Siddhartha Mukherjee
Die Gene
Eine sehr persönliche Geschichte
Aus dem Englischen von Ulrike Bischoff
FISCHER E-Books
Siddhartha Mukherjee, der 2011 den Pulitzer Preis gewann, ist Mediziner und Autor. Sein Buch ›Der König aller Krankheiten: Krebs - eine Biographie‹ war ein weltweiter Erfolg. In seinem Labor arbeitet er in erster Linie in der Krebs- und Stammzellenforschung. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in New York.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Warum sind wir so wie wir sind? Was ist in der Familie angelegt, was erworben? Was können wir selbst bestimmen?
Als Siddhartha Mukherjee seinen Bestseller „Der König aller Krankheiten“ beendet hatte, machte er sich auf eine Reise in die indische Heimat. Er besucht Cousin Moni, der an Schizophrenie leidet – wie auffällig viele seiner Verwandten. Fasziniert beginnt Mukherjee sich mit der Geschichte der Gene zu beschäftigen: Von den Erbsenkreuzungen Mendels bis zur neuesten Gen-Bearbeitungs-Methode CRISPR schreibt Mukherjee den spannenden Roman einer wissenschaftlichen Suche und verwebt ihn mit der Geschichte seiner Familie. Das große Buch eines begnadeten Erzählers und Arztes, das gewaltige Panorama einer machtvollen Entdeckung, die man nun endlich versteht. Packend und einzigartig.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »The Gene. An intimate History« im Verlag Scribner, an Imprint of Simon & Schuster Inc., New York
© 2016 by Siddhartha Mukherjee, all rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Umschlaggestaltung: Schiller Design, Frankfurt
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403327-3
Unter Byte verstehe ich eine recht komplexe Idee, die über das bekannte Computerbyte hinaus auch die allgemeinere, rätselhafte Vorstellung umfasst, dass sämtliche komplexen Informationen der natürlichen Welt sich als Summierung aus Einzelteilen beschreiben oder codieren lassen, die nicht mehr als einen »An-« und »Aus-Status« beinhalten. Eine eingehendere Beschreibung dieser Idee und ihrer Auswirkungen auf Naturwissenschaften und Philosophie bietet James Gleick, Information: Geschichte, Theorie, Flut. Besonders plastisch vertrat der Physiker John Wheeler diese Theorie in den 1990er Jahren: »… jedes ›Es‹ – jedes Elementarteilchen, jedes Kraftfeld und selbst das Raum-Zeit-Kontinuum – leitet seine Funktion, seine Bedeutung und seine Existenz … aus Ja-Nein-Antworten, binären Alternativen, Bits ab …; kurz, alle physischen Dinge sind informationstheoretischen Ursprungs.« (John A. Wheeler, »It from Bit«, in: ders., At Home in the Universe, New York 1994, S. 296). Das Byte oder Bit ist eine Erfindung des Menschen, aber die zugrundeliegende Theorie digitalisierter Information ist ein wunderbares Naturgesetz.
Bei manchen Bakterien können Chromosomen kreisförmig sein.
Manche Themen wie gentechnisch veränderte Organismen (GMOs), die Zukunft von Genpatenten, der Einsatz von Genen in Arzneimittelforschung und Biosynthese und die Entwicklung neuer genetischer Spezies verdienen eine eigene Behandlung und liegen außerhalb des Rahmens dieses Buches.
Hier entging Darwin ein entscheidender Schritt. Variation und natürliche Auslese liefern überzeugende Erklärungen für die Mechanismen, durch die es zur Evolution innerhalb einer Spezies kommen kann, nicht aber für die Entstehung der Arten an sich. Damit eine neue Spezies entstehen kann, dürfen Organismen nicht mehr in der Lage sein, lebensfähige Nachkommen miteinander zu zeugen. Dazu kommt es in der Regel, wenn Tiere durch eine physische Barriere oder eine andere permanente Trennung voneinander isoliert sind, was letztlich zu einer Fortpflanzungsschranke führt (darauf kommen wir an späterer Stelle zurück).
Darwin war sich nicht sicher, wie diese Varianten zustande kommen; auch darauf kommen wir später eingehender zurück.
Geographische Isolation könnte das »Graufinkenproblem« teilweise lösen – indem sie die Kreuzung bestimmter Varianten einschränkt. Dadurch ließe sich aber immer noch nicht erklären, warum nicht sämtliche Finken einer Insel nach und nach die gleichen Merkmale aufweisen.
Mehrere Statistiker, die Mendels Originaldaten überprüften, warfen ihm vor, die Daten gefälscht zu haben. Seine Zahlen und Verhältnisse waren nicht nur akkurat, sondern allzu perfekt. Es war, als sei er bei seinen Versuchen auf keinerlei statistische oder natürliche Fehler gestoßen – eine Unmöglichkeit. Rückblickend ist es unwahrscheinlich, dass Mendel seine Studien gezielt fälschte. Wahrscheinlicher ist, dass er aufgrund frühester Experimente eine Hypothese entwickelte und spätere Versuche nutzte, um diese zu erhärten: Sobald Versuche die erwarteten Werte und Verhältnisse bestätigt hatten, hörte er einfach auf, die Erbsen zu zählen und zu erfassen. Diese unkonventionelle, aber zu seiner Zeit keineswegs unübliche Methode spiegelte Mendels wissenschaftliche Naivität wider.
War Mendel klar, dass er allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Vererbung aufzudecken versuchte? Oder wollte er lediglich die Beschaffenheit von Erbsenhybriden verstehen, wie manche behaupten? Die Antwort ist möglicherweise in Mendels Papieren zu finden. Unstrittig ist, dass ihm die Existenz eines »Gens« völlig unbekannt war. Nach seinen eigenen Darlegungen dienten die Experimente dazu, »die Beziehungen zu erkennen, in welchen die Hybridformen zu einander selbst und zu ihren Stammarten stehen« und die »Einheit im Entwicklungsplane des organischen Lebens« zu begreifen. Wenn ich dies lese, kann ich das Argument nicht nachvollziehen, er sei sich der weitreichenden Implikationen seiner Studie nicht bewusst gewesen: Vielmehr versuchte er, die stoffliche Grundlage und die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung zu entschlüsseln.
Bei den von de Vries beobachteten »Mutanten« könnte es sich in Wirklichkeit um Rückkreuzungen, nicht um spontan entstandene Varianten gehandelt haben.
