JOACHIM BAUER

ARBEIT

WARUM UNSER GLÜCK

VON IHR ABHÄNGT

UND WIE SIE UNS

KRANK MACHT

Karl Blessing Verlag

1. Auflage

Copyright © 2013 by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-09702-8
V002

www.blessing-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Die Arbeit und das Leben:
Resonanzerfahrung oder Entfremdung?

Von der »Erfindung der Arbeit« zur »New Economy«

Arbeit als Resonanzerfahrung oder Entfremdung

Keine Arbeit ist auch keine Lösung: Das Doppelgesicht der Arbeit zwischen Potenzial und Zerstörungspotenzial

Pro und kontra Arbeit: Vom Alten Testament bis Karl Marx

Menschliche Arbeit aus der Perspektive Ernst Jüngers, Ernst Blochs und Hannah Arendts

Kapitel 2 Arbeit trifft Gehirn:
Die neurobiologische Klaviatur der Arbeit

Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche

Das Motivationssystem

Das Empathiesystem

Zwei neuronale Stresssysteme

Das »klassische« Stresssystem

Das »Unruhe-Stresssystem« (»Default Mode Network«)

Multitasking als »ADHS-Trainingslager«

Aggressions- und Depressionsmechanismen

Der »Sense of Coherence«: Sinnfindung und Sinnverlust am Arbeitsplatz

Die Neurobiologie als Navigationshilfe in der Welt der Arbeit

Kapitel 3 Die Vermessung der Arbeitswelt

Was erleben Beschäftigte als »gute« oder »schlechte« Arbeit?

Wer arbeitet – und wie viel?

»Atypische« Arbeit, »prekäre« Beschäftigungen und Niedriglöhne

Zeit- und Leiharbeit

Armutsrisiko und Armut

Die »ganz normale Arbeit«: Wöchentliche Arbeitszeit, Nacht- und Wochenendarbeit

Körperliche und psychische Belastungen

Kollegialität versus Mobbing

Verdichtung, Fragmentierung und Multitasking

Arbeitsplatzunsicherheit

Mobilität, Pendeln

Belastungen durch die Arbeit nach Branchen und Schichtzugehörigkeit

Erschöpfung und Nicht-abschalten-Können

Doping für die Arbeit

Arbeitsunfähigkeit durch psychische Gesundheitsstörungen

Arbeitsunfähigkeit durch allgemeine Gesundheitsstörungen

Verschleiß durch Arbeit: Die Frühberentung

Erwerbstätige unter Druck: Der »Stressreport Deutschland 2012«

Resümee

Kapitel 4 Burn-out, Depression und das gestresste Herz

Der Beginn der Burn-out-Forschung: Kurt Lewin

Pionier und Namensgeber: Herbert Freudenberger

Definition und Feldforschung: Christina Maslach

Modelle zur Erfassung von Stress am Arbeitsplatz: Karasek, Theorell, Schaufeli, Demerouti und Siegrist

Das »Job Demands-Control«-Stressmodell

Das »Job Demands-Resources«-Stressmodell

Das »Effort-Reward«-Stressmodell

Der »Realitätstest« der Stressmodelle

Burn-out versus Depression: Unterschiede und Überschneidungen

Kapitel 5 Von der industriellen Arbeitswelt
zur »Kultur des neuen Kapitalismus«

Abschied vom Agrarstaat

Textilindustrie, Bergbau, Eisen und Stahl als Schlüsselindustrien

Die Lebensverhältnisse arbeitender Menschen im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Der Mensch als Maschine: Entfremdung und Taylorismus

Nach 1945: Sozialstaat und Sozialpartnerschaft

Die 80er-Jahre und danach: »Die Kultur des neuen Kapitalismus« (Richard Sennett)

Instabilität als Dauerzustand: Folgen der »Kultur des neuen Kapitalismus«

Droht die »Müdigkeitsgesellschaft«?

Kapitel 6 Tätiges Leben und die Muße:
Theorien über die Arbeit und ihre Wirkungen
auf das reale Leben

Die »Erfindung« der Arbeit

Die »Erfindung« des Menschen als Arbeitskraft

Im Konflikt mit Stolz, Würde und Körperkult: Die Arbeit im antiken Griechenland und im Reich der Römer

Nichts Schlechtes: Die Arbeit in der jüdisch-christlichen Tradition

»Vita activa« und »vita contemplativa«: Die Arbeit im christlichen und höfischen Mittelalter

Die Reformation: Die Befreiung der Arbeit und neue Zwänge

Im Vorfeld der Industrialisierung: Die Etablierung der Ökonomie als Fundamentalmechanismus durch Bacon, Locke, Hume und Smith

Die Sicht auf die Arbeit in Zeiten der Industrialisierung: Hegel, Ricardo und Marx

Paul Lafargues Revolte gegen die »Arbeitssucht«

Fantastik versus Erdung: Die Arbeit bei Ernst Jünger und Hannah Arendt

Arbeit als »schwieriges Gut«: Johannes Paul II. und seine Enzyklika »Laborem exercens«

Kapitel 7 Personale, betriebliche und politische
Perspektiven und die Bedeutung der Erziehung

Innere Einstellung und Verhalten am Arbeitsplatz

Kollegialität und gute Führung

Die Bedeutung der betrieblichen Gesundheitsvorsorge

Sozialpolitische und politische Kontexte

Erziehung und Bildung

Die Arbeit, die Freude am Leben und die Fähigkeit zur Muße

Dank

Literatur

Anmerkungen

1

Die Arbeit und das Leben:
Resonanzerfahrung oder Entfremdung?

Welchen Beitrag kann die Arbeit zu einem guten Leben leisten? Auf diese Frage soll dieses Buch aus heutiger Perspektive einige Antworten geben. Wir brauchen ein neues Nachdenken, ein neues Gespräch über die Arbeit. Sowohl in ihrer Bedeutung als auch vom zeitlichen Rahmen nimmt sie im Leben der meisten Menschen einen außerordentlich großen Raum ein. Die Art und Weise, wie wir heute in unserer Arbeit gefordert sind, hat sich innerhalb nur einer Generation fundamental gewandelt und wird sich weiter verändern1.

