Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2020

Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Neil Stevens

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-00115-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00115-2

Und für Darío und Mateo –

großartige Mozart’sche Geister

Peter Pan, J.M. Barrie

«Don’t never forget

your true and faithful friend

Wolfgang Amadé Mozart»

W.A. Mozart in Joseph Franz von Jacquins Stammbuch

Die väterliche Festung

Als ich aus dem Lärm des Bahnhofs ins Freie trat, hob ich als Erstes den Blick und suchte nach der Burg auf dem Berg. Mein Vater erwähnte sie jedes Mal, wenn er von seinen Reisen in diese Stadt erzählte. Ich sah nichts als Wolken, Dächer und den fernen Schatten der Berge. Die Sonne brannte. Aus irgendeinem Grün drang Vogelgesang zu mir. Eine Frau fächelte sich mit dem Programmheft der Sommerfestspiele Kühlung zu. Ein tiefer Atemzug. Ich war angekommen.

Ich kam nach Salzburg, um ein doppeltes Vorhaben zu verwirklichen: das Versprechen einlösen, das ich meinem Vater ins unbewegte, hinter dem Qualm seiner Zigarre nur zu erahnende Gesicht geschrien hatte, und zugleich den aus diesem Versprechen erwachsenen Traum zu begraben, der heute, nach all den Jahren beharrlichen Strebens, ein ganz anderer – fader, kümmerlicher – ist als der pralle herrliche, den zu genießen ich mir einmal vorgestellt hatte.

Mein Vater besuchte jeden Sommer abwechselnd die weltbekannten Festspiele in der Geburtsstadt Mozarts sowie die ebenso berühmten Bayreuther Festspiele. Begonnen hatte er mit dieser Tradition schon als lediger Mann, sobald er über ein Einkommen verfügte, welches ihm erlaubte, sich die kostspieligen Ausflüge von Mexiko nach Europa zu leisten. Nach seiner Heirat besuchte er mit meiner Mutter weiterhin die Opernsommer – wie er sie nannte –, und auch durch die Ankunft der Kinder wurden diese Reisen nicht unterbrochen.

Zwölf Jahre sollte das richtige Alter sein, hatte er beschlossen, um auch die Kinder in die Tradition einzuführen. Zwei Monate nachdem mein älterer Bruder an seinem zweiten Opernsommer teilgenommen hatte und während meine Schwester sich auf ihren ersten vorbereitete, wurde ich geboren. Die Schwangerschaft meiner Mutter kam spät und war nicht geplant. «Ein Unfall», sagte mein Vater, mir das Haar verstrubbelnd, in einem leutselig herablassenden Tonfall, den ich verabscheute. Bei der Bemerkung kam ich mir vor wie ein gebrochenes Bein, wie ein Gesicht mit einem Auge oder ein umgekipptes Glas Wein. Und während die Familie zu den Festspielen ging, verbrachte der «Unfall» die Sommer auf dem langweiligen Bauernhof der Verwandten unter trippelnden Hühnern und gemächlich widerkäuenden Kühen und träumte davon, nach Salzburg zu fahren. Ich glaube, eine CD mit der Musik Mozarts, die meine Mutter mich während der Hausaufgaben hören ließ, war die Ursache dafür, dass ich die Mozartstadt der Wagnerstadt vorzog. Ich wollte, dass mein erster Opernsommer mich nach Salzburg führte. Als ich jedoch ein gewisses arithmetisches Bewusstsein erlangte und meine kleinen Finger nutzen lernte, um

Mein Vater hätte gern Rheingold oder den Fliegenden Holländer gesehen; beide von perfekter Dauer, um den kleinen «Unfall» in die Welt der Oper einzuführen. Doch in dem Jahr – 1999 – wurde keine der beiden gegeben. Mein Vater erwog die Möglichkeit, mein Eintreten in die Familientradition zu verschieben. Obwohl das bedeutet hätte, dass das Ziel meiner ersten Reise Salzburg gewesen wäre, konnte ich keine Kühe und Hühner mehr ertragen und brannte darauf, die Familie zu begleiten. So ungestüm war mein Flehen, so überzeugend mein Versprechen, mich gebührend vorzubereiten, dass mein Vater schließlich einwilligte, mir die CD der Oper überreichte, die ich zum ersten Mal sehen würde, und ich ihn nicht zu enttäuschen schwor.

Tristan und Isolde. Fünf Stunden Musik.

Ich beschloss, mir jeden Abend vor dem Einschlafen einen Akt anzuhören. Über mehrere Wochen legte ich jedes Mal vorm Zubettgehen eine andere CD ein. Die Aufnahme, hatte mein Vater mich gleich wissen lassen, sei legendär: Furtwängler am Pult, Flagstad und Suthaus in den Hauptrollen und der junge Fischer-Dieskau als Kurwenal. Die Namen der anderen Interpreten nannte mein Vater nicht, wohl aber den einer außergewöhnlichen Sopranistin, Elisabeth Schwarzkopf, die, so hieß es, auf Wunsch der Flagstad die zwei hohen

Anfangs machte mich diese ausufernde Musik ratlos, war für mich ein einziger Klangwirrwarr, der mein Verständnis überstieg; zugleich jedoch erlebte ich dabei angenehme und unerwartete Stimmungssprünge, die meine Neugier beflügelten. Ich versuchte, weniger zu verstehen und mich stattdessen auf diese kleinen Gefühlsexplosionen zu konzentrieren. Das war gut so, und bald schon begann ich, die Musik zu genießen, mich auf die Wechselwirkung zwischen ihr und mir zu freuen. Dass ich irgendwann immer einschlief (stets an den gleichen Stellen der Aufnahme), störte mich nicht. Ich war überzeugt, dass ich mir die Musik und ihre Geschichte auch im Schlaf aneignen konnte.

