Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-60125-5
ISBN E-Book 978-3-688-10508-3
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Ich glaube mich zu erinnern, daß damals alle Menschen um mich herum die Tatsache der deutschen Niederlage und die Überlegenheit der Amerikaner weit mehr beschäftigten als die Greueltaten des Hitler-Regimes.
Vgl. Schmidbauer, W., Mit dem Moped nach Ravenna. Eine Jugend im Wirtschaftswunder, Reinbek (Rowohlt) 1994
Regression ist ein Kunstwort für Rückschritt, Rückkehr, das von Freud in die Psychologie eingeführt wurde, um zu beschreiben, wie Menschen angesichts eines Hindernisses in ihrem Reifungsprozeß bereits überwundene Verhaltensformen wiederbeleben: Die verlassene Braut wird dick («Kummerspeck»), der von einem neugeborenen Geschwister entthronte Erstgeborene macht wieder ins Bett.
Ulrich Beck, Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt (Suhrkamp) 1986
Hans Peter Dreitzel, ein Soziologe, der auch psychotherapeutisch arbeitet, hat als einer der ersten dieses Thema aufgegriffen. Er konzentriert sich vor allem auf die Rolle der Angst als Voraussetzung, ökologisches Bewußtsein zu entwickeln, und als Hemmnis, es in die Tat umzusetzen – eine Sperre, die (ähnlich den von mir in den Vordergrund gerückten regressiven Mechanismen) durch den einzelnen allein nicht durchbrochen werden kann. Vgl. H.P. Dreitzel, Horst Stenger (Hg.), Ungewollte Selbstzerstörung, Frankfurt (Campus) 1990, S. 22f
Nach jeder Erhöhung der Treibstoffpreise werben die Automobilfabriken mit günstigen Verbrauchswerten ihrer Modelle; dabei werden für über 200 Stundenkilometer schnelle Fahrzeuge Zahlen genannt, die auf 90 km/h bezogen sind.
Meldung in der Süddeutschen Zeitung, 26. April 1994, S. 12
In der Ökologie ist diese Situation als «Allmendeproblem» bekannt: Wenn alle Bewohner eines Dorfes eine gemeinsame Weide (die Allmende) haben, dann müssen sie mit strikten Strafen die kurzsichtigen Interessen bändigen, sich durch Überweiden einen Vorteil zu verschaffen. Wer seine Herden nicht verkleinert, kann sich länger halten, wenn dadurch die Nahrungsgrundlage für alle beeinträchtigt wird. In funktionierenden Gemeinwesen findet dieses Überweiden nicht statt. Vgl. G. Hardin, The Tragedy of the Commons, Science162/1968, S. 1243f
Vgl. Barbara Sichtermann, Die Bananen von Wandlitz, Die Zeit, 22. August 1991, S. 43
In einer Untersuchung über die mögliche Destruktivität von Idealisierungen habe ich diese Gesetzmäßigkeit des «Alles oder nichts» (Reinbek 1980 und 1987) dargestellt.
Dreitzel, a.a.O., S. 38
Gabriela Simon, Über Gefühl und Produktivität, Die Zeit48/26. November 1993, S. 48
Zahlreiche Beispiele bieten auch Christopher Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, München 1982 und Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt 1986
Nach einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung vom 2. Dezember 1993
Dieser Vergleich erinnert an eine Aussage von Konrad Lorenz über das Fehlen natürlicher Aggressionshemmungen beim Menschen. Das Regressionskonzept ist differenzierter als die Lorenzsche Instinktlehre, weil es nicht von einer konstitutionellen, angeborenen Aggressivität ausgeht, sondern von einer reaktiven, die durch Ansprüche eingeleitet und durch Enttäuschungen ausgelöst wird. Zur Regression gehört die Preisgabe eines bereits erreichten Niveaus der Realitätsorientierung und der Abschätzung von Folgen des eigenen Tuns. Erwachsene verhalten sich, als ob sie diese Konsequenzen nicht erkennen würden, und gleichen so wieder Kindern.
Die Begriffe, auf die eine differenzierte, regressionskritische Utopie zurückgreifen kann, wie Bescheidenheit, Demut, Respekt vor der Natur, vor den Mitmenschen, vor den Grenzen des Ökosystems, sind ein guter Beleg dafür, wie wenig tradierte Kategorien auf die gegenwärtigen Probleme passen. Diese Werte sind kontaminiert, weil sie im Rahmen eines Unterdrückungssystems mißbraucht wurden, um die Machtlosen und Entrechteten zu disziplinieren. Das gilt auch für den Begriff der Disziplin selbst, die zum Beispiel der General vom Soldaten fordert, den er in den Tod schickt, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen.
Thomas Hobbes (1588–1679), vielleicht der radikalste Philosoph des beginnenden bürgerlichen Zeitalters, hat als erster den Zusammenhang zwischen der menschlichen Natur und den Grundlagen der Politik verfolgt. Sein 1651 erschienenes Hauptwerk «Leviathan, or the Matter, Form, and Power of a Commonwealth, Ecclesiastical and Civic» trägt auf dem Frontispiz eine schöne Landschaft mit einer Stadt, über der ein gekrönter Riese thront, dessen Körper aus Menschenleibern zusammengesetzt ist. Die erste deutsche Übersetzung des «Leviathan» erschien 1794 in Halle.