Die Arbeit des Menschen ist eine ungeheure Ressource. Menschliche Arbeit kann ein Betätigungsfeld unserer Kreativität sein, eine Quelle der Freude und des Stolzes, der Anerkennung und der sozialen Verbundenheit. Mehr noch: Was wir beruflich tun, kann ein wesentliches Element unserer personalen Identität ausmachen. Dieses Buch soll einen Beitrag zu einem seriösen Diskurs leisten, der die Potenziale im Blick hat, die sich dem Menschen durch die Arbeit eröffnen, aber auch die Gefährdungen sieht, die mit der Arbeit unter den heutigen, gewandelten Bedingungen einhergehen.

Die Merkmale dessen, was als »moderne Arbeit« beschrieben wird, sind Beschleunigung, Verdichtung, der Umgang mit einer ungeheuren Informationsflut, Fragmentierung der Arbeitsabläufe und Multitasking, hohe Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit, eine massive Zunahme beruflich bedingten Pendelns, Ansprüche nach jederzeitiger Erreichbar- und Verfügbarkeit und eine – nur zu gut begründete – andauernde Angst um den Arbeitsplatz. Dieses Buch soll keinem Trend zu Aufgeregtheiten das Wort reden, wie sie unter dem Stichwort »Burn-out« gerne verbreitet werden. Zugleich sollten wir aber auch darauf verzichten, die massiven – vor allem gesundheitlichen – Probleme, die sich bei immer mehr Beschäftigten einstellen, zu ironisieren, zu bagatellisieren oder zu psychiatrisieren, wie dies in jüngster Zeit zu beobachten war.

Die Erforschung der Auswirkungen moderner Arbeit auf die Gesundheit hat eine lange Geschichte. Das Burn-out-Syndrom ist – wie die Depression – alles andere als eine »Mode-Diagnose«. Die lange, bis in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreichende Geschichte seiner wissenschaftlichen Erforschung soll in Kapitel 4 ausführlich dargestellt werden. Gesundheitliche und insbesondere psychische Probleme nehmen, wie zu zeigen sein wird, nicht nur dort zu, wo gearbeitet wird, sondern sind auch bei jenen Menschen anzutreffen, die gerne arbeiten würden, aber keine Arbeit haben. Wem keine Möglichkeit geboten wird, durch Arbeit für sich und die Seinen zu sorgen, wem der Zugriff auf die vielfältigen Potenziale der Arbeit – vor allem auf Selbstverwirklichung und Selbstwerterleben – verweigert wird, erfährt ein moralisches Desaster. Von diesem sind vor allem auch die Kinder von Arbeitslosen betroffen, denn die deprimierenden Effekte, welche die Erfahrung elterlicher Arbeitslosigkeit für junge Leute haben, sind weitreichend.

Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Gesundheit ist seit vielen Jahren eines der Forschungsfelder meiner Arbeitsgruppe2. Dabei wurden zahlreiche Forschungsprojekte, unter anderem gemeinsam mit der Berliner Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, einer Agentur der Bundesregierung in Berlin, durchgeführt, die sich nicht nur mit den Ursachen beruflich bedingter Gesundheitsstörungen beschäftigten, sondern vor allem auch mit der Erarbeitung von Lösungsvorschlägen. Als Resultat dieser Arbeit entstand eine Serie von wissenschaftlichen, in internationalen Zeitschriften veröffentlichten Arbeiten. Meine Intention ist es, mit diesem Buch die Chancen, aber auch die Gefahrenpotenziale der Arbeit aus neurobiologischer, medizinischer und psychologischer Sicht zu analysieren. Doch kann eine solche Problemanalyse kein Selbstzweck sein. Das Buch soll für alle, die sich Gedanken um die Arbeit machen, also für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, für ihre Vorgesetzten, für Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen, für Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen sowie für Politiker und Politikerinnen auch eine Navigationshilfe auf der Suche nach Lösungswegen sein3.

Von der »Erfindung der Arbeit« zur »New Economy«

Wir müssen neu über Arbeit nachdenken, weil wir in einer Zeit enormer, die Arbeitswelt betreffender Umbrüche leben. Die menschliche Arbeit war seit ihren Anfängen – die »Erfindung« der Arbeit datieren Archäologen auf den Beginn der Sesshaftigkeit vor rund 12 000 Jahren4 – ein ambivalentes, mit gewaltigen Chancen und zugleich abgründigen Gefährdungen verbundenes Projekt. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Immer wieder neu sind jedoch die Umstände und Kontexte, in denen sich der Mensch und seine Arbeit begegnen.

Wir leben heute in einer globalisierten Welt, deren Ressourcen – ungeachtet einer weiter wachsenden Weltbevölkerung – letztlich begrenzt sind. Der Wettlauf zwischen den Herausforderungen, die sich aus dem Ressourcenmangel ergeben, und der Erarbeitung immer wieder neuer Problemlösungen verlangt dem Menschen ungeheure Anstrengungen ab. Dabei lässt sich kaum bestreiten, dass der Mensch, evolutionär gesehen, nicht für die Arbeit »gemacht« ist – jedenfalls nicht für jene Art von Arbeit, wie wir sie heute haben. Vielleicht sind es aber gerade Herausforderungen, die uns immer wieder an unsere eigenen Grenzen bringen, für die unsere Spezies »gemacht« ist.