In den Nächten des ersten Aktes entflammte die Ouvertüre meine Brust und rief die ersten Träume hervor. Ich lauschte ihr, den Blick zur dunklen Zimmerdecke gerichtet. Die Schatten schienen lebendig zu werden und sich zu bewegen, sich einander zu nähern, sich zu vereinen, zu tanzen und lustvoll mit dem sanften Strom der melodischen Flut zu verschmelzen. Dann trat Stille ein. Die ferne, schwebende Stimme des jungen Seemanns lullte mich ein; doch das plötzliche Ungestüm Isoldes, das verderbliche Stürme beschwor, weckte mich wieder auf. Und weiter lauschte ich dem prahlerischen Kurwenal, der Erregung Isoldes, während sie Brangäne den unerschütterlichen Blick Tristans beschrieb; an der Stelle jedoch, als Brangäne den ritterlichen Tristan beschwor, Isolde aufzusuchen, schlief ich ein.

In den Nächten des zweiten Aktes überwältigte mich der Schlaf nach den Warnungen Brangänes und dem Duett der Liebenden, die dem nahenden Tag trotzig entgegensahen.

So verbrachte ich die Nächte vor der Reise, lauschend, träumend, mit wachsender Ergriffenheit mein Dabeisein am ersten Opernsommer bereitend. Ich ließ mich gefangen nehmen von dieser geschmeidigen, melodienreichen Musik, die sich wie eine gewaltige, leuchtend schöne Schlange aufrichtete; eine unsichtbare Anaconda, die meinen Leib zusammenpresste, sich zärtlich sanft und mörderisch entschlossen um mich schlang, bis sie mir einen Seufzer abrang, eine Träne, mir die Sinne schwanden.

Endlich kam der Tag der Abreise. Zum ersten – und letzten – Mal würde die gesamte Familie nach Bayreuth fahren. Meine Geschwister machten mürrische Gesichter; sie reisten mehr meinem Vater zu Gefallen als aus eigenem Wunsch. Am Flughafen überreichte mein Vater mir meinen Reisepass. Es war das erste Mal, dass er mir das Dokument anvertraute. Dieser Vertrauensbeweis rührte mich und bestätigte mir meinen Eintritt in die Musiktradition.

Wir passierten die Sicherheitskontrolle, frühstückten grüne Enchiladas in einem mit bunten Pappmachéfiguren und Mariachihüten dekorierten Restaurant und schauten uns die Läden an. Als es Zeit zum Einsteigen war, mussten wir am Gate unsere Reisedokumente vorzeigen. Eifrig wollte ich meinen Pass aus der Tasche ziehen und stellte erschrocken fest, dass er nicht mehr da war, wo ich ihn hingesteckt hatte. Mein Vater begann zu schimpfen und Verwünschungen auszustoßen und nannte mich einen verantwortungslosen Esel. Meine Geschwister wohnten der Szene mit einer gewissen Hoffnung bei, dass die Reise möglicherweise

Am Tag der Vorstellung steckten sie mich in einen Smoking, in dem ich wie ein herausgeputzter Zwerg aussah. Die Fliege drückte mir den Hals zusammen, die Jacke kniff unter den Armen, und das Gel, das meine Haare bändigen sollte, verströmte einen unangenehmen Geruch. Doch nichts davon kümmerte mich; die Erregung, die ich in diesem Augenblick empfand, ließ mich alle Unannehmlichkeiten ertragen.

Wir nahmen unsere Plätze ein. Das Orchester stimmte die Instrumente, mein Herz pochte vor Aufregung. Der einstimmige Akkord des Orchesters löste sich auf in individuelle Skalen, einzelne Noten und pizzicato, dann in Stille. Die Lichter verloschen. Aufgeputscht von der erwartungsvollen Elektrizität eines glanzvollen Ereignisses, das für mich bereits Wirklichkeit war, begann ich zu klatschen. Ich wusste nicht, dass der Dirigent in diesem Theater nicht mit dem Applaus begrüßt wird, mit dem man ihn überall sonst empfängt.

«Noch passiert ja nichts, beherrsch dich», flüsterte mein Vater mit der Selbstgefälligkeit des Kenners, der spontane Aufwallungen nur widerwillig erträgt. Er irrte sich, denn für mich passierte eine ganze Menge, alles, und wenn seine Bemerkung mich auch erröten und meinen ignoranten Applaus verstummen ließ, pulste in meinen Adern doch weiterhin eine stürmische Freude, die mich übermannte.