Solche Umweltrechnungen können längst angestellt werden, es gibt bewährte Methoden und zuverlässige Schätzungen. Natürlich muß auch bei sogenannten «ökologischen» Produkten sehr kritisch geprüft werden, ob sich der Aufwand lohnt und die Umweltverträglichkeit nicht nur in der Reklame steht. Anzustreben sind Modelle wie jene in der kalifornischen Wüste errichtete Fabrik, die mit dem elektrischen Strom aus Solarzellen weitere Solarzellen produziert.
Karl May läßt einen solchen Gauner bereits um 1870 sagen: «Man spricht nicht mehr von Räubern, sondern von Patrioten. Das Handwerk hat den politischen Turban aufgesetzt. Wer nach dem Besitz anderer trachtet, der gibt an, sein Volk frei und unabhängig machen zu wollen.» K. May, Der Schut, Bamberg (Karl-May-Verlag) 1962, S. 129
Diese sind in den letzten Jahren stärker gewachsen als das Bruttosozialprodukt, nehmen aber seit 1993 durch die Reformgesetze ab.
Zygmunt Bauman nennt diese Reinheitssehnsucht das Dilemma der Moderne schlechthin. Ein ähnliches Prinzip habe ich 1980 als «Destruktivität der Ideale» beschrieben. Ordnung, Gewißheit, Harmonie, absolute Wahrheit und erhabene Kunst als Idealbilder des Fortschritts können das Versprechen, das sie geben, nicht einhalten. Im Anspruch, die Welt durchschaubar und kontrollierbar zu machen, wird ihre grundsätzliche Ambivalenz geleugnet. Bekannt und umstritten ist Baumans These, die Assimilation der Juden (sozusagen der Versuch, «genauso» zu sein wie die Deutschen) sei für die Eskalation des Antisemitismus in der Hitler-Bewegung mitverantwortlich gewesen. Vgl. Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg (Junius) 1992
«Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen», Vers von Vergil, der die Mahnung Laokoons vor dem Trojanischen Pferd formuliert.
Charles Perrow, Normale Katastrophen. Die unvermeidlichen Risiken der Großtechnik. Mit einem Vorwort von Klaus Traube, Frankfurt (Campus) 1988
Eine Maxime der deutschen Kriegspropaganda, die auch Karl Kraus in «Die letzten Tage der Menschheit» zitiert.
In diesen Zusammenhang gehört auch die plötzliche Beliebtheit einer trivialisierten Psychoanalyse in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg: «Enthemmung der Triebe», die Freud nicht propagiert hat, wurde zur wirtschaftlich verwertbaren Maxime.
«Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.» Was Himmler mit «anständig bleiben» meinte, läßt sich aus einer anderen Rede ableiten: «Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen. Wir haben aber nicht das Recht, uns auch nur mit einem Pelz, einer Uhr, mit einer Mark oder einer Zigarette oder mit sonst etwas zu bereichern … Ich werde niemals zusehen, daß hier auch nur eine kleine Fäulnisstelle entsteht und sich festsetzt …» Beide Zitate nach J.C. Fest, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München (Piper) 1993, S. 162 u. 166. Fest erwähnt nicht, daß dieses Konzept – dem Besiegten keine Gnade, dem Sieger keine Beute – biblisch ist: der Grundsatz des Heiligen Krieges.
«Die Abschaffung der Kultur durch die Zivilisation» und den Untergang der Literatur kündigt Günter Kunert in einem Essay in der Zeit (Nr. 6/1994, S. 53) an. Der semantische Reichtum der Sprache schrumpft, der Leserhythmus orientiert sich an den Beschleunigungen der Television, es gibt keine Autoren mehr, die unterhaltend sind und gleichzeitig zum differenzierten Denken erziehen.
Begleitet von dem eingeblendeten Hinweis, daß Zigarettenrauchen gesundheitsschädlich ist: ein Beleg für die Banalisierung der Disziplin. Die schriftliche Warnung wird in einer Regression in den Analphabetismus ertränkt.
Mit einem ähnlichen Einwand hat sich Claude Lanzmann, Autor des spröden, dokumentarisch eindrucksvollen Filmes «Shoah», gegen die Hollywood-Trivialisierung des Holocaust durch «Schindlers Liste» gewandt, einen Film von Steven Spielberg, der nach Ungeheuerspektakeln («Der weiße Hai», «Jurassic Park») das Ungeheuerliche spektakulär verfilmte. Wenn er, so Lanzmann, einen heimlich von einem SS-Mann aufgenommenen Film über die Vernichtungslager fände, er würde ihn nicht nur nicht zeigen, sondern zerstören (Bericht der Süddeutschen Zeitung53/5./6. März 1994, S. 17).