Bei manchen Historikern war die Anekdote umstritten, dass Batesons »Bekehrung« zu Mendels Theorie während einer Zugfahrt stattgefunden habe. Diese Geschichte taucht in seiner Biographie häufig auf, mag aber auch von einigen seiner Schüler um der dramatischen Wirkung willen ausgeschmückt worden sein.
Tatsächlich lag die mittlere Größe bei Söhnen ungewöhnlich großer Väter tendenziell etwas unter der des Vaters und näher an der des Bevölkerungsdurchschnitts, als ob eine unsichtbare Kraft extreme Merkmale immer wieder zur Mitte hinzöge. Diese Entdeckung – Regression zur Mitte genannt – sollte erhebliche Auswirkungen auf die wissenschaftliche Auswertung von Messwerten und auf den Begriff der Varianz haben. Es war Galtons wichtigster Beitrag zur Statistik.
Das historische Erbe der Sklaverei war ohne Zweifel ebenfalls ein wesentlicher Motor der US-amerikanischen Eugenik. Dort waren weiße Eugeniker schon lange von der Furcht getrieben, afrikanische Sklaven könnten Weiße heiraten und den Genpool mit ihren »minderwertigen« Genen »kontaminieren« – allerdings hatte das in den 1860er Jahren erfolgte gesetzliche Verbot solcher »Mischehen« diese Ängste weitgehend beruhigt. Dagegen waren weiße Einwanderer schwieriger zu identifizieren und auszugrenzen, was die Befürchtungen vor einer ethnischen Kontaminierung und Vermischung in den 1920er Jahren verstärkte.
Einen Teil dieser Forschungen führte Morgan in seinem Labor in Woods Hole durch, wo er jeden Sommer verbrachte.
Die ersten Experimente zu Fortpflanzungsschranken und Artenentstehung wurden bereits vor den Experimenten zur Selektion vorgenommen, aber Dobzhansky und seine Studenten beschäftigten sich weiterhin in den 1940er und 1950er Jahren mit beiden Fragen.
In den 1930er Jahren trat Ploetz in die NSDAP ein.
Der US-amerikanische Psychologe Curtis Merriman und der deutsche Augenarzt Walter Jablonski führten in den 1920er Jahren ähnliche Zwillingsstudien durch.
Die genaue Zahl ist schwer festzustellen.
Das Rückgrat der DNA und der RNA besteht aus einer Kette von Zuckern und Phosphaten. Bei der RNA ist der Zucker Ribose, daher der Name Ribonukleinsäure (RNS oder engl. RNA). Bei der DNA ist es die Desoxyribose, daher die Bezeichnung Desoxyribonukleinsäure (DNS, engl. DNA).
Experimente, die Alfred Hershey und Martha Chase 1952 und 1953 durchführten, bestätigten ebenfalls die DNA als Träger der genetischen Information.
Hämoglobin hat zahlreiche Varianten, darunter auch einige, die ausschließlich bei Föten vorkommen. Hier wird die am weitesten verbreitete und am besten erforschte Variante beschrieben, die in großen Mengen im Blut enthalten ist.
Lange bevor James Watson weltweit Bekanntheit erlangte, unternahm die Schriftstellerin Doris Lessing 1951 einen dreistündigen Spaziergang mit dem jungen Mann, den sie über den Bekannten eines Freundes kennengelernt hatte. Während dieses Spaziergangs durch die Moor- und Heidelandschaft um Cambridge redete nur Lessing, während Watson kein Wort sagte. Am Ende des Spaziergangs, als Lessing »erschöpft war und nur noch weg wollte«, hörte sie von ihrem Begleiter endlich eine menschliche Äußerung: »Sehen Sie, das Problem ist, dass es nur einen Menschen auf der Welt gibt, mit dem ich reden kann.« Watson, Annotated and Illustrated Double Helix, S. 107.
In ihren anfänglichen Forschungen zur DNA war Franklin nicht überzeugt, dass die Röntgendiagramme auf eine Helix hindeuteten, vermutlich weil sie damals mit der trockenen DNA-Form arbeitete. Tatsächlich hatten sie und ihr Student einmal in einer frechen Rundmitteilung den »Tod der Helix« angekündigt. In dem Maße, wie die Röntgenbilder besser wurden, zeichnete sich allmählich die Helix mit den Phosphaten an der Außenseite ab, wie ihre Notizen zeigen. Watson erklärte einem Journalisten einmal, Franklins Fehler sei ihr leidenschaftsloses Herangehen an ihre eigenen Daten gewesen. »Sie lebte die DNA nicht.«
Handelte es sich tatsächlich um ihre Aufnahme? Wilkins behauptete später, Franklins Student Gosling habe ihm das Foto gegeben – daher habe er damit machen können, was er wollte. Franklin stand unmittelbar vor einem Wechsel vom King’s College an das Birkbeck College, und Wilkins dachte, sie gebe das DNA-Projekt auf.
Diese Vorstellung wird im Folgenden noch modifiziert und erweitert. Ein Gen ist mehr als nur ein Satz von Anweisungen zur Proteinsynthese, aber Beadles und Tatums Experiment lieferte eine mechanistische Grundlage für die Funktion eines Gens.
In Harvard entdeckte ein Team unter der Leitung von James Watson und Walter Gilbert 1960 ebenfalls den »RNA-Mittler«. Die entsprechenden Artikel von Watson und Gilbert sowie von Brenner und Jacob erschienen in derselben Ausgabe der Zeitschrift Nature.
Diese »Triplettcode«-Hypothese wurde auch von der Elementarmathematik gestützt. Bei einem Code aus zwei Buchstaben – wenn also eine Sequenz aus zwei Basen (AC oder TG) eine Aminosäure in einem Protein codieren würden – käme man lediglich auf 16 Kombinationen, die offensichtlich nicht ausreichen, um alle zwanzig Aminosäuren zu spezifizieren. Ein auf Tripletts basierender Code bietet 64 Kombinationen – genug für die zwanzig Aminosäuren und weitere Möglichkeiten, um andere Funktionen wie den »Stopp« oder »Start« einer Proteinkette zu codieren. Ein Quadrupelcode hätte 256 Kombinationsmöglichkeiten, also erheblich mehr, als für die Codierung von zwanzig Aminosäuren erforderlich sind. Die Natur ist zwar verschwenderisch, aber nicht so dekadent.
Nach Cricks ursprünglicher Formulierung konnte Information auch »rückwärts« von RNA zu DNA fließen. Watson vereinfachte das Diagramm jedoch auf den Informationsfluss von RNA zu DNA zu Protein, den man später als »zentrales Dogma« bezeichnete.
Die Abweichung bei einer Aminosäure entdeckte Vernon Ingram, ein ehemaliger Student von Max Perutz.
