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Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «The River of Consciousness» bei Alfred A. Knopf, a division of Penguin Random House LLC, New York, und in Canada bei Alfred A. Knopf Canada, a division of Penguin Random House Canada Limited, Toronto.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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«The River of Consciousness» © Copyright © 2017 by the Oliver Sacks Foundation

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Redaktion Uwe Naumann

Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München

Umschlagabbildung Steve Pyke/Kontributor/Getty Images

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN Printausgabe 978-3-498-06434-1 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-04091-5

www.rowohlt.de

 

Hinweis zu Fußnoten und Anmerkungen: Die Fußnoten sind fester Bestandteil der amerikanischen Originalausgabe. Diese werden im Epub durch [a], [b], [c] usw. (anstelle von [*] [Asterisken]) gekennzeichnet; die mit Ziffern nummerierte Anmerkungen wurden in der deutschen Übersetzung zur Erläuterung hinzugefügt.

 

Hinweis zu Seitenverweisen: Diese beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-04091-5

Fußnoten

Der Wortschatz des Parkinsonismus besteht großenteils aus Geschwindigkeitsbegriffen. Neurologen haben eine ganze Reihe von Termini, um diese Phänomene zu beschreiben: Wenn die Bewegungen verlangsamt sind, sprechen sie von Bradykinesie; kommen sie zum Stillstand – von Akinesie; sind sie extrem schnell – von Tachykinesie. Entsprechend kann man auch unter Bradyphrenie oder Tachyphrenie leiden, einer Verlangsamung oder Beschleunigung der Gedankentätigkeit.

Störungen des Raumempfindens sind bei Parkinsonismus genauso häufig wie Störungen des Zeitempfindens. Ein fast diagnostisches Zeichen des Parkinsonismus ist die Mikrographie – ein winziges, häufig verschwindend kleines Schriftbild. In der Regel sind sich die Patienten dessen nicht bewusst, solange sie in diesem Zustand sind; erst wenn sie sich wieder in einem normalen räumlichen Bezugssystem befinden, können sie erkennen, dass ihr Schriftbild kleiner als gewöhnlich war. So findet möglicherweise für einige Patienten eine Kompression des Raumes statt, die mit der Stauchung oder Kompression der Zeit vergleichbar ist. Einer meiner postenzephalitischen Patienten pflegte zu sagen: «Mein Raum, unser Raum, hat nichts mit eurem Raum zu tun.»

Meine Kollegen und ich präsentierten diese Ergebnisse auf einer Tagung der Society for Neuroscience (vgl. Sacks, Fookson, et al., 1993).

Ray wird beschrieben in: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte.

Der bedeutende Psychiater Eugen Bleuler beschrieb das 1911: «Manchmal wird die Ruhe durch einen katatonen Raptus unterbrochen. Plötzlich springt der Patient auf, zerschlägt etwas, greift mit großer Gewandtheit und Kraft jemanden an. … Ein Katatoniker erwacht aus der Starre, radelt im Hemd drei Stunden lang herum, fällt und bleibt kataleptisch im Straßengraben liegen … Die Bewegungen werden oft mit großer Kraft, fast immer mit Anstrengung unnötiger Muskelgruppen gemacht … Das Maß für Kraft und Ausgiebigkeit der Bewegungen ist verloren gegangen. (Eugen Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, Leipzig und Wien 1911, S. 176)

1852 konnte Hermann von Helmholtz die Nervenleitgeschwindigkeit messen und kam auf rund 25 Meter pro Sekunde. Wenn wir Pflanzenbewegungen im Zeitraffer mit tausendfacher Beschleunigung zeigen, beginnt Pflanzenverhalten wie tierisches Verhalten auszusehen und kann sogar «intentional» wirken.

Pawlow führte seine berühmten Experimente über konditionierte Reflexe an Hunden durch, wobei der konditionierende Reiz gewöhnlich der Klang einer Glocke war, den die Hunde mit Futter zu assoziieren lernten. Doch einmal, im Jahr 1924, gab es eine gewaltige Überflutung im Labor, bei der die Hunde beinahe ertranken. Danach wurden die Tiere ihr Leben lang durch den Anblick von Wasser sensibilisiert, ja sogar in Schrecken versetzt. Extreme oder langdauernde Sensibilisierung liegt bei Hunden wie bei Menschen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) zugrunde.

Man ging damals allgemein von der Annahme aus, dass das Nervensystem ein Syncytium sei, eine zusammenhängende Masse von Nervengewebe. Erst in den 1880er und 1890er Jahren gelang es Ramón y Cajal und Waldeyer, die Existenz separater Nervenzellen – der Neuronen – nachzuweisen. Freud kam der Entdeckung dieses Sachverhalts in seinen frühen Studien allerdings schon sehr nahe.

Während seiner Zeit in Meynerts Labor veröffentlichte Freud eine Anzahl neuroanatomischer Studien, in denen er sich vor allem auf die Bahnen des Hirnstamms konzentrierte. Diese Forschungsarbeiten nannte er oft seine eigentliche wissenschaftliche Arbeit. Er beabsichtigte, anschließend einen allgemeinen Text über Hirnanatomie zu schreiben, aber das Buch wurde nie beendet. Nur eine sehr gekürzte Fassung erschien in Villarets Handwörterbuch der gesamten Medizin.

