Christian Bommarius

1949

Das lange deutsche Jahr

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Inhaltsübersicht

Über Christian Bommarius

Christian Bommarius, Jahrgang 1958, studierte Germanistik und Rechtswissenschaft. Nach journalistischen Stationen, etwa als Korrespondent beim Bundesverfassungsgericht, war er von 1998 bis 2017 Redakteur der Berliner Zeitung. Seit 2018 ist er Kommentator der Süddeutschen Zeitung. Für sein publizistisches Werk wurde Bommarius der Heinrich-Mann-Preis verliehen.

Impressum

© 2018 der eBook-Ausgabe Droemer eBook

© 2018 Droemer Verlag

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

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Coverabbildung: AKG Images

ISBN 978-3-426-45279-0

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Für Emmi

»Die Qualität ist doch nicht ›made in Germany‹, sondern: Was denkt er über Menschenrechte?«

Robert M. W. Kempner, Ankläger einer Epoche

 

»Man muss die Demokratie als diejenige Staats- und Gesellschaftsform bestimmen, welche vor jeder anderen inspiriert ist von dem Gefühl und Bewusstsein der Würde des Menschen.«

Thomas Mann, Vom zukünftigen Sieg der Demokratie (1938)

Einleitung

Im Frühjahr 1949 begann in der Mitte Europas ein auf den ersten Blick bizarres Experiment. Ausgerechnet auf den Ruinen im Westen des politisch, wirtschaftlich und vor allem moralisch bankrotten Deutschland sollte eine Demokratie entstehen. Das Experiment musste gelingen, weil von den drei westlichen Besatzungsmächten im Kalten Krieg ein demokratisches Westdeutschland benötigt wurde. Andererseits waren die Erfolgsaussichten besorgniserregend, denn die Westdeutschen waren auch Jahre nach dem Ende des Weltkriegs auf die Demokratie nicht vorbereitet.

Die westlichen Siegermächte betrachteten Westdeutschland als Baustein im »Bollwerk gegen den Bolschewismus«. Schon am 1. Januar 1947 hatten die USA und Großbritannien ihre Zonen zu einem Wirtschaftsgebiet, der Bizone, vereint – die Bildung der Trizone mit Frankreich folgte im März 1948 –, die Londoner Sechsmächtekonferenz hatte in der ersten Jahreshälfte 1948 den Weg zur Gründung des deutschen Weststaats geebnet, mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 wurde Deutschland endgültig in zwei Wirtschaftsgebiete – Ost und West – geteilt, westdeutschen Politikern am 1. Juli der Auftrag zur Vorbereitung der westdeutschen Staatsgründung erteilt. Als die provisorische Verfassung um null Uhr des 23. Mai 1949 in Kraft trat, stellte sich der Welt zwar eine neue Demokratie unter dem Namen »Bundesrepublik Deutschland« vor, deren Institutionen von Anfang an reibungslos funktionierten.

Aber eine Demokratie ist mehr als das System und seine Institutionen. Fehlt den Bürgern das demokratische Bewusstsein, fehlt der Demokratie die Substanz. 1949, vier Jahre nach Kriegsende, konnte von einem demokratischen Bewusstsein der Mehrheit der Westdeutschen keine Rede sein. Erfahrene amerikanische Journalisten, von der US-Militärregierung beauftragt, berichteten besorgt, »dass die Deutschen aller Altersstufen nur geringe Fortschritte in der Richtung auf ein demokratisches Denken gemacht« hätten. Im Gegenteil, der demokratische Gedanke verliere sogar an Boden, der Nationalismus lebe wieder auf. Der Optimismus mancher alliierter Beobachter unmittelbar nach der Befreiung Deutschlands, der Gedanke an Krieg, Einparteistaat und Diktatur werde den Deutschen, vor allem der Jugend, für immer zuwider sein, hatte sich längst verflüchtigt und war tiefer Skepsis gewichen.

»Nachdem Generationen im nationalistischen Geist erzogen und mit ihm durchtränkt worden sind«, sagte Alonzo G. Grace, Direktor für das Erziehungswesen in der amerikanischen Zone, »wäre man reichlich naiv, wenn man erwartete, dass sich ein Volk innerhalb von drei Jahren ändern würde.« Die Westdeutschen selbst haben die an sie gerichtete Erwartung, dem Nationalismus, dem Glauben an das Deutschtum, der Intoleranz und der autoritären Erziehung endgültig Valet zu sagen, damals brüskiert zurückgewiesen und sich – zumindest eine große Mehrheit – zu ihrem »Volkstum« bekannt. US-Militärgouverneur Lucius Clay wollte amerikanische Erzieher in Deutschland 1949 mit einer Rede ermuntern, aber der resignative Ton ist unüberhörbar: »Wir haben keine Alternative. Die Deutschen müssen leben können. Was sie mit diesem Potenzial tun, hängt davon ab, was es ihren Herzen und ihrem Geist bedeutet. Auf Ihnen (den Erziehern, d. Verf.) ruht die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass ihre Herzen und ihr Geist es zum allgemeinen Wohl gebrauchen und nicht, wie bisher so oft, zu Angriffszwecken. Sie stehen jetzt erst am Anfang dessen, was sie auf diesem Gebiet erreichen können.« Mit anderen Worten: Am Ende des langen deutschen Jahres, das im Sommer 1948 begonnen hatte, war in Deutschland zwar eine Demokratie entstanden. Aber die Demokraten folgten erst Jahre später.

Juli 1948

Im Jahr 1948 ist das Bündnis der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs längst zerbrochen. Der Kalte Krieg zwischen den USA und der UdSSR beherrscht das weltpolitische Geschehen. Im Mittelpunkt steht das in vier Besatzungszonen zerlegte Deutschland mit der zerbombten, ebenfalls in vier Sektoren geteilten Hauptstadt Berlin. Ein Schritt zur dauerhaften Teilung Deutschlands ist die Währungsreform im Juni, auf die die Sowjetunion mit der Blockade Berlins reagiert. Am 1. Juli wird den Westdeutschen die Demokratie befohlen. Die elf Ministerpräsidenten werden von den Militärgouverneuren der drei westlichen Besatzungsmächte mit der Bildung eines westdeutschen Teilstaates beauftragt. Bis spätestens 1. September haben sie eine »Verfassunggebende Versammlung« einzuberufen, die eine »demokratische Verfassung« ausarbeiten und »Garantien der individuellen Freiheiten und Rechte« schaffen soll.

