Winterhonig

Ohms Daniela

Winterhonig

Roman

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Inhaltsübersicht

Für meine Oma

Die sich dieses Buch schon lange gewünscht hat. Vielen Dank, dass du mir deine »Erinnerungen« anvertraut hast – auch wenn ich mir die Freiheit genommen habe, sie ein bisschen zu verändern und zu ergänzen.

Prolog

Niemals würde Mathilda den Geruch von weißen Nelken vergessen. Sie hatte den Tod in vielerlei Gestalt gesehen. Vor allem später, im Krieg, war er überall gewesen. Nicht weit von ihrer Haustür entfernt hatte er begonnen, sein Unwesen zu treiben. In Plakaten und Worten hatte er sich angekündigt, mit Steinen und Fackeln war er unschuldigen Menschen entgegengeflogen, hatte sich in ihren Augen gespiegelt und über ihre Schreie gespottet. In seiner Grausamkeit hatte der Tod immer weitere Formen gefunden, während er mit tausenden Soldaten in den Osten gezogen war. Jeder Mann, ob er wollte oder nicht, hatte in seinem Namen gekämpft – auch Mathildas Brüder und die Liebe ihres Lebens hatte er mit sich in den Krieg genommen.

Selbst zu Hause, dort, wo es noch scheinbar friedlich gewesen war, hatte der Tod keine Gelegenheit ausgelassen, um seine Intrigen zu spinnen. Ganz gleich, ob er Krankheiten aussandte oder mit den Bomben vom Himmel regnete oder die Menschen dazu brachte, ein Todesurteil zu fällen – in all diesen Momenten schien es ihm gleichgültig zu sein, ob es Frauen, Kinder oder Babys waren, die er aus ihrem Leben riss. Und ebenso unbekümmert schien er über die Menschen zu denken, denen er alles genommen hatte, was sie liebten.

Nicht ein einziges Mal hatte Mathilda erlebt, dass der Tod gerecht gewesen wäre.

Doch über all diesen Erinnerungen hing der Geruch von Nelken wie der Atemhauch, der das Sterben begleitete. Unweigerlich folgten ihre Gedanken dieser Spur, wann immer sie dem Duft begegnete. Und dann tauchte es auf, arbeitete sich aus dem Nebel der Vergangenheit empor und lag wieder direkt vor ihr: Das Gesicht ihrer Mutter, das Gesicht einer Puppe, so leblos und bleich wie in Form gegossenes Wachs. Für einen Atemzug verharrte das Gesicht vor ihren Augen, losgelöst von allem anderen. Ihre Mutter war so nah. Mathilda bräuchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren.

Spätestens mit diesem Gedanken folgten die restlichen Bilder. Sie stand wieder in der winzigen Schlafstube, umgeben von ihren älteren Geschwistern und eingehüllt in den Duft der Nelken, mit denen die Haare und das Bett ihrer Mutter geschmückt waren.

An jenem Tag, irgendwann im Sommer 1930, war Mathilda dem Tod zum ersten Mal begegnet. Sechs Jahre war sie alt gewesen, kaum groß genug, um von oben auf das Bett zu schauen, auf dem ihre Mutter aufgebahrt lag. Damit sie etwas sehen konnte, hatten ihre Schwestern sie nach vorne geschoben. Und nun stand sie da, gefangen zwischen schwarzen Kleidern und schweigenden Blicken, ganz dicht über diesem Gesicht, das bis gestern noch lebendig gewesen war.

Tot … Das Wort schwebte um sie herum in dem winzigen Zimmer, vermischte sich mit dem Geruch der Nelken und trieb zwischen den Gedanken ihrer Familie umher, ohne auch nur einmal ausgesprochen zu werden. Dennoch hatte Mathilda es oft genug gehört. Wie ein Gespenst war es zwischen ihren älteren Schwestern hin und her gehuscht und stets verschwunden, wann immer sie genauer zugehört hatte. Den ganzen Tag lang hatte Mathilda versucht, die Stimmung und die geflüsterten Worte zu begreifen. Aber erst jetzt sickerte die Bedeutung aus dem leblosen Gesicht ihrer Mutter.