Wie Hughlings Jacksons Werk mit einer Art Schweigen oder Blindheit übergangen wurde (seine Selected Writings wurden erst 1931/32 in Buchform veröffentlicht), so traf auch Freuds Buch über Aphasie auf Nichtachtung. Bei seiner Veröffentlichung mehr oder weniger ignoriert, blieb Zur Auffassung der Aphasien viele Jahre lang praktisch unbekannt und vergriffen – selbst Henry Head erwähnt Freuds Schrift in seiner 1926 veröffentlichten großen Monographie über Aphasie mit keinem Wort. Erst 1953 wurde es ins Englische übersetzt. Freud selbst nannte es einen ziemlichen Misserfolg und stellte einen Vergleich mit der Rezeption seiner Arbeit über Zerebrallähmungen des Kindesalters an. Dem Missverhältnis zwischen dem eigenen Urteil über die persönliche Arbeit und dem anderer Menschen sei eine gewisse Komik eigen. Das zeige sein Buch über die Zerebrallähmung, das er fast nebenbei, mit einem Minimum an Interesse und Bemühen, zusammengeschrieben habe. Es sei ein Riesenerfolg gewesen. Doch für die wirklich guten Dinge wie «Aphasie» und «Zwangsvorstellungen», deren Veröffentlichung unmittelbar bevorstehe, und die geplante Ätiologie und Theorie der Neurosen könne er lediglich einen ziemlichen Misserfolg erwarten.

Das gleiche Problem wurde auch von Joseph Babinski angesprochen, einem anderen jungen Neurologen, der eine klinische Ausbildung bei Charcot absolvierte (und später einer der bekanntesten Neurologen Frankreichs wurde). Während Babinski genauso wie Freud zwischen organischen und hysterischen Lähmungen unterschied, kam er später, als er im Ersten Weltkrieg verwundete Soldaten untersuchte, zu dem Ergebnis, dass es noch einen «dritten Bereich» gebe: Lähmungen, Sensibilitätsstörungen und andere neurologische Probleme, die weder auf lokalisierten anatomischen Läsionen noch auf «Vorstellungen», sondern auf weiten «Feldern» synaptischer Hemmungen im Rückenmark und in anderen Körperbereichen beruhten. Babinski sprach in diesem Zusammenhang von einem syndrome physiopathique. Solche Syndrome, die sich manchmal nach umfangreichen physischen Verletzungen oder chirurgischen Eingriffen einstellen, stellen die Neurologen vor Rätsel, seit Silas Weir Mitchell sie zum ersten Mal im Amerikanischen Bürgerkrieg beschrieb, weil sie diffuse Körperbereiche beeinträchtigen können, die weder über eine spezifische Innervation noch über affektive Bedeutsamkeit verfügen.

Freud hat sein Manuskript niemals von Fließ zurückgefordert, und man glaubte es verloren, bis es in den 1950ern schließlich gefunden und veröffentlicht wurde – obwohl der Fund nur ein winziger Teil der vielen Entwürfe war, an denen Freud Ende des Jahres 1895 arbeitete.

Der unauflösliche Zusammenhang von Gedächtnis und Antrieb eröffnete nach Freud die Möglichkeit, bestimmte Gedächtnistäuschungen zu verstehen, die auf Intentionalität basieren: die Illusion, dass man einer Person geschrieben hätte, beispielsweise, wenn man in Wirklichkeit gar nicht geschrieben hat, sondern es nur beabsichtigte, oder dass man ein Bad einlaufen ließ, wenn man es tatsächlich nur vorhatte. Wir unterliegen keiner solchen Illusion, es sei denn, es ist ihr eine Absicht vorausgegangen.

Diese Episode schildert Dorothy Herrmann sehr verständnisvoll und eingehend in ihrer Keller-Biographie.

Dieser Aufsatz mit dem Titel «Sehen oder nicht Sehen» wurde später in meinem Buch Eine Anthropologin auf dem Mars veröffentlicht.

Hitchcocks Film Der falsche Mann (der einzige nichtfiktive Film, den er je drehte) dokumentiert die schrecklichen Konsequenzen einer Personenverwechslung aufgrund eines Augenzeugenberichtes (die Beeinflussung der Zeugen spielt hierbei, genau wie zufällige Ähnlichkeiten, eine große Rolle).

«bedeutender Tintenfisch, bei dem ALS diagnostiziert wurde»

Autisten oder geistig behinderte Menschen mit dem Savant-Syndrom können über eine bemerkenswerte Merk- und Reproduktionsfähigkeit verfügen, aber was behalten wird, wird vermutlich recht gleichgültig als etwas Äußerliches abgespeichert. Langdon Down, der 1862 das Down-Syndrom entdeckte, schrieb über einen jungen Savant, der «ein einmal gelesenes Buch auf immer im Gedächtnis behielt». Einmal gab Down dem Jungen eine Ausgabe von Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire zu lesen. Der Junge las das Werk vollständig und konnte es mühelos wiedergeben, allerdings ohne es zu verstehen. Er vergaß eine Zeile auf der Seite drei, doch kam schnell auf die entsprechende Stelle zurück und verbesserte sich. Down berichtet: «Danach hat er immer, wenn er Gibbons Ausführungen über die großen Epochen des Römischen Reichs auswendig hersagte, bei der Seite drei diese Zeile ausgelassen, ist zu der Stelle zurückgekehrt und hat sich verbessert – das alles so sorgfältig und unabänderlich, als wäre es Teil des ursprünglichen Textes.»