Monod und Jacob kannten sich flüchtig; beide waren enge Mitarbeiter des Genetikers André Lwoff. Jacob experimentierte am anderen Ende des Dachgeschosses mit einem Virus, das Escherichia coli infizierte. Ihre Versuchsstrategien waren zwar, oberflächlich betrachtet, verschieden, aber beide erforschten die Genregulation. Monod und Jacob hatten Aufzeichnungen verglichen und erstaunt festgestellt, dass beide an zwei Aspekten desselben Problems arbeiteten, und hatten daher ihre Forschungen in den 1950er Jahren teilweise kombiniert.
Pardee, Monod und Jacob entdeckten 1957, dass das Laktose-Operon von einem einzigen Zentralschalter gesteuert wurde: von einem Protein, das man später als Repressor bezeichnete. Dieser Repressor wirkte wie ein molekularer Riegel. Befand sich in der Nährlösung Laktose, so veränderte sie die Molekülstruktur des Repressorproteins und »entriegelte« dadurch die Gene für den Abbau und Transport von Laktose (erlaubte also die Aktivierung dieser Gene) und ermöglichte der Zelle den Laktosestoffwechsel. War ein anderer Zucker wie Glukose vorhanden, blieb der Riegel unverändert und es wurden keine Gene für den Laktose-Abbau aktiviert. Walter Gilbert und Benno Muller-Hill isolierten 1966 das Repressorprotein aus Bakterienzellen – und bewiesen damit zweifelsfrei Monods Operon-Hypothese. Einen weiteren Repressor isolierten Mark Ptashne und Nancy Hopkins 1966 aus einem Virus.
Im Gegensatz zu den kosmologischen Schildkröten ist diese Sicht keineswegs absurd. Im Prinzip besitzt der einzellige Embryo tatsächlich die gesamte genetische Information zur Bildung eines vollständigen Organismus. Mit der Frage, wie aufeinanderfolgende genetische Kreisläufe die Entwicklung eines Organismus »verwirklichen« können, befasst sich das folgende Kapitel.
Zur DNA-Replikation sind außer der DNA-Polymerase noch viele weitere Proteine erforderlich, um die verschlungene Doppelhelix zu entwinden und das korrekte Kopieren der genetischen Information zu gewährleisten. Zudem sind in Zellen verschiedene DNA-Polymerasen mit leicht unterschiedlichen Funktionen zu finden.
Die Genetikerin Barbara McClintock entdeckte genetische Elemente, die ihre Position im Genom ändern können, sogenannte springende Gene oder Transposons. Für diese Entdeckung erhielt sie 1983 den Nobelpreis.
Die Tatsache, dass das Genom auch Gene für die Reparatur von Genomschäden enthält, wurde von mehreren Wissenschaftlern entdeckt, unter anderem von Evelyn Witkin und Steve Elledge. Unabhängig voneinander identifizierten die beiden eine ganze Reihe von Proteinen, die DNA-Schäden aufspüren und eine Zellreaktion aktivieren, um die Schäden zu reparieren oder hinauszuzögern (bei katastrophalen Schäden stellen sie die Zellteilung ein). Mutationen in diesen Genen können eine Ansammlung von DNA-Schäden – und somit mehr Mutationen – bewirken und letztlich zu Krebs führen. Das vierte R der Genphysiologie, das sowohl für das Überleben als auch für die Wandelbarkeit von Organismen wichtig ist, wäre demnach »Reparatur«.
Das wirft die Frage auf, wie die ersten asymmetrischen Organismen in der Natur entstanden sind. Wir wissen es nicht und werden es vielleicht nie erfahren. Irgendwo in der Evolutionsgeschichte entwickelte sich ein Organismus, der die Funktionen eines Körperteils von denen anderer trennte. Vielleicht war eine Seite einem Felsen, die andere dem Meer zugewandt. Zufällig entstand eine Mutante mit der wundersamen Fähigkeit, ein Protein an der Seite der Mundöffnung, nicht aber am Fußende zu platzieren. Die Unterscheidung von Mund und Fuß verlieh ihm einen selektiven Vorteil: Jeder asymmetrische Körperteil konnte sich weiter auf seine jeweilige Aufgabe spezialisieren, was einen besser an seine Umwelt angepassten Organismus hervorbrachte. Wir sind die glücklichen Nachfahren dieser evolutionären Innovation.
Auch die Australier David Vaux und Suzanne Cory entdeckten die den Zelltod verhindernde Funktion von BCL2.
Wenn ein SV40-Genom um ein Gen ergänzt wird, kann es kein Virus mehr hervorbringen, weil die DNA zu groß ist, um sie in die virale Hülle zu packen. Das um ein Fremdgen erweiterte SV40-Genom bleibt dennoch in der Lage, mit seiner Genfracht in eine Tierzelle einzudringen. Diese Fähigkeit zum Gentransport hoffte Berg nutzen zu können.
Die Entdeckung, die Mertz gemeinsam mit Ron Davis machte, beruhte auf einer besonderen Eigenschaft von Enzymen wie EcoR1: Wenn sie das Bakterienplasmid und das SV40-Genom mit EcoR1 schnitt, waren die Enden von Natur aus »klebrig« wie komplementäre Stücke Klettband und erleichterten es daher, sie zu Genhybriden zu verknüpfen.
Die Kluft zwischen der alten und der neuen Biologie hatten besonders Darwin und Mendel überbrückt. Darwin hatte als Naturhistoriker – Fossiliensammler – begonnen, das Fachgebiet aber dann radikal verändert, indem er die Mechanismen hinter der Naturgeschichte suchte. Auch Mendel hatte als Botaniker und Naturkundler begonnen und diese Disziplin grundlegend verändert, indem er die Mechanismen der Vererbung und Variation gesucht hatte. Sowohl Darwin als auch Mendel beobachteten die Natur, um tiefer liegende Ursachen hinter ihrer Organisation zu suchen.
Watson entlehnte diesen denkwürdigen Begriff von Ernest Rutherford, der in einem seiner typischen barschen Momente erklärt hatte: »Alle Wissenschaft ist entweder Physik oder Briefmarkensammeln.«
Ersonnen und angelegt wurden diese Genbibliotheken von Tom Maniatis in Zusammenarbeit mit Argiris Efstratiadis und Fotis Kafatos. Maniatis hatte an der Harvard University wegen Sicherheitsbedenken in Bezug auf rekombinante DNA nicht am Genklonieren arbeiten dürfen. Daher hatte er auf Watsons Einladung hin nach Cold Spring Harbor gewechselt, um in Ruhe zum Klonieren forschen zu können.
