühl. Sie schauten durch einen Spalt der Jalousie und stellten fest, daß im Speisezimmer lange Zigarren geraucht wurden. Sie sahen, wie Mr Ambrose sich ausgelassen gegen die Lehne zurückwarf, während Mr Peppers Wangen sich in Falten legten, als wären sie holzgeschnitzt. Geisterhaft schwach drang brüllendes Gelächter an ihr Ohr und verlor sich sofort im Wind. In dem trockenen, gelbbeleuchteten Raum bekamen Mr Pepper und Mr Ambrose von dem ganzen Aufruhr nichts mit; sie waren in Cambridge, und man schrieb wahrscheinlich ungefähr das Jahr 1875.
»Sie sind alte Freunde«, sagte Helen angesichts dieser Szene lächelnd. »Haben wir denn auch einen Platz, wo wir sitzen können?«
Rachel öffnete eine Tür.
»Es ist eher ein Treppenabsatz als ein richtiger Raum«, sagte sie. Tatsächlich hatte er nichts von der Abgeschlossenheit und Unverrückbarkeit eines Raumes an Land. In der Mitte war ein Tisch verankert, und Stühle waren an seine Seiten geklemmt. Passenderweise hatte die Tropensonne die Tapete zu einem verwaschenen Blaugrün gebleicht, und der Spiegel mit seinem Muschelrahmen, Werk der Liebe des Stewards aus Tagen, da die Zeit in der Südsee stillzustehen schien, war eher kurios als häßlich. Gedrehte Muscheln mit rotem Saum wie Einhornhörner verzierten den Kaminsims, der mit einem Pallium aus violettem Plüschsamt drapiert war, von dem eine ganze Anzahl Bommeln herabhing. Zwei Fenster gingen aufs Deck hinaus, und das starke Licht, das durch sie hereingefallen war, als das Schiff auf dem Amazonas von der Sonne gedörrt wurde, hatte die Drucke an der Wand gegenüber so sehr vergilben lassen, daß »Das Kolosseum« kaum von der mit ihren Spaniels spielenden Königin Alexandra zu unterscheiden war. Ein Paar Schaukelstühle am Kamin lud dazu ein, sich die Hände an einem Kaminrost voller goldener Späne zu wärmen; eine große Lampe schwang über dem Tisch – die Art Lampe, die für einen Spaziergänger auf dem Lande über dunklen Feldern das Licht der Zivilisation bedeutet.
»Das ist schon seltsam, daß jeder ein alter Freund von Mr Pepper sein soll.« Rachel machte nervös den Anfang, denn die Situation war schwierig, der Raum kalt und Helen merkwürdig schweigsam.
»Du kannst wohl nichts mit ihm anfangen?« sagte ihre Tante.
»Er ist wie dies hier«, sagte Rachel, die in einer Schale einen versteinerten Fisch entdeckte und ihn herausnahm.
»Ich würde meinen, du bist zu streng«, bemerkte Helen.
Rachel versuchte sofort, näher zu erklären, was sie gegen ihre eigene Überzeugung behauptet hatte.
»Ich kenne ihn nicht wirklich«, sagte sie und suchte Zuflucht bei den Tatsachen, da sie glaubte, ältere Menschen zögen solche den Gefühlen vor. Sie gab zum besten, was sie über William Pepper wußte. Sie erzählte Helen, daß er immer sonntags zu Besuch kam, wenn sie zu Hause waren; er wußte über ungeheuer viele Dinge Bescheid – über Mathematik, Geschichte, Griechisch, Zoologie, Ökonomie und die isländischen Sagas. Er hatte persische Poesie in englische Prosa übertragen und englische Prosa in griechische Jamben; er war eine Autorität auf dem Gebiet der Münzkunde und noch auf einem anderen – ach ja, sie glaubte, es handle sich um das Beförderungswesen.
Er war mit von der Partie, entweder um Dinge aus dem Meer zu holen, oder um über den mutmaßlichen Kurs von Odysseus zu schreiben, denn Griechisch war schließlich sein Steckenpferd.