N. Tinbergen, The Herring Gull’s World, London (Collins) 1963
Umfrageergebnisse in bezug auf «Zufriedenheit» widersprechen dem nur scheinbar. Die Antworten spiegeln die narzißtische Bedürftigkeit des Subjekts; Unzufriedenheit und schlechtes Selbstgefühl werden in der Regel verleugnet oder sogar durch Beteuerungen des Gegenteils kompensiert. Auch wenn eine Mehrheit der Bevölkerung konsumsüchtig und unzufrieden ist, werden Umfragen eine Mehrheit für Konsumlust und Zufriedenheit ergeben. Daß diese Daten dann vom wissenschaftlichen Establishment als Realität ausgegeben werden, wird den Kenner der Szene nicht verwundern.
John Seymour, Vergessene Künste. Bilder vom alten Handwerk, Ravensburg (Otto Maier) 1984, S. 8
Seymour, a.a.O., S. 9. Seymour schließt einige Seiten später: «Ob die Menschheit einfach genug bekommt von der langweiligen, niedrigen Arbeit, bei der häßliche, überflüssige Produkte entstehen, oder ob die Beschränkungen, die uns die schwindenden Rohstoffvorräte unseres Planeten auferlegen, die Lemmingwanderung zur Klippenkante stoppen – wenn die Menschheit auf irgendeiner Stufe echter Zivilisation überleben wird, wird der Handwerker wieder triumphieren.» Seymour, a.a.O., S. 15
Der Siegeszug der japanischen Technik in vielen Bereichen der Konsumgüterproduktion hängt damit zusammen, daß Japan nach dem Debakel des Krieges sämtliche Rüstungsanstrengungen aufgab, die dort entwickelten Prozeduren und Spezialisierungen aber auf die Konsumgüterproduktion umlenkte. Die Folge war, daß in den fünfziger Jahren die deutschen Industriellen noch über die billigen japanischen Kopien ihrer Produkte lächelten, während in den siebziger Jahren die belächelten Japaner sie einen nach dem anderen durch komfortablere und billigere Produkte aus dem Markt drängten. Die Japaner setzten von Anfang an auf Komfort ohne ökologische Rücksichten. Während europäische Firmen Uhren, Foto- und Filmapparate (zum Beispiel die heute von Sammlern geschätzte Robot) mit Federwerken bauten, eroberten die Japaner den Markt mit batteriegespeisten Antrieben.
Diese Verwöhnungsbedürfnisse richten sich auch an die Spezialisten selbst. In den am meisten fortgeschrittenen Konsumgesellschaften werden auch Prozesse um Schadensersatz wegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers, einer mißlungenen Eheberatung oder eines untauglichen technischen Gerätes immer häufiger. Vergleiche auch die in der Einleitung beschriebenen Beispiele für Disziplinverluste.
R. Lee u.I. DeVore (Hg.), Man the Hunter, Chicago 1969. – W. Schmidbauer, Jäger und Sammler. Als sich die Evolution zum Menschen entschied, Planegg 1973
Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, Köln (Kiepenheuer) 1958
Ivan Illich, Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit, Reinbek (Rowohlt) 1983
Eine parallele Entwicklung läßt sich bei den psychoanalytischen Theorien des menschlichen Selbstgefühls verfolgen. Nach der alten, dem Industriezeitalter verbundenen Auffassung Freuds verhalten sich narzißtische Libido und Objektlibido wie eine Flüssigkeit in getrennten Gefäßen: Je mehr sich jemand selbst liebt, desto weniger Liebe empfindet er für andere. Nach der neueren Auffassung von Kohut handelt es sich um kommunizierende Röhren: Je mehr sich jemand selbst liebt, desto mehr Liebe empfindet er auch für andere. Vergleiche S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Ges. Werke X., Frankfurt (Fischer) 1946, S. 137f und H. Kohut, Narzißmus. Eine Theorie der psychoanalytischen Behandlung narzißtischer Persönlichkeitsstörungen, Frankfurt (Suhrkamp) 1973.
Der Irrtum einer beliebten Vereinfachung, wir lebten nicht mehr in einer «neurotischen», sondern in einer «psychotischen» oder einer von «Borderline-Zuständen» beherrschten Gesellschaft, liegt nicht nur darin, daß sie den Unterschied zwischen Institution und individueller Pathologie verwischt. Wesentlich ist die Gleichzeitigkeit klassischer Störungen und narzißtisch bzw. auf Borderline-Niveau gestörter Personen. Zuletzt gehört habe ich diese These von dem Religionsphilosophen Klaus Heinrich, Sucht und Sog – Über Zielstrebigkeit und Faszination einer aktuellen gesellschaftlichen Bewegung, Vortrag am 4. Februar 1994, Universität München.
Über den texanischen Herzchirurgen und vielfachen Millionär Denton Cooley wird berichtet, wie dieser mit dem Rolls-Royce aus seiner Villa in die Klinik fährt und als Mittagessen eine Fertigsuppe zu sich nimmt, die ihm seine Sekretärin in einen Pappbecher rührt.
