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Nicholson Baker

U & I - Wie groß sind die Gedanken?

Aus dem Englischen von Eike Schönfeld

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Nicholson Baker

Nicholson Baker, geboren 1957 in Rochester/New York, studierte an der Eastman School of Music und am Haverford College, Pennsylvania. Für sein Buch «Der Eckenknick» erhielt er 2002 den National Book Critics Circle Award. Baker ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Maine.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Rolltreppe oder Die Herkunft der Dinge

Vox

Zimmertemperatur

Norys Storys

Die Fermate

Checkpoint

Der Eckenknick

Haus der Löcher

Der Anthologist

Über dieses Buch

Nicholson Baker, der «erbarmungslos amüsante Philosoph des Materiellen» (FAZ), denkt in seinen überraschenden Essays nicht nur über die messbare Größe von Gedanken nach oder über eine Theorie des Meinungswandels, sondern auch über das Wetter, die Technik des Nagelschneidens und sexuelle Empfindungen. Kernstück ist ein fulminanter Text über seinen Lieblingsautor John Updike. Essays als Vergnügen!

 

«Glücklicher kann man als Leser nicht werden.» (Gustav Seibt, Berliner Zeitung)

 

«Essays vom Allerfeinsten: geistreich, intim und zeitweise ‹schreiend komisch›» (Die Zeit).

Impressum

Der deutschen Ausgabe liegen zwei Bücher zugrunde.

Die Originalausgabe von «U & I» erschien 1991 unter demselben Titel bei Random House, New York, die für die deutsche Fassung um zwei Essays gekürzte von «Wie groß sind die Gedanken?» unter dem Titel «The Size of Thoughts» 1996 ebenda.

 

Ein kleiner Teil von «U & I» wurde erstmals in «The Atlantic Monthly» publiziert, ebenso «Changes of mind» [«Sinneswandel»], «The Size of Thoughts» [«Wie groß sind die Gedanken?»] und «Rarity» [«Seltenheit»]. «Ice Storm» [«Eisregen»], «Reading Aloud» [«Laut vorlesen»], «The Projector» [«Der Projektor»], «Discards» [«Verzettelt»], «Clip Art» [«Knipskunst»] und «Books as Furniture» [«Bücher als Möbel»] erschienen vorab in «The New Yorker»; «The History of Punctuation» [«Die Geschichte der Interpunktion»] im «New York Review of Books»; «Model Airplanes» [«Modellflugzeuge»] und «The Northern Pedestal» [«Das nördliche Podest»] in «Esquire» und «A Novel by Alan Hollinghurst» [«Ein Roman von Alan Hollinghurst»] in «The London Review of Books».

 

Die deutsche Übersetzung von «Der Projektor» stammt von Willi Winkler. Die darin verwendeten Illustrationen sind von Mark Zingarelli. Copyright © 1994 by Mark Zingarelli

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2014

Copyright © 1998 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«U & I» Copyright © 1991 by Nicholson Baker

«The Size of Thoughts» Copyright © 1982, 1983, 1984, 1989, 1991, 1992, 1993, 1994, 1995, 1996 by Nicholson Baker

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung C. Günther/W. Hellmann

(Foto: MAURITIUS-AGE)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN Printausgabe 978-3-499-22592-5 (1. Auflage 1999)

ISBN E-Book 978-3-644-03221-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-03221-7

Fußnoten

1

In der deutschen Ausgabe, Amerikaner und andere Menschen, nicht enthalten. Im Folgenden werden, wenn übersetzt, jeweils die deutschen Titel erwähnter Werke verwendet, wenn nicht, die Originaltitel (A.d.Ü.).

2

Auf Deutsch in Henry Bech enthalten (A.d.Ü.)

3

Teile in Der verwaiste Swimmingpool

4

Teile in Werben um die eigene Frau. Gesammelte Erzählungen

5

Teile in Werben um die eigene Frau. Gesammelte Erzählungen

6

Teile in Der verwaiste Swimmingpool

7

Teile in Werben um die eigene Frau. Gesammelte Erzählungen

8

Der Originaltitel von Einflussangst

U & I

Eine wahre Geschichte

Für meine Mutter

Uns wollen sie vielleicht sehen,

aber über sich werden sie reden wollen.

Cyril Connolly

Eins

Am 6. August 1989, es war ein Sonntag, saß ich im Arbeitszimmer meines Schwiegervaters in Berkeley (wir hüteten ein) wie gewöhnlich auf einem mit blutrot gepunkteten Kissen gepolsterten Alu-Liegestuhl, legte die Beine hoch und rückte die auf einem Kurzwörterbuch ruhende Tastatur auf meinem Schoß zurecht. Ich tippte Datum und Uhrzeit ein, 9.46 Uhr. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Thema ich mir an dem Morgen vornehmen würde. Etwa eine Woche zuvor hatte ich einen Roman beendet und abgeschickt, meinen zweiten, und war noch immer erfüllt von dem irreführenden Schwung, der zwar die Fertigstellung von Romanen ermöglicht, aber im Allgemeinen auch mit einem enttäuschend flauen und gehetzten Gefühl der zweiten Hälfte oder dem letzten Drittel gegenüber einhergeht, wobei die wachsende Gewissheit des Autors, nun endlich ein Profi zu sein, endlich zu wissen, wie der Hase läuft, exakt mit jener unerfreulichen, nervösen Empfindung seitens des Lesers zusammenfällt, in ein Gefüge von Figuren und Schauplätzen eingesperrt zu sein, die er nun schon ein bisschen zu gut kennt, um noch Gefallen daran zu finden. Zu gern wollte ich ineinsbildend auf die Tasten einhämmern, und das Nahen ebendieses Vergnügens ließ die Worte «gleich morgens mit Schreiben zu beginnen verliert nie seinen Reiz» in dem Zu-tippen-Warteraum meines Bewusstseins erscheinen; doch bevor ich die Finger in Bewegung setzen konnte, erinnerte ich mich, dass Updike in Selbst-Bewusstsein etwas Ähnliches gesagt hatte: «Im Morgenlicht kann man zügig, ohne die geringste Beschleunigung des Pulses, über das schreiben, worüber man im Dunkeln nicht nachdenken kann, ohne in Panik Zuflucht bei Gott zu suchen.» Für mich ein bemerkenswerter Satz (wenngleich ich mir nur die erste Hälfte merkte), nicht nur, weil er mir einfach und wahr erschien, sondern weil ich ihn zweimal gelesen hatte, zuerst als Zitat in einer Rezension und dann im Buch selbst. Und mit dieser Erinnerung an Updike zögerte ich: Ich tippte nicht, was ich tippen wollte; ich änderte den Kurs.