Die Veränderungen, die durch eine globalisierte Weltwirtschaft, durch das internationale Finanzsystem, durch neue Formen der Automatisierung, durch Informationstechnologien, permanenten Strukturwandel und die allgemeine Beschleunigung des Lebens verursacht wurden, haben eine gewaltige Wucht. Viele Menschen haben, selbst wenn sie sich und ihre Angehörigen wirtschaftlich noch einigermaßen gut über Wasser halten können, das Gefühl, auf der Oberfläche einer Art Tsunamiwelle zu schwimmen, von der niemand weiß, wohin sie uns treibt. Wo Flutwellen dabei sind, Menschen und Ressourcen zu beschädigen oder zu zerstören, müssen Dämme gebaut werden. Regulierender Dämme bedarf es heute dringender denn je, an erster Stelle im Bereich des internationalen Finanzsystems, dessen Auswirkungen auf den Arbeitssektor durchschlagend sind5 – doch dieses zügellose System ist nur am Rande Thema dieses Buches. Hier soll es vor allem um jene Dämme gehen, mit denen wir im Nahbereich der Arbeit unser aller Gesundheit schützen müssen. Dieses Buch soll eine Art Kursbuch sein und Orientierung geben, worauf wir – aus Sicht der modernen Hirnforschung und der Medizin – unter den heutigen Bedingungen achten müssen, damit wir an unserer Arbeit Freude haben können, anstatt an ihr krank zu werden.

Wer zum Thema »Gesundheit und Arbeit« Stellung nimmt, kann nicht nur über die Arbeit selbst, sondern muss auch über einige Mechanismen sprechen, nach denen unsere Wirtschaft funktioniert, vor allem über die Art, wie Beschäftigte eingesetzt und von Arbeitgebern und Vorgesetzten behandelt bzw. geführt werden. Nicht nur Banken und große Konzerne, auch Beschäftigte und ihre Gesundheit sind »systemrelevant«. Nicht der Mensch ist an die Arbeit anzupassen – wie es seit den Tagen von Frederick Taylor, dem Erfinder des »Taylorismus«, bis heute immer wieder versucht wird –, sondern umgekehrt. Arbeitsbedingungen, wie sie in zahlreichen Branchen bzw. Berufen heute herrschen, widersprechen dem Grundsatz, dass »in erster Linie die Arbeit für den Menschen da ist und nicht der Mensch für die Arbeit«, wie es der legendäre polnische Papst Johannes Paul II. in einer dem Thema Arbeit gewidmeten Enzyklika ausdrückte6.

Eine Verantwortung für das Gelingen guter Arbeit als Teil guten Lebens haben aber nicht nur Wirtschaft, Arbeitgeber und Vorgesetzte, sondern auch die Beschäftigten selbst. Die entscheidenden Grundlagen für Gesundheit, soziale und berufliche Kompetenz werden in den Jahren des Heranwachsens gelegt. Indem wir Kinder und Jugendliche derzeit weder hinreichend fördern noch fordern, sondern sie einer Wohlstands- und Medienverwahrlosung7 überlassen, leisten wir einen Beitrag dazu, dass viele von ihnen sich später keiner Arbeit gewachsen fühlen werden.

Die Gefahr der gesundheitlichen Beschädigung des Lebens durch die Arbeit ist nicht neu. Die Belastung durch Arbeit betrifft die in den westlichen Ländern Lebenden sehr unterschiedlich. Menschen in Wohlstand und solche, die sich in ökonomischer Not befinden, sind unterschiedlich betroffen, wobei sich die Schere zwischen Wohlhabenden und dem Rest der Bevölkerung – wie entsprechende Zahlen zeigen – in den letzten Jahren weiter geöffnet hat. Doch ganz unabhängig von ihrer wirtschaftlichen Lage haben viele Menschen angesichts einer intransparent gewordenen, globalisierten Wirtschaft heute das Gefühl, eine Einflussnahme auf die Arbeitsverhältnisse sei gar nicht mehr möglich. Eine Art kombinierter Wohlstands- und Armutsfatalismus droht sich breitzumachen. Dies darf nicht passieren. Auch wenn die seinerzeitige Situation in den 80er-Jahren im Polen des ehemaligen Ostblocks mit der Lage im heutigen Mitteleuropa nicht vergleichbar ist, täte unserem Lande ein neuer, großer Diskurs über das Thema Arbeit gut. Polens »Solidarno´s´c«-Bewegung war nicht nur eine Arbeiterrevolte gegen ein autoritäres Regime, sie war auch ein zwischen den gesellschaftlichen Gruppen des damaligen Polen geführtes Streitgespräch über die Arbeit – ja mehr noch: sie definierte die »Arbeit als Gespräch«8, das heißt als Forum der Kommunikation.

Arbeit als Resonanzerfahrung oder Entfremdung

Indem wir arbeiten, begegnen wir der Welt. Zum einen begegnen wir der äußeren Welt, die einst eine noch unberührte Natur war, deren Angesicht sich im Verlauf von zwölftausend Jahren menschlicher Zivilisation jedoch erheblich verändert hat. Eine zweite Art von Weltbegegnung ist die mit uns selbst. Hier erleben wir – in einer spezifischen, durch die Arbeit bedingten Weise – unseren Körper, unsere Sinne, unsere Potenziale, aber auch unsere Grenzen. Auch die selbst erhaltenden, unsere Bedürfnisse befriedigenden Effekte des Arbeitens sind Teil dieser Selbstbegegnung, ebenso der Beitrag, den die durch Arbeit erworbenen Erfahrungen und Kompetenzen zu unserer personalen Identität leisten. Schließlich bedeutet die Arbeit aber immer auch eine Begegnung mit anderen, mit unserem sozialen Umfeld. Dies gilt nicht nur dann, wenn wir unmittelbar gemeinschaftlich tätig sind. Auch wer alleine arbeitet, ist mit dem, was er oder sie tut, immer mittelbar oder unmittelbar auf andere bezogen. Indem sie uns unausweichlich in eine Begegnung mit anderen bringt, berührt die menschliche Arbeit also immer auch Fragen der sozialen Zugehörigkeit, sozialer Hierarchien und der Konkurrenz. Zu dieser dritten Art von Weltbegegnung gehört last but not least, dass wir uns nur gemeinsam mit anderen reproduzieren können – sicher nicht das einzige, aber ein fundamentales Motiv dafür, dass Menschen arbeiten.