Minkowski erinnerte sich nicht daran, doch andere Labormitarbeiter schilderten den Urin-wie-Sirup-Fall.
Später kamen weitere Mitarbeiter hinzu, darunter auch Richard Scheller vom Caltech. Boyer holte die beiden Forscher Herbert Heyneker und Francisco Bolivar mit in das Projekt, und vom City of Hope Hospital kam der DNA-Chemiker Roberto Crea hinzu.
Genentechs Strategie bei der Insulin-Synthese war entscheidend dafür, dass die Firma von den Asilomar-Bestimmungen weitgehend ausgenommen blieb. In der menschlichen Bauchspeicheldrüse wird Insulin normalerweise als zusammenhängendes Protein gebildet und dann in zwei Stücke geteilt, die nur eine schmale Querverbindung haben. Dagegen hatte sich Genentech entschlossen, die beiden Insulinketten A und B als einzelne Proteine zu synthetisieren und erst anschließend zu verbinden. Da die beiden von Genentech verwendeten separaten Ketten keine »natürlichen« Gene waren, fiel diese Synthese nicht unter das staatliche Moratorium, das die Bildung rekombinanter DNA mit »natürlichen« Genen einschränkte.
Die abnorme Chromosomenzahl beim Down-Syndrom wurde 1958 von Jérôme Lejeune entdeckt.
In der ganzen Welt öffnete die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs den pränatalen Untersuchungen Tür und Tor. In Großbritannien wurden Abtreibungen 1967 gesetzlich legalisiert, und in den 1970er Jahren stieg die Rate der pränatalen Untersuchungen und der Abtreibungen drastisch an.
Die beiden Forscher Y. Wai Kan und Andree Dozy fanden 1978 einen DNA-Polymorphismus in der Nähe des Sichelzellenanämie-Gens und nutzten ihn, um dessen Erbgang bei Patienten zu verfolgen. Maynard Olson und seine Kollegen beschrieben in den späten 1970er Jahren ebenfalls Methoden zur Genkartierung anhand von Polymorphismen.
Die weite Verbreitung des mutanten Mukoviszidose-Gens in europäischen Bevölkerungen war Humangenetikern jahrzehntelang ein Rätsel. Wenn diese Krankheit so tödlich ist, wieso ist dieses Gen dann nicht im Laufe der Evolution durch natürliche Auslese verschwunden? Jüngere Studien haben eine provozierende Theorie aufgestellt: Möglicherweise stellt eben dieses Gen bei einer Cholerainfektion einen selektiven Vorteil dar, denn Cholera verursacht beim Menschen schweren, anhaltenden Durchfall, der mit akutem Salz- und Wasserverlust einhergeht und zu Dehydrierung, Stoffwechselstörungen und zum Tod führen kann. Menschen mit einem Allel des mutanten CF-Gens haben eine leicht verringerte Fähigkeit, Salz und Wasser durch ihre Membranen zu verlieren, und sind somit vor den schlimmsten Komplikationen der Cholera relativ geschützt (das lässt sich an gentechnisch veränderten Mäusen belegen). Auch hier kann die Mutation eines Gens situationsbedingt zweierlei Auswirkungen haben: Ein Allel kann vorteilhaft sein, zwei sind tödlich. Menschen mit einem Allel des mutanten CF-Gens könnten so Choleraepidemien in Europa überlebt haben. Wenn zwei von ihnen ein Kind zeugten, hatte es eine Wahrscheinlichkeit von eins zu vier, mit zwei mutanten Allelen geboren zu werden – also Mukoviszidose zu bekommen –, aber der selektive Vorteil war groß genug, um die mutanten CF-Gene in der Population zu erhalten.
Die verschlungenen Erkenntniswege voller Irrwege, mühsamen Pfaden und einfallsreichen Abkürzungen, die letztlich offenbarten, dass Krebs durch die Veränderung körpereigener menschlicher Gene verursacht wird, verdienen ein eigenes Buch.In den 1970er Jahren lautete die vorherrschende Theorie, dass alle oder die meisten Krebsarten durch Viren verursacht würden. Bahnbrechende Experimente mehrerer Wissenschaftler, darunter Harold Varmus und J. Michael Bischop von der UCSF, ergaben überraschenderweise, dass diese Viren normalerweise Krebs erregen, indem sie Zellgene verändern – Proto-Onkogene genannt. Die Anfälligkeit war also schon im Humangenom vorhanden. Krebs tritt auf, wenn diese Gene mutieren und dadurch unreguliertes Wachstum auslösen.
Mit einem Gen verbundene DNA-Abschnitte, Promotoren genannt, lassen sich mit »Ein«-Schaltern für dieses Gen vergleichen. Diese Sequenzen codieren Informationen, wann und wo ein Gen aktiviert wird (so wird Hämoglobin nur in roten Blutzellen aktiviert). Dagegen codieren andere DNA-Abschnitte Informationen, wann und wo ein Gen »abgeschaltet« wird (so sind in Bakterienzellen Laktose verarbeitende Gene so lange deaktiviert, bis Laktose als verfügbarer Nährstoff überwiegt). Bemerkenswert ist, dass dieses System der »An-« und »Aus«-Schalter, das erstmals bei Bakterien entdeckt wurde, in der gesamten biologischen Welt beibehalten wird.
Letztlich erwies sich Venters Vorgehen, proteincodierende und RNA-codierende Teile des Genoms zu sequenzieren, als Ressource von unschätzbarem Wert für Genetiker. Sie offenbarte die »aktiven« Teile des Genoms und ermöglichte es somit, diese vor dem Hintergrund des Gesamtgenoms mit Annotationen zu versehen.
Die Zahl der Gene bei einem Organismus zu schätzen, ist kompliziert und erfordert einige Grundannahmen über Beschaffenheit und Struktur eines Gens. Vor der Sequenzierung ganzer Genome identifizierte man Gene anhand ihrer Funktion. Die Sequenzierung ganzer Genome befasst sich jedoch nicht mit der Funktion eines Gens; es ist, als würde man sämtliche Wörter und Buchstaben einer Enzyklopädie identifizieren, ohne auf deren Bedeutung einzugehen. Die Anzahl der Gene wird geschätzt, indem man die Genomsequenz untersucht und DNA-Abschnitte identifiziert, die »wie Gene aussehen« – die also regulatorische Sequenzen enthalten und eine RNA-Sequenz codieren oder Genen ähneln, die man bei anderen Organismen gefunden hat. In dem Maße, wie wir mehr über die Genstrukturen und -funktionen erfahren, wird diese Zahl sich jedoch ändern. Gegenwärtig nimmt man an, dass Würmer 19500 Gene haben, aber auch diese Zahl wird sich mit unserem zunehmenden Wissen über Gene weiterentwickeln.