Donald Barthelme war gerade gestorben, am 23. Juli. Meine Frau hatte den Associated-Press-Nachruf in der Zeitung gesehen. Mein Gefühl, von der literarischen oder akademischen Gemeinschaft, falls es denn so etwas gibt, abgesondert zu sein, wurde dadurch verstärkt, dass ich von Barthelmes Tod nicht durch einen schmerzerfüllten Anruf von einem ihm Nahestehenden oder einem treuen Leser seiner Werke erfahren hatte, sondern lediglich aus der Lokalzeitung, deren Informationen jedermann zugänglich sind. Beunruhigt starrte ich eine halbe Stunde vor mich hin, unsicher, was ich nun tun sollte, während meine Frau mit großen Augen mitten auf dem Teppich stand und sagte: «Es tut mir ja so leid, es tut mir ja so leid.» Schließlich beschloss ich, einen Beileidsbrief an seinen Redakteur beim New Yorker zu schreiben, begann aber nicht damit. Dann bekam meine Tochter einen Ohrinfekt. Am ersten August sagte sie: «Ich ersticke gleich, Daddy, ich will nicht ersticken», und ich hielt sie unbeholfen über die Spüle, wobei ich ihre Stirn mit der Hand umfasste (ich erinnerte mich unvermittelt, wie meine Mutter mir die Stirn gehalten hatte und diese Gehirnumarmung etwas von den Qualen der Krankheit auf eine höhere Macht übertrug), und ich spürte, wie sich ihre Bauchmuskeln kräftig anspannten. Noch am selben Tag ging ich mit ihr zum Arzt und besorgte ihr Antibiotika, und als wir wieder nach Hause kamen, fiel mir ein, dass ich meinem Großonkel Dick, der schwer krank war, noch einen Brief schuldete. Anstatt ihn zu schreiben, unternahm ich mehrere Anläufe, den Barthelme-Brief an den New Yorker hinzukriegen. Ich verwarf «Ich bin aufgewühlt», «untröstlich» und «Er war ein ganz Großer». Doch während ich mich mühte, etwas zu formulieren, was unmanieriert klang, fiel mir auf, dass meinen Anstrengungen ein moralisch ärgerlicher Makel anhaftete. Diese schwarzen Balken, diese schwarzen Balken, dachte ich immer wieder, die der New Yorker geschmackvollerweise über seine Nachrufe setzt: Sie kommen immer ganz am Ende des Heftes, und kürzlich hatte es welche auf Saxon und Addams gegeben. Aber der Nachruf, an den ich sofort denken musste, war der, den Updike anlässlich Nabokovs Tod geschrieben hatte und der in seinem Essayband Hugging the Shore[1] abgedruckt war: Ich erinnerte mich an keine besondere Wendung, bis auf eine, in der es so schön hieß, dass nach allgemeiner Übereinkunft Lolita wohl sein bester Roman auf Englisch und Die Gabe wohl sein bester auf Russisch sei (ich hatte mir dieses Urteil gemerkt, weil beide nicht meine Lieblingsbücher waren), aber an seinen Ton erinnerte ich mich: freundlich, ernst, unsentimental, flüssig, aber nicht affektiert, bewusst unspektakulär und frei von Rivalität – ein mustergültiger Nachruf. Und ich wusste, dass den Barthelme-Nachruf wahrscheinlich Barthelmes Redakteur beim New Yorker schreiben würde und dass die Ehrung vermutlich anonyme Zitate von Weggefährten und Schriftstellerkollegen enthalten würde. Und genau darin lag der ersichtliche Makel des Falschen in meiner Haltung, denn ein nicht unbeträchtlicher Anteil dessen, was mich trieb, den Beileidsbrief zu schreiben, war mein egozentrischer, untrauernder Ehrgeiz, wenigstens einen Satz darin hinzukriegen, der ebensolches Format hatte wie viele in Updikes Nachruf auf Nabokov und der folglich die kummervolle, aber nicht tränenerstickte Zitierfähigkeit besaß, mit der ich anonym den «Sprung» in den Barthelme-Nachruf «schaffen» würde, wie in eine Mannschaft.

Angewidert von meinen gemischten Beweggründen schrieb ich trotzig einen knappen, völlig unexzerpierbaren Viersätzer, der im Wesentlichen aussagte: vermisse ihn, wunderbare Titel, mühelose Originalität, danke, dass er bei Ihnen erscheinen konnte, Großer dieses Jahrhunderts. «Irgendwie holprig», befand meine Frau. Ich schickte ihn trotzdem ab; die Holprigkeit war der Beweis meiner Tugendhaftigkeit. (Der Nachruf erschien denn auch; nicht, wie sich zeigte, am Ende der Zeitschrift mit einem schwarzen Balken darüber, sondern unter «Notes and Comment» am Anfang, und tatsächlich waren mehrere Zitate darin enthalten – keines von mir.) Aber ich war noch immer traurig. Meine Reaktion war zwar von ansprechender Selbstverleugnung gewesen, dem Ernst der Sache jedoch nicht gerecht geworden. Ich überlegte kurz, ob ich eine neojamessche Erzählung über einen Mann schreiben sollte, der vom Tod eines namhaften Schriftstellers hört, den er seit langem bewundert hat, worauf er sich mit einem Beileidsbrief an den Redakteur des Namhaften abquält, sich Vorwürfe macht, dass er sich abquälen muss, statt einfach und spontan zu trauern, und hin und her überlegt, ob er die anderen Briefentwürfe, die verraten, wie hart er daran gearbeitet hat, den angemessenen spontanen Ton zu treffen, vernichten soll oder ob solche Täuschungsmanöver, durch die er künftige Biographen ihres Materials beraubte, einen schlagenden Beweis dafür liefern würden, wie leicht er seine literarische Zukunft nahm. Doch eine Fiktionalisierung wäre, so dachte ich, ein weit kruderer opportunistischer Gebrauch meiner Verwirrung über Barthelmes Tod, als ein Brief von üppiger Zitierfähigkeit es gewesen wäre.