Die drei genannten Dimensionen der Arbeit sind nicht nur in vielfältiger Weise untereinander verbunden, sie sind alle und jede für sich auch neurobiologisch »geerdet«. Da sie Bezug zu physischen und psychischen Bedürfnissen und Funktionssystemen des menschlichen Organismus haben, können sie uns sowohl gesund erhalten als auch krank werden lassen. Alle drei genannten Dimensionen der Arbeit bergen einerseits kreative (und dann in der Regel zugleich gesund erhaltende) Potenziale, sie können, vor allem wenn sie außer Kontrolle geraten und wenn sich verselbstständigte Prozesse entwickeln, aber auch zerstörerische Auswirkungen hervorbringen (und dann zu Krankheitsrisiken werden).

Das positive Potenzial, das sich aus der Begegnung mit unserer äußeren Welt ergibt, wird dort erkennbar, wo es gelingt, unsere Umwelt zu einem wohnlichen Ort zu machen. Das sich aus der zweiten Dimension, der Selbstbegegnung, ergebende schöpferische Potenzial wird dort sichtbar, wo wir durch Ar beit in uns gewachsene Kompetenzen erleben und die Arbeit zu einem Teil unserer Identität werden konnte. Das Potenzial der dritten, sozialen Dimension zeigt sich dort, wo wir durch die Arbeit Anerkennung, Zugehörigkeit und soziale Teilhabe erleben. Die jeweils destruktiven Gegenpole dazu sind in der ersten Dimension die Naturzerstörung, in der zweiten die Arbeits sucht, körperlicher Verschleiß, Burn-out und Depression, und in der dritten Dimension schließlich der Kampf um Anerkennung, um Ressourcen und die sich daraus ableitende Gewalt.

Wo uns das, was wir durch Arbeit zuwege gebracht haben, gefällt und Freude macht, wo wir uns in dem, was wir tun, in unserer Identität wiedererkennen und wo wir für das von uns Geleistete die Anerkennung und Wertschätzung anderer gewinnen, dort wird Arbeit zu einer Resonanzerfahrung . Die Suche nach Spiegelungs- und Resonanzerfahrungen ist ein neurobiologisch begründetes Grundmotiv menschlichen Lebens 9 , eine Perspektive, die auch von philosophischer und soziologischer Seite geteilt wird 10 . Resonanzerfahrungen sind sinnstiftend, sie bedeuten das Erleben von Erfüllung und Glück. Der Ansicht, dass die Arbeit eine sinnstiftende Ressource ist, stimmen in Deutschland 84 Prozent der Beschäftigten zu 11 . Neurobiologisch werden Resonanzerfahrungen von der Ausschüttung von Gesundheit erhaltenden Botenstoffen begleitet. Wo Resonanzerfahrungen ausbleiben, wird die Arbeit zur Qual.

Arbeitsabläufe, in denen Beschäftigte keine Anerkennung erhalten, in denen sie sich selbst und den Sinn ihres Tuns nicht mehr erkennen können oder die zu Produkten führen, die nicht denen dienen, die diese Produkte erarbeitet haben, erzeugen das, was Karl Marx – in Anlehnung an einen bereits von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geprägten Begriff – als »Entfremdung« bezeichnete 12 . Entfremdung ist im Arbeitsleben das Gegenstück zur Spiegelung, sie bedeutet das Ausbleiben von Resonanz und die Erfahrung von Sinnlosigkeit.

Keine Arbeit ist auch keine Lösung: Das Doppelgesicht der Arbeit zwischen Potenzial und Zerstörungspotenzial

Mit Blick auf die Doppelgesichtigkeit der Arbeit kann sich ein existenzielles Dilemma ergeben. Ohne Arbeit können wir nicht leben, nicht nur deshalb, weil wir uns selbst erhalten, unser Auskommen verdienen und die Voraussetzungen für unsere biologische Reproduktion schaffen müssen, sondern auch, weil wir über die Arbeit nach etwas streben, ohne das wir – auch aus neurobiologischen Gründen – nicht leben können: soziale Teilhabe, Wertschätzung, Anerkennung, persönliche Identität und Sinnstiftung. Doch was tun, wenn wir aus Gründen der Selbsterhaltung zwar gezwungen sind, zu arbeiten, dabei aber die genannten positiven Erfahrungen, die wir über die Arbeit zu finden suchen, nicht hinreichend oder gar nicht erhalten können?

Wenn Menschen stattdessen prekären Arbeitsverhältnissen ohne Verlässlichkeit, ökonomischer Ausbeutung, andauernder Überforderung ihrer Leistungsfähigkeit oder einem chronisch missachtenden, demütigenden oder feindseligen Arbeitsklima ausgesetzt sind?

Dass ein Herausgehen aus der Arbeit kein Ausweg aus diesem Dilemma ist, zeigen Statistiken zur Lage derer, die Arbeit suchen, aber keine finden. Denn neben denen, die unter stark belastenden Arbeitsbedingungen berufstätig sind, gibt es nur eine Gruppe, der es – mitsamt ihren Familien – hinsichtlich Gesundheit und allgemeinem Lebensgefühl noch schlechter geht: Das Millionenheer der Arbeitslosen. Keine Arbeit ist also auch keine Lösung.

Das Dilemma zwischen der hohen Bedeutung der Arbeit für den Menschen einerseits und den Schwierigkeiten, die sich aus den Kontexten der Arbeit ergeben können andererseits, bildet sich auch in statistischen Untersuchungen ab. Als sinnstiftend und damit wohl auch als Teil ihrer persönlichen Identität erleben ihre Arbeit, wie schon erwähnt, 84 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland (wobei deutliche Unterschiede bestehen zwischen Akademikern mit 97 %, Technikern mit 85 %, Verkäuferinnen mit 81 %, Maschinenarbeitern mit 76 % und Hilfsarbeitern mit 60 %)13. Mehr als 70 Prozent aller Beschäftigten würden ihrer Arbeit angeblich selbst dann weiter nachgehen, wenn sie finanziell gar nicht darauf angewiesen wären14. Andererseits gaben in der gleichen Befragung 86 Prozent an, eine nur geringe oder gar keine emotionale Bindung an ihren Betrieb zu verspüren15, 33 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland bewerten ihre Arbeit insgesamt als »schlecht«16. In Frankreich bezeichneten kürzlich 61 Prozent der Beschäftigten die Arbeit einerseits zwar als das Wichtigste (!) in ihrem Leben, während zugleich aber 24 Prozent beklagen, permanenter beruflicher Stress habe ihr Sexualleben – welches in unserem befreundeten Nachbarland mit Recht als ein Kulturgut wahrgenommen wird – anhaltend ruiniert17.