In seiner Autobiographie Ex-Prodigy schildert Norbert Wiener, der sein Promotionsstudium mit vierzehn Jahren an der Harvard University begann und sein Leben lang ein Prodigy – ein Wunderkind oder zumindest ein Ausnahmetalent – blieb, das Schicksal seines Zeitgenossen William James Sidis. Sidis (der den Namen seines Patenonkels William James trug) war ein brillanter, polyglotter Mathematiker, der sich mit elf an der Harvard University einschrieb, aber mit sechzehn, vielleicht den Anforderungen seines Genies und der Gesellschaft nicht mehr gewachsen, die Mathematik aufgab und sich aus der Öffentlichkeit und dem akademischen Leben zurückzog.

Zwar gab es Poes Dupin-Geschichten (zum Beispiel «Der Doppelmord in der Rue Morgue»), aber seine Protagonisten blieben blass neben den individuell und farbig gezeichneten Charakteren von Holmes und Watson.

Jacques Hadamard berichtet davon in seinem Buch Psychology of Invention in the Mathematical Field, Princeton 1945.

Es gibt viele ähnliche Geschichten über plötzliche wissenschaftliche Entdeckungen, die im Traum gemacht wurden. Einige sind bekannt und verbürgt, bei anderen wurde dem Mythos wohl etwas auf die Sprünge geholfen. Es heißt, der bedeutende russische Chemiker Mendelejew habe das Periodensystem in einem Traum entdeckt und es unmittelbar nach dem Aufwachen auf einen Umschlag gekritzelt. Den Umschlag gibt es, und auch der Bericht mag so, wie erzählt wird, stimmen. Aber er vermittelt den Eindruck, die Erkenntnis sei aus heiterem Himmel gekommen, während sich Mendelejew tatsächlich seit mindestens neun Jahren, seit der Karlsruher Konferenz im Jahr 1860, bewusst und unbewusst mit dem Problem herumschlug. Ohne Zweifel war er von der Frage besessen und beschäftigte sich auf seinen langen Zugreisen quer durch Russland stundenlang mit einem Stoß Karten, auf die er jedes Element mit seinem Atomgewicht geschrieben hatte. «Chemisches Solitär» nannte er das Spiel, bei dem er die Elemente hin und her schob und sie ständig umordnete. Doch als ihm die Lösung dann plötzlich vor Augen stand, geschah es zu einem Zeitpunkt, als er sich bewusst überhaupt nicht mit dem Problem beschäftigte.

David Shenk beschreibt das wunderbar in seinem Buch Das Vergessen.

Siehe auch Antonio Damasio und Gil B. Carvalho, «The Nature of Feelings: Evolutionary and Neurobiological Origins» (2013).

Im zweiten Jahrhundert meinte Aretäus, dass Patienten in einem solchen Zustand «des Lebens überdrüssig sind und gut daran täten zu sterben». Derartige Gefühle müssen, obwohl sie durch eine Störung des autonomen Gleichgewichts hervorgerufen werden, mit den «zentralen» Teilen des vegetativen Nervensystems verbunden sein, in denen Gefühl, Stimmung, Empfindungen und (Kern-)Bewusstsein vermittelt werden – Stammhirn, Hypothalamus, Amygdala und anderen subkortikalen Strukturen.

Étienne-Jules Marey war in Frankreich, wie Eadweard Muybridge in den Vereinigten Staaten, ein Pionier auf dem Gebiet der Serienfotografie – einer Reihe rasch aufeinanderfolgender Momentaufnahmen. Solche Fotoreihen konnten um die Trommel eines Zootropen drapiert werden, um einen kurzen «Film» zu erzeugen, mit Hilfe solcher Serienaufnahmen ließ sich eine Bewegung aber auch in ihre Einzelelemente zerlegen, sodass man die zeitliche Organisation und Biodynamik tierischer und menschlicher Bewegung analysieren konnte. Dem galt Mareys besonderes Interesse als Physiologe, und zu diesem Zweck überlagerte er seine Bilder – ein Dutzend oder zwanzig Bilder im Zeitraum einer Sekunde – auf einer einzigen Platte. Solche Komposit-Fotografien erfassten tatsächlich eine gewisse Zeitspanne; aus diesem Grund nannte man sie «Chronofotografien». Mareys Fotos wurden zum Vorbild für alle nachfolgenden wissenschaftlich-fotografischen Bewegungsstudien und auch zur Anregung für Künstler (man denke an Duchamps berühmten Akt, eine Treppe herabsteigend, den Duchamp selbst als «statisches Bewegungsbild» bezeichnete).

In ihrer faszinierenden Monographie Picturing Time beschreibt Marta Braun Mareys Werk, während Rebecca Solnit in River of Shadows: Eadweard Muybridge and the Technological Wild West Muybridge und seinen Einfluss untersucht.