Auch erwog ich, eine kritische Würdigung Barthelmes, die ich schon seit Jahren im Sinn gehabt hatte, zu schreiben. Schließlich war das die übliche Art, die Lücke zu füllen, die ein Schriftsteller hinterlässt. Henry James etwa hatte nach Emersons und Hawthornes Ableben lange, wundervolle Gedenksachen über sie geschrieben; Trollope verriss er übel, solange Trollope noch lebte und die Rezension lesen konnte, doch kaum war Trollope zur letzten Ruhe eingenickt, schrieb James mit ungeheurer, toleranter Zuneigung über ihn. Und auch Updike hatte lange hübsche Sachen über Hawthorne und Melville geschrieben sowie bedeutende Besprechungen von Wilsons posthumen Tagebüchern und eben auch den Nachruf auf Nabokov. Angeregt also von diesen fortgeschrittenen Praktikern, konnte ich Barthelme langsam und sorgfältig wieder lesen, mich in eine ehrfürchtige, fanatische Empfänglichkeit für die ihm innewohnenden Stärken hineinsteigern (wie ich vom College her wusste, neigte ich dazu, das bei jedem wahrhaft guten Schriftsteller zu tun, dem ich viel Zeit widmete) und seine Schwächen auf eine Weise entschuldigen, die mich klug und hellsichtig erscheinen ließ und nicht lediglich blind. Aber wozu der Aufwand? Barthelme würde es nicht mehr erfahren. Und in jedem Fall wollte ich, dass meine Wahl dessen, was ich zu einem bestimmten Zeitpunkt las, das Ergebnis vielschichtigerer Gründe als der simplen Erfordernis eines nachrufenden Überblicks sein sollte. Das heißt, ich wollte Barthelme nur wieder lesen, wenn ich Barthelme auch wirklich wieder lesen wollte, und nicht, wenn sein Tod mich plötzlich dazu verpflichtete. Zudem war er auch gestorben, als er etwas aus der Mode war, und ich war begierig, aus erster Hand die Mikrobiologie einsetzender Aufwertung oder fortschreitenden Vergessens zu beobachten, was ich bei früheren Gelegenheiten, etwa bei John O’Hara oder John Gardner, versäumt hatte. Noch verspürte ich kein gesteigertes Bedürfnis danach, meine persönliche Meinung über ihn, soweit man überhaupt sagen konnte, ich hätte etwas so Festgelegtes wie eine Meinung über ihn, zu verbreiten.

Die Wendung, um deren Einbeziehung die Rezensenten sich so bemühen, wenn sie ihr Urteil verkünden – nämlich zu sagen, Soundso sei unter den lebenden Schriftstellern erstrangig oder nicht –, war mir früher unnötig erschienen: Das Werk, so hatte ich gemeint, sei gut oder schlecht, egal, ob der Schriftsteller noch lebt oder nicht. Nun aber, nach der Nachricht vom Tode Barthelmes, wurde diese schlichte Tatsache des Seins oder Gewesenseins, die ich im Kern schon so langsam akzeptiert hatte, die eine, allerwichtigste Zusatzinformation, die ich, wie ich meinte, über einen Schriftsteller erlangen konnte: wichtiger noch als das Alter, in dem er ein bestimmtes Werk geschrieben hatte, oder seine Nationalität, sein Geschlecht (man verzeihe mir das Pronomen), seine politischen Neigungen, sogar, ob er nach jemandes Meinung überhaupt Talent hatte oder nicht. Lebt er, oder ist er tot? – mehr will ich nicht wissen. Die intellektuelle Projektionsfläche, die wir den toten Autoren darbieten, hat in Struktur und chemischer Zusammensetzung eine feine Veränderung erfahren; tausend Details der Freude, des Zusammengehörigkeitsgefühls und der Nachsicht beginnen sich in dem Moment, da Erstere das Zeitliche segnen, neu zu formulieren. Die lebenden denken und tun potenziell genau dasselbe, was auch wir tun: sich durch eine vollautomatische Autowaschanlage ziehen lassen, zusehen, wie ein Pony an einer Möhre kaut, bemerken, dass eine bedeutende Kirche orange eingerüstet ist. Von den Schlüssen, die sie ziehen, wissen wir, dass es Schlüsse sind, die sie daraus ziehen, wie die Dinge jetzt sind. Ja, für mich als einen Romancier, der noch am Anfang steht, bilden alle anderen lebenden Schriftsteller eine Kontrollgruppe, für die die Welt ein Placebo ist. Selbstredend mögen die toten hilfreich sein, aber wir können nur grob raten, wie sie auf dieses sich herausbildende Zeitpartikel, das die einzige Zeit ist, die wir haben, reagieren würden. Und wenn wir wirklich raten, sind wir ihnen gegenüber unfair. Selbst wenn die toten, wie Barthelme, unerwartet und relativ jung gestorben sind, schenken wir ihnen ihren feierlichen Augenblick und machen uns dann schnell daran, sie mit biographischer Herablassung zu behandeln, darüber zu reden, «wie viel Freude» sie an x hatten oder dass sie sich über y «lustig machten» – Wendungen, die allein schon durch ihre 08/15-Niedlichkeit verraten, wie fremd und kindlich uns die Nuancen nun erscheinen. Posthum werden ihre Beweggründe lächerlich simpel, ihre Freuden primitiv und statisch; ihre Emotionen tragen sämtlich Bühnenschminke, und kaum je werfen wir aus Unmut über etwas, was sie gesagt haben, ihre Bücher durchs Zimmer. Im Grunde können wir sie nicht mehr verstehen. Der Leser der lebenden sieht das Werk, bewusst oder unbewusst, bis zu einem gewissen Grad immer auch mit den Augen des lebenden Schriftstellers; fühlt mit ihm, wenn er patzt, oder schließt in seine Reaktionen auf dessen Frühwerk beständig unterschwellige Spekulationen darüber ein, ob auch der Autor selbst jetzt bei einer Passage zusammenzucken oder zustimmend nicken würde. Die toten jedoch kann ein Eingeständnis, das sie gemacht, oder ein Fehler, den sie begangen haben, nicht mehr in Verlegenheit bringen. Wir spüren diese Unzugänglichkeit und passen unsere Sympathien entsprechend an.