Drei Hühner – schwarz, weiß, rot –, eine ausgebombte Wohnung in Berlin, ein Gartenhaus in Wilhelmshorst bei Potsdam in der sowjetischen Zone, Erbsen, Bohnen und Kartoffeln zur Selbstverpflegung, gelegentlich Strom und Wasser, Hunger als beständiges Lebensgefühl. Friedrich Helms, 65 Jahre alt, früher national gestimmter Sozialdemokrat, seit zwei Jahren lustloser SED-Genosse, vormals »Direktor« bei der Deutschen Bank, jetzt Handlanger in der Bank-Filiale in Charlottenburg (britischer Sektor).

Seine Hilfsdienste: Umtausch der Reichsmark in D-Mark, stundenlang, tagelang, von morgens bis abends. Vor seiner Rückkehr nach Wilhelmshorst hat Helms – bei Strafe – seinen Verdienst in D-Mark in Ost-Mark umzutauschen. Sein Hunger ist nicht konvertibel. Er begleitet ihn morgens von Ost nach West, abends von West nach Ost. Friedrich Helms hätte gerne eine Erklärung. Ihn interessiert, für was er bestraft wird. Es sei offensichtlich, schreibt er im Tagebuch, dass Deutschland in zwei Weltkriegen so klein wie möglich gemacht werden sollte. Jedem müsse klar sein, dass die Schuld am Zweiten Weltkrieg keineswegs einseitig sei. Warum gehen dann er und seine Frau Marie, bis Kriegsende Parteigenossin, jeden Abend mit Hunger ins Bett? An diesem 1. Juli hat er nur drei bis vier dünne Scheiben Brot gegessen, geröstet und ohne Aufstrich. Die Leidtragenden, klagt Helms, sind wir.

 

 

Vielleicht hat Thomas Mann im kalifornischen Exil inzwischen die Nase voll von den deutschen Kalamitäten. Von den Nazis ausgebürgert, hatte der Schriftsteller vor zehn Jahren den amerikanischen Boden mit dem Bekenntnis betreten: »Wo ich bin, ist Deutschland. Ich trage meine deutsche Kultur in mir.« Noch vor drei Jahren hat er in einer seiner BBC-Ansprachen an die Deutschen immerhin Verständnis gezeigt für die Bewohner des militärisch, politisch, wirtschaftlich und moralisch verwüsteten Landes: »Ihr seid des Todes, der Zerstörung, des Chaos übersatt, wie sehr Euer Heimlichstes zeitweise auch danach verlangt haben möge. Ihr wollt Ordnung und Leben, eine neue Lebensordnung, wie düster und schwer sie sich für Jahre auch anlassen wird.« Doch jetzt, da es endlich ernst wird mit der neuen Lebensordnung, registriert Thomas Mann zwar knapp die Verschärfung des Berliner Konflikts. Seinen Tagebucheintrag aber beginnt er mit der Nachricht: »Der Pudel, gestern völlig krank und wild, neuerdings in die Klinik.«

 

 

In Deutschland meldet sich Eugen Kogon zu Wort, Publizist und ehemaliger Gefangener im KZ Buchenwald, der schon vor zwei Jahren den Deutschen in einem Buch Einzelheiten über das Innenleben des »SS-Staats« verraten hat, den viele kaum von außen bemerkt haben wollten. Jetzt aber redet Kogon nicht den Deutschen ins Gewissen, sondern den Alliierten. Ihr Verhältnis zur »deutschen Demokratie« verlange endlich, drei Jahre nach dem Krieg, ein System verbindlichen Rechts, nicht dieses ewige Hin und Her von Entgegenkommen, Befehlen, Verhandlungen und Willkürmaßnahmen. Alles gehe viel zu langsam voran, es müsse endlich Schluss sein mit dem missvergnügten Zögern der Besatzungsmächte. Natürlich kennt Kogon den Grund des Zögerns ganz genau. Die Siegermächte, schreibt er, sähen sich durch die weltpolitischen Verhältnisse gezwungen, einen Partner aufzubauen, den sie eigentlich gar nicht wollten: »Ist es nicht so?«

 

 

In diesem Sommer, in dem die Deutschen nach einer neuen Lebensform suchen, aber – im Westen – vor allem die Läden stürmen, deren Regale sich mit der Währungsreform am 20. Juni 1948 über Nacht füllen, in diesem Sommer, in dem in Washington, London und Paris und selbstverständlich auch in Berlin der Dritte Weltkrieg erwartet wird, erhält Thomas, ein vierzehn Jahre alter Schüler eines Göttinger Gymnasiums, ein Zeugnis des historischen Bewusstseins seines Lehrkörpers. Nachdem sein Lehrer die Bombardierung Hamburgs durch die Alliierten als »beispiellose Barbarei« beklagt hat, hebt Thomas die Hand. Er fragt: »Und die Bombardierung von London durch die Deutschen? Und wie ist das mit den Menschen, die in den Konzentrationslagern ermordet wurden?« Der Lehrer bestreitet den Unterschied zwischen Konzentrationslagern und alliiertem Bombardement, und Thomas verlässt das Klassenzimmer. In einer Schule ein unerhörter Vorgang, aber vielleicht doch nicht ganz so unerhört, wenn man weiß, dass Thomas – anders als sein Vater – das Konzentrationslager Auschwitz, einen Todesmarsch und das Konzentrationslager Sachsenhausen überlebt hat. Ein Traum, der ihn seit damals begleitet: Einer der alliierten Bomber auf dem Weg nach Berlin lässt einen langen Haken herab, hängt Thomas’ Baracke daran und bringt ihn nach Amerika.

 

 

Apropos Baracke. Womit beschäftigt sich eigentlich in diesen Tagen Häftling Nr. 5 im Kriegsverbrechergefängnis Spandau? Albert Speer zeichnet. Eine Holzbaracke, nichts Großes, aber minutiös. Sie zeige seine neuen Maßstäbe, schreibt Hitlers Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt in seiner Zelle, drei Meter lang, 2,70 Meter hoch. Sein zerstörtes Lebenswerk dürfe nicht das Ende aller Hoffnungen sein. Speer zeichnet länger als einen Monat an der schmucken Hütte, die so gar nicht an die Baracken in Auschwitz erinnert. Mit der Erinnerung an sein Lebenswerk ist das bei Speer ohnehin so eine Sache. Ihm ist schon vor zwei Jahren im Nürnberger Prozess, in dem zwölf der 24 Angeklagten zum Tode verurteilt wurden, Speer aber nur zu 20 Jahren Freiheitsstrafe, partout nicht eingefallen, dass er als Kriegswirtschaftsminister den Bau der Gaskammern in Auschwitz bewilligt hatte und sich von Himmler die Sklaven für die unterirdischen Wunderwaffenfabriken hatte liefern lassen.