Auch ein vom Freiburger Wirtschaftsforscher Bernd Raffelhüschen, gemeinsam mit Klaus-Peter Schöppner, zusammengestellter, auf empirischen Daten basierender »Glücksatlas« weist Aspekte der Arbeit unter den zehn wichtigsten Faktoren für Lebenszufriedenheit aus18. Arbeitslosigkeit rangiert bei Raffelhüschen und Schöppner unter den drei bedeutsamsten, in anderen Untersuchungen19 gar als die Nummer eins unter den Unglücksfaktoren. Interessant sind hier gewisse Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Obwohl die Arbeit inzwischen von über 40 Prozent der Befragten als die wichtigste Quelle des Selbstbewusstseins einer Frau wahrgenommen wird20, scheint ihre Bedeutung bei Männern jene beim weiblichen Geschlecht noch zu übertreffen. Arbeitslosigkeit wird von Männern als ein weitaus stärker auf das persönliche Leben durchschlagender Unglücksfaktor empfunden als von Frauen21. Mit Blick auf das Risiko, eine Depression zu erleiden, wirkt sich Erwerbstätigkeit zwar bei beiden Geschlechtern vorbeugend aus, die Depression erzeugenden Effekte von Arbeitslosigkeit sind bei Männern jedoch deutlich stärker als beim weiblichen Geschlecht22. Arbeitslosigkeit hat bei Männern einen siebenfachen Anstieg der stationären Behandlungstage zwecks Behandlung einer psychischen Gesundheitsstörung zur Folge23.

Die potenziell Gesundheit erhaltende Bedeutung der Arbeit zeigt sich auch daran, wie Menschen den Übergang in den Ruhestand erleben. Naheliegend ist, dass der Ruhestand vor allem dann, wenn eine Beschäftigung körperlich oder seelisch stark beanspruchend war, zunächst als Entlastung erlebt wird. Doch hat auch diese Medaille zwei Seiten. Bei der für den »Glücksatlas« durchgeführten Befragung fanden Raffelhüschen und Schöppner, dass ehemals Arbeitslose den Ruhestand als schlechteste Alternative zur Arbeitslosigkeit erleben. Selbst Leiharbeit, Minijobs oder Teilzeitarbeit wirkten sich auf die subjektiv erlebte Lebenszufriedenheit ehemals Arbeitsloser weitaus positiver aus24. Dem entspricht eine ganze Reihe objektiver Studien, die darauf hindeuten, dass vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheidende Personen auch dann, wenn der Vorruhestand nicht durch besondere Gesundheitsprobleme verursacht war, eine signifikant verkürzte Lebenserwartung haben25. Interessanterweise ist dieser Effekt wiederum bei Männern stärker ausgeprägt, in einzelnen Studien sind Frauen von diesem Effekt sogar überhaupt nicht betroffen26.

Pro und kontra Arbeit: Vom Alten Testament bis Karl Marx

Die Doppelnatur der Arbeit – ihr Potenzial und Zerstörungspotenzial – ist keine Neuentdeckung unserer Zeit. Sie wurde thematisiert, seit über die Arbeit nachgedacht und geschrieben wurde. Das Alte Testament, dessen Schöpfungslegende vor etwa 3 000 Jahren niedergeschrieben wurde (mit einer vermutlich weit älteren, mündlich tradierten Vorgeschichte), erwähnt die Arbeit sowohl als Option (»Macht euch die Erde untertan« 27 ) wie auch als strafende Verpflichtung (»Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen« 28 ). Streit um die Anerkennung für geleistete Arbeit war der Grund für den Brudermord des Kain an Abel 29 . Im klassischen Griechenland war die Arbeit – ebenso wie im Römischen Reich – verpönt, wer es sich leisten konnte, arbeitete nicht, sondern ließ arbeiten. In der jüdisch-christlichen Tradition dagegen wurde jeder geachtet, der seiner Arbeit nachging, und sei sie noch so unqualifiziert oder »nieder«. Jesus Christus war nicht nur der Sohn eines Handwerkers, sondern selbst Handwerker 30 , Gläubige verglich er mit Arbeitern in einem Weinberg 31 . Ruinöser Arbeitseifer schien Jesus Christus jedoch fremd gewesen zu sein (»Seht die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen, und euer himmlischer Vater nährt sie doch« 32 ). Von Paulus, einem der ersten christlichen Missionare, von Beruf Segeltuchmacher, stammt dagegen der berühmte Satz »Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen« 33 , ein Diktum, das knapp 2 000 Jahre später von Lenin, dem Gründer der Sowjetunion, ausdrücklich zum »sozialistischen Prinzip« erklärt wurde (»Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen« 34 ).

Die große Mehrheit der großen Denker ließ und lässt keinen Zweifel an der Notwendigkeit, dass der Mensch arbeiten müsse. Viele versahen dieses Diktum aber zugleich mit einer Warnung. Martin Luther (1483–1546) erklärte, der Mensch sei »zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen« 35 , er ermahnte seine Schäfchen, »nicht faul und müßig [zu] sein« 36 und wetterte gegen Bettler vor den Kirchentüren. Immanuel Kant (1724–1804) sah die Arbeit als sittliche Pflicht und sprach sich dafür aus, schon Kindern die Neigung zu Arbeit in der Schule zu lehren 37 . Zwar äußerte er »Je mehr wir beschäftigt sind, je mehr fühlen wir, dass wir leben, und desto mehr sind wir uns unseres Lebens bewusst« 38 , bedachte aber auch: »Die Natur hat auch den Abscheu für anhaltende Arbeit manchem Subjekt weislich in seinen … Instinkt gelegt: weil dieses etwa keinen langen oder oft wiederholenden Kräfteaufwand ohne Erschöpfung vertrug, sondern gewisser Pausen der Erholung bedurfte.« 39 Eine aus heutiger Sicht erstaunlich vorausschauende Aussage. Weniger ambivalent und völlig kongruent mit dem Geist der Französischen Revolution, erachtete Friedrich Schiller (1759–1805) – in seinem Gedicht »Die Glocke« – die Arbeit bekanntlich als »des Bürgers Zierde«.