Doch auf andere Weise gewinnen die toten auch durch den Tod. Der Grad autobiographischer Treue in ihrem Werk wird irgendwie weniger wichtig, vielmehr scheint äußerste Treue, anders als bei den lebenden, unserer Wertschätzung ihres Werks keinen Abbruch zu tun. Die lebenden schreiben «nur» über ihr Leben; die toten schreiben über ihr unwiederbringliches Leben, Mannomann! Egoismus, Monomanie, die wahnhaften Züge von Blake oder Smart oder dem Menschen, der diese elektrisierend schizophrenen Katzen gemalt hat, das alles sind sympathische Eigenschaften der toten. Um unsere Kultiviertheit über die Zeiten hinweg zu demonstrieren, lachen wir höflich, wenn wir, etwa bei Sheridan, spüren, dass ein Toter versucht, lustig zu sein, wenngleich selten mit jener lärmenden Ausgelassenheit, zu der die lebenden uns inspirieren können. An einer Stelle in Boswells Johnsons Leben kommt die Rede auf Garricks Beerdigung, die kurz zuvor stattgefunden hatte. Man unterhält sich darüber, wie prachtvoll und verschwenderisch sie war. Eine Frau sagt, sie habe gehört, jede Kutsche im Leichenzug sei von sechs Pferden gezogen worden. Da verliert Johnson schließlich die Geduld und sagt: «Madam, es waren ebenso wenig sechs Pferde wie sechs Phönixe.» Als ich das zum ersten Mal las, erschien mir Johnsons liebenswerte Pikiertheit komisch genug, um einen Ausruf und ein Schenkelklatschen zu verdienen; doch dieser Reaktion folgte die Verwirrung auf dem Fuße, weil ich mir im Moment des Gelächters und in der Echtheit meiner Belustigung sicher gewesen war, dass Johnson in dem Moment irgendwo, abgeschieden, von Reportern vergessen, am Leben sein musste, damit seine Worte so unmittelbar in Verbindung mit mir hatten treten können. Nun schwand diese Gewissheit, und ich hörte jenen hohl dröhnenden, klagenden Ton, den man erzeugen kann, indem man durch eine Versandröhre summt oder muht, als mir bewusst wurde, nein, Johnson war wirklich tot, und jegliches komische Leben, das ihm innewohnte, war von einer mystischen, phönixgleichen Unbeständigkeit – und wenn ich mir heute seinen Satz wieder ansehe, weiß ich, dass ich ihn zum Teil deshalb so komisch fand, weil eine solche Entrüstung bei toten Autoren witziger wirkt als bei lebenden. Man musste nicht dabei sein.

Und so gab ich die Barthelme-Sache ganz auf. Doch die diversen Morbiditäten, die sein Tod zeitigte – wie auch der Gedanke an die Zerbrechlichkeit und Kostbarkeit allen Lebens, den unweigerlich schon eine leichte Erkrankung des eigenen Kindes auslöst –, waren alle sehr präsent, als ich an jenem Sonntagmorgen Anfang August, erinnert an Updikes Satz, wie leicht einem die Worte am Morgen kommen, einen Augenblick zögerte. Updike war für mich als Vorbild und Einfluss viel wichtiger als Barthelme, und plötzlich empfand ich das Wissen, dass er lebte und schrieb und mit Selbst-Bewusstsein soeben eines seiner besten Bücher veröffentlicht hatte, als ungeheure Fügung. Wie glücklich ich mich schätzen konnte, dass ich lebte, während er lebte! Aber obwohl Updikes Buch sehr gut war – dem Prinzip des Gedächtnisses getreu, Dinge unter Stichworten abzuheften, und auch, wie ich fand, durchaus originell in der Art und Weise, wie es aus abgeschlossenen, themenbezogenen Essays eine Autobiographie aufbaute (wie Harold Nicolson in Some People aus den fiktionalisierten Bekannten eine Art Autobiographie geschaffen hatte) –, häuften sich darin auf unangenehme Weise Ahnungen von Vollendung, von letzter Erkenntnis und versagenden Körperfunktionen sowie eine Art distanzierter, fliegenfischender Rückschau, die etwas ganz anderes war als das Bedürfnis des jungen Schriftstellers, die obersten Schichten seiner Erinnerungen an Grundschule und Highschool loszuwerden, damit er ohne deren ständige Ablenkung weitergehen kann. Das gerahmte Foto vorn auf dem Umschlag (sein bei weitem bestaussehender Umschlag) war eindeutig dasselbe, das am Anfang von Auf der Farm detailliert beschrieben ist – er machte reinen Tisch. Ebenso wenig hatte mir eine jüngere Erzählung von ihm über einen Mann Mitte sechzig gefallen, der Tag für Tag auf dem Weg zum Briefkasten von den Tauben erschreckt wurde, die bei seinem Nahen unvermittelt aufflatterten. Das Bild war toll, aber die Implikation, dass Updike seine Intelligenz auf seine Vergesslichkeit ansetzte, darauf, was man Neues über den Verlust seiner Kräfte sagen konnte, war sehr verstörend. Wo Barthelme nun tot war, bekam ich plötzlich eine Ahnung davon, wie gebrochen, richtungslos und schlicht beraubt ich sein würde, sollte ich plötzlich durch Associated Press von Updikes Tod erfahren. Alles, was ich wollte, alles, worauf ich zählte, war Updikes Unsterblichkeit: sein unablässig fließender Strom von Büchern, Rezensionen, selbst Gedichten und insbesondere Antworten auf vorlaute Anfragen von Mademoiselle und dem New York Times Book Review. Ich glaubte mich daran zu erinnern, was er kürzlich als Antwort auf eine Umfrage über Unterhaltungsliteratur in Esquire gesagt hatte, nämlich dass «ich am College las, was man mir auftrug, und mir das sehr half». Ich wollte mehr von derlei einzelligen lebendigen Erscheinungen. Mehr Dankesreden bei Preisverleihungen! Meiner Ansicht nach war er der vorbildliche amerikanische Literat des zwanzigsten Jahrhunderts: Wenn er stürbe, dann stürbe die persönliche Verbindung meiner Generation zur Literatur ebenfalls, dann würden wir alle endlich mit der beängstigenden, unvermittelten Ungeheuerlichkeit der Sichtbetonuniversitätsbibliothek konfrontiert, deren Antidiebstahltüren beim Verlassen klick-klick-klick-klick machen, ein trockenes Gelächter darüber, wie wenig Bücher wir mit nach Hause tragen können.

«Ich sollte», tippte ich an jenem Vormittag, «eine Würdigung Updikes schreiben.» Und «es muss geschehen, solange er noch lebt». Wie bei Barthelme war der Gedanke an einen solchen Essay kein völlig neuer Plan. Seit ich mit dem Projekt begonnen habe, habe ich in meinen Haufen Getipptem etliche frühere Erwähnungen derartiger Exerzitien gefunden – «Ein ganzes Buch über meine Besessenheit von Updike machen», hatte ich im Oktober 1988 getippt und drei Seiten Aufzeichnungen folgen lassen. Am 8. September 1987 hatte ich nach der Lektüre etlicher Rezensionen Updikes über Wilson und Nabokov getippt: «In letzter Zeit habe ich wieder daran gedacht, einen Essay über Updike zu schreiben.» Aber, hatte ich gesagt,

bei Leuten, denen gegenüber man solch komplizierte Gefühle hegt, sollte man warten, bis sie tot sind, weil man sie dann dadurch, dass sie für einen verloren sind – dass sie nicht mehr potenziell am anderen Ende eines beliebigen Druckwerks stehen –, so viel besser und wahrhaftiger schätzen kann. Jetzt hätte ich eher Grämliches zu sagen …