«Tages Arbeit! Abends Gäste! Saure Wochen! Frohe Feste!» aus J.W. von Goethe, Der Schatzgräber, in: Büchmann, Geflügelte Worte, S. 45/6, Ausg. Berlin 1926
Vergleiche auch Ch.Lasch, Das Zeitalter des Narzißmus, München 1982, S. 150f. An privaten Oberschulen in den USA sanken die durchschnittlichen Prüfungsergebnisse in Mathematik und Englisch in einem einzigen Jahr um 8 bzw. 10 Punkte. «Sogar an der Eliteschule des Landes ging die Fähigkeit der Studenten, sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen, ihre Kenntnis fremder Sprachen, ihre Argumentationsfähigkeit, ihr Fundus an historischem Wissen und ihre Kenntnis der wichtigsten literarischen Klassiker samt und sonders unaufhaltsam zurück.» (Lasch, a.a.O., S. 151)
An sich, von seinen körperlichen und seelischen Voraussetzungen her, kann das Kind eine Trennung von einigen Stunden überbrücken und verkraften. Aber es regrediert im Augenblick der Trennung, fängt an, panisch zu schreien und zu klammern. Es ist, als ob die Mutter nicht für Stunden, sondern für alle Zukunft verschwände. Wenn nun die Mutter sich von dieser Regression beeindrucken läßt, wird sie als Reaktion stabilisiert; da anderseits vielleicht die Mutter insgeheim auf das klammernde Kind wütend ist, hat dieses bald berechtigte Ängste, die Liebe der Mutter zu verlieren. Wenn die Mutter so selbstbewußt ist und das Kind so realistisch einschätzt, daß sie sich und ihm den erträglichen Trennungsschmerz zumutet, wird das Kind aus dieser Regression herausfinden und entdecken, daß ein diszipliniertes Verhalten ihm selbst und der Mutter Freude macht. Die Verwöhnung steigert die Regression, und die Regression wünscht sich zuverlässigere Verwöhnung; parallel dazu wachsen die Ängste vor einem Ende der Verwöhnung, das dem regressiv geschwächten Selbstgefühl unerträglich erscheinen muß.
Die Vergeltungsshow soll im Sender RTL laufen. Vergleiche «Rache ist süß», Süddeutsche Zeitung, 18. Februar 1994, S. 18
In der Schweizer Uhrenindustrie bekamen die Arbeiter so lange kostenlos phenacetinhaltige Kopfschmerzmittel, bis deutlich wurde, daß diese Medikamente bei täglichem Verbrauch tödliche Nierenschäden hervorrufen können.
Angesichts der unerschöpflichen Vorräte an Beschönigungen und Selbstbetrug sollten wir eine Verpflichtung erkennen, negative Seiten zu betonen, schwarzzusehen und kritisch zu sein. Die Gefahr, verborgen Positives zu verkennen, wiegt demgegenüber leicht.
Hans Peter Dreitzel et al., Ungewollte Selbstzerstörung, Frankfurt (Campus) 1990, S. 44
Dreitzel, a.a.O., S. 45
Es ist sicher kein Zufall, daß in den von einer solchen missionierenden Religion geprägten Ländern der Fortschrittsglaube zuerst formuliert und ein weltumfassendes Imperium der Warenkultur begründet wurde. Aber nichtmissionierende Religionen wie das Judentum, der Buddhismus oder der Hinduismus enthalten kein Element, das gegen den Konsumismus immunisiert.
G.A. Almond et al. (Hg.), Progress and its Discontents, Berkeley (Univ. of California Press) 1982, S.X
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, 1919, in: M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von J. Winckelmann, 3. Aufl. Tübingen 1968
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Erstaufl. Leipzig (Int. Psychoanalytischer Verlag) 1930, Ges. W. Bd. XIV, S. 421f.
Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt (Wissenschaftl. Buchgesellschaft) 1963
Émile Durkheim, Suicide: A Study in Sociology, New York (Free Press) 1951
Walt Rostow, The Stages of Economic Growth: A Non-Communist-Manifesto, Cambridge (Cambridge Univ. Press) 1960
Max Weber, Die protestantische Ethik I, Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, Hamburg (Siebenstern) 1973
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Frankfurt (Fischer) 1969
Zu den am meisten kolportierten Schauergeschichten der Gegenwart gehört die vom nichtsahnenden Touristen (oder Kind), die in einer orientalischen Stadt plötzlich aus einer Narkose erwachen und sich kostbarer Organe beraubt finden. Real sind Praktiken, den Armen Nieren, Netzhäute, Blut usw. abzukaufen.
Herbert Marcuse, Eros and Civilization, Boston (Beacon Press) 1955. – Ders., One-Dimensional Man, Boston (Beacon Press) 1964. Darin sagt Marcuse: «Ein ‹Ende der Kunst› ist nur vorstellbar, wenn die Menschen nicht mehr imstande sind, zwischen Wahr und Falsch, Gut und Böse, Schön und Häßlich, Gegenwärtig und Zukünftig zu unterscheiden. Das wäre der Zustand vollkommener Barbarei auf dem Höhepunkt der Zivilisation – und solcher Zustand ist in der Tat historisch möglich.» Übers. n.G. Kunert, Die Zeit Nr. 6/1994, S. 54
Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München (Beck) 1929. Das Buch war bereits 1912 weitgehend vollendet; die Erstausgabe erschien dann 1917.