Wer gehofft haben sollte, das vom Protestantismus, Calvinismus und deutschen Idealismus formulierte Arbeitsethos sei von der sozialistischen Bewegung infrage gestellt worden, sieht sich enttäuscht. Karl Marx (1818–1883) sah »die ganze sogenannte Weltgeschichte« als »nichts anderes als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit« 40 . Seine Kritik galt also keineswegs der Arbeit an sich, sondern ausschließlich dem Umstand, dass die kapitalistischen Produktions- und Arbeitsbedingungen (Monotonie, subjektiv erlebte Sinnlosigkeit der Arbeitsabläufe, Fremdbestimmung und ökonomische Ausbeutung) die Beschäftigten von ihrer Arbeit entfremdeten. Auch das sozialdemokratische »Gothaer Programm« von 1875 sah eine »allgemeine Arbeitspflicht« vor, Karl Kautsky drang allerdings zugleich darauf, »dass dem Arbeiter die nötige Muße gegeben wird« 41 . Einen Kontrapunkt zum Arbeitsethos des Protestantismus und seinem säkularen Pendant bei den Linken setzte der aus Kuba stammende Paul Lafargue (1842–1911), Schwiegersohn von Karl Marx 42 . In seiner überaus amüsant zu lesenden Polemik propagierte Lafargue »das Recht auf Faulheit«, welches er kurzerhand zur »Mutter der Künste und der edlen Tugenden« erklärte 43 . Gegen die »Arbeitssucht«, von der er »die Arbeiterklasse aller Länder« befallen sah, zitierte Lafargue aus einem Gedicht von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781): »Lasst uns faul sein in allen Sachen/Nur nicht faul zu Lieb und Wein/Nur nicht faul zur Faulheit sein.« 44

Menschliche Arbeit aus der Perspektive Ernst Jüngers, Ernst Blochs und Hannah Arendts

Von den vielen Autoren des 20. Jahrhunderts, die sich zur Frage der menschlichen Arbeit geäußert haben, seien an dieser Stelle hier abschließend nur drei erwähnt. Sie haben das zeitgenössische Denken über die Arbeit bis heute besonders nachhaltig beeinflusst. Im politisch rechten Lager war dies Ernst Jünger (1895–1998) mit seinem 1932 veröffentlichten Text »Der Arbeiter«, auf der eher links-intellektuellen Seite Ernst Bloch (1885–1977) mit »Prinzip Hoffnung«, und schließlich die keinem politischen »Lager« zuzuordnende Hannah Arendt (1906–1975) mit ihrem Hauptwerk »Vita activa oder Vom tätigen Leben«.

Jünger entwarf die Welt als einen Ort totaler Arbeit: »Der Arbeitsraum ist unbegrenzt, ebenso wie der Arbeitstag 24 Stunden umfasst … Es gibt … keinen Gesichtswinkel, der nicht als Arbeit begriffen wird.« In Anlehnung an Nietzsches »Wille zur Macht« stellte Jünger den »Aufbereitungs-, Zerstörungs- und Bemächtigungscharakter« der Arbeit in den Mittelpunkt, wie es Severin Müller in seiner sehr lesenswerten »Phänomenologie und philosophischen Theorie der Arbeit« ausdrückte, wohingegen »Rationalität und Vernunft [bei Jünger] sekundär« blieben45. Den Arbeiter, den er als eine durch nichts aufzuhaltende, die bürgerliche Gesellschaft zerstörende menschliche Maschine beschrieb, glorifizierte Jünger als eine Art Übermenschen nietzscheanischer Prägung. Jüngers Vorstellung der totalen Arbeit antizipierte den »totalen Krieg« der Nationalsozialisten, mit denen er zeitweise stark sympathisierte. Jünger entwarf die Arbeit als »Vorgang unbeschränkt fiktionaler, und fantastisch entwerfender Imagination«46. Sie war für ihn das Mittel zur Verwirklichung einer alle natürlichen Dimensionen sprengenden, megalomanen und martialischen neuen Welt.

Ernst Bloch sah – darin Karl Marx und Friedrich Engels folgend – die »Arbeit als Mittel der Menschwerdung«. Er hatte die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Arbeit und die sich daraus für den Menschen ergebenden Chancen der Selbstverwirklichung im Auge: »[Der Mensch] wird in seiner Arbeit und durch sie immer wieder umgebildet«47. Bloch sah in der Arbeit des Menschen Merkmale »eines nie entsagenden Traums nach vorwärts«48.

Hannah Arendts Blick auf die Arbeit orientiert sich – im Gegensatz zu Nietzsche, Jünger und Bloch – weniger an deren testosteronaffinen utopischen Perspektiven der Arbeit, sondern an der biologischen und psychologischen Situation des Menschen. »Die Arbeit entspricht dem biologischen Prozess des menschlichen Körpers, der … sich von Naturdingen nährt … um sie als die Lebensnotwendigkeit dem menschlichen Organismus zuzuführen.« Arendts Feststellung, dass »die Grundbedingung, unter der die Tätigkeit des Arbeitens steht, … das Lebens selbst [ist]«49, macht deutlich, dass sie die Arbeit als Ausdruck sowohl des Mangels bzw. der Bedürftigkeit als auch der Potenziale des Menschen sah (auf ihre Unterscheidung zwischen »Arbeit« und »Herstellung« wird in Kapitel 6 Bezug genommen werden). Arendts weibliches, biologisch geerdetes Konzept steht der Perspektive des Autors dieses Buches, der die Arbeit als Neurobiologe, Mediziner und Psychotherapeut beleuchten möchte, verständlicherweise besonders nahe50.