Aber, wie man sieht, hatte Barthelmes Tod meine Einstellung völlig verändert. Jetzt empfand ich es als nachgerade verachtenswert zu warten, bis ein Schriftsteller gestorben war, um die besten eigenen Fähigkeiten an seinem Werk zu üben – ein solcher Aufschub schien mir, post Barthelme, einem der wesentlichen Ziele des Romans diametral zuwiderzulaufen, nämlich dem, Stücke geistigen Lebens in ihrer Entfaltung so wahrhaft wie möglich einzufangen, wobei all die sie umgebenden Kräfte jener Umstände, die auf eine Blastula des Verstehens einwirken, nur insoweit eindringen dürfen, als sie ein genaueres Bild abgeben. Der Gedenkessay, der voller Trauriger-Clown-Kümmernis ein Jahr nach dem Tod des Romanciers in irgendeiner Zeitschrift erscheint (wie Henry James’ Essays über Zola und Trollope oder seine lange Rezension der ersten Emerson-Biographie), ist der feinabgestimmten deskriptiven Fähigkeiten des aktiven Romanciers unwürdig: Da hat er es einmal mit einer lebenden Gestalt zu tun, die er nun angesichts der täglichen literarischen Kost und der Vorlieben, die er mit seinem Thema teilt, tatsächlich auch verstehen kann, und stattdessen wartet er faul auf die Endgültigkeit des Autopsietischen, bevor er ein Bild zeichnet. Ein Romancier, der wie ich am Anfang steht, hat den Auftrag, das Leben jetzt zu beschreiben, nicht Geschichtsschreibung zu betreiben, und der riesige Beitrag, den die Bücher eines dienstälteren lebenden Schriftstellers zu seinem Leben leisten, erfordert angesichts seiner Bedeutung den Versuch einer romanartigen Inklusivantwort.

Ich wusste nun, dass ich eine ernst zu nehmende Frist hatte: Ich musste über Updike schreiben, solange es noch denkbar war, dass man über ihn herziehen könnte, einfach weil er absolute Spitze ist, bevor sich eine falsche Abschiedsehrfurcht vor dem großen alten Mann einschlich, was unausweichlich der Fall sein würde. Die literarische Welt forderte als Preis für ihre Aufmerksamkeit eine Art Fremdheit: Mangels geographischer Distanz tat es auch senile Ferne. Doch was sie mit dieser Forderung verlor, war die Möglichkeit wirklicher Selbsterkenntnis, denn man kann keine Wahrheiten von akzeptabler Eindeutigkeit entwickeln, wenn einem das, was man zur Untersuchung auswählt, durch Zeit, Sprache, Umfeld oder durch eine in autoritätsheischendem, langsam redendem Niedergang begriffene Physiognomie entfremdet ist. Ich wollte meine Gefühle Updike gegenüber untersuchen, solange er noch in jener Phase intellektueller Geringschätzung war, die Allgegenwart und Bestseller-Popularität zeitigen.

An jenem Morgen begann ich also damit, Wendungen oder Szenen aus Updikes Werk, an die ich mich erinnerte, niederzuschreiben, wie sie mir gerade einfielen. Die erste war

weites sterbendes Meer

Diejenigen Stellen, wie etwa das Paar, das sich in Heirate mich anspuckt, die ich in schlechter Erinnerung hatte, versah ich vorn mit einem Sternchen. Es war ein einzigartiges Gefühl: Ungefähr alle zehn Sekunden kam, nicht ohne einiges Suchen mit geschlossenen Augen, eine bestimmte Stelle hoch, von ihrer Vorgängerin auf der Liste getrennt durch einen geistigen Wusch ähnlich dem schnellen Kameraschwenk, der die Szenen in der alten Batman-Serie voneinander trennte. Mir war, als könnte ich diese losgelösten, oftmals bruchstückhaften Erinnerungen an Updike über Tage hin unendlich weitertippen. Einige andere in der Reihe waren:

Ich hatte eine Liste mit rund fünfunddreißig solcher Stellen zusammen, als ich an jenem Vormittag zu schreiben aufhören und mit meiner Familie in den Zoo fahren musste. Aber ich fing nichts damit an. Stattdessen rezensierte ich eine Biographie über Flann O’Brien und schrieb einen Essay über Modellflugzeuge: die reine Frivolität. Mitte Oktober beging mein Großonkel Dick Selbstmord; vielerlei unheilbare Gebrechen hatten ihn kleingekriegt. Meine Großmutter sagte, sie fühle sich nun, da niemand mehr da sei, dem sie Familienerinnerungen erzählen und der sie mit eigenen ergänzen könne, sehr allein, und sie zitierte Oliver Wendell Holmes: «das letzte Blatt am Baum». Der Brief von ihm, den ich nun nicht mehr beantworten musste (sein allererster an mich), lag ganz oben auf einem Prioritätenstapel (und warum soll man das Wort nicht verwenden, wenn es nützlich ist?) Korrespondenz, den ich monatelang voller Schuldgefühle beäugt hatte. Er erwähnt darin, er habe mit seinem «sehenden Auge» etwas von mir gelesen, und schließt mit: «Ich bitte für meine schlechte Handschrift nicht um Verzeihung – nur um Verständnis für eine alles andere als leichte Aufgabe.» Meine Frau stand mit großen Augen mitten auf einem anderen Teppich (inzwischen waren wir wieder zu Hause, das Einhüten lag hinter uns) und sagte: «Es tut mir ja so leid, es tut mir ja so leid.» Als Reaktion darauf schätzte ich mich erneut glücklich, Updikes Zeitgenosse zu sein, aber ich fing nichts damit an.

Schließlich las ich etwa eine Woche später, am 24. Oktober 1989, in Henry James’ langem Essay über Emerson das Folgende:

Es war unmöglich, mehr geehrt und geschätzt zu werden, nah und fern, als es ihm während seines langen Aufenthaltes in Concord widerfuhr, oder mehr als der erste Gentleman am Orte angesehen zu werden. Dies wurde dem Verfasser dieser Bemerkungen aus Anlass des eigentümlichen, geselligen, heiteren öffentlichen Begräbnisses offenbar, das ihm im Jahre 1883 vom ganzen Lande bereitet wurde, welches massenhaft, mit der Eisenbahn, per Fuhrwerk, zu Fuß, zur letzten Ehrung des ersten Bürgers eintraf. Es war eine volkstümliche Kundgebung, die eindrucksvollste, die ich je durch den Tod eines Literaten veranlasst gesehen habe.