Ein paar Minuten vergingen, und dann ließ Daniel Barenboim aus dem Dunkel und der Stille diesen ersten unvergesslichen Akkord des Stückes erstehen und begann mit

Kurwenal sang seinen Protest, es folgte der Dialog zwischen Brangäne und Isolde und danach die Bitte an Tristan, Isolde aufzusuchen. Doch plötzlich verloren die Sänger auf der Bühne ihre Farben, wurden zu gleitenden Schatten ähnlich denen, die an der Decke meines Zimmers getanzt hatten. Mein Verstand benebelte sich, meine Lider wurden schwer, und im selben musikalischen Moment wie während meiner vorbereitenden Nächte sank ich in einen nicht aufzuhaltenden Schlaf. Vergebens waren die verhaltenen Rippenstöße und das heimliche Zwicken, mit denen meine Mutter mich aufzuwecken suchte. Ich erwachte vom Applaus am Ende des ersten Aktes.

Bevor wir unsere Plätze für den zweiten Akt wieder einnahmen, ging ich zur Toilette, befeuchtete mein Gesicht mit kaltem Wasser, klopfte mir auf die Wangen, bis sie sich röteten, und kehrte wacher als eine Eule an meinen Platz zurück. Die Lichter erloschen, und mein Vater flüsterte mir ins Ohr:

«Träum was Süßes.»

Meine Wangen waren jetzt nicht mehr das einzige Rot auf meiner Haut. Mein ganzer Körper brannte vor Zorn. Ich biss mir auf die Lippe, bis ein Tropfen Blut hervortrat. Der zweite Akt begann. Mein Vater würde schon sehen, wie sehr ich diese Musik zu schätzen wusste. Besser jedenfalls als er, der diese Vorstellungen mehr ihres Bombasts wegen besuchte, der ihm reichlich Material für seine späteren Angebereien lieferte, als aus Liebe zur Kunst. Dies hier wurde zu einem Kampf zwischen dem natürlichen, erst frisch in die Kunst eingeführten Liebhaber und dem vor lauter ausgestelltem Wissen unsensibel gewordenen, prahlerischen Musikkenner.

Die Minuten vergingen, ich verfolgte jeden Moment des Geschehens, ohne zu blinzeln, mit durchgedrücktem Rücken, die Fingernägel in meine Schenkel vergraben. Brangäne warnte vor den Gefahren des anbrechenden Tages, die Liebenden ignorierten das heraufziehende Licht, meine Lider fielen zu, mein Kinn sank herab, mein Kopf kippte nach hinten.

Als ich vom Schlussapplaus des zweiten Aktes geweckt wurde, blickte ich in das spöttische Gesicht meines Vaters und auf seinen Finger, der anklagend auf meine Schulter zeigte. Und nachdem er gesehen hatte,, wie ich den

Am Tisch gab es weiteren Spott von Seiten der Geschwister, weitere entschuldigende Fürsprache meiner Mutter, weitere väterliche Gleichgültigkeit.

Ob ich im dritten Akt einschlafen würde, kümmerte mich nicht mehr, ich erwartete es beinahe. Doch diesmal fielen mir nicht nur die Augen zu, sanken nicht nur Kopf und Kinn herab; zu der Schande des Schlafens fügte ich noch die des Schnarchens hinzu. Geweckt wurde ich dieses Mal nicht von den sanften Rippenstößen meiner Mutter oder vom begeisterten Applaus des dankbaren Publikums, sondern von dem Ellbogen meines Vaters, der mir einen so rohen Stoß an den Oberarm versetzte, dass dieser blau anlief und noch mehrere Tage schmerzte. Den Rest der Vorstellung verbrachte ich schläfrig nickend, geschlagen und gedemütigt, bis die glorreiche Waltraud Meier den Liebestod zu singen begann. Jedem Satz des Monologs folgte ich mit wachsender Erregung, war der Wachste von allen. Ihre Stimme drang mit jedem Satz, mit jedem vom makellosen Kristall der Vokale verbundenen Konsonanten in die Poren meines Körpers. Mein Arm schien vor Schmerz zu bersten, aber noch mächtiger war die Explosion meiner Seele, und nichts kümmerte mich, als allein die Stimme der Meier, der gestaltgewordenen Isolde, und das planvolle Dirigat Barenboims, der jeden Takt bedachtsam an den nächsten reihte, in einer Wolke von Klängen, das viel mehr als ein Netz von Noten wob; dies war die klingende Ewigkeit reinen, bewegenden Ergreifens. Ich wurde zum Quell. Ich weinte haltlos, versuchte nicht einmal, meine Tränen zurückzuhalten, im Gegenteil, sie waren der erste Ausdrucks eines Glücks, wie ich es noch nie empfunden hatte.

Mein Vater sollte später die Bedeutung meiner Tränen herunterspielen. Wer immer auf die Sache zu sprechen kam, dem würde er verkünden, dass ich vor Schmerz über seinen Armhieb zum Wohl der Aufführung und des Publikums geschluchzt hätte. Ich versuchte erst gar nicht, seine falsche Begründung richtigzustellen. Denn ich ahnte, dass er unfähig war, eine Verzückung zu verstehen, die er selbst nie empfunden hatte.