 

 

Deutschland ist ein Gefängnis. Millionen Menschen – Vertriebene, Flüchtlinge, Kriegsheimkehrer, aus den Konzentrationslagern befreite Juden und ehemalige Zwangsarbeiter – kommen zwar hinein, aber seit drei Jahren darf kein Deutscher das Land verlassen. Gefängnis ist also für Deutschland eine taugliche Metapher, für Berlin ist es ein Synonym. Wenn Ruth Andreas-Friedrich in ihrem Tagebuch notiert: »Berlin ist ein Gefängnis«, dann meint sie nicht nur die in Grund und Boden gebombte, in Sektoren zerlegte ehemalige Reichshauptstadt, deren Westteil seit dem 24. Juni 1948 von sowjetischen Truppen abgeriegelt und dessen Bevölkerung von amerikanischen und britischen »Rosinenbombern« notdürftig versorgt wird. Für die Journalistin Ruth Andreas-Friedrich in Berlin-Steglitz (US-Sektor), die in einer Widerstandsgruppe ihr Leben riskierte, Juden und politisch Verfolgte versteckte, in den letzten Kriegswochen an die Ruinen das Wort »NEIN« gepinselt und in Flugblättern zum Widerstand aufgerufen hatte (»Werft alle Bilder von Hitler und seinen Komplizen auf die Straße! Organisiert den bewaffneten Widerstand!«), ist Berlin ein Gefangener der eigenen Vergangenheit. Von den Siegermächten sei es verurteilt, bis auf Weiteres als Fußmatte der Weltgeschichte zu dienen.

Ost gegen West, West gegen Ost, als Schauplatz und als Brückenkopf Berlin, in dem vor ein paar Jahren noch die Kommandos für den Endsieg erteilt und die Eisenbahn-Transporte zu den Vernichtungslagern koordiniert worden waren. Jetzt sind die Eisenbahnstrecken blockiert, zwei Stunden Strom am Tag, sonntags eine. Ruth Andreas-Friedrichs Stromstunden liegen zwischen zwölf und zwei Uhr nachts. Ein Wagen des RIAS, des Rundfunks im amerikanischen Sektor, fährt durch die Stadt, Weltlage per Lautsprecher: »Weitere Verstärkung der Luftbrücke auf 100 Flugzeuge täglich. Das Baden in freien Gewässern verboten, da infolge der Stromsperren eine Verunreinigung durch Abwässer zu befürchten ist. Weitere Verhaftungen im Ostsektor von Inhabern Deutscher Mark.«

Berlin, klagt Ruth Andreas-Friedrich, ist ein Gefängnis, in dem nur wenige, vom Glück Begünstigte, hin und wieder Ausgeherlaubnis erhalten. Sie könnte sie bekommen. In München wartet Frank. Ein Flug von Berlin nach Frankfurt kostet allerdings 28 Dollar. Nur die aus den Konzentrationslagern befreiten Juden, die die alliierten Flugzeuge auf den Rückflügen mitnehmen, müssen nichts bezahlen.

 

 

Wenn ein Gott stirbt, muss das nicht auch für die Gottbegnadeten das Ende bedeuten. Adolf Hitler und Joseph Goebbels hatten 1041 Schriftsteller, Bildhauer, Architekten, Musiker, Sänger, Maler und Schauspieler als »Gottbegnadete« auf eine Liste setzen lassen, die sie als unersetzliche Kulturschaffende vor dem Fronteinsatz bewahrte und der NS-Propaganda erhielt. Entsprechend haben die meisten von ihnen den Krieg gut überstanden, aber auch sie leiden an den Verhältnissen der Nachkriegsjahre.

Einer von ihnen, Viktor de Kowa, einer der bekanntesten Filmkomödianten der UFA-Zeit, steht am 18. Juli inmitten von 20000 Menschen vor dem Schöneberger Rathaus (US-Sektor) und protestiert gegen die Unterdrückung der freien Künste in der Ostzone. Die Demonstration steht unter dem Motto »Geistige und persönliche Freiheit«, die Redner wenden sich gegen die zunehmende Repression, die die freie Entfaltung der Künstler bedrohe. Unter dem Beifall der Menge, die meisten sind Kollegen des Schauspielers, ruft de Kowa: »Ich will ein freier Mensch sein; ich kann es nur, wenn alle anderen es auch sind.«

Das könnten die Zuhörer anders in Erinnerung haben. De Kowa hatte im NS-Propaganda-Jugendfilm »Kopf hoch, Johannes!« Regie geführt, der die Bekehrung des ungestümen, freiheitsliebenden Jungen Johannes zu Disziplin und Gehorsam in einer NS-Jugendorganisation gefeiert hatte. Johannes’ Entwicklung hatte de Kowa zu der euphorischen Äußerung inspiriert: »Die Aufgabe, ein Abbild zu schaffen von dem Leben dieser jungen Generation, dieser zukünftigen Führerschaft Großdeutschlands – das ist eine Arbeit, für die man sich ehrlich und ohne Vorbehalte begeistern kann.« Der Film war im Tauentzienpalast, dem Premierenkino der UFA, uraufgeführt worden, dessen Ruine in Schöneberg gar nicht weit vom Rathaus steht, vor dem de Kowa, dessen NS-Jugendfilm nicht nur in der Ost-, sondern auch in den Westzonen verboten ist, für die freie, ungestüme Künstlerschaft und gegen in der Ostzone verlangte künstlerische Disziplin und Gehorsam das Wort ergreift.

 

 

Ist die künstlerische Freiheit im Sommer 1948 nur in der Ostzone bedroht? München wird in diesen Wochen vom größten Kulturskandal der Nachkriegszeit erschüttert. Verursacht hat ihn der bayerische Kultusminister Alois Hundhammer (CSU), ein katholischer Fundamentalist, Radikal-Föderalist und im Herzen noch immer Monarchist. Aber er war auch Mitglied der Bayerischen Verfassunggebenden Landesversammlung, die vor zwei Jahren die Landesverfassung und damit den Schutz der Kunstfreiheit beschlossen hat: »Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.« (Art. 108) Das scheint Hundhammer jedoch nur als einen Vorschlag zu betrachten, für den er allerdings keine Verwendung sieht.

Am 6. Juni wurde Werner Egks »Abraxas. Ein Faustballett« in der Münchner Staatsoper unter Leitung des Komponisten uraufgeführt, eine Adaption von Heinrich Heines Tanzpoem »Der Doktor Faust«. Das Publikum im Prinzregententheater tobte vor Begeisterung. Nach dem 38. Vorhang war der jahrzehntealte Beifallsrekord der Staatsoper gebrochen, erst nach dem 48. Vorhang durften Egk und die Tänzer die Bühne, von Hochrufen begleitet, verlassen.