Das habe ich selbst erlebt, nachdem ich Sakau getrunken hatte, ein in Mikronesien sehr beliebtes Rauschmittel. Ich habe seine Wirkung in einem Tagebuch festgehalten und später in meinem Buch Die Insel der Farbenblinden veröffentlicht:

Geisterhafte Blütenblätter leuchten an einer Blume auf dem Tisch, umgeben sie wie ein Halo; bewegt man sie, hinterlässt sie eine leichte Spur, einen visuellen Schmierschatten. Als ich eine Palme betrachte, die im Wind wedelt, sehe ich eine Folge von Standbildern, wie ein Film, der, zu langsam abgespult, seine Kontinuität verliert.

Wie ich in meinem Buch Der einarmige Pianist ausführe, kann die Musik mit ihrem rhythmischen Fluss von entscheidender Bedeutung für solche Erstarrungszustände sein, weil sie den Patienten ermöglicht, den Fluss ihrer Bewegungen, Wahrnehmungen und Gedanken wiederaufzunehmen. Manchmal scheint die Musik als eine Art Modell oder Vorlage für das Zeit- und Bewegungsgefühl zu dienen, das die Patienten vorübergehend verloren haben. So wird ein Parkinson-Patient mitten in einem Stillstand möglicherweise in die Lage versetzt, sich zu bewegen oder sogar zu tanzen, wenn ihm Musik vorgespielt wird. Neurologen verwenden übrigens intuitiv musikalische Begriffe, wenn sie den Parkinsonismus als «Bewegungsstottern» und normale Bewegungen als «Bewegungsmelodie» bezeichnen.

Es gibt keine Paradigmen oder Konzepte, die den Forschern völlig unvorbereitet in den Schoß fallen, mögen sie auch noch so originär sein. Zwar entstanden die Populationstheorien in Bezug auf das Gehirn erst in den 1970er Jahren, doch es gab fünfundzwanzig Jahre zuvor einen wichtigen Vorläufer: The Organization of Behavior, Donald Hebbs bekanntes Buch aus dem Jahr 1949. Hebb versuchte, die große Kluft zwischen Neurophysiologie und Psychologie mit einer allgemeinen Theorie zu schließen, die neuronale Prozesse mit mentalen verknüpfte und insbesondere zeigte, wie Erfahrung das Gehirn verändern kann. Das Potenzial für solche Veränderungen war nach Hebbs Überzeugung in den Synapsen angesiedelt, die die Gehirnzellen miteinander verbinden. Hebbs Hypothese wurde bald bestätigt und schuf die Voraussetzung für neue Denkweisen. Wir wissen heute, dass ein einziges Neuron in unserem Gehirn bis zu zehntausend Synapsen besitzen kann und dass das Gehirn bis zu hundert Billionen solche Verbindungsstellen aufweist. Folglich sind die Veränderungsmöglichkeiten praktisch unbegrenzt. Jeder Neurowissenschaftler in der Bewusstseinsforschung ist also Hebb verpflichtet.

Einen sehr lebendigen und persönlichen Bericht über ihre gemeinsame Arbeit und die Suche nach der neuronalen Basis des Bewusstseins liefert Koch in seinem Buch Bewusstsein, ein neurologisches Rätsel.

Eine Hypothese zur Erklärung der Bindungsmechanismen geht von der Synchronisation der Aktivität in einer Reihe sensorischer Areale aus. Manchmal klappt der Prozess nicht. Crick berichtete 1994 in seinem Buch The Astonishing Hypothesis (dt.: «Was die Seele wirklich ist», München 1994) von einem komischen Scheitern dieser Zusammenbindung der Attribute. Ein Freund habe auf einer belebten Straße einen Kollegen «gesehen» und machte bereits Anstalten, ihn anzusprechen, als er bemerkt habe, dass der schwarze Bart zu einem anderen Passanten gehörte, während wieder ein anderer Besitzer der Glatze und der Brille gewesen sei.

Der Begriff «Wahrnehmungsmoment» wurde erstmals in den 1950er Jahren von dem Psychologen J.M. Stroud in dem Artikel «The Fine Structure of Psychological Time» verwendet. Der Wahrnehmungsmoment war für ihn der kleinste Baustein der psychologischen Zeit, jene Dauer (ungefähr eine Zehntelsekunde, so schätzte er aufgrund seiner Experimente), die erforderlich war, um sensorische Informationen zu einer Einheit zusammenzufassen. Aber wie Crick und Koch anmerken, blieb Strouds Hypothese des «Wahrnehmungsaugenblicks» praktisch ein halbes Jahrhundert unbeachtet.

In seinem wunderbaren Buch A Natural History of Vision zitierte Nicholas Wade Seneca, Ptolemäus und andere klassische Autoren, weil sie alle wussten, dass eine brennende Fackel, die schnell im Kreis geschwungen wird, einen anscheinend kontinuierlichen Feuerring bildet, und daraus schlossen, dass es eine beträchtliche Fortdauer oder Beharrung von visuellen Bildern (oder, wie Seneca es ausdrückte, eine «Langsamkeit» des Sehens) geben musste. 1765 wurde eine beeindruckend akkurate Messung dieser Dauer vorgenommen – danach betrug sie 8/60 Sekunden –, doch erst im 19. Jahrhundert wurde der Phi-Effekt systematisch in Geräten wie dem Zootrop genutzt. Es scheint auch, dass Bewegungstäuschungen, die dem Wagenrad-Effekt ähneln, bereits seit mehr als zweitausend Jahren bekannt sind.