In den Tagen darauf wurde nicht mehr über die Angelegenheit gesprochen, und ich ertrug stoisch meine ungerechtfertigte Schande. Zurück in Mexiko entschloss ich mich jedoch, mit der Komödie des «Nichts-passiert» Schluss zu machen und meinem Vater zu erklären, dass ihm in meiner Musikerziehung ein Fehler unterlaufen sei, indem er zugelassen habe, dass mich Opernmusik des Nachts einlullte, denn so sei es dazu gekommen, dass ich jedes Mal an einer bestimmten Stelle jedes Aktes eingeschlafen sei.

Ich fand ihn Zigarre rauchend im Wohnzimmer, wo er hinter einer Qualmwolke Zeitung las. Ich begann mich zu entschuldigen (wofür?) und versprach ihm, dass so etwas im nächsten Jahr in Salzburg nicht passieren würde.

«Quäl dich nicht, Junge», unterbrach er mich, den Blick von der Zeitung und die Zigarre aus dem Mund nehmend, «ich sollte dir nicht meinen Geschmack aufzwingen. Nächstes Jahr werden deine Geschwister nicht mitfahren. Freu dich, du auch nicht. Wir haben beschlossen, dich in ein Feriencamp nach Boston zu schicken, damit du dein Englisch verbesserst, das doch einiges zu wünschen übrig lässt.»

Ich protestierte, stieß stammelnde Erklärungen hervor, und als ich erkannte, dass seine Entscheidung getroffen war,

«Aber Papa …»

«Aber nichts da.»

Mein Vater widmete sich wieder seiner Zigarre und seiner Zeitung. Eine aus dem Mund quellende Rauchwolke verschleierte sein Gesicht. Die Sprechstunde war zu Ende. Das Urteil war gesprochen.

Ich verspürte denselben Zorn wie bei der Demütigung, als mein Vater mir vor Beginn des zweiten Aktes «süße Träume» gewünscht hatte. Ich stampfte auf den Teppich.

«Mir egal!», stieß ich atemlos hervor. «Dann werde ich eben selbst ein großer Opernsänger und komme nach Salzburg nicht als Besucher, sondern um den Applaus des Publikums entgegenzunehmen, und dann» – hier zeigte ich anklagend mit dem Finger auf ihn – «wirst du dich daran erinnern, wie ungerecht du heute zu mir gewesen bist.»

Normalerweise blieb ich stumm, wenn ich mich ärgerte; ich war selbst überrascht von diesem übertriebenen, beinahe opernhaften Ausbruch. Hinter der Qualmwolke schaute mein Vater teils mit Neugier, teils mit Zorn auf mich. Er zog die Augenbrauen hoch, betrachtete forschend den «Unfall», der ihm mit frecher Kühnheit ein so melodramatisches Urteil entgegengeschleudert hatte. Langsam nahm er die Zigarre aus dem Mund, stieß eine weitere Qualmwolke aus und sagte:

«Opernsänger ist nichts, was zu werden man entscheidet. Entweder hat man das Talent dazu, oder man hat es nicht.

Es folgte eine drückende Stille. Sein ernster, forschender Blick hinter dem Rauchschleier ließ meine Knie zittern. Ich musste schlucken. Ich war wie betäubt. Die Gewissheit, mit der ich meinen Satz gesprochen hatte, war verflogen.

«Kommst du, um mir zu applaudieren, wenn dieser Tag Wirklichkeit wird?», fragte ich und wunderte mich, dass meine Stimme beinahe wie ein Schluchzen klang. Mein Vater zog eine Grimasse, ließ den Zigarrenrauch durch gespitzte Lippen entweichen, und ich würde nie erfahren, ob dieses Luftlachen Ausdruck von Zärtlichkeit, Spott oder Widerwillen war.

Sechzehn Jahre später war dieser Tag Wirklichkeit geworden.

2

Ich schleifte meinen Koffer zur Haltestelle der Busse, die in die Altstadt fuhren. Einer war schon voller Fahrgäste und stand mit laufendem Motor bereit. Ich begann zu rennen, stolperte über einen rosafarbenen Koffer, erreichte die Tür, und als ich den Fuß hob, um einzusteigen, ging die Schiebetür vor meiner Nase zu. Bevor der Autobus sich in

Falls mich jemand während der zehn Minuten beobachtete, bis der nächste Bus kam – und ich bin sicher, dass es jemand tat, es gibt immer jemanden, der mich beobachtet –, muss er gedacht haben, dass ich unter Bewegungsmangel litt oder ein Boxer war, der sich für den Ring aufwärmte. Ich hatte zwar kein Bewegungsproblem, aber das mit dem Boxer war nicht ganz falsch. Es deutete sich ein Kampf zwischen meinen Schatten an, den vergangenen, den üblichen also, und den zukünftigen. Doch das war nicht der Grund, weswegen ich in die Knie ging, von einem Bein aufs andere hüpfte, den Oberkörper nach hinten bog und meine Hüften kreisen ließ, während ich auf den Bus wartete. Eine Wespe flog drohend um meinen Kopf, und ich versuchte – vergeblich – ihr auszuweichen. Der Bus kam, die Wespe blieb draußen, für mich begann das letzte Wegstück zur ersehnten Stadt.