Wilson bezog seine wichtigste Erkenntnis von zwei Giganten der Biochemie, Linus Pauling und Émile Zuckerkandl, die eine völlig neuartige Konzeption des Genoms vorgeschlagen hatten – nämlich als Kompendium von Informationen nicht nur über die Entwicklung eines Organismus, sondern auch über dessen Evolutionsgeschichte: eine »molekulare Uhr«. Diese Theorie entwickelte auch der japanische Evolutionsbiologe Motoo Kimura.
Wenn diese Gruppe ihren Ursprung im Südwesten Afrikas hatte, wie neuere Untersuchungen vermuten lassen, dann zogen diese Menschen überwiegend nach Osten und Norden.
Nach neueren Einschätzungen beträgt die Korrelation zwischen eineiigen Zwillingen 0,6 bis 0,7. Als mehrere Psychologen, darunter Leon Kamin, die Daten aus den 1950er Jahren in späteren Jahrzehnten überprüften, fanden sie die Methoden suspekt und zogen die ursprünglichen Forschungsergebnisse in Zweifel.
Es kann wohl kaum ein schlagkräftigeres Argument für Gleichheit geben. Das genetische Potential eines Menschen lässt sich unmöglich feststellen, ohne vorher für gleiche Lebensbedingungen zu sorgen.
Angesichts so hoher Verpflichtungen ist es ein wahres Wunder, dass das XY-System der Geschlechtsdetermination überhaupt existiert. Warum entwickelten Säugetiere einen Mechanismus zur Geschlechtsbestimmung, der mit so offenkundigen Tücken behaftet ist? Warum liegt das Gen für die Geschlechtsbestimmung ausgerechnet auf einem unpaarigen, unwirtlichen Chromosom, wo es mit größter Wahrscheinlichkeit Mutationen ausgesetzt ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir weiter zurückgehen und eine grundlegendere Frage stellen: Warum kam es überhaupt zur Entwicklung der geschlechtlichen Fortpflanzung? Warum sollten neue Lebewesen statt durch Parthenogenese durch die Vereinigung zweier geschlechtlicher Elemente entstehen, fragte sich schon Darwin.
Die meisten Evolutionsbiologen sind sich einig, dass die Geschlechter entstanden, um eine schnelle genetische Durchmischung zu erreichen. Vielleicht gibt es keinen schnelleren Weg, Gene zweier Organismen zu mischen, als deren Ei- und Samenzellen zu vermengen. Und sogar die Produktion von Spermien und Eizellen führt durch Rekombination zu einer Durchmischung von Genen. Die starke Mischung von Genen bei der geschlechtlichen Fortpflanzung erhöht die Variation. Die größere Variationsbreite erhöht wiederum die Tauglichkeit und Überlebenschance eines Organismus in einer sich ständig ändernden Umwelt. Der Ausdruck geschlechtliche Reproduktion ist daher völlig falsch gewählt. Der evolutionäre Zweck der Geschlechter besteht nicht in »Reproduktion«: Organismen können ohne Geschlechter bessere Faksimiles – Re-Produktionen – ihrer selbst herstellen. Das Geschlecht wurde aus dem genau entgegengesetzten Grund entwickelt: um Rekombination zu ermöglichen. »Geschlechtliche Reproduktion« und »Geschlechtsdetermination« sind jedoch nicht dasselbe. Selbst wenn wir die zahlreichen Vorzüge geschlechtlicher Fortpflanzung anerkennen, könnten wir immer noch fragen, warum die meisten Säugetiere das XY-System zur Geschlechtsdetermination verwenden. Kurz: Warum gibt es das Y-Chromosom? Wir wissen es nicht. Das XY-System entstand in der Evolution eindeutig vor mehreren Millionen Jahren. Bei Vögeln, Reptilien und manchen Insekten ist es umgekehrt: Das Weibchen trägt zwei verschiedene Chromosomen und das Männchen zwei identische. Und bei anderen Tieren wie einigen Reptilien und Fischen wird das Geschlecht über die Temperatur des Eis oder die Größe eines Organismus im Verhältnis zu seinen Konkurrenten bestimmt. Man vermutet, dass diese Systeme zur Geschlechtsdetermination älter sind als das XY-System der Säugetiere. Aber warum es sich bei Säugetieren etabliert hat – und warum es immer noch existiert – bleibt ein Rätsel. Die Existenz zweier Geschlechter hat einige offenkundige Vorteile: Männchen und Weibchen können spezialisierte Funktionen erfüllen und unterschiedliche Rollen bei der Aufzucht übernehmen. Die Existenz zweier Geschlechter erfordert aber nicht per se ein Y-Chromosom. Vielleicht ist die Evolution über das Y-Chromosom als schnelle, schmutzige Lösung für die Geschlechtsbestimmung gestolpert – das die Männlichkeit bestimmende Gen in einem separaten Chromosom zu platzieren und mit einem starken Gen auszustatten, das die Männlichkeit steuert, ist sicher eine brauchbare Lösung. Manche Genetiker glauben, das Y-Chromosom könnte weiter schrumpfen, während andere der Ansicht sind, es werde nur bis zu einem gewissen Punkt schrumpfen und das SRY und andere wichtige Gene behalten.
Das umgekehrte Phänomen ist ebenfalls bemerkenswert. In seltenen Fällen wird das SRY-Gen auf das X-Chromosom verlagert. Dadurch entstehen Menschen mit XX-Chromosomen (also chromosomal weibliche), die jedoch das Männlichkeit determinierende Gen in sich tragen – also das umgekehrte Swyer-Syndrom. Diese Menschen können eine normale männliche Anatomie ausprägen, wobei bei manchen die Hoden kleiner sind oder Lageanomalien durch ausbleibenden Hodenabstieg aufweisen. Solche Kinder empfinden sich in der Regel als männlich. Auch hier dominiert das SRY-Gen Anatomie, Physiologie und Geschlechtsidentität, obwohl es eindeutig den geeigneten Kontext anderer Gene braucht, damit es seine Funktion umfassend erfüllen kann.