Das Libretto war schon vorher verschwunden, das Kultusministerium hatte seinen Verkauf Tage vor der Uraufführung wegen sittlicher Anstößigkeit verboten. Als unsittlich war unter anderem auf einem Foto das Höschen einer Tänzerin aufgefallen, das zu sehen war, als diese einen Überschlag machte. Der Eingriff würde nicht auffallen, ließe Minister Hundhammer nicht Wochen später eine Totaloperation folgen. Er verhindert, gedrängt vom Weihbischof von München und Freising, die Wiederaufnahme des Balletts in der neuen Spielzeit. Klerus und Kultusminister empört die Darstellung der »Schwarzen Messe«, eine orgiastische Feier des Bösen, die dem katholischen Messritus nachempfunden ist. Das also ist die Kunstfreiheit der jungen Demokratie: Ein reaktionärer Minister macht in Komplizenschaft mit der katholischen Kirche mobil gegen die moderne Kunst.

 

 

Ganz so einfach ist es nicht. Noch leidenschaftlicher als die Obszönität des modernen Balletts des Jahres 1948 hat Alois Hundhammer die Nationalsozialisten bekämpft. Er wurde für einige Monate ins KZ Dachau gesperrt, erhielt Berufs- und Redeverbot und wurde von der Gestapo überwacht. Der Doktor der Philosophie und der Nationalökonomie hatte sich aufs Handwerk verlegt und sich in München mit einer Schuhreparaturwerkstatt durchgeschlagen. Nichts Ehrenrühriges, natürlich, aber kein Vergleich mit dem Künstlertum, das Werner Egk in jenen Jahren höchste Anerkennung bis zur Aufnahme in Hitlers Liste der Gottbegnadeten eingetragen hatte. Für seine Olympische Festmusik hatte er bei den Olympischen Spielen 1936 die Goldmedaille in der Kategorie »Orchestermusik« erhalten. Das Publikum des Jahres 1948 ist also auf Werner Egks Musik seit Jahren eingestimmt. Und auch ein Alois Hundhammer kann die Fortsetzung seiner Karriere nicht verhindern.

 

 

Schon in wenigen Jahren wird Egk als »Komponist des Wiederaufbaus« in der Bundesrepublik Triumphe feiern. Egk ist übrigens ein Pseudonym und das Pseudonym ein Akronym von »Ein großer Künstler«. Geboren wurde Egk als Werner Joseph Mayer.

 

 

Nach den ersten beiden Wochen im Juli bezweifelt Gerhard Schulz, 23 Jahre, im Januar 1944 in Italien schwer verwundet, Student an der Universität Leipzig mit Hauptfach Geschichte, dass das Pflänzchen Demokratie auf deutschem Boden jemals wird gedeihen können. Am 1. Juli hat er im Studentenrat einen Antrag gegen die Zulassungsrichtlinien der Zentralverwaltung eingebracht. Die sehen eine Einteilung der Studienbewerber in zwei Gruppen vor. Die erste umfasst Söhne von Arbeitern und kleinen Bauern, die zweite alle anderen. Erst wenn die erste Gruppe – ohne Rücksicht auf Leistung, wie Schulz kritisch vermerkt – restlos zugelassen ist, dürfen die Begabtesten der anderen Gruppe berücksichtigt werden. Schulz will, dass die Zulassung der begabtesten Bewerber aus allen Volksschichten gewährleistet wird. Er hat zwar die Mehrheit auf seiner Seite, aber eine Entscheidung kommt nicht zustande. Die Vertreter der SED beschuldigen Schulz, ein »Feind des Arbeiterstudiums« zu sein, verlassen den Saal, und der Studentenrat verliert seine Beschlussfähigkeit. Schulz’ Befürchtung, sein Antrag werde zur »Generalreinigung« der Universität missbraucht und sein Studium infrage gestellt, erweist sich zwar als unbegründet. Aber ein Gespräch mit dem Rektor der Universität endet für Schulz enttäuschend.

Er hat von Anfang an gespürt, dass Prof. Erwin Jacobi mit dem Herzen nicht auf seiner Seite ist. Das ist keine Überraschung. Jacobi war in der Weimarer Republik ein bekannter liberaler Staats- und Arbeitsrechtler, was ihn aber nicht daran gehindert hatte, zusammen mit seinen Kollegen Carl Schmitt und Carl Bilfinger die Reichsregierung im Prozess »Preußen versus Reich« nach dem Preußenschlag vor dem Reichsgericht zu vertreten. Am 20. Juli 1932 hatte Reichskanzler Franz von Papen die sozialdemokratische Regierung Preußens abgesetzt und den Ausnahmezustand verhängt.

Nach dem Urteil – es verwarf zwar die Absetzung der Regierung als rechtswidrig, bestätigte aber den Ausnahmezustand und akzeptierte damit den offenen Rechtsbruch – waren innerhalb weniger Wochen in Preußen die Sozialdemokraten aus allen Ämtern vertrieben worden. Carl Schmitt und Carl Bilfinger hatten sich wenig später dem Nationalsozialismus zur Verfügung gestellt und waren als Antisemiten fachliterarisch hervorgetreten. Diese Option blieb Professor Jacobi verschlossen. Wegen seiner jüdischen Vorfahren war er entlassen worden. Jetzt hat er zwar seinen Lehrstuhl in Leipzig zurück. Aber seine juristische Beteiligung am Preußenschlag macht ihn angreifbar. Er hält sich aus Schulz’ Streit mit den SED-Vertretern heraus, der Studentenrat distanziert sich von Schulz’ Antrag, und der Student bezweifelt, dass Deutschland jemals dem Pflänzchen Demokratie ein fruchtbarer Boden sein kann.

 

 

Diese Zweifel kennt Gerhard Simons, 27 Jahre, Student der Elektrotechnik und stellvertretender AStA-Vorsitzender der Technischen Hochschule Hannover, nicht. Zwar ahne er, schreibt Simons, dass die Deutschen einen langen und schwierigen Weg in die Zivilisation und nach Europa vor sich hätten, aber nach vorn zu blicken sei ihm immer leichtgefallen. Im Sommer 1948 sieht er zusammen mit 1500 Kommilitonen vor sich eine Absperrung der Polizei, die die Bannmeile des niedersächsischen Landtags vor dem Demonstrationszug der Studenten schützt. Wenige Wochen nach der Währungsreform sind zwar die Geschäfte wieder mit Waren gefüllt, aber die Geldbörsen der Westdeutschen sind leer. Auch Gerhard Simons ist pleite. Die Währungsreform hat ihm für seine Hilfsdienste beim Tausch der Reichsmark gegen D-Mark einiges Geld gebracht, es ihm aber sogleich wieder genommen. Rationierung und Preisbindung sind zwar teilweise aufgehoben worden, vorläufig jedoch nicht der Lohnstopp. Die Folge ist ein rasanter Preisanstieg, der die Studenten in Hannover vor den Landtag treibt.