»Ich habe all seine Broschüren«, sagte sie. »Kleine Broschüren. Kleine gelbe Büchlein.« Es hörte sich nicht so an, als habe sie sie gelesen.
»Ist er je verliebt gewesen?« fragte Helen, die einen Platz gewählt hatte.
Die unumwundene Frage kam für Rachel unerwartet.
»Sein Herz ist ein altes Stück Schuhleder«, erklärte Rachel und ließ den Fisch fallen. Doch auf genaueres Befragen mußte sie einräumen, daß sie ihn nie danach gefragt hatte.
»Ich werde ihn fragen«, sagte Helen.
»Letztes Mal, als ich dich gesehen habe, kauftest du gerade ein Klavier«, fuhr sie fort. »Erinnerst du dich – das Klavier, das Zimmer im Dachgeschoß und die großen Pflanzen mit den Stacheln?«
»Ja, und meine Tanten, meinten die nicht, das Klavier würde durch den Fußboden brechen, doch in ihrem Alter hätten sie nichts dagegen, nachts erschlagen zu werden?« fragte sie zurück.
»Ich habe vor gar nicht langer Zeit von Tante Bessie gehört«, erzählte Helen. »Sie befürchtet, daß du dir die Arme verdirbst, wenn du weiter so hartnäckig übst.«
»Die Unterarmmuskeln – und dann bleibt man unverheiratet?«
»Ganz so hat sie es nicht ausgedrückt«, antwortete Mrs Ambrose.
»Nein, nein – selbstverständlich täte sie das nicht«, sagte Rachel mit einem Seufzer.
Helen betrachtete sie. Ihre Züge waren eher schwach ausgebildet als ausgeprägt, wurden jedoch durch die großen, forschend blickenden Augen vor Geistlosigkeit bewahrt; Schönheit war ihnen versagt, jetzt da sie sich im schützenden Innern befand, durch den Mangel an Farbe und ausgeprägten Linien. Hinzu kam ihre zögernde Art zu sprechen oder vielmehr die Neigung, die falschen Worte zu wählen, die sie für ihr Alter überdurchschnittlich unbeholfen erscheinen ließ. Mrs Ambrose, die bislang zumeist nur gesagt hatte, was ihr gerade in den Sinn kam, war nun bei der Überlegung angelangt, daß die Aussicht auf drei oder vier Wochen drohender Intimität an Bord nicht eben erfreulich war. Da gewöhnlich schon Frauen ihres Alters sie langweilten, nahm sie an, daß es mit jungen Mädchen noch schlimmer werden mußte. Wieder warf sie Rachel einen flüchtigen Blick zu. Ja! Es war nur allzu deutlich, daß sie wankelmütig, gefühlsbetont sein würde, und wenn man etwas zu ihr sagte, würde das keinen nachhaltigeren Eindruck hinterlassen als ein Stockschlag ins Wasser. Mädchen hatten so gar nichts Greifbares an sich – nichts Festes, Dauerhaftes, Ergiebiges. Hatte Willoughby gesagt, drei Wochen, oder hatte er vier gesagt? Sie versuchte, sich zu erinnern.
In diesem Augenblick öffnete sich jedoch die Tür, und ein großer kräftiger Mann kam herein, trat auf sie zu, und aus dem herzlichen Händedruck, mit dem er Helen begrüßte, sprach eine gewisse Rührung – Willoughby selbst, Rachels Vater, Helens Schwager. Da es, so breit, wie er gebaut war, einer erheblichen Menge Fleischs bedurft hätte, um aus ihm einen dicken Mann zu machen, war er nicht dick; sein Gesicht war ebenfalls breit und schien so, wie es sich darbot, mit den unbedeutenden Zügen und dem kräftigen Ton der Wangen –, eher geeignet, den Unbilden der Witterung zu trotzen als Gefühlsregungen auszudrücken oder auf die anderer Menschen zu reagieren.
»Es ist wirklich schön, daß ihr gekommen seid«, sagte er, »wir freuen uns beide sehr.«
Rachel murmelte auf den Blick des Vaters hin folgsam.