2

Arbeit trifft Gehirn:
Die neurobiologische Klaviatur der Arbeit

Was sind die Regeln, nach denen sich entscheidet, was die Arbeit mit dem Menschen macht, ob sie uns guttut und gesund erhält oder nicht? Die von vielen geteilte Meinung, es sei das »zu viel«, was die Arbeit zu einem Krankmacher werden lasse, ist nicht nur schlicht, sondern schlicht falsch. Auch zu wenig oder keine Arbeit zu haben kann einen Menschen so nachhaltig ruinieren wie die Arbeit selbst. Dass es einfach »Stress« sei, der krank mache, ist ebenfalls Unsinn. Stress kann unter bestimmten Voraussetzungen ausgesprochen gesund sein. Der »Stress« ist keine Erfindung unserer Zeit51. Aus evolutionärer Sicht spricht sogar einiges dafür, dass der Mensch geradezu für Herausforderungen »gemacht« ist. Doch die Frage ist: Für welche? Was sind die Voraussetzungen dafür, dass es zwischen Mensch und Arbeit passt? Bei dem Versuch, die positiven und negativen Auswirkungen der Arbeit auf die Gesundheit und psychische Verfassung des Menschen zu verstehen, erscheint mir ein medizinischer – und insbesondere neurobiologischer – Ansatz sinnvoll. Dieses Kapitel soll eine wissenschaftlich fundierte Grundlage dafür legen.

Wechselwirkungen zwischen Körper und Psyche

Wenn Mensch und Arbeit sich begegnen, sind sowohl die physischen (körperlichen) als auch die psychischen (seelischen) Systeme des Menschen herausgefordert. Physische Belastungen standen, wenn es um die Arbeit des Menschen ging, über Jahrtausende im Vordergrund. Daran begann sich erst mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert etwas zu ändern: Zu den unvermindert weiter bestehenden physischen kamen jetzt zusätzlich signifikante, unmittelbar arbeitsbedingte psychische Beanspruchungen hinzu.

Viele Menschen waren mit Beginn des industriellen Zeitalters erstmals gezwungen, an Maschinen zu arbeiten oder monotone Arbeiten zu verrichten. Dies erklärt, warum mit dem Eintritt ins Maschinenzeitalter Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue medizinische Störung, die sogenannte »Neurasthenie« (eine heute nicht mehr verwandte Bezeichnung für eine Erschöpfung des Nervensystems) auftauchte. Die »Depression«, wie wir sie heute kennen, war seinerzeit noch keine medizinische Kategorie.

Die mit der Arbeit verbundenen körperlichen Belastungen sind in den Ländern der westlichen Hemisphäre seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts auf dem Rückzug und spielen heute in Westeuropa in vielen Bereichen nur noch eine nachgeordnete Rolle. Entsprechend zurückgingen daher auch die durch direkte körperliche Beanspruchung ausgelösten Erkrankungen. Stattdessen haben sich in den westlichen Ländern neue arbeitsbedingte Stressoren (Beschleunigung, Hetze, Fragmentierung und Multitasking) entwickelt. Psychische – und damit verbundene neurobiologische – Belastungen durch die Arbeit und die durch sie ausgelösten Gesundheitsstörungen stehen inzwischen im Vordergrund. Allerdings sind in manchen Branchen (z. B. Teilen der Industrie, im Transport- oder im Reinigungswesen sowie im Gastgewerbe) und einigen Berufen (z. B. in Pflege- und einigen Handwerksberufen) körperliche Belastungen nach wie vor erheblich. Daher bleibt der Schutz vor körperlicher Fehl- oder Überbeanspruchung durch die Arbeit auf der Tagesordnung.

Die Erhaltung und Pflege der körperlichen Gesundheit ist nicht nur des Körpers selbst wegen, sondern auch der Psyche wegen von Belang. Ausreichende Bewegung, fett- und zuckerarme Ernährung, möglichst weitgehende Abstinenz bei Alkohol und Nikotin und ausreichender Schlaf sind von überragender Bedeutung, denn sie dienen nicht nur der körperlichen, sondern auch der psychischen Gesundheit. Mit der unmittelbaren körperlichen Fitness zusammenhängende Fragen wurden in den letzten Jahren bereits ausgiebig an anderer Stelle thematisiert. Wenig beschrieben wurde in den letzten Jahren allerdings, welche spezifische, psychische bzw. neurobiologische Systeme gefordert sind, wenn der moderne Mensch arbeitet. Da sich psychische und physische Gesundheit nicht trennen lassen, kann ein psychisch bzw. neurobiologisch geschwächter Organismus auch keine körperlichen Leistungen erbringen. Ein psychisch gut aufgestellter Mensch dagegen wird selbst dann wertvolle Arbeit leisten können, wenn sein Körper mit einem Handicap zurechtkommen muss. Welche für die seelische Gesundheit relevanten neurobiologischen Systeme sind es also, auf welche die Arbeit einwirkt?

Das Motivationssystem

Das sogenannte Motivationssystem ist eine für die Verrichtung von Arbeit fundamentale neurobiologische Struktur. Dieses System besteht aus einem in der Mitte des Gehirns gelegenen Nervenzellnetzwerk, dessen Botenstoffe für die Erzeugung von Motivation und Lebensfreude unverzichtbar sind52. Das deutsche Wort »Motivation« beruht auf dem lateinischen Wort »movere«, welches »bewegen« bedeutet. Motivation ist also die Fähigkeit, sich mit dem Geist oder auch körperlich auf etwas zuzubewegen.

Dass die Motivation einen sowohl psychischen wie physischen Aspekt hat, wird auch daran deutlich, dass der Hauptbotenstoff des Motivationssystems, Dopamin, nicht nur die psychische Energie erzeugt, die wir benötigen, um ein Vorhaben engagiert – oder gar lustvoll – angehen zu können, sondern uns auch befähigt, uns körperlich auf etwas hinbewegen zu können.