Was sagt dazu der Rektor der TH Hannover, Prof. Conrad Müller, ein Mathematiker, der mit weißer, wehender Mähne, geistreich, witzig und zerstreut vor die Studenten tritt, die ihn liebevoll »Conny« nennen? Womöglich hält er sich etwas zurück, denn seine Unterschrift unter das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler von November 1933 ist 15 Jahre später nicht vergessen. Im Kreis der Studenten hingegen muss sich Müller damit nicht verloren fühlen. Die meisten jungen Männer, die die Hörsäle der Universitäten bevölkern, hatten Hitler als Soldaten mit ihrem »heiligen Eid« unbedingten Gehorsam geschworen, wenn auch nicht alle so euphorisch wie Gerhard Simons. Als ihm Hitler für seine Tapferkeit im August 1944 in der »Wolfsschanze« persönlich das Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes verliehen hatte, waren dem jungen Offizier die Worte des Großvaters eingefallen, der nach einer Begegnung mit dem Diktator gerufen hatte: »Diese Augen! Das ist die Rettung Deutschlands!«

 

 

Wäre es nach Gerhard Simons’ Großvater gegangen, dann hätte Robert Kempner seine Arbeit am Internationalen Militärtribunal in Nürnberg nie begonnen, wo er sich im Sommer 1948 befindet. Kempner ist stellvertretender Hauptankläger der Nürnberger Prozesse, derzeit beschäftigt mit dem Verfahren im »Wilhelmstraßenprozess« gegen führende Angehörige des NS-Außenministeriums – unter anderem gegen den ehemaligen Staatssekretär Ernst von Weizsäcker – und anderer Ministerien.

Kempner hatte den Boden der Vereinigten Staaten am 1. September 1939, am Tag des deutschen Überfalls auf Polen, als Emigrant betreten. Der Chefjustiziar der Preußischen Polizei im Berliner Innenministerium war wegen politischer Unzuverlässigkeit und »fortgesetzten Judentums« zuerst aus dem Amt gejagt, dann aus Deutschland vertrieben worden.

Warum Kempner nach Ansicht des Großvaters Gerhard Simons’ niemals hätte Jurist werden dürfen? Der Großvater war Walter Simons, einige Monate Außenminister der Weimarer Republik und von 1922 bis 1929 Präsident des Reichsgerichts, ernannt vom sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Simons galt als konservativ-liberal. Im November 1926 hatte er in einem Vortrag vor Fachkollegen klargemacht, warum man nicht Angehöriger der Justiz und Sozialdemokrat in einer Person sein könne. Aufgrund »innerer Hemmnisse« könnten Sozialdemokraten niemals Richter sein, denn mehr als dem Recht seien sie dem Klassenkampf verpflichtet. Die Richter sollten sich auch nicht, »weil eine neue Zeit gekommen ist«, nach Parteien scheiden. Schon deshalb beklage er die Bildung des »Republikanischen Richterbundes« durch einige Sozialdemokraten: »Wir sind doch alle Republikaner.« Simons hatte die Monarchisten vergessen, die Kommunisten, die Nationalsozialisten und die politischen Morde der Feinde der Weimarer Republik, denen bis dahin schon beispielsweise der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der ehemalige Reichsfinanzminister Matthias Erzberger und Reichsaußenminister Walter Rathenau zum Opfer gefallen waren. Die Staatsfeinde waren für Simons vor allem die sozialdemokratischen Juristen des Republikanischen Richterbundes – und einer seiner Gründer war der junge Robert Kempner gewesen.

 

 

Am 30. Juli ergeht das Urteil gegen 23 Führungskräfte des bis Kriegsende weltgrößten Chemiekonzerns I.G. Farbenindustrie AG. Das US-Militärgericht in Nürnberg spricht zehn Angeklagte frei, 13 werden wegen Sklaverei und Plünderung zu Gefängnisstrafen zwischen anderthalb und acht Jahren verurteilt. Die hauptangeklagten I.G.-Farben-Manager werden für schuldig befunden, Häftlinge aus Konzentrationslagern als Sklavenarbeiter beschäftigt zu haben. Der Konzern hatte unter anderem unmittelbar neben dem KZ Auschwitz ein Chemiewerk errichtet, in dem sich Tausende Häftlinge zu Tode geschuftet hatten.

Einen Tag später ergeht das Urteil gegen den Unternehmer Alfred Krupp und elf Direktoren seines Konzerns. Krupp wird zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe und Einziehung seines Vermögens, die Direktoren zu teils hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Zwischen 1940 und 1945 hatten in den Krupp-Werken rund 70000 ausländische Zwangsarbeiter, 5000 KZ-Häftlinge und mehr als 23000 Kriegsgefangene unter unmenschlichen Bedingungen gearbeitet. Sowohl in dem einen wie in dem anderen Urteil werden alle Angeklagten von der Beteiligung an der Vorbereitung eines Angriffskrieges freigesprochen.

Kempner, der die Verfahren mit vorbereitet hatte, kritisiert, die Urteilsgründe würden in Presse und Fernsehen unzureichend dargestellt. Kein Mensch kenne darum die wahren Gründe der Entscheidungen. Seine Kritik könnte sich auf einen Artikel in der »Zeit« beziehen, dessen Autor beide Urteile mit spürbarer Erleichterung begrüßt, aber auch eine kleine Enttäuschung durchaus nicht verschweigt. Er beginnt folgendermaßen: »Mit dem Nürnberger Urteil gegen die I.G. Farben und gegen Krupp ist die Behauptung, dass die deutschen Industriellen die Drahtzieher der Hitlerschen Aggressionen gewesen seien, zusammengebrochen. In beiden Fällen sprachen die amerikanischen Militärtribunale die Angeklagten von den Verbrechen der Vorbereitung eines Angriffskrieges und der Teilnahme an einer Verschwörung frei. Durch den Irrtum eines Journalisten war am ersten Tag zunächst in manchen Teilen der Welt der Eindruck entstanden, dass die I.G. auch von den drei übrigen Anklagepunkten: Plünderung, Sklavenarbeit und Mitgliedschaft bei verbrecherischen Organisationen freigesprochen worden sei. Im Hause eines Frankfurter Vorstandsmitglieds der I.G. liefen daher bei der Familie des Angeklagten Blumenspenden und Glückwünsche aus den verschiedensten Ländern ein …

Leider stellte sich bald heraus, dass dieser schöne Glaube an die Weisheit eines Verfahrens, bei dem – vielleicht am Vorabend eines dritten Weltkrieges – Kapitalisten über Kapitalisten und Antikommunisten über Antikommunisten zu Gericht saßen, unbegründet war.«

 

 

Die Sympathien, die die Angeklagten dieser Verfahren in der Öffentlichkeit finden, sind nicht persönlich gemeint, sie folgen der herrschenden Ansicht, dass die bevorstehende Belebung der deutschen Wirtschaft qualifizierte Führungskräfte verlangt. Entsprechend werden die Richter der US-Tribunale mit Gnadengesuchen überschwemmt. Doch muss festgehalten werden, dass für keinen NS-Verbrecher mehr Petitionen eingehen als für den vor einigen Monaten zum Tode verurteilten Oswald Pohl, den Chef der Konzentrationslager. Und das hat nichts mit der Wirtschaft zu tun.