»Wir werden unser Bestes tun, um es dir angenehm zu machen. Und Ridley. Es ist uns eine Ehre, ihn in unserer Obhut zu haben. Pepper wird jemanden finden, der ihm widerspricht – was ich nicht zu tun wage. Findest du nicht, daß dies Kind hier groß geworden ist? Eine junge Frau, hm?«
Er hielt immer noch Helens Hand und legte nun Rachel den Arm um die Schulter, so daß sie peinlich dicht beieinander standen, doch Helen weigerte sich hinzuschauen.
»Findest du, daß sie uns Ehre macht?« fragte er.
»Oh ja«, sagte Helen.
»Wir erwarten nämlich Großes von ihr«, fuhr er fort, drückte den Arm seiner Tochter und ließ sie dann los. »Doch nun zu dir.« Sie setzten sich nebeneinander auf das kleine Sofa. »Hast du die Kinder unbesorgt zurücklassen können? Die werden schon bald zur Schule gehen, wie? Geraten sie nach dir oder nach Ambrose? Ich möchte wetten, daß sie Köpfchen haben, hm?«
Daraufhin hellte sich Helens Miene schlagartig zum erstenmal richtig auf, und sie erklärte, ihr Sohn sei sechs und ihre Tochter zehn. Alle seien der Meinung, der Junge komme nach ihr und das Mädchen nach Ridley. Was ihren Kopf angehe, so glaube sie schon, daß sie aufgeweckte Dinger seien, und sie ging so weit, in bescheidenem Ton eine kleine Geschichte über ihren Sohn zum besten zu geben – wie der einmal, eine Minute lang unbeaufsichtigt, seine Butterportion mit den Fingern genommen habe, damit durchs Zimmer gelaufen sei und sie ins Feuer getan habe – einfach nur so zum Spaß, eine Regung, für die sie durchaus Verständnis habe.
»Und da mußtest du dem kleinen Strolch klarmachen, daß man ihm solche Streiche nicht durchgehen läßt, wie?«
»Einem sechsjährigen Kind? Ich glaube nicht, daß man so etwas ernstnehmen muß.«
»Ich bin ein altmodischer Vater.«
»Unsinn, Willoughby; Rachel weiß das besser.«
Willoughby hätte zweifellos gern gehört, daß seine Tochter etwas zu seinem Lob gesagt hätte, doch sie tat es nicht; ihre Augen blickten so ausdruckslos wie Wasser, ihre Finger spielten immer noch mit dem versteinerten Fisch, sie war geistesabwesend. Die beiden Älteren wandten sich nun den Vorkehrungen zu, die sich zu Ridleys Bequemlichkeit treffen ließen – ein Tisch sollte so aufgestellt werden, daß er gar nicht anders konnte, als auf die See zu blicken, weit weg von den Kesseln und doch so, daß er gegen die Blicke Vorübergehender geschützt wäre. Wenn er nicht jetzt Ferien machte, wo alle Bücher eingepackt waren, würde er niemals welche machen; denn einmal drüben in Santa Marina, das wußte Helen aus Erfahrung, würde er den ganzen Tag lang arbeiten; seine Schiffskoffer, sagte sie, seien vollgepackt mit Büchern.
»Überlaß das ruhig mir – überlaß das ruhig mir!« sagte Willoughby, der offenkundig bestrebt war, weit mehr zu tun als das von ihm Verlangte. Doch nun waren Ridley und Mr Pepper zu hören, die sich an der Tür zu schaffen machten.
»Guten Abend, Vinrace«, sagte Ridley und streckte ihm eine schlaffe Hand entgegen, als sei ihre Begegnung zwar für beide von Melancholie erfüllt, mehr jedoch für ihn selbst.
Willoughby blieb bei seinem herzlichen Tonfall, der allerdings durch Respekt gemäßigt wurde. Einen Augenblick lang sagte niemand etwas.