Crick und Koch schlagen eine alternative Erklärung vor (persönliche Mitteilung): Das Verschwimmen und Fortbestehen von Momentaufnahmen liegt daran, dass sie ins Kurzzeitgedächtnis gelangen (oder in einen kurzzeitigen visuellen Zwischenspeicher) und dort langsam zerfallen.

Armitage, ein ehemaliger Direktor an meiner eigenen Schule, veröffentlichte sein Buch 1906, um seine Schüler für die Naturwissenschaften zu begeistern – allerdings, wie mir heute scheinen will, da ich es mit anderen Augen sehe, nicht ohne einen gewissen romantischen und chauvinistischen Zug, schien es ihm doch nicht zuletzt darum zu gehen, dass es die Engländer und nicht die Franzosen waren, die den Sauerstoff entdeckten.

William Brock sieht es in seiner History of Chemistry etwas anders. «Frühere Historiker der Chemie verwiesen gern auf eine enge Verwandtschaft zwischen Mayows Erklärung und der späteren Sauerstofftheorie der Kalzination», schreibt er. Aber solche Ähnlichkeiten, so Brock, «sind oberflächlich, weil Mayows Erklärung eine mechanische und keine chemische Verbrennungstheorie war. Sie bedeutete die Rückkehr zu einer dualistischen Welt der Prinzipien und okkulten Mächte.»

Alle großen Neuerer des 17. Jahrhunderts, Newton eingeschlossen, stehen immer noch mit einem Bein in der mittelalterlichen Welt der Alchemie, diesem hermetischen und okkulten Gedankengebäude. Bei Newton hielt das intensive Interesse an Alchemie und esoterischen Lehren bis an sein Lebensende an. (Diese Tatsache geriet lange in Vergessenheit, bis John Maynard Keynes sie zur allgemeinen Überraschung in seinem Essay «Newton, the Man» 1946 wieder publik machte. Heute gilt die Überschneidung zwischen «moderner» und «okkulter» Wissenschaft im Klima des 17. Jahrhunderts als erwiesen.)

Duchennes berühmtester Student, Jean-Martin Charcot, meinte: «Wie kann es sein, dass eine Krankheit, die so häufig, verbreitet und auf den ersten Blick diagnostizierbar ist … erst jetzt erkannt wird? Warum musste erst Monsieur Duchenne kommen, um uns die Augen zu öffnen?»

Als ich 1970 in der Erstausgabe meines Buchs Migräne die Phänomene der Migräne-Aura beschrieb, konnte ich lediglich feststellen, dass sie im Rahmen existierender theoretischer Konzepte «unerklärlich» seien. Doch 1992 konnte ich mit der Hilfe meines Kollegen Ralph M. Siegel ein Kapitel hinzufügen, in dem wir diese Phänomene im neuen Licht der Chaostheorie erörterten.

Eine ähnliche Abfolge zeigte sich in der «medizinischen» Psychiatrie. Wenn man sich die Krankenberichte der Patienten ansieht, die in den 1920er und 1930er Jahren in staatlichen Krankenhäusern und Heimen stationär behandelt wurden, findet man außerordentlich detaillierte klinische und phänomenologische Beobachtungen, die oft in Erzählungen von fast romanhafter Vielfalt und Dichte eingebettet sind (man denke nur an die klassischen, um die Jahrhundertwende entstandenen Beschreibungen von Kraepelin und anderen). Mit Einführung der strengen diagnostischen Kriterien und Handbücher (die Diagnostic and Statistical Manuals oder DSMs) sind Vielfalt, Liebe zum Detail und phänomenologische Offenheit verschwunden. Stattdessen findet man spärliche Anmerkungen, die kein wirkliches Bild des Patienten oder seiner Welt vermitteln und seine Krankheit auf eine Liste von «größeren» oder «kleineren» diagnostischen Kriterien reduzieren. Heute haben die Krankenberichte in psychiatrischen Krankenhäusern die Informationstiefe und -dichte älterer Berichte fast ganz verloren und werden uns kaum dabei helfen, jene Synthese aus Neurowissenschaft und Psychiatrie zustande zu bringen, die wir dringend brauchen. Aber die «alten» Fallgeschichten und Krankenberichte werden auch weiterhin unentbehrlich sein.

Die Erforschung von Phantomgliedern hat in den letzten Jahrzenten durch eine große Zahl von Kriegsamputierten stark an Interesse gewonnen. Dadurch wurden neue Erkenntnisse erzielt und die moderne Prothesentechnik erheblich weiterentwickelt. In meinem Buch Drachen, Doppelgänger und Dämonen gehe ich ausführlicher auf das Syndrom der Phantomglieder ein.

Der Maler Mr. I. verfügte über eine normale Fähigkeit zum Farbensehen, bis er einen Autounfall hatte und plötzlich seine Farbwahrnehmung komplett einbüßte – er hatte also eine «erworbene» Achromatopsie (Farbenblindheit), wie ich in dem Buch Eine Anthropologin auf dem Mars schildere. In Der Insel der Farbenblinden berichte ich allerdings, dass es auch Menschen gibt, die unter angeborener Achromatopsie leiden.

Zu Damasios Einschätzung vgl. seinen Artikel aus dem Jahr 1980 in: Neurology, «Central Achromatopsie: Behavioral, Anatomic, and Physiologic Aspects». Zekis Bericht über Verrey und andere erschien 1990 in einem Forschungsüberblick in: Brain, «A Century of Cerebral Achromatopsia».