Was ist mit »Intersexualität« – also mit der Tatsache, dass manche Menschen mit einer Geschlechtsanatomie oder -physiologie geboren werden, die nicht den typischen Definitionen männlicher und weiblicher Körper entspricht? Widerspricht Intersexualität der Vorstellung eines starken binären Genschalters, der die Geschlechtsanatomie und -physiologie steuert? Nein. Das SRY-Gen steht, wohlgemerkt, an der Spitze einer Kaskade von Vorgängen, aus denen letztlich Männer beziehungsweise Frauen hervorgehen: Es schaltet Gene an und aus, und diese aktivieren und reprimieren andere Gennetzwerke, die wiederum diffuse Aspekte der reproduktiven und sexuellen Anatomie und Physiologie produzieren. Variationen in diesen Netzwerkkaskaden, die sich mit Variationen in äußeren Einwirkungen und Umgebungseinflüssen (beispielsweise Hormonen) überschneiden, können zu Variationen der Geschlechtsanatomie führen – obwohl ein starker binärer Schalter an der Spitze der Kaskade steht. Auf dieses Thema kommen wir im Folgenden noch mehrfach zurück, also auf die Hierarchien genetischer Netzwerke mit starken, autonomen Treibern an der Spitze und nachgeordneten subtileren Integratoren und Effektoren.
Ein Teil dieser Konkordanz ließe sich vielleicht durch eine gemeinsame intrauterine Umwelt oder durch Einflüsse während der Schwangerschaft erklären, gegen eine solche These spricht jedoch die Tatsache, dass diese Umwelteinflüsse bei zweieiigen Zwillingen ebenfalls gleich sind, bei ihnen die Konkordanz aber geringer ist als bei eineiigen Zwillingen. Gestärkt wird das genetische Argument auch durch die Tatsache, dass die Konkordanz bei homosexuellen Geschwistern höher ist als in der Allgemeinbevölkerung (wenngleich niedriger als bei eineiigen Zwillingen). Zukünftige Studien offenbaren möglicherweise, dass die sexuelle Präferenz durch eine Kombination aus Umwelteinflüssen und genetischen Faktoren bestimmt wird, aber Gene werden vermutlich ein wichtiger Faktor bleiben.
Frühere Versionen erschienen bereits 1984 und 1987.
Die wohl interessanteste jüngere Studie zu Zufall, Identität und Genetik stammt aus dem Labor des Wurmbiologen Alexander van Oudenaarden am MIT. Er nutzte Würmer als Modellorganismen, um eine der schwierigsten Fragen zu Zufall und Genen zu erforschen: Warum haben zwei Tiere, die dasselbe Genom haben und in derselben Umgebung leben – also eineiige Zwillinge – einen unterschiedlichen Werdegang? Van Oudenaarden untersuchte eine Mutation des Gens skn-1, die »unvollständig penetrant« ist – bei einem Wurm mit dieser Mutation manifestierte sich ein Phänotyp (es bildeten sich Darmzellen), bei seinem Zwilling mit derselben Mutation manifestierte sich der Phänotyp nicht (es bildeten sich keine Darmzellen). Was determiniert den Unterschied zwischen diesen beiden Zwillingswürmern? Nicht die Gene, denn beide haben dieselbe Genmutation in skn-1, und auch nicht die Umwelt, da beide unter genau denselben Bedingungen aufwachsen und leben. Wie kann derselbe Genotyp dann einen unvollkommen penetranten Phänotyp hervorbringen? Van Oudenaarden fand heraus, dass die entscheidende Determinante im Expressionsgrad eines einzigen Regulatorgens bestand, dem sogenannten end-1. Die Expression von end-1 – also die Menge der RNA-Moleküle, die in einer bestimmten Entwicklungsphase des Wurms gebildet wurde – variiert von Wurm zu Wurm, höchstwahrscheinlich aufgrund von Zufall. Übersteigt die Expression eine bestimmte Schwelle, manifestiert der Wurm den Phänotyp; bleibt sie unterhalb dieser Schwelle, manifestiert er einen anderen Phänotyp. Der Werdegang spiegelt also zufällige Fluktuationen in einem einzigen Molekül des Wurmkörpers wider. Zu weiteren Einzelheiten siehe Arjun Raj u.a., »Variability in gene expression underlies incomplete penetrance«, Nature, 463/7283 (2010), S. 913–918.
Anfangs verwendete Waddington den Begriff »Epigenese« für den Prozess, in dem sich aus einer einzigen Zelle der Embryo entwickelt (also für die Genese eines Embryos, bei der aus der befruchteten Eizelle nacheinander verschiedene Zelltypen – wie Neuronen, Hautzellen usw. – erwachsen). Im Laufe der Zeit bezeichnete »Epigenetik« jedoch den Prozess, durch den Zellen oder Organismen Merkmale annehmen können, ohne die Gensequenz zu verändern, also durch Genregulation. Im modernen Wortgebrauch bezieht dieser Begriff sich auf chemische oder physikalische Modifikationen der DNA, welche die Genregulation betreffen, ohne die DNA-Sequenz zu verändern. Nach Ansicht mancher Wissenschaftler sollte er Veränderungen vorbehalten bleiben, die erblich sind, also von Zelle zu Zelle oder von Organismus zu Organismus weitergegeben werden. Der Bedeutungswandel des Wortes »Epigenetik« hat viel Verwirrung auf diesem Fachgebiet gestiftet.
Manche Wissenschaftler vertreten die Position, die Studie zum niederländischen Hungerwinter sei voreingenommen: Eltern mit Stoffwechselstörungen (wie Fettleibigkeit) würden möglicherweise die Ernährungsentscheidungen ihrer Kinder oder deren Gewohnheiten auf nichtgenetischer Ebene verändern. Nach Ansicht der Kritiker ist der Faktor, der über Generationen »weitergegeben« wird, nicht etwa ein genetisches Signal, sondern eine kulturelle Einstellung oder Ernährungsweise.