»Wir haben hineingeschaut und euch lachen sehen«, bemerkte Helen. »Mr Pepper hatte gerade eine sehr gute Geschichte erzählt.«
»Iwo. Keine war gut«, sagte ihr Gatte grämlich.
»Immer noch so ein gestrenger Richter, Ridley?« versetzte Mr Vinrace.
»Wir haben euch so gelangweilt, daß ihr gegangen seid«, sagte Ridley, unmittelbar an seine Frau gewandt.
Da das stimmte, versuchte Helen auch nicht zu widersprechen, und ihre nächste Bemerkung – »Aber sind die denn nicht besser geworden, nachdem wir gegangen waren?« – war unglücklich gewählt, denn ihr Gatte antwortete darauf mit einem Achselzucken: »Sie sind womöglich noch schlechter geworden.«
Die Situation bereitete allen Beteiligten beträchtliches Unbehagen, wie das lange, beklommene Schweigen bewies, das nun eintrat. So war es denn auch eher ein Ablenkungsmanöver, daß Mr Pepper, mit der Hurtigkeit einer alten Jungfer beim Anblick einer Maus, in seinen Sessel sprang, als er Zugluft um die Knöchel spürte, und sich im Schneidersitz darin niederließ. In dieser Stellung, an seiner Zigarre saugend und die Arme um die Knie geschlungen, sah er wie das Ebenbild Buddhas aus, und kraft solcher Erhabenheit begann er, eine Rede über die unauslotbaren Tiefen des Ozeans zu halten, die an niemanden gerichtet war, denn es hatte niemand danach verlangt. Er äußerte, es habe ihn überrascht zu erfahren, daß nicht eins von Mr Vinraces zehn Schiffen, die doch regelmäßig zwischen London und Buenos Aires verkehrten, den Auftrag habe, die großen weißen Ungeheuer der Tiefsee zu erforschen.
»Nein, nein«, Willoughby lachte, »die Ungeheuer zu Lande sind schon zu zahlreich für meinen Geschmack!«
Von Rachel war der Seufzer zu hören: »Arme kleine Ziegen!«
»Ohne Ziegen gäb's auch keine Musik, mein Kind; die Musik ist auf die Ziegen angewiesen«, sagte ihr Vater in ziemlich scharfem Ton, und Mr Pepper verlegte sich nun darauf, die weißen haarlosen, blinden Ungeheuer zu beschreiben, die am Meeresboden zusammengerollt auf den Sandkämmen lägen und die explodieren würden, wenn man sie an die Wasseroberfläche brächte – ihre Flanken würden zerplatzen und ihre Eingeweide in alle Himmelsrichtungen fliegen, sowie der Druck aufhörte –, und er tat das mit ungeheurer Ausführlichkeit und unter Aufbietung seiner gesamten Kenntnisse, so daß Ridley sich abgestoßen fühlte und ihn aufzuhören bat.
Aus all diesem zog Helen für sich ihre Schlußfolgerungen, und die waren düster genug. Pepper war ein Langweiler; Rachel war ein unbedarftes Mädchen, zweifellos ein Born der Geständnisfreude, und der erste Beweis dafür wären die Worte: »Ich verstehe mich nämlich nicht mit meinem Vater.« Willoughby war gewöhnlich mit dem Herzen bei seinem Geschäft und hatte mit der Errichtung seines Imperiums zu tun, und sie würde sich in dieser Umgebung ungeheuer langweilen. Da sie jedoch eine tatkräftige Frau war, stand sie auf und erklärte, sie für ihren Teil gehe jetzt schlafen. An der Tür wandte sie sich instinktiv nach Rachel um, da sie annahm, als Angehörige desselben Geschlechts würden sie den Raum gemeinsam verlassen. Rachel stand auf, schaute Helen mit einem unbestimmten Ausdruck ins Gesicht und erklärte mit ihrem leichten Stottern: »Ich werde jetzt dem W-w-wind trotzen.«
Mrs Ambrose sah ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt; sie ging, von Wand zu Wand taumelnd, den Flur entlang, und indem sie sich mal mit dem rechten, mal mit dem linken Arm abstützte, rief sie bei jeder schlingernden Bewegung nachdrücklich: »Verdammt!«
Ungemütlich, wie die Nacht mit ihrem Geschaukel und ihren Salzgerüchen gewesen sein mochte, und in einem Fall war sie es bestimmt gewesen, denn Mr Pepper hatte unzureichendes Bettzeug gehabt, das Frühstück am nächsten Morgen war in gewisser Hinsicht ein schöner Augenblick. Die Reise hatte begonnen und dies dankenswerterweise bei sanftblauem Himmel und ruhiger See. Die Ahnung noch unerschlossener Quellen, des noch Ungesagten, das gesagt werden wollte, verlieh der Stunde Bedeutung in dem Sinne, daß in künftigen Jahren vielleicht die ganze Reise in dieser einen Szene präsent bliebe, in die sich, wie auch immer, der Klang der Schiffssirenen mischen würde, die in der Nacht zuvor auf dem Fluß getutet hatten.