Claude Lévi-Strauss, Strukturelle Anthropologie, Frankfurt (Suhrkamp) 1967
Sigmund Freud, Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, Imago, Bd. XI, 1925, nach einer Veröffentlichung in französischer Sprache in La Revue Juive, Paris, März 1925; Ges. W. Bd. XIV, S. 99f.
Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, übers. v.H.G. Holl, Frankfurt (Suhrkamp) 1983
Marshall D. Sahlins, Culture and Practical Reason, Chicago (Univ. Press) 1976
Sahlins, a.a.O.
Die Stoffe, aus denen das Schwarzpulver hergestellt wurde.
Die sprachprägende Gestalt eines technischen Stadiums ist immer ein wesentlicher Gesichtspunkt. Die Entdeckung des Feuersteins als Auslöser der Explosion, die den Begriff «Flinte» begründete, hat die Qualität eines solchen Schrittes. Beim Luntengewehr war nur die Explosion gespeichert, nicht aber ihre Auslösung; dazu mußte eine Glut unterhalten werden. Die Flinte ist das erste Beispiel einer abgestuften Speichertechnologie, wobei ein Speicher die wirksame, ein anderer die auslösende Explosion enthält.
Vergleiche Kurt Kister, Hand-Luft-Raketen in falschen Händen, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 174/1. August 1993, S. 9
Ulrich Beck, Von der Vergänglichkeit der Industriegesellschaft. In: T. Schmid (Hg.), Das pfeifende Schwein, Berlin (Wagenbach) 1985. Ders., Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt (Suhrkamp) 1986
Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bände, München (Beck) 1950 und 1980
Solche Gesichtspunkte erfassen nur eines von mehreren Motiven: Sie konzentrieren sich in psychoanalytischer Tradition auf die gesellschaftlich weniger (an)erkannten Aspekte.
Daher pflegt auch ein kritischer Autor wie Sloterdijk die Heldenillusion, wenn er sagt: «Nur Individuen können weise sein, Institutionen sind im günstigsten Fall gut konzipiert.» Er übersieht, daß Weisheit als Kategorie selbst eine Institution ist, die aus der griechischen Antike stammt. Institutionen sind in den meisten Fällen nicht konzipiert. Sie entwickeln sich ähnlich wie Organismen oder Landschaften; dabei vermögen sie Analoga zu großer Weisheit und großer Torheit auszubilden. Peter Sloterdijk, Wieviel Katastrophe braucht der Mensch? in: Psychologie heute, September 1986.
International Psychoanalytical Association, der größte und einflußreichste psychoanalytische Verband.
In einer Untersuchung, die vor rund zehn Jahren veröffentlicht wurde, habe ich bereits auf diese Entwicklung hingewiesen: W. Schmidbauer, Die Ohnmacht des Helden. Unser alltäglicher Narzißmus, Reinbek (Rowohlt) 1981
Verwöhnungsphantasien werden im Christentum und im Islam in ein paradiesisches Jenseits projiziert; man kann vermuten, daß hier eine religionspsychologische Wurzel der Entwicklungen zur Konsumgesellschaft liegt. Eine interessante Variante dieser Paradieshoffnungen traten eine Zeitlang in Melanesien im Rahmen der sogenannten Cargo-Kulte auf. Die entwurzelten Eingeborenen entliefen der Zwangsarbeit und folgten Propheten, die durch spezielle Riten (zum Beispiel den Bau von «Flughäfen») erreichen wollten, daß die Ahnen, denen in Wahrheit die begehrten Konsumgüter der Weißen gehörten, ihre Flugzeuge mit der kostbaren Ladung (im Pidgin-Englisch Cargo) nun zu ihren frommen Kindern schicken würden.
W. Schmidbauer (Hg.), Pflegenotstand – das Ende der Menschlichkeit. Vom Versagen der staatlichen Fürsorge, Reinbek (Rowohlt Taschenbuch Verlag) 1992. Hier sind die Fälle der Tötung Schwerkranker durch überforderte Pflegekräfte in Wuppertal und Wien-Lainz analysiert.
Gert von Paczensky, Die Weißen kommen. Die wahre Geschichte des Kolonialismus, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1970
Ich habe darauf verzichtet, durchweg mit dem Gegensatz von Progression und Regression zu arbeiten; der Begriff der Disziplin ist verständlicher. In diesem Kapitel, das speziell psychoanalytische Gesichtspunkte sammelt, scheint mir diese Antithese sinnvoll.
Konrad Lorenz hat die (auto)destruktiven Verhaltensweisen der Prärieindianer in dieser Situation der Entwurzelung und Ausgrenzung auf deren Gene zurückgeführt. Vergleiche Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse, Wien (Borotha Schoeler) 1963; Wolfgang Schmidbauer, Die sogenannte Aggression. Die kulturelle Evolution und das Böse, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1972
Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt (Suhrkamp) 1969. – Ders., Überwachen und Strafen, Frankfurt (Suhrkamp) 1979
Sigmund Freud, Studien über Hysterie, Ges. W. Bd. I und Die Traumdeutung, Ges. W. Bd. II/III
Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. W. Bd. VI
Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Ges. W. Bd. XII. In der wenige Jahre später verfaßten Arbeit «Das Unbehagen in der Kultur» ist Freud in diesem Punkt bereits sehr viel skeptischer. Dort zitiert er Fontane: «Es geht nicht ohne Hilfskonstruktionen».