Zihls Fall wird eingehender im vorausgehenden Kapitel «Der Strom des Bewusstseins» beschrieben.

Darwin verwies auf die Bedeutung der «negativen Beispiele» oder «Ausnahmen» und erklärte, es sei wichtig, sie sich sofort zu notieren, weil sie sonst «mit Sicherheit vergessen» würden.

Stents Artikel, «Prematurity and Uniqueness in Scientific Discovery», erschien Dezember 1972 im Scientific American. Als ich W.H. Auden zwei Monate später in Oxford besuchte, war er außerordentlich fasziniert von Stents Artikel, und wir haben lange über ihn diskutiert. Auden verfasste eine längere Erwiderung auf Stent, in der er die Ideengeschichten von Kunst und Wissenschaft miteinander verglich; dieser Artikel erschien 1973 in der Märzausgabe des Scientific American.

Darwin legte großen Wert auf die Feststellung, dass er keine Vorläufer habe, dass der Evolutionsbegriff nicht in der Luft gelegen habe. Trotz seiner berühmten Äußerung, er stehe «auf den Schultern von Riesen», leugnete auch Newton, irgendwelche Vorgänger gehabt zu haben. Diese «Furcht vor Einfluss» (die Harold Bloom so schlüssig für die Literaturgeschichte nachgewiesen hat) ist auch in der Wissenschaftsgeschichte sehr wirkungsmächtig. Um die eigenen Ideen wirksam zu entwickeln und darzulegen, muss man vielleicht glauben, dass andere unrecht haben; nach Blooms Auffassung ist es unter Umständen sogar erforderlich, andere misszuverstehen und sich (möglicherweise unbewusst) gegen sie zu wehren. (Nietzsche schreibt: «Jede Begabung muss sich kämpfend entfalten.»)

Darwin selbst war häufig entsetzt über die Mechanismen der Natur, deren Wirkungsweise er so deutlich erkannte. Das brachte er 1856 in einem Brief an seinen Freund Joseph Hooker zum Ausdruck: «Welch ein Buch könnte des Teufels Kaplan schreiben, über die ungeschickten, verschwenderischen, fehlerhaft niederträchtigen und grausamen Werke der Natur!»

Humphry Davy war wie Agassiz ein Genie des konkreten und analogen Denkens. Ihm fehlte die Fähigkeit zu abstrakten Verallgemeinerungen, die bei seinem Zeitgenossen John Dalton so ausgeprägt war (Dalton verdanken wir unter anderem die Grundlagen der Atomtheorie), und das Vermögen zu umfassender Systematisierung, das Berzelius, einen anderen seiner Zeitgenossen, auszeichnete. Während Davy noch 1810 als der «Newton der Chemie» gefeiert wurde, war er fünfzehn Jahre später nur noch eine unbedeutende Randfigur. Der Aufstieg der organischen Chemie mit Wöhlers Synthese des Harnstoffs im Jahr 1828 – ein neues Gebiet, für das Davy weder Interesse noch Verständnis aufbrachte – begann augenblicklich die «alte», anorganische Chemie zu verdrängen und trug dazu bei, dass Davy in den letzten Jahren das Gefühl hatte, völlig unzeitgemäß zu sein.

Jean Améry schildert in seinem höchst lesenswerten Buch Über das Altern, wie quälend das Gefühl der Bedeutungslosigkeit und Obsoleszenz sein kann, insbesondere das Gefühl, durch die Entwicklung neuer Methoden, Theorien oder Systeme aus der Mode gekommen zu sein. In der Wissenschaft kann diese Obsoleszenz fast unvermittelt eintreten, wenn es zu einem grundlegenden Wandel des Denkens kommt.

Anmerkungen

Charles Darwin, Mein Leben, Frankfurt/M., 2008, S. 147.

Darwin, Mein Leben, S. 138.

Charles Darwin, Über die Einrichtungen zur Befruchtung Britischer und ausländischer Orchideen durch Insekten und über die günstigen Erfolge der Wechselbefruchtung, Stuttgart 1862, S. 1f.

Francis Darwin, Charles Darwin. Sein Leben. Dargestellt in einem autobiographischen Capitel und in einer ausgewählten Reihe seiner veröffentlichten Briefe, Stuttgart 1893, S. 335.

Francis Darwin, Charles Darwin. Sein Leben, S. 343ff.

Charles Darwin, Insectenfressende Pflanzen, Stuttgart 1876, S. 2.

Darwin, Insectenfressende Pflanzen, S. 7f.

A.a.O., S. 226.

A.a.O., S. 288.

Charles Darwin, Das Bewegungsvermögen der Pflanzen, Stuttgart 1881, S. 491f.

Francis Darwin, Charles Darwin. Sein Leben, S. 336.

Ebd.

H.G. Wells, «Der neue Beschleuniger», in: Das Kristallei. Erzählungen, Leipzig 1987, S. 235.

H.G. Wells, Die ersten Menschen auf dem Mond, Frankfurt am Main u.a. 1982, S. 76f.

Hannah Arendt, «Das Denken», in: Vom Leben des Geistes, Bd. 1, München 1979, S. 202–206.

Zitiert in: Wolfgang Hermann Moissl, Jenseits und Bewusstsein, Nürnberg 2016, S. 29.