 

 

Alle zu Freiheitsstrafen verurteilten Manager werden spätestens 1952 vorzeitig aus der Haft entlassen. Die meisten werden wieder Mitglieder von Aufsichtsräten in der Pharmabranche. Oswald Pohl, General der Waffen-SS und eine der Schlüsselfiguren bei der Organisation des Holocaust, wird trotz des Einsatzes der Kirchen für eine Begnadigung und der Sympathiebekundungen aus der Bevölkerung im Juni 1951 hingerichtet.

 

 

Die US-Militärregierung in Deutschland gibt bekannt, dass rund 60 Prozent der Richter und 76 Prozent der Staatsanwälte in Bayern ehemalige Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) sind.

 

 

Hört das denn nie auf? Alle paar Monate wird in den Zeitungen von Anklagen und Verurteilungen in Kriegsverbrecher-Verfahren vor US-Militärtribunalen berichtet. Millionen Deutsche werden vor allem von den Amerikanern mit einem Fragebogen gezwungen, sich an ihre ganz persönliche NS-Zeit zu erinnern, sie müssen sich zu ihrer Entnazifizierung vor deutschen Spruchkammern verantworten, vor die sie als Hauptschuldige oder Belastete geladen werden und die sie – nicht nur das Ausland staunt – zu 95 Prozent als Mitläufer oder Entlastete wieder verlassen. Ist von den Deutschen die Rede, dann wird in jeder Sprache der Welt von ihrer Schuld gesprochen. Aber ist dieser ständige Rückblick auf die Vergangenheit einer friedlichen Zukunft bekömmlich, ist es nicht Zeit, die Toten endlich ruhen und die Deutschen ihren Frieden mit sich machen zu lassen? Anlässlich des dritten Jahrestags der Kapitulation entschließt sich das Präsidium des Deutschen Städtetages zu einem öffentlichen Aufruf: »Lasst auch in unserem Volke keine neuen Verhärtungen platzgreifen, sondern zieht in einem Akt der Versöhnung den Strich unter die Vergangenheit, hinter dem die Verbrecher zurückbleiben, von dem aus die Menschen guten Willens gemeinsam in eine bessere Zukunft aufbrechen können.«

 

 

Der Bremer Senator für die innere Verwaltung erlaubt das öffentliche Schuhetauschen (das bisher illegal auf dem Schwarzmarkt stattgefunden hatte) an der Liebfrauenkirche an den wochenmarktfreien Tagen (montags, mittwochs und freitags) von 9 bis 13 Uhr.

 

 

Ein dringender Wunsch, den Thomas in den ersten Jahren nach seiner Rückkehr aus den KZ in die Göttinger Wohnung der Mutter erfüllte – ein auf dem Balkon installiertes Maschinengewehr. Wenn er voller Neid und Hass auf der Straße die Väter und Mütter sah, die Großväter und Großmütter, die ihre Kinder und Enkel an der Hand spazieren führten, zufriedene Deutsche, die ihr Leben genossen, als ob in der Vergangenheit nichts Besonderes gewesen wäre, wünschte er sich nichts sehnlicher als das Gewehr, um ihnen anzutun, was sie seiner Familie angetan hatten.

Mit den Jahren jedoch hat sich sein Blick erweitert. Er bemerkt auf der Straße die Spuren des Kriegs: Menschen, deren Gesichter durch Verbrennungen entstellt sind, Blinde, Krüppel, denen Arme oder Beine fehlen. Er sieht Männer, die noch immer in ausgeblichenen Uniformen oder in Militärmänteln herumlaufen, Leute, die, nach ihrem Verhalten und ihrer Kleidung, nur Flüchtlinge sein können, und Studenten mit Aktentaschen, die offenbar leer sind – Thomas vermutet, dass die jungen Männer sie tragen, um sich einen bescheidenen Anstrich von Wichtigkeit zu geben.

Auch Thomas’ Fantasien haben sich verändert. Er wird jetzt nicht mehr von dem Wunsch getrieben, die Zahl zufriedener Deutscher mit dem Maschinengewehr zu dezimieren; er hat das Bedürfnis nach Gesprächen, vor allem mit seinen Mitschülern. Anders als bei seinen Lehrern – von denen nicht wenige Nazis gewesen sind – bemerkt er bei ihnen keinen verdeckten Antisemitismus. Zwar hat die Nazipropaganda auch bei ihnen Spuren hinterlassen. Weil Thomas weder eine Hakennase hat noch ein verschlagenes Gesicht, weil er sportlich ist und kräftig gebaut, glauben ihm einige Mitschüler nicht, dass er ein Jude ist: »Du siehst gar nicht aus wie ein Jude!« Er ist als Mitschüler anerkannt, er ist sogar beliebt, aber besonders interessant scheint er für seine Klassenkameraden nicht zu sein. Zumindest Thomas’ Vergangenheit weckt bei ihnen keine Neugier. Obwohl er ihnen erzählt, dass er die Konzentrationslager überlebt hat, will kein Mitschüler Genaueres wissen. Keiner fragt ihn danach, die Schüler halten es wie ihre Lehrer, die selbst in den Geschichtsstunden den Aufstieg Hitlers und den Nationalsozialismus beschweigen. Das immerhin hat der Zweite Weltkrieg mit dem Ersten Weltkrieg gemein. Auch der kommt in Thomas’ Geschichtsunterricht nicht vor.

 

 

Thomas Buergenthal verlässt Deutschland Ende 1951, wenn auch nicht – wie erträumt – mit einem Flugzeug, sondern mit einem US-Militärfrachter. Er studiert in den USA Rechtswissenschaften, wird Professor für Völkerrecht und widmet sich vor allem der juristischen Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen. Unter anderem wird er von 2000 bis 2010 als Richter am Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag arbeiten.

 

 

Seit drei Jahren hört Thomas Mann Stimmen. Sie sprechen Deutsch, so selbstbewusst wie seit dem Krieg nur wenige, Mann empfindet sie als unverschämt. Es sind die Stimmen der inneren Emigration.