Eric Berne, Spiele der Erwachsenen, Reinbek (Rowohlt) 1967, S. 155, beschreibt das «Ja, aber»-Spiel in dem unermüdlich Hilfe beansprucht, gleichzeitig aber die Aggressionen gegen den Helfer durch Einwände gegen dessen gute Ratschläge befriedigt werden. Vgl. auch W. Schmidbauer, Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe, Reinbek (Rowohlt) 1977, 1992
Die Unterscheidung zwischen dem neurotischen (hysterischen) Elend und dem «allgemeinen Leid», das heißt dem Leid, das jeder Mensch unweigerlich ertragen muß, ist eine der zentralen therapeutischen Einsichten Freuds aus den «Studien über Hysterie», Ges. W. Bd. I.
In einem Kongreßvortrag «Zu viele Therapien, zu wenig Integration» stellte Moser 1993 seine eigene Position zwischen Orthodoxie und Vielfalt dar. «Wenn ich die Selbstanpreisungen … lese, dann erschüttert mich die Vielzahl von Techniken, mit denen knapp dreißigjährige Therapeuten meinen umgehen zu können. Ihr Angebot gleicht einer alternativen Psycho-Speisekarte, und die Gerichte tragen immer phantasievollere Namen. Als Qualitätsgarantie scheint oft ein strahlend gesundes Workshop-Foto im Kreise sonniger Jünger in esoterischer Landschaft mit Zypressen oder asiatischen Tempeln auszureichen. Integration wird hier gewaltig mißverstanden als ein Gemischtwarenladen von Eingriffs- und Mobilisationstechniken, die variiert werden, wenn Widerstand aufkommt oder der berühmte Fluß der Energie zu stocken beginnt.» Zitiert nach: T. Moser, Zu viele Therapien, zu wenig Integration, in: Integrative Therapie Bd. 20, S. 5–22, 1994
Moser, a.a.O., S. 15
René A. Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind, Stuttgart (Klett) 1960
Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1904, Ges. W. Bd. V
Heinz Kohut, Die Zukunft der Psychoanalyse, Frankfurt (Suhrkamp) 1975, vor allem Teil II, Zur Psychologie des Selbst, S. 140f
Jerold J. Kreisman, Hal Straus, Ich hasse dich – verlaß mich nicht. Die schwarzweiße Welt der Borderline-Persönlichkeit, München (Kösel) 1992
Adriano Celentano sang in einem Schlager der siebziger Jahre: Siamo la coppia più bella del mondo, e ci dispiace per gli altri, che sono tristi …
Die Diskussion darüber wurde von Anfang an in der psychoanalytischen Pädagogik geführt, wobei Skeptikern (wie Sigmund Freud, Siegfried Bernfeld, Melanie Klein) Optimisten gegenüberstanden (wie Wilhelm Reich, A.S. Neill, Arno Plack).
Den Zeitgeist formulieren jene Eltern, die sich selbst auf dem Flohmarkt einkleiden, um ihren Heranwachsenden das unerläßliche Outfit finanzieren zu können.
Jerold J. Kreisman und Hal Straus ordnen folgende historischen Gestalten und litararischen Figuren dem Borderline-Syndrom zu: Marilyn Monroe, Zelda Fitzgerald, T.E. Lawrence, Adolf Hitler, Muamar el Gaddafi, Blanche Dubois (in T. Williams’ Stück «Endstation Sehnsucht») Travis Bilickle in «Taxi Driver», Bizets Carmen. Kriterien werden nicht angegeben. Es wäre natürlich interessant zu wissen, warum Hitler und nicht Stalin, warum Gaddafi und nicht Saddam Hussein, warum Carmen und nicht Don Giovanni, warum Tennessee Williams und nicht Dostojewski oder Musil. Vielleicht sollte man die Frage so stellen: In welchen modernen Filmen spielt die Borderline-Persönlichkeit nicht eine Haupt- oder zumindest wesentliche Nebenrolle? Literatur: J.J. Kreisman, H. Straus, Ich hasse dich – verlaß mich nicht, München (Kösel) 1992, S. 36
Adolph Stern, Psychoanalytic Investigation of and Therapy in the Border Line Group of Neuroses, The Psychoanalytic Quarterly 7, 1938, S. 467f
Daher prägte der Psychiater G. Zilboorg den Begriff der «ambulatorischen Schizophrenie» (Ambulatory Schizophrenia), Psychiatry Bd. 4, 1941, S. 149f
Helene Deutsch, Some Forms of Emotional Disturbance and the Relationship to Schizophrenia, The Psychoanalytic Quarterly, 11, 1942, S. 301f
Verlag der American Psychiatric Association, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, dritte Ausgabe 1987. Ein Begriff wie «Gruppe der regressiven Persönlichkeitsstörungen» ist meines Erachtens weniger präjudiziert, aber kaum genauer als «Borderline-Organisation». Da die menschliche Persönlichkeit Ziel einer als «Fortschritt» verstandenen individuellen Entwicklung ist, lassen sich ihre Störungen durchweg unter dem Aspekt einer Regression betrachten. Wesentlich scheint mir aber, daß dieser Fortschritt heute zum Fetisch geworden ist. Die Annahme, dauerndes «Wachstum der Persönlichkeit» sei möglich und ein Grund, teure Dienstleistungen und Waren zu erwerben, ist ihrerseits eine regressive Phantasie. Die Realitätsorientierung gebietet, Rückschritte zu akzeptieren und in der Integration der ständig präsenten Regressionsneigung eine wesentliche Aufgabe zu sehen; die regressive Persönlichkeit hingegen verleugnet diese Gefahr und lehnt gleichzeitig die Verantwortung für die eigenen Regressionen ab.