Tot … erstarrt … verlassen …

Mathilda stand zwischen ihren sieben Schwestern und ihren beiden Brüdern. Ihr Vater kniete neben dem Bett auf dem Boden, und die langen Finger ihrer Oma streiften wie ein zarter Vogel über ihre Schulter. Dennoch spürte Mathilda, dass sie von nun an allein war. Es war nur eine vage Ahnung, doch in der schwerfälligen Art, mit der ihr Atem ein- und ausströmte und in ihrer Kehle brannte, konnte sie es bereits fühlen. Zusammen mit dem Geist ihrer Mutter schien auch alle Wärme verschwunden zu sein.

Mathilda konnte die Gegenwart der Toten nicht länger ertragen. Ihr Blick wandte sich ab, suchte etwas, woran sie Trost finden konnte. Aber sie entdeckte nur die Hände ihres Vaters, die sich zitternd um den Rosenkranz klammerten. Mathilda kannte seine Hände allzu gut. Sie waren groß und rauh, sie konnten den schweren Pflug lenken und riesige Zentnersäcke über die Schultern wuchten, sie konnten als wütende Faust auf den Tisch schlagen oder ihren kindlichen Ungehorsam mit einem einzigen Streich zum Schweigen bringen. Doch so hilflos wie jetzt hatte Mathilda sie noch nie gesehen.

Vielleicht war es dieses zittrige Bild von seinen Händen, aus dem zum ersten Mal die Angst hervorkroch. Nichts konnte Mathilda halten, und niemand würde sie je wieder trösten, wenn ihre Mutter fort war und selbst die Hände ihres Vaters von aller Kraft verlassen waren.

Mathilda schloss die Augen. Aber der Duft der Nelken strömte umso schwerer in ihre Lunge. Und schlagartig war das Gesicht ihrer Mutter wieder da, lebendig dieses Mal. Dennoch schwebte nur ein schwaches Lächeln auf ihrem Mund. Ihre Haare lagen zerzaust auf dem Kissen, und in jeden Atemzug mischte sich ein verhaltenes Stöhnen.

Die Krankheit hatte sie von innen aufgefressen, langsam und schleichend. Auch diese Worte hatte Mathilda von ihren Schwestern gehört, und ihr Zeitgefühl verlor sich in den Wochen und Monaten, die sie neben dem Bett ihrer Mutter gesessen hatte. Die Schwestern hatten ihr einen Wedel in die Hand gedrückt, mit dem sie die Fliegen verscheuchen sollte, solange ihre Mutter schlief. Jedes Mal, wenn sie aufwachte, musste Mathilda ihr etwas zu trinken geben. Dann lächelte die Mutter ihr zu und flüsterte tröstende Worte. Mathilda konnte ihre Liebe spüren, so sanft und ehrlich wie das schwache Streicheln ihrer Hand auf den Haaren.

Manchmal, wenn das Wetter schön gewesen war, hatten die Schwestern ihre Mutter nach draußen gebracht und sie neben dem Holunderbusch auf eine Bank gesetzt. Dort hatte Mathilda dann vor ihr im Gras gesessen und mit einem leisen Singen gespielt. Die Mutter hatte ihr zugesehen, bis sie im Schein der Sonne zusammengesackt und eingeschlafen war.

Aber auch diese Tage waren immer seltener geworden, bis ihre Mutter endgültig zu schwach gewesen war. In den Wochen darauf hatte Mathilda beobachtet, wie die Fliegen immer zudringlicher wurden. Sie hatten sich in die Augen- und Mundwinkel ihrer Mutter gesetzt, von wo sie sich kaum noch verscheuchen ließen. Mathilda hatte die Fliegen mit den Fingern anstupsen müssen, damit sie aufflogen, und umso verzweifelter zugesehen, wenn sie nach einem kurzen Kreisen wieder zurückkehrten. Was diese Monate jedoch bedeuteten und worauf all die schrecklichen Momente hinausliefen, begriff Mathilda erst jetzt.

»Wenn ich wenigstens die Kleine mitnehmen könnte …« Schwach erinnerte sie sich an die Worte, die ihre Mutter der Oma zugeflüstert hatte, wenige Tage vor ihrem Tod. Erst jetzt verstand Mathilda, was ihre Mutter gemeint hatte.

»Der liebe Gott hat deine Mama zu sich geholt«, hatte ihre Oma ihr am Morgen erklärt. »Aber hab keine Angst. Sie hat nun keine Schmerzen mehr, und die Muttergottes wird sich gut um sie kümmern.«

Dorthin hatte ihre Mutter sie also mitnehmen wollen, zur Muttergottes, die sich gut um sie kümmerte. Aber sie hatte es nicht getan, und jetzt war Mathilda allein, ohne Mutter und ohne Muttergottes. Wer kümmerte sich nun um sie?