Kurz vor dem Abitur teilte ich meinem Vater mit, dass ich ins Nationale Konservatorium für Musik eintreten und nicht die Universität besuchen würde, wie er es wünschte. Er nahm es gefasst auf und antwortete nicht gleich, und als er es tat, sprach er ohne Zorn und ohne zu gestikulieren, mit der Sicherheit dessen, der weiß, dass er die Macht hat. Er schwor, mir jede finanzielle und moralische Unterstützung zu entziehen, und drohte sogar damit, mich aus dem Haus zu werfen, wenn ich darauf beharrte, diesen absurden Weg zu gehen. Er versicherte mir mit der Selbstgefälligkeit des Erwachsenen, der einem Kind die Gründe erklärt, warum es die Hände nicht ins Feuer halten darf, dass eine

«Und damit du nicht glaubst, ich sei ein herzloses Ungeheuer, verspreche ich, deine gesangliche Berufung zu fördern, falls du am Ende deines Studiums – mit dem Diplom in der Hand – immer noch eine solche verspürst.»

Er schaute mir dabei in die Augen, die Brücke über dem Abgrund, der uns zeitlebens getrennt hat, war herabgelassen. Er erwartete eine Antwort. Eine Stimme des zwischen Bergen brausenden Windes befahl mir, mich nicht von meiner Entscheidung abbringen zu lassen. Ein paar Sekunden lang stellte ich mir den Kampf vor, den zu entfachen ich im Begriff stand, die Ungewissheit, in die ich gestürzt würde, und ich spürte schon den schrecklichen Rausch der Freiheit. Eine andere Stimme, die einer kleinen, zitternden Ratte, empfahl mir versöhnlich, den Vorschlag meines Vaters anzunehmen; wenn es ein universitärer Abschluss war, den er brauchte, um an mein Talent zu glauben, brauchte ich den doch bloß zu machen, und alle Probleme wären ausgeräumt. Der Druck der Hand auf meiner Schulter verstärkte sich; sie war nicht bereit, den ganzen Tag zu warten. Ich schluckte, hielt die Luft an, und dann nahm ich – zögernd zuerst und angesichts des durchdringenden Blicks der Festung schließlich

Ich begann ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Iberoamerikanischen Universität; doch parallel dazu und ohne meinem Vater etwas davon zu sagen, suchte ich mir Gesangslehrer, um mich auf das vorzubereiten, was ich als meine wahre Berufung betrachtete. Vier Jahre später hatte ich mein Diplom, wenngleich nur ein mittelmäßiges. Mein Vater verbarg seine Enttäuschung nicht, hielt aber sein Versprechen und sagte, er werde mich ein Jahr lang unterstützen. Diese Zeit hätte ich, um meinen Traum ohne finanzielle Sorgen zu verfolgen, um festzustellen, dass er eine Schimäre sei, fügte er noch hinzu.

Mehr als alles wollte ich ein großer Tenor werden; doch so eifrig ich auch meine Lektionen lernte und Tonleitern übte, so oft ich meine Lehrer und Techniken wechselte, wie viele Stunden ich mir auch die Aufnahmen der berühmtesten Tenöre anhörte, um ihre Geheimnisse zu ergründen, trotz aller meiner Anstrengungen gelang es mir nicht, die hohe Stimmlage zu erreichen. Manchmal schaffte ich mit etwas Glück ein anständiges A, doch nach dem B brachte ich kaum mehr als gestützte Schreie, vibratolose oder kratzige Töne hervor, pfeifende Geräusche. Ich ließ mich jedoch nicht entmutigen und war überzeugt, dass meine beharrliche Arbeit Früchte tragen, ich am Ende meine Technik beherrschen und die stimmlichen Höhen erreichen würde, nach denen ich mich so sehnte. Um meine Fortschritte vor Publikum zu testen, sang ich auf Hochzeiten von Freunden, Bekannten und Verwandten nicht sehr hochstimmige Kirchenlieder; und auf einem dieser Feste erkannte ich unter den Gästen Professor Murillo, den bekanntesten Gesangslehrer der recht überschaubaren mexikanischen Opernwelt und Direktor der

Dreimal die Woche ging ich in sein Studio, mein Vater zahlte widerwillig die Unterrichtsstunden. In der vierten Woche gemeinsamer Arbeit sagte mir der Professor, der Grund für meine Probleme mit der hohen Stimmlage sei, dass ich eigentlich eine Baritonstimme habe und kein Tenor sei. Mir sank das Herz in die Hose. Bariton! Was wusste ich von dieser tiefen, verführerischen Stimme? Nur wenig, so gut wie nichts. Ich konnte kein Bariton sein; die ganze Theorie meiner Persönlichkeit basierte darauf, Tenor zu sein. Ich wollte, dass Mimi und Violetta und Carmen ihre letzten Seufzer in meinen Armen hauchten; ich wollte die Tode von Werther, Edgard, Lenski und Cavaradossi singen; ich wollte meine Stimme in den Triumphen Nemorinos und Almavivas aufgehen lassen. Nur wer singt, weiß, wie sehr die Stimmlage die Persönlichkeit eines Sängers bestimmt. Die Stimmlage zu wechseln, heißt nicht nur, ein neues Repertoire zu lernen und eine neue physische Stellung der Stimme zu entdecken. Es bedeutet auch einen neuen Aufbau der Persönlichkeit und der Idee davon, wie ein Sänger sich als Mensch sieht. Professor Murillos wegen hätte ich einen Psychologen aufsuchen müssen. Die ohnehin stets düsteren Wolken über meiner Seelenlandschaft waren schwärzer denn je. Ich wusste nicht einmal, was ich dem Professor sagen sollte; ich verabschiedete mich stammelnd, verließ sein Studio und kehrte nicht mehr zurück. Tagelang vergrub ich mich in meine Gedanken und verlor mich in Grübeleien. Ich war nicht bereit,