Otto F. Kernberg, Borderline Personality Organization, Journal of the Psychoanalytic Association, 15, 1967, S. 641f. Deutsch in: Ders., Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus, Frankfurt (Suhrkamp) 1983; vergleiche auch Roy R. Grinker et al., The Borderline Syndrome, New York (Basic Books) 1968
Die Konsumgesellschaft ist durch die Gleichzeitigkeit aller vergangenen Phänomene in einer abgeschwächten, in das Warenganze integrierten Form charakterisierbar, ähnlich wie sich das 19. Jahrhundert durch eine solche Gleichzeitigkeit der Kunststile kennzeichnen läßt (Historismus). Es gibt zum Beispiel asketische und verschwenderische Ideale, Gruppen, die swinging sex feiern, und andere, die voreheliche Jungfräulichkeit fordern, Yuppies und Hippies, Punks und Skins gleichzeitig. Die eine oder andere Gruppe wird in lockerer Folge in dem einen oder anderen Medium als zeitgeistprägend herausgestellt. Es ist im hier angesprochenen Bereich zum Beispiel auch nicht richtig, daß es keine klassische Hysterie mehr gibt. Entsprechende Störungen sind im ländlichen Milieu noch so häufig wie eh und je; außerdem würden die meisten Hysteriepatientinnen Freuds heute wahrscheinlich als Fälle von Borderline-Störungen diagnostiziert. Vergleiche Louis Sass, The Borderline Personality, New York Times Magazine, 22. August 1982.
Konrad Strauss, Die stationäre transaktionsanalytische Behandlung des Borderline-Syndroms, Grönenbach 1988, spricht von 30 bis 70 Prozent Borderline-Störungen unter den deutschen Psychotherapiepatienten. Vergleiche auch John G. Gunderson, Borderline Personality Disorder, Washington (American Psychiatric Press) 1984.
Heiner Keupp, Abweichung und Alltagsroutine. Die Labeling-Perspektive in Theorie und Praxis, Hamburg (Hoffmann und Campe) 1976
Katherine A. Henry, Carl I. Cohen, The Role of Labeling Processes in Diagnosing Borderline Personality Disorder, American Journal of Psychiatry140, 1983, S. 1527f. Vergleiche auch W. Schmidbauer, «Du verstehst mich nicht!» Die Semantik der Geschlechter, Reinbek (Rowohlt) 1991
Zygmunt Baumanns These, daß die Moderne dazu neigt, Ambivalenzen zu unterdrücken und die Welt als einen Garten zu definieren, in dem die Wissenschaft berufen ist, das Unkraut auszujäten, greift – so gesehen – ebenfalls zu kurz: Dieselbe Tendenz steckt bereits im Schritt zu den monotheistischen Religionen, deren Fortschrittszwänge erst die Moderne ermöglicht haben. Vgl. Zygmunt Baumann, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg (Europäische Verlagsanstalt) 1992 und ders., Moderne und Ambivalenz, Hamburg (Junius) 1992
Norbert Elias, Der Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt (Suhrkamp) 1971
Claudia Szczesny-Friedmann, Die kühle Gesellschaft. Von der Unmöglichkeit der Nähe, München (Kösel) 1991; Wolfgang Schmidbauer, Die Angst vor Nähe, Reinbek (Rowohlt) 1985, 1990
Es ist, als ob die in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelte Orientierung an persönlichen Idealen angesichts der Überforderungen und Entstrukturierungen der Konsumgesellschaft überspitzt wird. Unter diesem Druck werden die Ideale destruktiv, verlieren den Kontakt zur Wirklichkeit und können nicht mehr mit ihr versöhnt werden, wie das in Zeiten funktionierender Traditionen durch Institutionen wie Riten, Sakramente und so weiter geschah. Daß dieses Thema den Psychotherapeuten beschäftigt, hängt damit zusammen, daß dieser durch individuelle Dienstleistungen einen Teil der Enttraditionalisierungen kompensiert. Zur «Destruktivität der Ideale» vergleiche W. Schmidbauer, Alles oder nichts, Rowohlt (Reinbek) 1980, 1989; zur kompensatorischen Funktion von Psychotherapie ders., Helfen als Beruf. Die Ware Nächstenliebe, Reinbek (Rowohlt) 1983, 1991
Die Verletzungen paßten nicht zu der Erzählung; die Wunden waren rund vierzigmal angesetzt und sehr oberflächlich, eher Kratzer als Schnitte entschlossener Angreifer. Niemand hatte Hilferufe gehört oder die Täter gesehen. In der Zwischenzeit sind einige weitere Berichte über solche «Mutproben» in den Medien aufgetaucht.