Zum ersten Mal hat sich der Schriftsteller Walter von Molo zu Wort gemeldet, unmittelbar nachdem eine Rede Manns an die Deutschen vom Mai 1945 in der »Bayrischen Landeszeitung« – dem Blatt der amerikanischen Militärregierung – nachgedruckt worden war. Unter dem Eindruck der Bilder der von den Alliierten befreiten Konzentrationslager hatte Mann geklagt: »Unsere Schmach, deutscher Leser und Hörer! Denn alles Deutsche, alles, was Deutsch spricht, Deutsch schreibt, auf Deutsch gelebt hat, ist von dieser entehrenden Bloßstellung mit betroffen. Es war nicht eine kleine Zahl von Verbrechern, es waren Hunderttausende einer sogenannten Elite, Männer, Jungen und entmenschte Weiber, die unter dem Einfluss verrückter Lehren in kranker Lust diese Untaten begangen haben.«

Manns Ansicht, »dass die ›Machtergreifung‹ ein fürchterliches Unglück, ihre Zulassung, Begünstigung ein Verbrechen ersten Ranges war«, fand wenig Zustimmung, nicht nur weil die Deutschen damit beschäftigt waren, in den Ruinen der Städte ihr Überleben zu organisieren. In dem Bild, das der Emigrant von ihnen malte, erkannten sie sich partout nicht wieder. Walter von Molo, Autor national gestimmter Historienromane, der einst mit Thomas Mann in der Sektion Dichtkunst der Berliner Akademie gesessen hatte, antwortete mit einem offenen Brief und der Einladung an den US-Staatsbürger, nach Deutschland zurückzukehren: »Bitte, kommen Sie bald, sehen Sie die von Gram durchfurchten Gesichter, sehen Sie das unsagbare Leid in den Augen der vielen, die nicht die Glorifizierung unserer Schattenlinien mitgemacht haben, die nicht die Heimat verlassen konnten, weil es sich hier um viele Millionen Menschen handelte, für die kein anderer Platz gewesen wäre als daheim, in dem allmählich gewordenen großen Konzentrationslager, in dem es bald nur mehr Bewachende und Bewachte verschiedener Grade gab. Suchen wir wieder gemeinsam – wie vor 1933 – die Wahrheit, indem wir uns alle auf den Weg zu ihr begeben und helfen, helfen, helfen.«

Das war selbstmitleidig und verlogen, von Molo hatte es sich in dem »Konzentrationslager« kommod gemacht und sich den Machthabern vielfach anempfohlen. Aber ehe Mann darauf hatte erwidern können, hatte der Schriftsteller Frank Thiess die Gelegenheit ergriffen und sich mit dem Artikel »Die innere Emigration« in der »Münchner Zeitung« der deutschen Öffentlichkeit nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Thiess, der schon 1929 an der NSDAP »das spezifisch jugendliche, spezifisch revolutionäre Moment« zu schätzen gewusst hatte, klärte Thomas Mann – nicht so larmoyant wie von Molo, aber deutlich hochmütiger – darüber auf, es sei eben ein Unterschied, »diese schauerliche Epoche« in Deutschland überstanden oder »der deutschen Tragödie« nur »aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands« zugeschaut zu haben.

Für Thiess hatte der Unterschied nicht zuletzt darin bestanden, dass er dank gepflegter Beziehungen zur NS-Kulturbürokratie sein Auskommen in Deutschland hatte sichern können. Thomas Mann hatte nicht Thiess, aber von Molo geantwortet, in einem im Oktober 1945 im »Augsburger Anzeiger« veröffentlichten Artikel: »Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten alle eingestampft werden.«

Es sind vor allem diese drei Sätze, die ihm die deutschen Schriftsteller der »inneren Emigration« nicht verzeihen. Immerhin aber scheinen die Besatzungsmächte Manns Einschätzung zu folgen. In der sowjetischen Zone umfasst die »Liste der auszusondernden Literatur« 30000 Titel, die Amerikaner begnügen sich in der als Anleitung bezeichneten »Illustrative List of National Socialist and Militarist Literature« mit 1000 Titeln.

Im Sommer 1948 hat die Wucht der Kontroverse nachgelassen, aber vergessen ist sie nicht. Der junge deutsche Psychologe und Schriftsteller Ulrich Sonnemann bringt sie noch einmal in Schwung. Er geißelt nunmehr allerdings die »Edelfäulnis« im Werk Thomas Manns, der die deutsche Jugend hoffentlich jene Gleichgültigkeit entgegensetzen werde, die tödlicher wirke als aller Protest: »Der deutsche Geist, was hat er mit jener zu schaffen?« Deutscher Geist versus Edelfäulnis ist kein origineller Gedanke, nur ist er seit drei Jahren in Deutschland nicht mehr so häufig zu hören. Originell ist jedoch, dass er von einem wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nazis verfolgten Emigranten öffentlich ins Spiel gebracht wird.

 

 

Sympathien haben die Deutschen, vor allem die deutschen Schriftsteller, von Thomas Mann jedenfalls nicht zu erwarten. Selbst wenn ihre zwischen 1933 und 1945 erschienenen Werke Zeugnis geben vom Widerstand gegen Hitler, garantiert das nicht die Anerkennung des alten Zauberers. Ruth Andreas-Friedrich war es gelungen, den ersten Teil ihrer sehr genauen und unter Lebensgefahr notierten Aufzeichnungen in englischer Übersetzung in New York und London verlegen zu lassen. Die deutsche Ausgabe »Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen von 1938–1945« war im Juli 1947 im Suhrkamp-Verlag erschienen. Im Sommer 1948 fällt die deutsche Ausgabe Thomas Mann in die Hände: »Zweifelhaft, ob die Zeit wohl angewandt.«

 

 

Wenige Tage nach der Demonstration vor dem niedersächsischen Landtag bekommt der Enkel des früheren Reichsaußenministers, der ehemalige Wehrmachtsoffizier und heutige Student an der TH Hannover, Gerhard Simons, einen Brief. Geschrieben hat ihn ein alter Bekannter Robert Kempners. Wie der stellvertretende Hauptankläger in Nürnberg war er in seiner Jugend Sozialist, wie Kempner war er preußischer Beamter, zuletzt Regierungspräsident in Liegnitz, wie Kempner ist er – allerdings ein wenig früher, unmittelbar nach dem Preußenschlag – wegen politischer Unzuverlässigkeit aus dem Staatsdienst entfernt und schließlich aus Deutschland verjagt worden. Und wie Robert Kempner ist Hans Simons, der Vater Gerhards und Professor an der New School for Social Research in New York, als amerikanischer Staatsbürger nach Deutschland zurückgekehrt.