Ich sprach mit meinem Vater. Er tröstete mich von seinem Gipfel aus, von dem er immer schon die Schimäre gesehen und gewusst hatte, dass das alles nichts als eine kindische Obsession gewesen war. Seine schützenden Mauern umfingen mich. Er besorgte mir eine Anstellung in einer Beratungsfirma, in der ich mit der Zeit und mit seiner Hilfe auf der Karriereleiter vorankommen könnte. Ich fühlte mich sicher und beschützt, zugleich aber leer und verzweifelt. Die Tage vergingen, einer war wie der andere. Ich hörte mir keine Aufnahmen mehr an. Von Gesang und Oper hielt ich mich fern, vermisste sie aber. Meine Seufzer brachten meinen Vater zur Verzweiflung. Eines Tages traf ich ihn im Büro an, wo er sich mit dem Firmenchef unterhielt, der mich eingestellt hatte, und wir gingen alle drei zum Essen. Wir sprachen über Oper, und mein Vater berichtete von meinem Versuch, Tenor zu werden, von meiner Begegnung mit Professor Murillo und wie ich vom Traum meiner Kindheit Abstand genommen hatte. Aus seinem Mund klang die Geschichte wie ein langer lustiger Witz, den wir alle mit Lachen und erhobenen Gläsern quittierten; doch in meinem Innern regte sich der zornentbrannte Krieger. Das war eine klare Kränkung. Ich hatte meine Berufung und meine mühselige Ausbildung zum Sänger nicht aufgegeben, damit mein Vater sich darüber lustig machte und die Geschichte als drollige Anekdote erzählte. Wenn meine Berufung wahrhaftig war, erkannte ich, dann müsste ich alle Hindernisse überwinden, jeden Spott ertragen, allen Widrigkeiten trotzen. Wenn meine

Ein Jahr mit harter Arbeit war vergangen, als ich meine Stellung kündigte. Ich schrieb meinem Vater einen langen Brief, vermied es jedoch, mit ihm zu sprechen, um ihm keine Gelegenheit zu geben, mich umzustimmen. Ich bestieg ein Flugzeug nach Europa, wo ich zum Vorsingen antreten wollte. Er sollte ruhig lachen. Wenn alles so lief, wie ich es erwartete, würde ich auf dem alten Kontinent bleiben und das Singen zu meinem Beruf machen.

3

Die Fahrgäste unterhielten sich in verschiedenen Sprachen. Ich suchte immer noch den Horizont ab, um die Burg zu finden. Ich kannte sie nicht einmal von Fotos. Jedem Abbild war ich bisher aus dem Weg gegangen, weil mein erster Eindruck der sein sollte, den meine eigenen Augen mir vermittelten, wenn ich davorstand. Ich fühlte

Zu meinem ersten Vorsingen fuhr ich nach Prag. Vor dem Betreten des Staatstheaters ließ mich der leere Blick eines gesichtslosen Gespenstes innehalten. Es saß an einer Ecke des Gebäudes, eingehüllt in einen Umhang aus dunkler, grünspaniger Bronze. Die verborgenen Hände ruhten gelassen auf seinen Oberschenkeln und waren von den harten Falten des Umhangs nicht zu unterscheiden. Wo das von der Kapuze umrahmte Gesicht hätte sein sollen, war ein Loch, eine schrecklich abgründige Höhle; stehender Wind, der starrte. Die Skulptur von Anna Chromy schaute mich an mit dem zwingenden Nichts ihres leeren Gesichts vor dem Gesang. Ich las ihren Namen: Il Commendatore, wie der steinerne Gast in Don Giovanni. Ich riss mich los von diesem Gesicht aus dunklem Hauch, verscheuchte die düstere Vorahnung, die es in mir weckte, und trat durch den Künstlereingang ins Theater.