Sogleich versuchte ich, mir vorzustellen, was für eine «volkstümliche Kundgebung» es bei Updikes Begräbnis geben würde. Würde die tantige Versammlung von Profischreibern von den modernen Äquivalenten des Landvolks aufgebläht werden: das heißt von Sekretärinnen, Lesekassetten-Pendlern, Abonnenten der Franklin Library, Mitgliedern des Quality Paperback Book Club? Die Vorstellung all dieser gedankenvollen, liebenswerten, mäßig intellektuellen, gefurchten und in Trauer geneigten Stirnen wirkte nach dem lebhaften, schockierenden, un-Emerson’schen Werk Updikes über Nacktheit, Ficken in Wäschehaufen, Schamhaar wie Seegras, schmutzige Polaroids, die Möse der Nachbarin und so weiter im Augenblick seltsam – aber dann erschien sie mir völlig angemessen. Updike war der Erste, der das penile Sensorium unter die Fittiche einer kunstvollen metaphorischen Prosa genommen hatte. Wenn einmal das Gefühl im Innern einer Vagina mit einem Ballettschuh verglichen worden ist (falls mein Gedächtnis dieses unlokalisierbare Simile nicht verzerrt), dann ist die sexuelle Revolution abgeschlossen: Ebenso wie Emerson die Überseele, die strahlende zeitlose Sphäre des reinen Denkens schuf, das dem ernsten, Vorträge besuchenden Landarbeiter zur Verfügung steht, so machte Updike aus den einsamen, taschenbucherzeugten Zuckungen des Lesers eine unkitschige, kultivierte Errungenschaft. (Ich selbst habe nie mit Erfolg auf ein Updike-Buch masturbiert, wohl aber auf gewisse erinnerte Szenen bei Iris Murdoch; aber eine Bekannte meint, sie habe eine ganze Reihe von Qualitätsorgasmen bei Ehepaare erzielt, als sie es erstmals mit dreizehn las.) In ihrer Trauer um Updike würden die trübsinnigen, vornehmlich weiblichen Bürger der sexuellen Vergangenheit ihrer eigenen Jugend nachtrauern, deren Hardcore-Tollereien inzwischen von den Wollsachen und Gänsedaunen nostalgischer Sehnsucht, vager Reue, verschwommener Erinnerungen, ehelicher Vergebung und einem allumfassenden Gefühl unvollkommener Ablösungsversuche wattiert waren; sie würden um den Mann trauern, der, indem er eine ernste, proustonabokovsche, moralisch sensible, literaturpreiswürdige Prosa auf die Mikromechanik der körperlichen Liebe anwandte, zunächst einmal ihr eigenes Gestöhn salonfähig gemacht hat. Doch das konkrete visuelle Bild von Trauernden in zeitgenössischer Kleidung, die um ein reales Grab versammelt sind, war zu mächtig und abgeschmackt, um es länger als einen Augenblick zu betrachten; zurückschaudernd dachte ich: Aber wenn er stirbt, dann wird er ja gar nicht erfahren, was ich über ihn denke, und war entsetzt. In jener Nacht schrieb ich auf die Innenseite des hinteren Buchdeckels des Henry-James-Taschenbuchs, in dem ich gerade gelesen hatte: «Updike-Ding zu einem langen Essay machen», und am Tag darauf rief ich zitternd meinen Redakteur beim Atlantic an, um es ihm vorzuschlagen.

Zwei

Doch der Redakteur war nicht da und rief auch nicht zurück. Eine Woche, einschließlich Halloween, verging. Täglich wurde meine Erleichterung größer. Die Aussicht, einen bestellten Artikel über Updike zu schreiben, machte mir große Angst; nicht so sehr wie die Aussicht seines Todes, aber fast – das heißt mehr Angst als die Aussicht meines eigenen Todes. Ich hatte kaum eine Ahnung, was ich würde sagen können, nur dass ich einiges zu sagen hätte. Und Updike könnte antworten, beleidigt sein, mich vernichten, mich ignorieren, mich verklagen. Ein fetziger Literaturprozess war in der Phantasie durchaus reizvoll, nur wusste ich, ich würde in Tränen ausbrechen, wenn mich ein auch nur halbwegs fähiger Anwalt ins Kreuzverhör nähme. Aber so weit würde es wahrscheinlich gar nicht kommen. Die Ausleger von Updikes wundervoll gefiederten Augenbrauen würden unter der subdermalen Schwellung eines Stirnrunzelns flüchtiger Überlegung ihren Tangentialwinkel verändern, und die Augen, die im Tiefflug über so viele Tausende Meilen von Gedrucktem geflogen waren, würden auch meine Worte einmal überflogen haben, und dann würde eine Antwort – weise, vernünftig, leicht amüsiert, vielleicht mit einem einzigen Ausbruch der Verärgerung, um mir aus reiner Nettigkeit zu demonstrieren, dass meine Klimmzüge tatsächlich seine ungeteilte Aufmerksamkeit erhalten hatten (wie der Ausbruch in Nabokovs Antwort auf Updikes «stilvollen» lobenden Absatz im TriQuarterly, wo Nabokov Updike dafür dankte, dass ihm die traurige Prostituierte in Lolita gefallen habe, sich jedoch darüber erzürnte, dass Updike gedacht habe, Ada sei «in womöglich mehr als einer Beziehungsdimension» Nabokovs Frau Vera) – beim Atlantic einschweben. Oder, was viel, viel schlimmer wäre, sie würde es nicht tun. Zumal ich mit meinem Plan, über meine vorzeitigen Befürchtungen bezüglich des unausweichlichen Verfalls und Ablebens eines anderen Schriftstellers zu sprechen, etwas tat, was aus sehr guten Gründen ungehörig, tabu erschien. Wenn ich Mitte fünfzig bin und voller Pläne und es mir richtig gutgeht, wenn mir sogar die elegischen Dinge gefallen, die ich nun allmählich über das Alter schreibe und darüber, wie die besten Sachen von einem vor dem Berühmtsein entstanden sind, will ich dann, dass ein Autor, der fünfundzwanzig Jahre jünger ist als ich, sich öffentlich darüber Sorgen macht, ich könnte an einem jahrzehntefernen Punkt zu schreiben aufhören und sterben? Nein. In der Vorbemerkung zu Selbst-Bewusstsein erwähnt Updike sein Entsetzen, als jemand an ihn herantrat, der seine Biographie schreiben wollte: «mir mein Leben, meine Goldmine, meinen Hort an Erinnerungen wegzunehmen!» Und jemand, Updike oder Anthony Powell, glaube ich [oder womöglich Mailer?], spricht von dem «Argwohn» – ich glaube, das war das Wort –, den ältere Schriftsteller jüngeren gegenüber zunehmend empfinden, ein Argwohn, der, wie ich fand, Respekt verdient. Und dennoch trug ich mich mit dem Gedanken, Updike ebendiese Todesfurcht zu stehlen. Es war eine schreckliche Idee. Eine solch anmaßende, unsubtile, allzu freimütige Unbotmäßigkeit bei jungen Schriftstellern fand ich schlimm. Sähe ich im Atlantic einen Essay mit dem Titel «U & I», ich würde voll Abscheu mit der Zunge schnalzen und die Zeitschrift absichtlich an einen falschen Platz auf das Zeitungsregal klatschen, hinter Iron Horse oder Needlecraft. Doch wäre meine verärgerte Reaktion dann rein negativer Natur, oder enthielte sie auch eine Komponente der Anerkennung, den Wunsch, ich hätte mich selbst an etwas Derartigem versucht? Und wenn sie eine solche Komponente der Anerkennung enthielte, wäre das wirklich ein zwingender Grund, es auch selbst zu schreiben, anstatt darauf zu warten, dass jemand, der befähigter und weniger risikoscheu ist als ich, es auf seine oder ihre Weise tat? Warten war vermutlich besser.