Anders als Kempner hat ihn aber nicht das Ende des Zweiten Weltkriegs zurückgebracht, sondern der Beginn des Kalten Krieges. Und er ist auch nicht als Ankläger oder Richter gekommen, sondern als Spezialist für Verfassungsrecht: Er soll die Gründung des Weststaats vorbereiten. Seit Monaten erklärt Simons den westdeutschen Politikern, was die Stunde geschlagen hat. Er erklärt es betont nüchtern. Demokratie und Menschenrechte, Föderalismus und eine unabhängige Justiz in Westdeutschland seien nicht das erste Ziel der westlichen Siegermächte, schon gar nicht der Aufstieg der deutschen Wirtschaft, vielmehr seien sie nur Mittel zu dem Zweck, einen wichtigen Baustein im Bollwerk gegen den Kommunismus einzufügen.

Mit anderen Worten: Die Besatzungsmächte machen den westdeutschen Politikern ein Angebot, das sie nicht ausschlagen können. Aus dem Verbrecher von gestern soll der Partner von morgen werden. Der Preis ist die vorläufige oder endgültige Teilung Deutschlands. Den westdeutschen Bürgern erscheint er nicht zu hoch. Schon vor Monaten hat nur ein Viertel von ihnen in einer Umfrage die Hoffnung geäußert, die vier Siegermächte würden sich doch noch auf eine Regelung über Gesamtdeutschland einigen. Erstens lockt die Verheißung rasch wachsenden Wohlstands. Zweitens ist den Westdeutschen bewusst, dass den Preis für die Weststaatsgründung die Bürger der Ostzone werden zahlen müssen. Dennoch zögern die westdeutschen Politiker, das Angebot der Siegermächte anzunehmen. Nicht nur Carlo Schmid (SPD), stellvertretender Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern und Justizminister, fürchtet, »dass das deutsche Volk jeden verdammen wird, der die Hand zu einer Spaltung Deutschlands bietet«. Das westdeutsche Volk ist da ganz anderer Meinung. Und Hans Simons treibt die Zögerlichkeit der Ministerpräsidenten, Ja zur Weststaatsgründung zu sagen und eine Verfassunggebende Versammlung einzuberufen, allmählich zur Verzweiflung.

 

 

In dem Brief an seinen Sohn beklagt sich der Vater in englischer Sprache, die westdeutschen Politiker führten sich auf wie ein Mädchen, das zwar wolle, aber sich nicht traue, es zu sagen, und dann auch noch auf der Garantie bestehe, anschließend nicht schwanger zu werden. Die Ängstlichkeit dieser Leute, ihre Selbstbezogenheit und Unkenntnis weltpolitischer Zusammenhänge seien bestürzend. Den Ministerpräsidenten und Parteiführern habe er unverdrossen klarzumachen versucht, welche historische Chance die Gründung eines Weststaates biete, »but to little avail« – vergeblich.

 

 

Nicht ganz. Denn Ende Juli, bei einem erneuten Treffen der Ministerpräsidenten mit den Militärgouverneuren, bekommen alle, was sie wollen. Die westdeutschen Politiker bekommen das »Grundgesetz« – also keine Verfassung –, den »Parlamentarischen Rat« – also keine Verfassunggebende Versammlung –, und am Ende bekommen sie sogar eine Abstimmung über das Grundgesetz nur in den Landtagen – also keine Volksabstimmung. Aber das alles bekommen sie nur, weil sie in die Schwangerschaft eingewilligt haben – die Gründung des Weststaats.

 

 

Das ist nicht nur ein Erfolg des Staatsrechtlers und Politikers, sondern vor allem des Pädagogen Hans Simons. Erste Erfahrungen als Lehrer hat er in den 1920er-Jahren als Dozent und Direktor der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin gemacht. Sie sollte den Hörern die Grundlagen eines demokratischen Gemeinwesens vermitteln. Ein Kollege Hans Simons’ war damals ein Journalist und Politikwissenschaftler namens Theodor Heuss, ein anderer sein Vater, der ehemalige Reichsaußenminister und spätere Präsident des Reichsgerichts Walter Simons. Der Vater hätte damals besser unter den Hörern seines Sohnes Platz genommen.

August 1948

Auf Schloss Herrenchiemsee beginnt ein Verfassungskonvent mit den Vorarbeiten zum Grundgesetz. Im Auftrag der Ministerpräsidenten erarbeiten die Sachverständigen einen Verfassungsentwurf, der dem Parlamentarischen Rat als Arbeitsgrundlage dienen wird. Auch in der sowjetischen Besatzungszone gehen die Arbeiten an einer Verfassung voran. Der Deutsche Volksrat beauftragt einen Ausschuss mit der Formulierung eines vollständigen Verfassungsentwurfs.

Der »Stern« geht auf, jetzt schon zum zweiten Mal. Die erste Ausgabe der neuen Illustrierten erscheint am 1. August, auf dem Cover das Bild einer jungen Blondine mit »natürlicher Anmut«, der Schauspielerin Hildegard Knef. Die 23-Jährige ist dem deutschen Publikum aus einigen UFA-Filmen bekannt, das Coverbild macht sie schlagartig berühmt, den »Stern« zum Start-up der Saison und den Verleger Henri Nannen aus Hannover – er ist 33 Jahre alt – zum Harry Houdini der deutschen Lizenzpresse, der die von der britischen Besatzungsmacht angelegten Fesseln mühelos sprengt.

Und das, erzählt Nannen, kam so. Schon seit einiger Zeit habe er die von ihm herausgegebene Jugendzeitschrift »ZickZack« in ein Magazin für Erwachsene umwandeln wollen, dafür aber die Genehmigung des britischen Presseoffiziers benötigt. Ob er wisse, habe er den Commander gefragt, dass »ZickZack« eigentlich ein Nazi-Titel sei, mit einem Anklang an »zackig« und an den Hitlerjugend-Kampfruf »Zicke-zacke-zicke-zacke-hei-hei-hei«. Das passe ja wohl schlecht zum Konzept der demokratischen Umerziehung. »Dies leuchtete dem Briten ein. Aber wie sollte man das Blatt denn bloß nennen? Ich fasste mir ans Kinn und begann laut nachzudenken: ›Die abgerissenen Landser auf dem Bahnhofsplatz oder vor dem Pressehaus, das waren doch noch Kinder, als man sie zum Militär oder schließlich zu den Werwölfen einzog, und heute sind sie zwischen 16 und 25. Das sind doch die Leser, die wir umerziehen wollen.‹«

Denen könne man doch keine Kinderzeitung vorsetzen, habe er, Henri Nannen, gesagt, denen sollte man eher so etwas wie den »Stern einer neuen Hoffnung« zeigen: »Warten Sie, Commander, ›Stern‹, wäre das nicht ein guter Titel?« In dieser Geschichte kommt alles zusammen, was zu einer guten Illustrierten-Story gehört. Die Wahrheit gehört nicht unbedingt dazu.

 

 

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