«Sie sind kein Bariton. Sie sind Tenor», schloss er und ging

Meinem Vater sagte ich, drei meiner Gesangsproben seien erfolgreich gewesen. Ich erfand Kurse und Opernwerkstätten. Er verzieh mir nicht, gegangen zu sein, ohne ihm ins Gesicht gesehen zu haben, wünschte mir Glück und bot mir keinerlei finanzielle Hilfe an. Ich fand Arbeit als Kellner in einem mexikanischen Restaurant in Berlin, und danach fotokopierte ich Partituren in einer Musikschule. Ich trainierte meine Stimme wieder bei neuen Lehrern. Einer versicherte mir, ich sei Bariton; der andere, meine Stimme sei die eines Tenors. Was ich am Ende erreichte, war eine gewaltige, lähmende Verwirrung. Meinem Traum vom Künstlerdasein kam ich am nächsten, wenn ich bei Opernaufführungen als Komparse eingesetzt wurde. Ich, der ich geglaubt hatte, zum Singen geboren zu sein, trottete stumm über die Bühne, wie ein Schatten, wie eine von Schreien erfüllte Stille. Meinem Vater schickte ich Fotos mit meinen Kostümen und berichtete ihm, ich singe kleine Rollen in Opern, stiege in meiner Künstlerkarriere Stufe um Stufe die Leiter hinauf. Ich begeisterte mich für meine Lügen, als wären sie in einer Parallelwelt Wirklichkeit geworden. Ich genoss diese Fiktion. Auf einem der Fotos, die ich ihm schickte, war ich als römischer Soldat zu sehen. Meinem Vater schrieb ich, ich spiele die Rolle des

«Hältst du mich für blöd, Vian?»

Ich rechtfertigte mich, warf ihm Polizeimethoden vor, versicherte ihm, alles sei wahr, alles entwickle sich phantastisch, er würde schon sehen, wie gut es für mich lief. Ich hob die Stimme und fuchtelte mit den Armen. Mein Vater sagte kein Wort, schaute mich nur forschend an, erkundete jedes Stammeln, jede plumpe Erklärung, jeden Schweißtropfen in meinem ertappten Gesicht und schüttelte unmerklich den Kopf. Er nutzte eine Atempause in meiner stolpernden Rede, stand auf und ging dahin, wo meinem Gefühl nach die Welt am Einstürzen war, ließ, wie er es vor Jahren schon getan hatte, die Zugbrücke auf meine Schulter niedergehen.

«Glaubst du, ich bin blöd, Vian?», wiederholte er mit strenger, gebieterischer und vernichtender Stimme; derselben, die mich als Kind den Diebstahl einer Tafel Schokolade hatte gestehen lassen, und genau wie damals brach ich auch diesmal zusammen. Ich gestand ihm die ganze Wahrheit, von jedem ergebnislosen Vorsingen bis zu meiner wahren Rolle

«Es ist an der Zeit, dass du vernünftig wirst und diese absurden Träume hinter dir lässt», sagte er ruhig und bestimmt. «Komm mit mir zurück nach Mexiko, ich kann dir immer noch in irgendeinem Unternehmen eine Stelle besorgen, damit du endlich beginnst, in der Wirklichkeit zu leben.»

Er ließ einige Sekunden verstreichen, und als er merkte, dass ich nichts mehr zu sagen hatte, nahm er seine Hand von meiner Schulter, fuhr mir damit durchs Haar und meinte:

«Unglaublich, dieser ‹Unfall›. Pack deine Sachen», befahl er dann und griff nach seiner Aktentasche, «wir fahren heute noch.»

«Ich kann nicht, ich habe den Vertrag für Salzburg schon unterschrieben», log ich, und nach einem Moment vorwurfsvollen Schweigens seinerseits bat ich mit flehender Stimme: «Bitte, Papa, lass mich dieses Mal nach Salzburg fahren.»

Mir war, als schössen seine Augen giftige Pfeile ab. Er knirschte mit den Zähnen, schnaufte und schlug seine Fäuste auf die Oberschenkel. Mein Vater verlor niemals die Kontrolle über sich.

«Du bist achtundzwanzig Jahre alt, Vian, ein erwachsener Mann», rief er ungeduldig, erbittert. «Mach, was du verdammt noch mal willst; aber wenn du im September noch nicht in Mexiko bist, kannst du jede Unterstützung meinerseits vergessen.»

Bevor er ging, schaute er mir in die Augen und nahm mir

In den folgenden Tagen hatte ich das Gefühl, von einem kraftlosen, unbeständigen Licht umgeben zu sein; in einem Schatten zu leben, der düster und unausweichlich war. Ich schloss meine elende Bleibe ab, fuhr nach München und nahm dort den Zug in die ersehnte Stadt. Während ich die Landschaft am Fenster vorbeiziehen sah, schwor ich mir, mich mit all meinen Kräften an das schwache, unbeständige Licht zu klammern, die kommenden Tage nicht von dem lästigen, unausweichlichen Schatten verdüstern zu lassen und meinen Aufenthalt in Salzburg wie einen Sieg zu feiern.

4

Erhitzt und gereizt drängten wir Fahrgäste uns in dem holpernd vorankommenden Bus zusammen. An den Fenstern zogen Häuser in matten Farben vorbei, Gelb, Blau und Weiß, Grünflächen, ein Schreibwarengeschäft, Fußgänger in kurzen Hosen und Miniröcken, ein Postamt. Erster Halt. Einer der Fahrgäste nannte den Namen «Mirabell» und deutete auf den Park, an dem wir vorbeigefahren waren. Verkehrsampeln, Plakate mit den Namen von Opern. Zweiter Halt. Mein Herz schlug schneller, denn an genau diesem Tag vor vier Jahren war ich in Mexiko in das Flugzeug gestiegen, das mich nach Europa zu meinen Vorsingen bringen sollte. Meine damalige Erregung war jedoch Ergebnis einer erfrischenden Ahnungslosigkeit gewesen, einer blind machenden Begeisterung vor der Begegnung mit dem Unbekannten; die

Der Bus bog nach rechts, ich erblickte eine Bronzeskulptur, die mich an eine zerfließende Schnecke denken ließ, und dann, hinter ihren Windungen, zwischen denen ich ein lächelndes Profil zu erkennen glaubte, sah ich das Haus, in dem die Mozarts gewohnt hatten. Ein großes Metallschild an der grauen Fassade verkündete es: MOZART WOHNHAUS. Dritter Halt.