Gurdons Technik, das Ei zu entleeren und einen befruchteten Zellkern zu injizieren, hat bereits eine neuartige klinische Anwendung gefunden. Manche Frauen haben Mutationen in den Mitochondriengenen – also in den Genen, die in den Mitochondrien, den Energie produzierenden Organellen in den Zellen, enthalten sind. Die Mitochondrien aller menschlichen Embryos stammen, wie gesagt, ausschließlich aus den Eizellen, also von den Müttern (das Sperma trägt keine Mitochondrien bei). Ist eine Mutter Trägerin einer Mutation in einem Mitochondriengen, könnten all ihre Kinder von dieser Mutation betroffen sein; solche Mutationen, die häufig den Energiestoffwechsel betreffen, können zu Muskelschwund, Herzanomalien und zum Tod führen. In einer Reihe umstrittener Experimente beschritten Genetiker und Embryologen 2009 einen gewagten neuen Weg, diese mütterlichen Mitchochondrien-Mutationen zu beheben. Nach der Befruchtung der Eizelle mit dem Sperma des Vaters injizierten sie den Zellkern in eine Spendereizelle mit intakten (»normalen«) Mitochondrien. Da die Mitochondrien von der normalen Spenderin stammten, waren die mütterlichen Mitochondriengene unbeschadet, und die so entstandenen Kinder waren nicht mehr Träger der mütterlichen Mutationen. Menschen, die nach diesem Verfahren geboren werden, haben also drei Elternteile. Der befruchtete Zellkern aus der Verbindung von »Mutter« und »Vater« (Elternteile 1 und 2) trägt praktisch das gesamte Genmaterial bei. Vom dritten Elternteil – der Eizellenspenderin – stammen lediglich die Mitchondrien und damit die Mitochondriengene. Nach langwierigen landesweiten Debatten legalisierte Großbritannien dieses Verfahren 2015, und mittlerweile sind die ersten Kohorten von »Kindern mit drei Elternteilen« zur Welt gekommen. Sie stehen für einen unerforschten Grenzbereich der Humangenetik (und der Zukunft). Denn offenkundig gibt es in der Natur keine vergleichbaren Tiere.
Die Idee, dass Histone Gene regulieren könnten, stammte ursprünglich von dem Biochemiker Vincent Allfrey, der in den 1960er Jahren an der Rockefeller University gearbeitet hatte. Drei Jahrzehnte später bestätigten Allis’ Experimente – am selben Institut, wie um den Kreis zu schließen – Allfreys »Histonhypothese«.
Der Genetiker Tim Bestor und einige seiner Kollegen sind der Auffassung, dass die DNA-Methylierung vorrangig zum Einsatz kommt, um alte virenähnliche Elemente im Humangenom sowie das X-Chromosom (à la Lyon) zu deaktivieren und um bestimmte Gene in Spermien, nicht aber in Eizellen (oder umgekehrt) zu markieren, so dass ein Organismus weiß und »sich erinnert«, welche Gene vom Vater und welche von der Mutter stammen – ein Phänomen, das man als »Imprinting« bezeichnet. Bestor glaubt nicht, dass Umweltstimuli eine wesentliche Auswirkung auf das Genom haben. Die epigenetische Prägung diene vielmehr zur Regulierung der Genexpression während der Entwicklung und des Imprinting.
Jüngere Studien und bessere Analyseverfahren zur Methylierung haben geringere Unterschiede zwischen Zwillingen ergeben. Dieses Forschungsgebiet bleibt umstritten und erlebt einen fortwährenden Wandel.
Der Genetiker Mark Ptashne stellte die Dauerhaftigkeit epigenetischer Prägungen und die Beschaffenheit der in ihnen aufgezeichneten Erinnerung in Frage. Nach seiner Ansicht und der einiger anderer Genetiker dirigieren Masterregulatorproteine – zuvor als molekulare »Ein-« und »Ausschalter« bezeichnet – die Aktivierung oder Repression von Genen. Demnach entstehen epigenetische Prägungen infolge der Genaktivierung oder -repression und mögen bei deren Regulation eine Nebenrolle spielen, aber hauptsächlich wird die Genexpression durch diese Masterregulatorproteine gesteuert.
Experimente mit Würmern und Mäusen belegten ebenfalls die generationenübergreifenden Auswirkungen von Hunger, allerdings ist unklar, ob diese Auswirkungen sich dauerhaft halten oder im Laufe von Generationen abschwächen. Manche dieser Studien zeigten, dass kleine RNAs an der Weitergabe von Information über Generationen hinweg beteiligt sind.
Bei manchen Viren sind die Gene nach wie vor in Form von RNA angelegt.
Kenneth Culver gehörte ebenfalls dem ursprünglichen Team an.
Martin Cline, Forscher an der UCLA, unternahm 1980 den ersten bekannten Versuch einer Gentherapie am Menschen. Der ausgebildete Hämatologe erforschte die Beta-Thalassämie, einen Gendefekt, der durch Mutation eines Gens, das eine Untereinheit des Hämoglobins codiert, verursacht wird und zu einer schweren Anämie führt. Da er seine Experimente im Ausland plante, wo der Einsatz rekombinanter DNA bei Menschen weniger streng reguliert und eingeschränkt war, unterrichtete er nicht das Aufsichtsgremium seines Krankenhauses und führte seine Versuche an zwei Thalassämie-Patienten in Israel und Italien durch. Als NIH und UCLA davon erfuhren, wurde er von der NIH wegen Verstoßes gegen Bundesvorschriften bestraft und musste letztlich die Leitung seiner Abteilung abgeben. Die vollständigen Daten seines Experiments wurden nie offiziell veröffentlicht.
Eine neue Mutation als Ursache einer sporadisch auftretenden Krankheit auszumachen ist nicht einfach: So könnte man bei einem Kind rein zufällig eine Mutation finden, die gar nichts mit dieser Krankheit zu tun hat. Oder es bedarf erst spezifischer Auslöser in der Umwelt, damit die Krankheit ausbricht: So könnte es sich bei einem als sporadisch eingestuften Fall tatsächlich um eine familiäre Variante handeln, die durch einen umweltbedingten oder genetischen Auslöser einen Kipp-Punkt überschritten hat.
Eine wichtige Klasse von Mutationen, die mit Schizophrenie in Zusammenhang stehen, ist die Kopienzahlvariation (copy number variation, kurz CNV) – also das Löschen oder die Verdopplung bzw. Verdreifachung desselben Gens. CNVs wurden auch bei Fällen von sporadischem Autismus und anderen Formen psychischer Erkrankungen gefunden.
Mit diesem Verfahren – das Genom eines Kindes mit der sporadischen oder De-novo-Variante einer Krankheit mit dem Genom seiner Eltern zu vergleichen – leisteten Autismusforscher in den 2000er Jahren Pionierarbeit und brachten das Fachgebiet der psychiatrischen Genetik entscheidend voran. Die Datenbank Simon Simplex Collection enthält 2800 Familien mit nicht autistischen Eltern und nur einem Kind, das mit einer Störung des autistischen Formenkreises geboren wurde. Ein Vergleich der elterlichen Genome mit dem des Kindes deckte mehrere De-novo-Mutationen bei solchen Kindern auf. Mehrere mutante Gene, die bei Autismus vorkommen, sind auch bei Schizophrenie zu finden, was auf die Möglichkeit tiefgreifenderer genetischer Zusammenhänge zwischen den beiden Erkrankungen hindeutet.