Eine volle Woche lang, nachdem ich versucht hatte, den Redakteur beim Atlantic zu erreichen, beschäftigte ich mich mit anderen Dingen. Am 31. Oktober machte ich mir ein paar heitere Notizen über Tracy Chapmans Gesang und über Bizets Carmen. Am 1. November schrieb ich ausführlich über meinen eingewachsenen Zehennagel. Aber das war einfach nicht genug. Ohne eine gewisse Besorgtheit verliert das Schreiben seinen Reiz. Es gibt die schlichte Spannung, die in eine gewisse Art von Romanen eingebaut ist – eine erstrangige Handlungsbesorgtheit, die mir oft missfällt und mir körperliches Unbehagen bereitet –, und dann gibt es die weit wichtigere sekundäre Erregung, bei der der Schriftsteller selbst freudig erzittert, wenn er schreibt: «Junge, Junge, diesmal kommt’s wirklich dicke! Die machen mich fertig! Die pulverisieren mich!» (Und dann kommt es wirklich dicke, und er ist verblüfft, wie weh es tut, und er wird diese besondere mahnende Furcht nicht noch einmal so völlig ignorieren.) In meinem Verlangen nach Gefahr blickte ich also am 2. November von meinem pochenden eingewachsenen Zehennagel auf und rief meinen Redakteur beim Atlantic erneut an. Diesmal war er da, und nachdem ich ihm mit leiser, besorgter Stimme das Projekt beschrieben hatte, war er ziemlich einverstanden. Er und eine Agentin arbeiteten die Bedingungen aus. Die Agentin rief mich am Nachmittag an und sagte mir, der Redakteur habe ihr gesagt, er finde, ein Essay über Updike, wie ich ihn beschrieben habe, könne gut werden oder auch «sehr gruselig».

Zunächst erschien mir «gruselig» als schwach formuliert, doch als ich ernsthaft daran zu schreiben begann, wurde mir zunehmend klarer, wie treffend das Wort war. Was ich da tat, war gruselig. Schließlich lag auch Halloween noch in der Luft. Halloween wird in der Stadt, in der ich lebe, äußerst ernst genommen: Auf der Main Street findet eine Halloween-Parade statt, bei der die Polizei begeistert den Durchgangsverkehr sabotiert, Hunderte von Kindern jedes erhellte Haus aufsuchen und das örtliche Mittelsicherheitsgefängnis sich anbietet, an dem großen Abend bis 23.00 Uhr sämtliche Tüten mit Süßigkeiten auf gefährliche Beigaben hin zu durchleuchten. Meine Frau erzählte mir von der Durchleucht-Anzeige (die sie im kostenlosen Wochenblatt gesehen hatte) am Morgen danach, und ich hätte mich vor Ärger in den Hintern beißen können. Wäre John Updike zweiunddreißig Jahre alt und würde in dieser Stadt wohnen, dachte ich, dann hätte er schon vorher von diesem unglaublichen Durchleucht-Angebot gewusst und wäre mit seinen Kindern, nachdem er mit ihnen die Anklopfrunde von Haus zu Haus gemacht hätte, hingefahren, und er hätte sich leutselig mit dem Gefängniswärter über einige der verborgenen Waffen unterhalten, die der Wärter in Geschenken für Häftlinge gefunden hatte, und ob denn tatsächlich schon einmal eine präparierte Süßigkeit aufgetaucht sei oder ob es sich einfach um eine mythische Vorsichtsmaßnahme handele, mit der das Gefängnis den Wunsch demonstriere, zu Zufriedenheit und Wohlergehen der Gemeinde, in der es sich befinde, nach seinen Möglichkeiten beizutragen, und Updike hätte sich listig umgesehen und irgendein ausdrucksstarkes Detail in der Ausstattung des Röntgenraums erblickt, etwa ein Schild, dessen Text mit seinen Kapitälchen komisch aussähe, und vielleicht hätte er sich ein paar Kommentare notiert, die seine Kinder abgegeben hätten, wenn auf dem grauen Schirm das Bild von den Nüssen in den Mini-Snickers-Riegeln und der inneren Segmentierung in den Smarties-Päckchen erschienen wäre, und dann wäre er nach Hause gefahren und hätte in weniger als einer Stunde ein hübsches Talk-of-the-Town-Stück geschrieben, das durch den mäßigen Grusel, zu einem Mittelsicherheitsgefängnis zu fahren und die Halloween-Süßigkeiten seiner Kinder auf Rasierklingen durchleuchten zu lassen, subtil funktionierte, und das in einer Zeit, da Äpfel als Halloween-Leckerei mega-out und alle Schokoriegel in präpariersicheres Papier gewickelt waren. Nein, nein, noch schlimmer: Mit zweiunddreißig hätte er das nicht gemacht; mit fünfundzwanzig hätte er es gemacht, und zwar besser, als ich es jetzt könnte. Mit zweiunddreißig wäre es unter seiner Würde gewesen, zu einfach, zu reportagehaft, zu sehr das typische Talk-Stück, wohingegen es für mich, dachte ich, das Feeling eines grandiosen Stoffs hat, voll der erregenden Opportunität des nichtliterarischen Magazinschreibens. Ich hatte mit zweiunddreißig die Geschichte völlig verpasst; das einzige Stück (ich mag dieses journalismoide Wort «Stück» nicht, und dennoch schleicht es sich ständig ein), das ich überhaupt nur hätte machen können, handelte von dem Wunsch, ein gescheites kleines Stück über einen Gefängnisbesuch geschrieben zu haben: also davon, wie die Hyperempfänglichkeit des Schriftstellers gegenüber nachrichtenwürdigen Kleinstadtimpressionen unschuldigen Kindern die Feiertage verdirbt – und wer wollte das schon lesen? Ich wünschte mir so sehr die sichere Hand, die adjektivische Findigkeit, die Updike in allen seinen Gelegenheitsarbeiten besaß; denn obwohl er schon früh das «Halbgare an Prosa auf Bestellung» beredt herabsetzte, fanden sich doch in Wahrheit einige seiner besten Momente in den oben erwähnten Einleitungen, Dankesreden, Antworten auf Zeitschriftenumfragen, Schlusssätzen von Rezensionen (wie dem, Nabokovs Die Mutprobe betreffend, der einem mit Waschzettel-Drive ins Gedächtnis springt: «Mit ihrem Residuum erfahrenen und ihrer Fülle vermittelten Glücks erweist Die Mutprobe sich, wenngleich als letzter gekommen, als bei weitem nicht der geringste unter den russischen Romanen dieses glücklichen Mannes» – furchterregende Meisterschaft!), in Vorworten zu eigenen Werken und Widmungen (wie die, an die ich unablässig denke, in Problems and Other Stories für seine Kinder, die die Wendung «mit der Kurve der traurigen Zeit, die ihr gegenüberliegt» enthält – dass er Highschool-Geometrie in solch vollkommener Figur auf den Schlamassel seiner eigenen Scheidung anwendet!): jenen beiläufigen Formen, die seinen verbalen Takt dazu veranlassen, ein unangenehmes Stückchen Wirklichkeit zu umschließen, während dieses sich anschickt, unser getrübtes Gefühl dafür wiederzuerwecken, warum es gewisse Konventionen (wie Buchwidmungen) oder Standardwendungen (wie «der Letzte, aber nicht der Geringste») gibt und welch geschmeidiges Leben sich in ihnen finden lässt; jenen Formen, deren Meisterschaft mir als ein überzeugenderer Beweis für die Spontaneität wahren Talents, des unbezähmbaren, überreichen Vorrats daran erscheint als jedes einzelne Meisterwerk; und Formen, die für nacheifernde junge Schriftsteller als Studienobjekte wichtiger sein können als die Schwarten, die sie sprenkeln, weil sie der Schlüssel zu den Kurzwaren des Genies, seiner Etikette, seinen besonderen Berührungspunkten mit den wiedererkennbaren Verpflichtungen des Lebens sind, unabhängig von einer einzelnen glücklichen Wahl des Themas, die größere Formen wie etwa der Roman erfordern. Doch selbst als ich die ungeheure Bedeutung solcher Gelegenheitsarbeiten für die Präsenz, die Färbung, die empfundene Überfülle des Literaten erkannte, merkte ich, dass ich mir immer weniger vorstellen konnte, es auch nur annähernd mit einer so fruchtbaren Frische, wie Updike sie nahezu wöchentlich demonstrierte, zu schreiben. Theoretisch widerstrebt mir das camphafte Halloweenfeiern von Erwachsenen, und theoretisch verwerfe ich Harold Blooms Allegorien des literarischen Einflusses und Vatermords und des Eine-Nasenlänge-Vorausseins (dazu hoffentlich später mehr); doch als ich hörte, dass mein Redakteur beim Atlantic gesagt hatte, das, was ich vorhabe, sei «gruselig», und als ich wiederum an einen anderen von Updikes Sätzen aus Selbst-Bewusstsein dachte, den jemand in einer Rezension zitierte: «Berühmtheit ist eine Maske, die sich ins Gesicht frisst», erkannte ich, dass ich, ob es mir passte oder nicht, mit diesem Essay den Vorwurf riskierte, ich ginge selbst nur ein wenig Türenklopfen an Updikes großem weißem Portal.