Der Artikel von Libuše Moníková, Die lebenden Fackeln, Die Zeit Nr. 5, 28. Januar 1994, S. 47, ist eher ein Beleg für die unkritische Verehrung der Opfer.
Viele von sorgenvollen Müttern durchwachte Nächte sind darauf zurückzuführen, daß überfütterte Babys an Koliken leiden. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich halte nicht starre Fütterungssysteme für richtig und die Orientierung am Schreien für falsch. Ich vermute aber, daß beide gesellschaftliche Haltungen ausdrücken, die sich aufeinander beziehen lassen; beiden gemeinsam ist auch, daß Experten etwas regeln und beraten, was am besten durch das Selbstvertrauen der Eltern geregelt werden kann. Dann werden den Müttern und Vätern ihre eigenen Empfindungen hinreichend genau sagen, wann sie Zeit für das Baby und wann sie Zeit für sich brauchen.
Wolfram und Ulrich Eicke, Medienkinder. Vom richtigen Umgang mit der Vielfalt, München (Knesebeck) 1994
Psychologie heute, April 1994, S. 23
Diese Schätzung stammt von dem Jugendforscher Klaus Hurrelmann, zitiert nach Psychologie heute, April 1994, S. 24.
Die Kritik an den regressionsfördernden Qualitäten des Fernsehens ist zwar bisher praktisch folgenlos, aber theoretisch so gut ausgearbeitet, daß weitere Argumente hier entbehrlich sind. Vergleiche Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode, Frankfurt (Fischer) 1985; Bill McKibben, The Age of the Missing Information, New York (Random) 1992 und Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt (Fischer) 1986.
Angesichts des mörderischen Elends in den afrikanischen Bürgerkriegsgebieten ist das Medieninteresse gering. Nicht die Not, sondern der Einsatz von Soldaten der eigenen Nation ruft Reporter auf den Plan.
Vergleiche Gisela Braun, Zum Ausmaß sexuellen Mißbrauchs an Mädchen und Jungen. Vergleichende Untersuchungen, in: Sozialmagazin5/1992, S. 22. Im Editorial diese Heftes steht: «Neben einer inflationären Ausweitung des Begriffs des sexuellen Mißbrauchs, unter dem in einigen Schriften fast jeder zärtliche Körperkontakt zwischen Kindern und Erwachsenen in Mißkredit gebracht wird, erschreckt der geradezu missionarische Eifer vieler Gruppierungen, die verunsicherte Frauen und Mütter unentwegt auf die Gefahren hinweisen, die angeblich in jedem vierten Kinderzimmer lauern.» Vergleiche auch K. Rutschky, Erregte Aufklärung. Kindesmißbrauch: Fakten und Fiktionen, Hamburg (Ingrid Klein) 1992
M. Hirsch, Realer Inzest. Psychodynamik des sexuellen Mißbrauchs in der Familie, Berlin (Springer) 1987
A. Miller, Du sollst nicht merken, Frankfurt (Suhrkamp) 1981
Katharina Rutschky, Die Zeit, 16. November 1990
F. Rush, The Best Kept Secret, Eaglewood Cliffs (Prentice Hall) 1980, deutsch: Das bestgehütete Geheimnis, Berlin (sub rosa) 1982
Daß Katharina Rutschky nicht ungestraft das Schwarz-Weiß-Gemälde des Mißbrauchs kritisiert hat, zeigt eine Meldung vom Beginn des Jahres 1994: Sie wurde in Berlin auf einem sozialpädagogischen Kongreß zu diesem Thema mit Gewalt am Reden gehindert – sie sei eine Anwältin von Tätern.
Diese Argumentationslinie vereinfacht; es gibt auch «linke» Skins, ein Hinweis auf die Baukastenidentitäten der Gegenwart, die einzelne Merkmale zusammenbasteln.
Quickborn war, soweit ich von diesem Hausfreund erfuhr, eine katholische Gruppe der Jugendbewegung.
Henry David Thoreau (1817–1862), Walden, or Life in the Woods, das Tagebuch eines zweijährigen Aufenthalts in einer selbstgebauten Hütte. Thoreau prägte auch den Ausdruck «ziviler Ungehorsam».
Weniger ist manchmal mehr, Rowohlt-Taschenbuch 1984, 1992
Seit langem haben mich die Mechanismen beschäftigt, die verhindern, daß seelische Entwicklungen sozusagen rückwärts verlaufen. Sie zu verstehen schien mir ein Schlüssel zu Fragen nach dem Gegensatz von Trieb und Vernunft, von Geist und Seele, von Pflicht und Neigung. Im Umgang mit depressiven Reaktionen fällt immer wieder auf, wie unendlich schwierig es für Menschen ist, sich auf einem Niveau seelisch zu organisieren, das einem idealisierten Lebensentwurf nicht mehr entspricht. Viele können sich nicht des Möglichen freuen, wenn es mißlingt, das Unmögliche zu erreichen.
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