Zitiert in: Kurt Behringer, Der Meskalinrausch, Heidelberg 1969, S. 108.

F.M. Dostojewski, Die Dämonen, München und Zürich 1977, S. 867f.

Henri Michaux, Die großen Zerreißproben, Frankfurt am Main 1970, S. 24f.

H. G. Wells, «Der neue Beschleuniger», S. 240.

Charles Darwin, Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer mit Betrachtungen über deren Lebensweise, Nachdruck der Ausgabe von 1882, Berlin und Schlechterwegen, S. 145f.

A.a.O., S. 13.

A.a.O., S. 54.

Ebd.

Konrad Lorenz, Vergleichende Verhaltensforschung. Grundlagen der Ethologie, Wien 1978, S. 212.

Sigmund Freud/Karl Abraham, Briefwechsel 1907–1925, Bd. 2, Wien 2009, S. 779.

Sigmund Freud, Zur Auffassung der Aphasien, Leipzig und Wien 1891, S. 56.

Sigmund Freud, Zur Auffassung der Aphasien, S. 57.

Original französisch: Sigmund Freud, «Quelques considérations pour une étude comparative des paralysies motrices organiques et hystériques», Gesammelte Werke, London 1952, S. 50f.

Freud an Fließ, Brief vom 25.5.1895.

Sigmund Freud, Studien über Hysterie, GW, Bd. 1, S. 86.

Oliver Sacks, Onkel Wolfram. Erinnerungen, Reinbek 2001, S. 29f.

A.a.O., S. 30.

Daniel L. Schacter, Wir sind Erinnerung, Reinbek 1999, S. 464.

Zitiert in: Anderson, John R., Kognitive Psychologie, Heidelberg u.a. 1996, S. 263.

E.O. Wilson, Die Hälfte der Erde, München 2016, E-Book.

Wagner, Richard, Mein Leben, München 1963, S. 510f.

Emil du Bois-Reymond, «Zur Kenntnis der Hemikrania», Archiv für Anatomie, Physiologie und wissenschaftliche Medicin, Jg. 1860, Leipzig 1860, S. 462.

Ebd.

Oliver Sacks, Migräne, Reinbek 1996, S. 66.

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Werke in sechs Bänden, Bd. III., München 1980, S. 10.

Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Reinbek 1990, S. 50.

Fußnote: Oliver Sacks, Die Insel der Farbenblinden, Reinbek 1997, S. 114f.

Hermann von Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, Leipzig 1867, S. 338.

Gerald M. Edelman, Das Licht des Geistes, Düsseldorf und Zürich 2004, S. 24.

Christopher Isherwood, Leb wohl Berlin, Hamburg 2014. E-Book.

Wolfgang Köhler, «Über unbemerkte Empfindungen und Urteilstäuschungen», Zeitschrift für Psychologie, 66 (1913), S. 51–80; hier S. 68.

Nietzsche-Zitat in der Fußnote: Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern, in: Werke in sechs Bänden, Bd. V, München 1980, S. 296.

Charles Darwin, Leben und Briefe, mit einem seine Autobiographie enthaltenden Capitel, hg. v. seinem Sohn Francis Darwin, Bd. 1, Stuttgart 1887, S. 137.

https://de.wikipedia.org/wiki/A_Devil%E2%80%99s_ Chaplain»cite_note-1

Alexander R. Lurija, Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Zwei neurologische Geschichten, Reinbek 1995.

Für Bob Silvers

Vorwort

Zwei Jahre vor seinem Tod im August 2015 skizzierte Oliver Sacks den Inhalt von Der Strom des Bewusstseins, dem letzten Buch, das er noch selbst in die Wege leiten konnte, und beauftragte uns drei, für seine Veröffentlichung zu sorgen.

Einer von vielen Auslösern dieses Buchs war der Umstand, dass Sacks 1991 von einem holländischen Filmemacher eingeladen worden war, an der dokumentarischen Fernsehserie A Glorious Accident teilzunehmen. In der letzten Folge setzten sich sechs Wissenschaftler – der Physiker Freeman Dyson, der Biologe Rupert Sheldrake, der Paläontologe Stephen Jay Gould, der Wissenschaftshistoriker Stephen Toulmin, der Philosoph Daniel Dennett und Dr. Sacks – gemeinsam an einen Tisch, um einige der wichtigsten Fragen der naturwissenschaftlichen Forschung zu erörtern: den Ursprung des Lebens, die Bedeutung der Evolution, das Wesen des Bewusstseins. In einer lebhaften Diskussion zeigte sich eines sehr deutlich: Sacks vermochte sich mühelos zwischen allen Disziplinen zu bewegen. Sein wissenschaftliches Verständnis beschränkte sich nicht auf die Neurowissenschaft oder die Medizin; er begeisterte sich für alle Probleme, Ideen und Fragen der Naturwissenschaften. Diese umfassenden Kenntnisse und sein leidenschaftliches Interesse bestimmen den Horizont des vorliegenden Buchs, in dem er sich nicht nur mit dem Wesen menschlicher Erfahrung befasst, sondern dem des ganzen Lebens (einschließlich des botanischen).