Der Tisch bot mit seinen Äpfeln, dem Brot und den Eiern einen heiteren Anblick. Helen reichte Willoughby die Butter, ließ, während sie das tat, den Blick auf ihm ruhen und dachte: »Und sie hat dich geheiratet und war wohl glücklich.«
Sie verlor sich in einem vertrauten Gedankengang, der zu allen möglichen wohlbekannten Überlegungen führte und von der alten Verwunderung ihren Ausgang nahm, weshalb Theresa bloß Willoughby geheiratet hatte.
»Das liegt natürlich auf der Hand«, befand sie und meinte damit, daß er groß und kräftig war und eine volle dröhnende Stimme und Durchsetzungsvermögen und eine ungeheure Willenskraft besaß; »doch –«, und an diesem Punkt glitt sie in eine feinsinnige Analyse seiner Person über, die in dem einen Wort »sentimental« gipfelte, worunter sie verstand, daß er, was seine Gefühle betraf, niemals schlicht und aufrichtig war. So sprach er zwar beispielsweise selten von den Toten, machte jedoch um Gedenktage viel Gewese. Sie verdächtigte ihn namenloser Grausamkeiten gegenüber seiner Tochter, wie sie ihn im Grunde auch stets im Verdacht gehabt hatte, seine Frau zu schikanieren. Natürlich lag es nahe, daß sie ihr eigenes Schicksal mit dem Schicksal ihrer Freundin verglich, denn Willoughbys Frau war vielleicht die einzige Frau gewesen, die Helen je als Freundin bezeichnet hatte, und dieser Vergleich war häufig der Hauptgegenstand ihres Gesprächs gewesen. Ridley war ein Gelehrter, und Willoughby ein Geschäftsmann. Ridley brachte den dritten Band Pindar heraus, als Willoughby sein erstes Schiff vom Stapel laufen ließ. Sie bauten eine neue Werft in dem Jahr, als der Aristoteles-Kommentar – der war es doch gewesen? – in der University Press erschien. »Und Rachel«, sie schaute sie an, zweifellos in der Absicht, nach allem Für und Wider, das ein allzu ausgeglichenes Bild ergeben hatte, auf die Weise zu einer Entscheidung zu gelangen, daß sie befand, Rachel halte den Vergleich mit ihren eigenen Kindern nicht aus. »Sie könnte wirklich sechs Jahre alt sein«, war allerdings alles, was sie dazu äußerte, und ihr Urteil bezog sich auf das glatte, unausgeprägte Gesicht des Mädchens und verurteilte sie sonst in keiner Weise, denn falls Rachel jemals denken, fühlen, lachen oder sich äußern sollte, statt nur die Milch aus einigem Abstand herabtropfen zu lassen, als wollte sie sehen, was für Tropfen das ergab, dann würde sie vielleicht interessant sein können, wenn auch niemals richtig schön. Sie ähnelte ihrer Mutter, wie das Spiegelbild in einem Teich an einem stillen Sommertag dem erhitzten und geröteten Gesicht ähnelt, das sich darüber beugt.