Mathilda öffnete die Augen und sah der Reihe nach zu ihren Schwestern auf. Agnes war die Älteste. Schon seit die Mutter so krank geworden war, führte sie den Haushalt, und wahrscheinlich würde sie diese Aufgabe weiterhin übernehmen. Um Mathilda hatte sie sich jedoch nie besonders gekümmert. Wenn überhaupt, dann schimpfte Agnes nur, weil sie etwas falsch machte oder zu langsam arbeitete. Eigentlich war es nicht wichtig, ob Mathilda hier war oder nicht, sie war überflüssig, die Kleinste und Letzte, die allen anderen nur zur Last fiel. Viel lieber wollte sie dort sein, wo ihre Mutter war.

Mathilda trat einen zögernden Schritt vor. Sie rechnete damit, dass jemand sie festhalten würde. Aber die Hand ihrer Großmutter glitt kraftlos von ihrer Schulter. Auch die anderen beachteten sie nicht, während sie sich zwischen den schwarzen Kleidern hindurchschob. Mathilda durchquerte die Stube und ging in den Flur. Die Tür nach draußen stand auf, vielleicht, um die Nachbarn hereinzulassen, die sich ebenfalls von der Toten verabschieden wollten.

Einzig Mathilda würde sich nicht länger verabschieden. Sie wollte ihre Mutter wiederfinden, wollte ihr folgen. Wenn sie inzwischen bei der Muttergottes war, vielleicht würde sie dort auf »ihre Kleine« warten.

Mathilda folgte dem Windzug, der von draußen hereinwehte. Auf dem Treppenabsatz vor der Tür blieb sie stehen. Einzig ihr Blick huschte weiter, in einer schnellen Runde durch den Garten, dann über die Latten der Gartenpforte hinweg auf den Sandweg dahinter. Die Dunkelheit hatte sich bereits über die Felder gelegt, nur auf den Wiesen tanzten weiße Nebelschleier und der Wind rauschte durch den Fichtenwald gegenüber.

Die Statue der Jungfrau Maria war nicht weit entfernt. Von hier aus konnte Mathilda sie nicht sehen, aber sie kannte die Stelle, an der sie zwischen den Feldern an der Wegkreuzung stand. Genau dort musste ihre Mutter sein und auf sie warten.

Mathilda streifte die Holzschuhe von ihren Füßen und rannte barfuß über den Gartenpfad. Die kleine Pforte inmitten der Hecke bewegte sich im Wind, aber Mathilda schlüpfte einfach durch den schmalen Spalt.

Gleich dahinter hielt sie inne. Mit einem kalten Geräusch rauschte der Wind durch die Fichten, schwarze Schatten lagen vor ihr. Wenn sie zur Muttergottes wollte, musste sie durch die Dunkelheit am Fuß des Waldes. Mathilda zögerte.

»Tildeken, was tust du da?« Eine Kinderstimme rief ihr nach. »Warum läufst du nach draußen?« Es war ihr Bruder. Joseph. Seine Holzschuhe klockerten auf der Steintreppe, stapften über den Gartenweg und folgten ihr durch die Gartenpforte. Schließlich schoben sich seine Finger zwischen ihre und ließen sie aufsehen.

Joseph war einen Kopf größer als sie und vier Jahre älter. Mit traurigen Augen schaute er auf sie herab. »Was tust du hier, Tildeken? So ganz allein. Es ist dunkel.«

Mathilda wurde schwindelig. »Mama«, flüsterte sie. »Ich wollte sie wiedersuchen.«

Joseph schüttelte sanft den Kopf. »Scht.« Er zog Mathilda in seine Arme. »Du kannst sie nicht wiederfinden. Niemand kann das. Sie ist fortgegangen und sie wird nie wieder zurückkommen. Aber sie ist jetzt im Himmel, dort geht es ihr gut. Das weißt du, oder?«

Mathilda drückte sich noch enger an ihn, ihre Hände klammerten sich an seine Jacke, ihre Nase rieb sich an seiner Brust. Ja, sie wusste, dass Joseph recht hatte: Ihre Mutter war im Himmel, bei der Muttergottes, an einem Ort, an den Mathilda ihr erst folgen konnte, wenn sie tot war.