In Der Strom des Bewusstseins betrachtet er Evolution, Botanik, Chemie, Medizin, Neurowissenschaft und die Kunst, wobei er sich auf seine großen wissenschaftlichen und kreativen Helden beruft – allen voran Darwin, Freud und William James. Von frühester Jugend an waren diese Autoren für Sacks ständige Begleiter, weshalb sich ein Großteil seines Werks als ein erweitertes Gespräch mit ihnen verstehen lässt. Wie Darwin war er ein genauer Beobachter und begeisterter Sammler von Proben aus der Pflanzen- und Tierwelt, von denen er viele dank seiner sehr umfangreichen Korrespondenz mit Patienten und Kollegen erhielt. Wie Freud trieb es ihn, menschliches Verhalten in seinen rätselhaftesten Manifestationen zu verstehen. Wie James bleibt Sacks, auch wenn er theoretische Gegenstände wie Zeit, Gedächtnis und Kreativität untersucht, der Besonderheit konkreter Erfahrung verpflichtet.

Dr. Sacks wollte das vorliegende Buch Robert Silvers widmen, der mehr als 30 Jahre lang sein Herausgeber, Mentor und Freund war und eine Anzahl der hier versammelten Aufsätze in The New York Review of Books veröffentlichte.

 

Kate Edgar, Daniel Frank und Bill Hayes

Kapitel eins Darwin und der Sinn der Blumen

Wer kennt die Geschichte nicht: Der zweiundzwanzigjährige Charles Darwin heuert auf der Beagle an und fährt bis ans Ende der Welt; Darwin in Patagonien; Darwin in den argentinischen Pampas (wo es ihm gelingt, seinem Pferd ein Lasso um die Beine zu werfen); Darwin in Südamerika, wo er die Knochen riesenhafter ausgestorbener Tiere sammelt; Darwin in Australien, wo er – immer noch religiös – beim Anblick eines Kängurus staunt («Gewiss müssen hier zwei verschiedene Schöpfer am Werk gewesen sein»). Und, natürlich, Darwin auf dem Galápagos-Archipel, wo er feststellt, dass die Finken auf jeder Insel anders aussehen; und wo er eine bahnbrechende Idee hat, eine neue Vorstellung von der Evolution der Lebewesen, die ein Vierteljahrhundert später zur Veröffentlichung der Entstehung der Arten führen sollte.

Mit der Veröffentlichung der Entstehung im November 1859 erreicht die Geschichte ihren Höhepunkt – und wird noch mit einer Art elegischem Nachspiel versehen: dem Bild eines ältlichen und kränkelnden Darwin, der in den gut zwanzig Jahren, die ihm verbleiben, ziemlich plan- und ziellos im Garten seines Anwesens Down House herumwerkelt; vielleicht noch ein oder zwei Bücher schreibt, obwohl sein Hauptwerk längst vollendet ist.

Nichts könnte falscher sein. Darwin blieb äußerst empfänglich für Kritik wie für Belege, die seine Theorie der natürlichen Selektion untermauerten. Das veranlasste ihn, nicht weniger als fünf Ausgaben der Entstehung herauszubringen. Gewiss hätte er sich nach 1859 in seinen Garten und zu seinen Gewächshäusern zurückziehen können (rund um Down House gab es weitläufige Ländereien und fünf Gewächshäuser), doch für ihn wurden sie zu einem kriegerischen Arsenal, das ihm dazu diente, die Kritiker draußen mit immer neuen Beweisen zu beschießen – Beschreibungen ungewöhnlicher Strukturen und Verhaltensweisen von Pflanzen, die sich nur schwer auf einen einzelnen Schöpfungsakt oder auf Design zurückführen ließen – eine Fülle von Belegen für Evolution und natürliche Selektion, die weit überwältigender war als alles, was er in der Entstehung vorgelegt hatte.

Seltsamerweise schenken selbst Darwin-Forscher seinem botanischen Werk relativ wenig Aufmerksamkeit, obwohl es sechs Bücher und gut siebzig Artikel umfasst. So schrieb Duane Isely 1994 in seinem Buch One Hundred and One Botanists, dass zwar

mehr Bücher über Darwin geschrieben wurden als über irgendeinen anderen Biologen, der jemals gelebt hat … Aber er wird nur selten als Botaniker dargestellt … Die Tatsache, dass er einige Bücher über seine Pflanzenforschung geschrieben hat, findet zwar recht oft beiläufige Erwähnung in der Darwin-Literatur, aber doch meist so mit dem Unterton: «Selbst ein großer Mann muss hin und wieder spielen.»

Darwin hatte immer eine besondere Vorliebe und große Bewunderung für Blumen. («Ich hatte immer Freude daran, die Pflanzen in der Rangordnung organisierter Wesen höher zu stufen»[1]). Er wuchs in einer botanischen Familie auf – sein Großvater Erasmus Darwin hatte The Botanic Garden, ein umfangreiches zweibändiges Werk, verfasst, und Darwin selbst wuchs in einem Haus auf, dessen weitläufige Gärten nicht nur mit Blumen gefüllt waren, sondern auch mit verschiedenen Spielarten von Apfelbäumen, die für erhöhte Widerstandskraft gezüchtet worden waren. Die einzigen Vorlesungen, die Darwin als Student in Cambridge regelmäßig besuchte, waren die des Botanikers J.S. Henslow, und es war Henslow, der die außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Studenten erkannte und ihn für eine Stellung auf der Beagle empfahl.

Beagle