Drei

«Holla», sagten meine Eltern unabhängig voneinander. «Wenn du über Updike schreibst, musst du erst einmal alles lesen, was er geschrieben hat!» Doch inmitten meiner diversen Halloween-Ungewissheiten und -Vorahnungen war der Vorsatz, meine Eindrücke nicht mit einer neuen Dosis Updike zu ergänzen oder aufzufrischen, das Einzige, dessen ich mir absolut sicher war. Ich wollte ja keinen Nachruf oder eine traditionelle kritische Studie schreiben, sondern ich versuchte aufzuzeichnen, welchen Stellenwert ein zunehmend berühmter Schriftsteller und seine Bücher, die gelesenen und ungelesenen, in den rund fünfzehn Jahren meines Lebens faktisch hatten, seit mir seine Existenz erstmals bewusst geworden war, als ich nämlich eines Sonntagnachmittags am Küchentisch saß und voll neidischer Verwirrung mit ansah, wie meine Mutter ausgiebiger lachte, als ich sie jemals hatte lachen sehen (außer über eine Kolumne von Russell Baker ein paar Jahre zuvor), als sie in einer Sondernummer des New York Times Book Review einen Essay von Updike über Golf las. Anders als ihr Lachen über meine Zeitlupenimitationen von Autofahrern während eines Frontalzusammenstoßes oder über die Pantomime meines Vaters von Gewichtheberbewegungen oder über die gespielten jähen Gesichtszuckungen meiner Schwester, wenn sie an der Stange übte, barg die Heiterkeit meiner Mutter an jenem Sonntag keinerlei Freundlichkeit oder Ermunterung: Sie war unfasslich, dem Nirgendwo eines Druckwerks entsprungen, ungestützt von übertriebenen Manierismen; sie verschüttete dabei sogar ihren Tee. Sie versuchte mir etwas davon vorzulesen – «ein Divot von der Größe … ein Divot von der Größe eines Unterhemds …» –, doch sie schaffte es nicht, es war zu komisch. Nichts ist eindrucksvoller als der Anblick eines komplexen Menschen, der urplötzlich über ein paar Worte in einem ernsthaften Buch oder einer Zeitschrift in Gelächter ausbricht. Von jenem Tag an schenkte ich dem New York Times Book Review Beachtung und wollte zunehmend Teil der anscheinend florierenden Welt der Bücher werden (florierend im Gegensatz zu den stipendienabhängigen und spärlich besuchten Konzerten mit Musik lebender Komponisten, deren Reihen ich bis dahin hatte angehören wollen), wo es Geld für schreiende ganzseitige Anzeigen gab und wo der Erfolg sozusagen in den Billboard-Charts quantifiziert war und wo folglich nicht, wie in der Musik, die gewaltige Kluft zwischen populären und elitären Bemühungen zu klaffen schien. Ja, Updike selbst erschien regelmäßig auf der Bestsellerliste! Konnte denn jemand behaupten, dass Elliot Carter oder Morton Subotnick, Walter Piston oder John Cage oder selbst Gian-Carlo Menotti so ein voller Hochton-Tiefton-Crossover-Erfolg wie Updike war? Es sah aus, als wäre (das war Mitte der siebziger Jahre) die klassische Musik auf einem der allertiefsten Punkte ihres postbarocken Harmoniezyklus angelangt, und ich wusste, dass ich nicht annähernd das Talent hatte, das benötigt würde, wollte einer sie im Alleingang aus ihrer Baisse reißen.

1976Picked-Up Pieces1976Ancient Greek Literature