Das Einzige, was ich über viele Jahre hin von Mozart kannte, war eine Schallplatte mit seinen bekanntesten Stücken, die meine Mutter mich hören ließ, während ich meine Hausaufgaben machte. Jemand hatte ihr erzählt, diese Musik fördere die intellektuelle Entwicklung von Kindern. Meine arme Mutter, so leichtgläubig, so scheu, so tot.

Der Bus bog jetzt auf die Brücke ein, die in die Altstadt führte. An einer der Straßenecken, die hinter uns zurückblieben, sah ich eine Konditorei, in der es die berühmten Mozartkugeln gab. Ich musste lächeln, denn schon lief mir das Wasser im Mund zusammen. Wenn mein Vater von seinen Besuchen in dieser Stadt nach Mexiko zurückkam, pflegte er ausgewählte Gäste zum Abendessen einzuladen. Nach den aufsehenerregenden österreichischen Gerichten ließ er zum Kaffee die Schokoladenkugeln reichen. Und dann – schweren Brandy in der einen, qualmende Zigarre in der anderen Hand – fing der Gastgeber an, seine märchenhaften Anekdoten des Sommers zu erzählen. Mir war es verboten, diese Süßigkeiten zu probieren. Manchmal stahl ich eine und verschlang sie mit einer solchen Wonne, dass ich den Geschmack von Nougat, Marzipan und dunkler Schokolade kaum im Mund behielt; aber mein Vater, der unerbittlich Buch über die Schokoladenkugeln führte, so wie er es über

Lange österreichische Fahnen hingen schwunglos an hohen Masten, die sich schlank entlang der Brücke erhoben. Zum ersten Mal hätte ich jetzt die Burg sehen können, wenn mich der Anblick der breiten, grünen, quirligen Salzach nicht abgelenkt hätte. Ich schaute auf und sah ein Bauwerk auf dem Hügel. Sollte das die Burg sein, waren ihre Ausmaße bescheiden; doch dann deutete ein Tourist auf das Gebäude und gab ihm einen Namen. Es war das Museum der Moderne. Zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nicht die geringste Ahnung, welche Bedeutung diesem Ort in meinem Leben zukommen würde. Altstadt Zentrum, sagte eine weibliche Stimme vom Band, damit einen vielsprachigen Begeisterungschor auslösend. Vierter Halt. Meiner.

Die Türen öffneten sich, mehrere Leute stiegen aus. Auf dem Bürgersteig versuchte ein großer dicker Mann mit Boxertänzeln umherschwirrenden Wespen auszuweichen. Er hatte meine Anteilnahme. Ich querte eine überdachte Gasse und erblickte zu meiner Rechten ein Hutgeschäft. Meine nicht sehr hochgewachsene Gestalt spiegelte sich im Schaufenster, in dem Baskenmützen, Filzhüte, Melonen, mit Gänsefedern geschmückte Zweispitze und andere Hüte ausgestellt waren. Einer mit hoher Krone schien einen Moment lang auf dem Spiegelbild meines Kopfes aufzusitzen. Ich verließ die schattige Gasse und trat auf den Marktplatz. In der Mitte sprudelte ein Brunnen. Die goldenen Buchstaben eines mittelalterlich anmutenden Transparents aus rotem Stoff verkündeten den Eintritt in die Goldgasse. Ich verharrte auf dem kleinen Platz inmitten der Menschen, die ohne Hast kamen und gingen, lauschte dem Plätschern des

«Hallo, Salzburg, da bin ich nun.»

Ein paar Schritte von meinem spontanen Gruß entfernt stand ein Mann mit gezwirbeltem Schnauzbart, Tirolerhut, kariertem Hemd, kurzer Lederhose mit Hosenträgern und einer gebogenen Pfeife in der Hand und schaute mich verwundert an. Aus einer Konditorei blinzelte ein lächelnder Mozart herüber. An meinem Gesicht schwirrte eine Wespe vorbei. Ich war angekommen.

5

Weil ich einem Haufen Pferdemist ausweichen wollte, kam es zu diesem glücklichen Zusammenstoß. Ich war stehengeblieben und las eine Plakette am Haus neben dem Café Tomaselli, in dem Mozarts Witwe mit ihrem zweiten Mann und ihren Kindern gewohnt hatte. Um den dunklen, schwitzenden Pferden einer Kutsche aus dem Weg zu gehen, die mir entgegenkam und aus der drei Touristen ihre Fotos schossen, musste ich zur Seite treten. Als ich der