Die Nervenzellen des Motivationssystems produzieren einen Botenstoff-Cocktail aus drei Bestandteilen: Neben dem bereits erwähnten Dopamin enthält der Cocktail sogenannte »endogene Opioide« (Schmerz lindernde Wohlfühlbotenstoffe) und den Botenstoff Oxytozin. Oxytozin ist ein Einfühlungs- und Vertrauenshormon.

Fühlende Lebewesen wie der Mensch wollen sich gut fühlen – eine Erkenntnis, die auf Charles Darwin zurückgeht53 und später von Sigmund Freud als »Lustprinzip« bezeichnet wurde. Der menschliche Organismus sehnt sich nach guten Gefühlen. Doch diese sind, neurobiologisch betrachtet, nur zu haben, wenn das Motivationssystem unseres Gehirns beginnt, seinen Cocktail anzurichten. Dies ist der Grund, warum alles menschliche Verhalten eine – überwiegend unbewusste, teils aber durchaus auch bewusste – Tendenz hat, vor allem solche Erlebnisse zu suchen und solche Handlungen auszuführen, die zur Folge haben, dass das Motivationssystem seinen Botenstoff-Cocktail produziert. Zahlreiche Studien der letzten Jahre zeigen, dass das Motivationssystem unseres Gehirns vor allem dann anspringt, wenn uns von anderen Menschen Wertschätzung, Anerkennung, Sympathie oder gar Liebe entgegengebracht werden. Da soziale Akzeptanz uns also via Aktivierung unseres Motivationssystems angenehme Empfindungen bereitet, sind Menschen willens, dafür eine Menge zu tun, ja dafür sogar Anstrengungen und Entbehrungen auf sich zu nehmen. Vor allem sind Menschen aus diesem Grunde bereit, dafür das zu tun, warum es in diesem Buch geht: zu arbeiten54.

Auch wenn es vielen möglicherweise nicht bewusst sein mag, so ist es doch eine Tatsache: Ein zentrales, neurobiologisch (!) begründetes Motiv für die Bereitschaft des Menschen zu arbeiten ist der Wunsch nach direkter oder indirekter Anerkennung. Anerkennung ist etwas anderes als ein oft billiges Schulterklopfen oder ein vordergründiges Lob. Anerkennung bedeutet auch nicht, andere in Watte zu packen oder zu verwöhnen. Kein Mensch, der über eine halbwegs intakte Intelligenz verfügt, empfindet hohle Floskeln, Leerformeln oder Verwöhnung als Anerkennung. Anerkennung ist ein sehr komplexes Konstrukt. Anerkennung zu geben bedeutet vor allem, den anderen Menschen zu »sehen« und ihm – und dem, was er bzw. sie tut – eine Bedeutung zuzumessen. Zwar gehört zur Anerkennung ohne Frage die Bereitschaft, Anstrengungen zu loben und zu belohnen, Anerkennung schließt aber auch die kritische Begleitung mit ein. Dies gilt im kollegialen Miteinander, in der Mitarbeiterführung, aber zum Beispiel auch in der Pädagogik. Jemanden ausnahmslos und fortwährend zu loben oder zu verwöhnen, ohne jemals einen kritischen Aspekt anzusprechen, ist eine besondere – in der Pädagogik unserer Tage übrigens gar nicht so seltene – Form der Missachtung, des »Nicht-Sehens«.

Anerkennung gewinnt ihren Wert für diejenigen, denen sie zuteilwird, erst dadurch, dass sie vor dem Hintergrund einer gleichermaßen freundlichen wie auch kritischen Begleitung erarbeitet wurde. Direkte, persönliche Anerkennung am Arbeitsplatz berührt die Frage guter Mitarbeiterführung und des kollegialen Klimas. Ebenso wichtig wie die direkte, persönliche Wertschätzung sind verschiedene andere Formen der Anerkennung. Diese erhalten Erwerbstätige in mehrerlei Hinsicht. An erster Stelle ist hier der für die Arbeit gezahlte Lohn zu nennen. Geld, dessen »Erfindung« der »Erfindung der Arbeit« nachfolgte, ist ein Anerkennungsersatz für geleistete Arbeit (die davon weitgehend losgelöste Bedeutung, die das Geld im Kapitalismus erworben hat, bleibt hier außer Betracht)55. Eine weitere, überaus wichtige Anerkennung für das, was am Arbeitsplatz geleistet wird, erleben Menschen in der Regel auch durch ihr privates soziales Umfeld. Durch Arbeit für die Seinen zu sorgen und sich auf diesem Wege deren Verbundenheit und Liebe zu sichern ist ein – oft nur unbewusst wirksames – Hauptmotiv zu arbeiten. Dies zeigt sich vor allem an den massiven Einbrüchen der Motivation, die auf private Trennungen folgen können – vor allem wenn es sich um nicht gewollte, sondern erlittene handelt.

Mit Recht erwarten alle einen angemessenen finanziellen Lohn für geleistete Arbeit. Er ist ein zentrales Kriterium der Anerkennung. In der realen Welt der knappen Ressourcen, in der wir leben, muss der gerechte Anteil derer, die arbeiten, an dem durch die Arbeit erzeugten Mehrwert ausgehandelt und notfalls erkämpft werden. Wenn allerdings alle anderen Formen der Anerkennung – vor allem die Anerkennung am Arbeitsplatz und persönliche Wertschätzung im privaten Umfeld – ausbleiben, dann kann auch ein guter Lohn oft nicht verhindern, dass die Arbeit am Ende unerträglich wird. Geld kann nur begrenzt leisten, was soziale Anerkennung, Wertschätzung und ein gutes Arbeitsklima vermögen: das Motivationssystem des Menschen und die Ausschüttung seiner Motivationsbotenstoffe in Fahrt zu bringen.

Fehlende Wertschätzung, entwürdigende Umgangsweisen, schlechtes Arbeitsklima, fehlender kollegialer Zusammenhalt oder Mobbing sind Motivationskiller und machen krank. Gute Arbeit dagegen kann ein gutes Lebensgefühl erzeugen und die Gesundheit stärken.