Das am stärksten mit Schizophrenie verbundene und faszinierendste Gen hängt mit dem Immunsystem zusammen. Es trägt die Bezeichnung C4 und kommt in zwei eng verwandten Formen vor, C4A und C4B, die im Genom unmittelbar nebeneinander liegen. Beide codieren ein Protein, das zum Einsatz kommen kann, um Viren, Bakterien, Zelltrümmer und abgestorbene Zellen zu erkennen, zu eliminieren und zu zerstören – aber die auffallende Verbindung zwischen diesen Genen und der Schizophrenie blieb rätselhaft.
Im Januar 2016 löste eine bahnbrechende Studie dieses Rätsel zumindest teilweise. Im Gehirn kommunizieren Nervenzellen über spezielle Verbindungen, die sogenannten Synapsen, miteinander. Diese Synapsen bilden sich während der Entwicklung des Gehirns, und ihre Verschaltung ist der Schlüssel für normale kognitive Prozesse – wie die Verbindung der Leiterbahnen auf einer Platine den Schlüssel für die Funktion eines Computers bildet.
Während der Entwicklung des Gehirns müssen diese Synapsen beschnitten und umgeformt werden – ganz ähnlich wie das Beschneiden und Verlöten der Kabel bei der Bestückung von Platinen. Erstaunlicherweise wird das Protein C4, das dazu dient, abgestorbene Zellen, Zelltrümmer und Pathogene zu erkennen und zu eliminieren, zweckentfremdet und dazu eingesetzt, Synapsen zu eliminieren – ein Vorgang, den man als pruning bezeichnet. Bei Menschen erfolgt diese Umgestaltung der Synapsen während der gesamten Kindheit und bis in die dritte Lebensdekade – also genau bis zu dem Alter, in dem sich viele Schizophreniesymptome manifestieren.
Bei Patienten mit Schizophrenie erhöhen Variationen der C4-Gene die Menge und Aktivität der C4A- und C4B-Proteine, was zu einer zu starken Synapseneliminierung während der Entwicklung führt. Wirkstoffe, die diese Moleküle hemmen, könnten die normale Synapsenzahl im Gehirn von empfänglichen Kindern und Erwachsenen wiederherstellen.
Vier Jahrzehnte Forschung – Zwilllingsstudien in den 1970er Jahren, Kopplungsanalysen in den 1980er Jahren und Neurobiologie und Zellbiologie in den 1990er und 2000er Jahren – fließen in dieser Entdeckung zusammen. Für Familien wie meine eröffnet die Entdeckung des Zusammenhangs zwischen C4 und Schizophrenie bemerkenswerte Aussichten auf die Diagnose und Behandlung dieser Krankheit – sie wirft jedoch auch beunruhigende Fragen auf, wie und wann solche Diagnoseverfahren und Therapien zum Einsatz kommen mögen. Siehe A. Sekar u.a., »Schizophrenia risk from complex variation of complement component 4«, Nature, 530, S. 177–183.
Auf genetischer Ebene beginnt die Unterscheidung zwischen »familiär« und »sporadisch« zu verschwimmen. Manche Gene, die bei der familiären Variante mutiert sind, sind es auch bei der sporadischen Form. Bei diesen Genen ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass sie stark an den Ursachen der Erkrankung beteiligt sind.
Die Mutation oder Variation, die mit dem Risiko einer Krankheit verknüpft ist, liegt möglicherweise nicht in einer proteincodierenden Region des Gens, sondern in einer regulatorischen Region oder in einem Gen, das keine Proteine codiert. Tatsächlich treten viele genetische Variationen, von denen man gegenwärtig weiß, dass sie sich auf das Risiko für eine bestimmte Krankheit oder einen Phänotyp auswirken, in regulatorischen oder nichtcodierenden Regionen des Genoms auf.
Gegenwärtig wird ein weiteres Verfahren entwickelt, mit einem Restriktionsenzym »programmierbare« Schnitte in spezifischen Genen vorzunehmen. Dieses Enzym, »TALEN« genannt, lässt sich auch zur Genom-Editierung verwenden.
Ein wichtiges technisches Detail ist, dass man einzelne embryonale Stammzellen klonen und vermehren und solche mit unbeabsichtigten Mutationen identifizieren und aussortieren kann. Nur vorher geprüfte embryonale Stammzellen mit der beabsichtigten Mutation würden in Samen- oder Eizellen verwandelt.
Um zu begreifen, wie aus Genen tatsächliche Organismen entstehen, ist es notwendig, nicht nur die Gene, sondern auch die RNA, die Proteine und die epigenetischen Prägungen zu verstehen. Zukünftige Studien werden erforschen müssen, wie das Genom, alle Proteinvarianten (das Proteom) und alle epigenetischen Prägungen (das Epigenom) für die Entwicklung und Erhaltung von Menschen koordiniert werden.
Die umfassende Genomanalyse von Föten hat bereits unter der Bezeichnung nichtinvasiver Pränataltest (Non-Invasive Prenatal Testing, kurz NIPT) Einzug in die klinische Praxis gehalten. Ein chinesisches Unternehmen meldete 2014, es habe 150000 Föten auf Chromosomenstörungen untersucht und weite den Test auf Mutationen einzelner Gene aus. Obwohl diese Tests chromosomale Anomalien wie das Down-Syndrom ebenso zuverlässig entdecken wie Fruchtwasseruntersuchungen, haben sie große Probleme mit »falschen Positivdiagnosen« – zeigen also in der fötalen DNA chromosomale Anomalien auf, obwohl sie völlig normal ist. Die Rate solcher falschen Positivdiagnosen wird jedoch mit der Weiterentwicklung dieser Verfahren drastisch abnehmen.
Selbst scheinbar einfache Szenarien des Genscreenings zwingen uns, auf ein Terrain beunruhigender moralischer Risiken vorzudringen. Man nehme nur Friedmans Beispiel, Soldaten mit einer Blutuntersuchung auf Gene zu testen, die eine Prädisposition für posttraumatische Belastungsstörungen schaffen. Auf den ersten Blick würde ein solches Vorgehen Kriegstraumata scheinbar mildern: Man könnte Soldaten, die zur »Angstextinktion« unfähig wären, testen und mit intensiven psychiatrischen oder medikamentösen Therapien so weit behandeln, dass sie in die Normalität zurückkehren können. Was wäre jedoch, wenn wir die Handlungslogik ausweiten und Soldaten schon vor